03.05.2013 Aufrufe

Kindeswohlgefährdung - Erkennen und Helfen - Berlin.de

Kindeswohlgefährdung - Erkennen und Helfen - Berlin.de

Kindeswohlgefährdung - Erkennen und Helfen - Berlin.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong><br />

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG<br />

<strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong>


202


Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong><br />

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG<br />

<strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong><br />

11. überarbeitete Aufl age (470 – 490 Tausend)<br />

1


Deutsche Bibliothek – CIP - Einheitsaufnahme<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong>.<br />

Hg. Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V.<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V., <strong>Berlin</strong> 2009<br />

11. überarbeitete Aufl age (470 – 490 Tausend)<br />

Redaktion: Dr. Christine Maihorn, Peter Ellesat<br />

© 2009 Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V.<br />

Juliusstraße 41, D 12051 <strong>Berlin</strong><br />

Telefon +49 / 30 / 683 911-0, Fax +49 / 30 / 683 911-22<br />

http://www.kin<strong>de</strong>rschutz-zentrum-berlin.<strong>de</strong><br />

ISBN 978-3-00-026625-6<br />

Gestaltung: Klaus Weiß<br />

Druck: Buch- <strong>und</strong> Offsetdruckerei H.Heenemann GmbH & Co.KG<br />

2


Vorwort<br />

Vorwort <strong>de</strong>s Herausgebers<br />

Einleitung<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

Was ist neu im Kin<strong>de</strong>rschutz?<br />

Wie können Fälle von Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls erlebt wer<strong>de</strong>n?<br />

<strong>Erkennen</strong><br />

Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

Was ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

Was sind Ursachen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> aus kin<strong>de</strong>rärztlicher Sicht<br />

Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls auf<br />

Kin<strong>de</strong>r haben?<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> aus neurobiologischer Sicht<br />

Wie kann das Risiko einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> fachlich f<strong>und</strong>iert<br />

eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

<strong>Helfen</strong><br />

10. Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

11. Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

12. Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

13. Was sind die rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen für das Han<strong>de</strong>ln von Helfern?<br />

Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII?<br />

Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

Anhang<br />

14. Literaturhinweise<br />

15. Autorinnen <strong>und</strong> Autoren<br />

Inhalt<br />

10<br />

14<br />

20<br />

28<br />

34<br />

38<br />

52<br />

76<br />

88<br />

102<br />

124<br />

144<br />

152<br />

178<br />

192<br />

198<br />

3


Vorwort<br />

4


Vorwort <strong>de</strong>s Herausgebers<br />

Zur 10. überarbeiteten <strong>und</strong> erweiterten Aufl age<br />

Die erste Aufl age von Kin<strong>de</strong>smisshandlung – <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong> nannten wir<br />

Eine Anleitung zum Selbststudium. Eine multidisziplinäre Gruppe junger Fachleute,<br />

die seit Beginn <strong>de</strong>r 70er Jahre auf <strong>de</strong>r Suche nach neuen Wegen in <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

war <strong>und</strong> gera<strong>de</strong> das Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> gegrün<strong>de</strong>t hatte, schrieb<br />

1979 das handliche Buch, das regelrecht zu einem Arbeitsbuch neuen Kin<strong>de</strong>rschutzes<br />

wur<strong>de</strong>. Das B<strong>und</strong>esministerium für Jugend, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit hatte<br />

das Handbuch, das zum Internationalen Jahr <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s 1979 gera<strong>de</strong> recht kam,<br />

geför<strong>de</strong>rt <strong>und</strong> im Rahmen <strong>de</strong>r Öffentlichkeitsarbeit <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esregierung zugänglich<br />

gemacht.<br />

Seither ist <strong>de</strong>r Band in einer Aufl age von 420 000 Exemplaren kostenlos an Interessierte<br />

abgegeben wor<strong>de</strong>n. Sozialarbeiter <strong>und</strong> Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen<br />

<strong>und</strong> Ärzte, Psychologen <strong>und</strong> Psychologinnen <strong>und</strong> Psychotherapeutinnen <strong>und</strong> -therapeuten<br />

sowie Fachkräfte <strong>de</strong>r angrenzen<strong>de</strong>n Berufsgruppen <strong>de</strong>s Polizei- <strong>und</strong> Justizwesens<br />

haben damit gearbeitet. Tausen<strong>de</strong> von Studieren<strong>de</strong>n haben es in ihrem<br />

Studium als eine erste Einführung benutzt. Aber es gab auch ein großes Interesse<br />

in <strong>de</strong>r breiteren Bevölkerung <strong>und</strong> nicht zuletzt bei <strong>de</strong>n Medien.<br />

Kin<strong>de</strong>smisshandlung – <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong> hat dazu beigetragen, <strong>de</strong>n Weg für<br />

das seit 1990 gelten<strong>de</strong> neue Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfegesetz (KJHG) zu öffnen,<br />

das auf Hilfe <strong>und</strong> die offene Partnerschaft zwischen Eltern, Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

setzt. Inzwischen hat eine weitere Ausdifferenzierung <strong>de</strong>r Angebote <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> auch die Forschung hat neue Erkenntnisse gewonnen.<br />

Heute wissen wir noch mehr über die unterschiedlichen Traumatisierungen<br />

von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> ihre Folgen, über die Be<strong>de</strong>utung stabiler Beziehungen gera<strong>de</strong> in<br />

<strong>de</strong>n ersten Lebensjahren <strong>und</strong> über protektive Faktoren. Wir wissen genauer Bescheid<br />

über die Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt, Drogenkonsum <strong>und</strong> psychischen<br />

Erkrankungen auf die Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn. Neben <strong>de</strong>m Zuwachs<br />

an Wissen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r fortlaufen<strong>de</strong>n Selbstüberprüfung <strong>de</strong>r Jugendhilfe gibt es nach<br />

wie vor Kin<strong>de</strong>r, die durch Vernachlässigung <strong>und</strong> Misshandlung bleiben<strong>de</strong> Schä<strong>de</strong>n<br />

davon tragen o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Folgen sogar sterben. Mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s § 8a SGB<br />

VIII hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber zuletzt darauf reagiert <strong>und</strong> versucht, <strong>de</strong>n Umgang mit<br />

einem Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> verbindlicher zu regeln.<br />

Wir haben die Anregungen <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>esministeriums für Familie, Senioren, Frauen<br />

<strong>und</strong> Jugend gern aufgegriffen, bei <strong>de</strong>r Neuaufl age <strong>de</strong>s Handbuches unter Berücksichtigung<br />

<strong>de</strong>r vielfältigen Erfahrungen <strong>und</strong> Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Praxis <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

zahlreichen neuen Forschungsergebnisse eine gründliche Überarbeitung <strong>und</strong> Erweiterung<br />

vorzunehmen. Daraus ergibt sich u.a. <strong>de</strong>r neue Titel <strong>de</strong>r Broschüre<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> – <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong>.<br />

6


Wenn sich auch <strong>de</strong>r Titel dieser Broschüre verän<strong>de</strong>rt hat, so hat sich an <strong>de</strong>r programmatischen<br />

<strong>und</strong> methodischen Gr<strong>und</strong>orientierung für die Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit<br />

nichts geän<strong>de</strong>rt. An unserem Gr<strong>und</strong>satz Hilfe statt Strafe halten wir fest <strong>und</strong> bekräftigen<br />

die Einsicht, dass Kin<strong>de</strong>rschutz nicht allein auf Kin<strong>de</strong>r gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Konfl<br />

ikte <strong>und</strong> Notlagen, die wir <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nennen, reagiert, son<strong>de</strong>rn dass<br />

das Kin<strong>de</strong>rschutzsystem als ein vielgestaltiges Feldgeschehen an <strong>de</strong>r Problemkonstruktion<br />

selbst mitwirkt. Nicht nur Familien o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r haben Probleme. Auch<br />

das Jugendhilfe- <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rschutzsystem ist ein Problemproduzent. Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

<strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rschutz wer<strong>de</strong>n interkommunikativ erzeugt. Darum sind die<br />

Fachkräfte, die Helfer, wesentlicher Angelpunkt einer guten Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit:<br />

Wer Kin<strong>de</strong>r schützen will, muss Helfer <strong>und</strong> Hilfesysteme so verän<strong>de</strong>rn, dass sie zu<br />

einer offenen Erörterung wahrgenommener Probleme <strong>und</strong> zu partnerschaftlicher<br />

Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung in <strong>de</strong>r Lage sind. Erst wenn Hilfe zu einem Prozess konkreter<br />

Gegenseitigkeit im Verstehen wie im Han<strong>de</strong>ln wird, kann die Hilfe von <strong>de</strong>n<br />

Betroffenen angenommen <strong>und</strong> genutzt wer<strong>de</strong>n. Hier müssen wir in je<strong>de</strong>r Familie<br />

<strong>und</strong> in je<strong>de</strong>r Hilfeeinrichtung unter sich ständig verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Bedingungen immer<br />

wie<strong>de</strong>r neu ansetzen. Dabei kann es nicht nur darum gehen, Notlagen <strong>und</strong> Hilfen<br />

in diesen Notlagen zu individualisieren, son<strong>de</strong>rn es muss auch Einfl uss auf die<br />

Strukturen genommen wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen diese Notlagen entstehen konnten.<br />

Den Versuchen, das Jugendhilfesystem weiter zu qualifi zieren <strong>und</strong> auch über neue<br />

Gesetze zu verän<strong>de</strong>rn, stehen gesellschaftliche Umbrüche gegenüber, die in das<br />

Leben von Familien hineinwirken: Sei es, dass Orientierungen verloren gegangen<br />

sind o<strong>de</strong>r die kindliche Lebenswelt sich über die neuen Medien verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r<br />

immer mehr Kin<strong>de</strong>r mit getrennt leben<strong>de</strong>n Eltern aufwachsen o<strong>de</strong>r viele Kin<strong>de</strong>r<br />

in Armut leben müssen. Der Bedarf an Unterstützung für Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Familien ist<br />

weiterhin hoch, ihm stehen aber auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite Kürzungen von Leistungen<br />

<strong>und</strong> Hilfsangeboten gegenüber. Noch immer sind die Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />

<strong>de</strong>r Jugendämter mit <strong>de</strong>r Vielzahl <strong>de</strong>r ihnen anvertrauten Familien überlastet,<br />

noch immer ist zu wenig Geld da für eine breite Präventionsarbeit, noch immer<br />

sind etwa für Erzieherinnen die Arbeitsbedingungen nicht ausreichend, obwohl<br />

ihnen ständig neue Aufgaben übertragen wer<strong>de</strong>n.<br />

Uns, <strong>de</strong>n Herausgebern von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> – <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong>,<br />

kommt es beson<strong>de</strong>rs darauf an, hier eine Haltung zu <strong>de</strong>n Familien <strong>und</strong> zu Hilfen zu<br />

ver<strong>de</strong>utlichen, von <strong>de</strong>r im Kin<strong>de</strong>rschutz maßgeblich <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r Interventionen<br />

abhängt. Neben allem Fachwissen ist die Beziehung <strong>de</strong>s Helfers zur Familie von<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung für <strong>de</strong>n Erfolg einer Hilfe. Wir sehen unseren Beitrag<br />

darin, diesen Ansatz durchgängig zu ver<strong>de</strong>utlichen. Er ist von einer langjährigen<br />

erfolgreichen Praxis in <strong>de</strong>r Arbeit mit Familien aber auch in Fortbildungen immer<br />

wie<strong>de</strong>r bestätigt wor<strong>de</strong>n. Das Handbuch wen<strong>de</strong>t sich sowohl an Fachkräfte, die<br />

langjährig im Feld arbeiten, als auch an Fachkräfte, die über <strong>de</strong>n neu formulierten<br />

7


Schutzauftrag erst mit <strong>de</strong>m Thema <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> in Berührung kommen.<br />

Es wen<strong>de</strong>t sich an Sozialarbeiterinnen <strong>und</strong> Sozialarbeiter, Erzieherinnen <strong>und</strong><br />

Erzieher, an Fachkräfte aus <strong>de</strong>m medizinischen Bereich, an Einzelfall- <strong>und</strong> Familienhelferinnen<br />

<strong>und</strong> -helfer, an Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, an ehrenamtlich Tätige in<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Interessierte. Die Erweiterungen in dieser 10. überarbeiteten<br />

Aufl age bestehen in <strong>de</strong>n Kapiteln Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl? (Kapitel 3), im<br />

Kapitel 9, das sich mit <strong>de</strong>r Risikoabschätzung befasst <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Orientierung auf<br />

frühe Hilfen (Kapitel 11). Ebenfalls neu sind das Kapitel 10 mit seinem Überblick<br />

über unterschiedliche Hilfsangebote verschie<strong>de</strong>ner Institutionen, das Kapitel 12,<br />

das auf szenisches Verstehen als hilfreichen Ansatz bei <strong>de</strong>r Arbeit von Helfern verweist<br />

sowie das Kapitel 13 mit Ausführungen zum Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>.<br />

Einige Textpassagen haben wir aus <strong>de</strong>r 9. Aufl age übernommen <strong>und</strong><br />

danken <strong>de</strong>n damaligen Autoren Angela Bernecker-Wolff, Pieter Hutz, Prof. Reinhart<br />

Wolff. Im Anhang fi n<strong>de</strong>n sich Hinweise auf gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> Literatur.<br />

März 2009<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong><br />

8


Einleitung<br />

9


Was ist neu im Kin<strong>de</strong>rschutz?<br />

1<br />

Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n verletzt o<strong>de</strong>r gar getötet, kommen durch Vernachlässigung zu To<strong>de</strong>,<br />

sind sexueller Gewalt ausgesetzt. Gravieren<strong>de</strong> Fälle von Kin<strong>de</strong>smisshandlung sind<br />

im Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, alarmieren die Medien <strong>und</strong> die Politik.<br />

Abscheu, Wut <strong>und</strong> Entsetzen über das, was Eltern ihren Kin<strong>de</strong>rn antun, entstehen.<br />

Viele reagieren mit Unverständnis <strong>und</strong> gleichzeitig entsteht <strong>de</strong>r Wunsch nach<br />

einer Erklärung: Warum? Was sind das für Eltern? Welche Ursachen gibt es?<br />

Beson<strong>de</strong>rs durch die To<strong>de</strong>sfälle von Jessica in Hamburg (2005), von Kevin in<br />

Bremen (2006) <strong>und</strong> Lea Sophie in Schwerin (2007) hat sich <strong>de</strong>r Schwerpunkt <strong>de</strong>r<br />

öffentlichen Debatte verschoben: Die Jugendhilfe selbst <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re die Jugendämter<br />

sind in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit gerückt. Die mediale <strong>und</strong><br />

politische Debatte kulminierte am 19. Dezember 2007 in einem Kin<strong>de</strong>rschutzgipfel,<br />

in <strong>de</strong>r Konferenz <strong>de</strong>r Regierungschefs <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r mit B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

Merkel.<br />

Die Jugendhilfe schien in eine Legitimationskrise geraten zu sein. Das Ansehen<br />

<strong>de</strong>r Jugendämter drohte nachhaltig beschädigt zu wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n Medien wur<strong>de</strong><br />

die Arbeit <strong>de</strong>r Jugendämter meistens auf das Wächteramt reduziert. Als Wächtern<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls wur<strong>de</strong>n ihnen aber gera<strong>de</strong> erhebliche Versäumnisse vorgeworfen.<br />

Statt einer besonnenen Klärung <strong>und</strong> einer ruhigen Debatte über die Strukturen<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe wur<strong>de</strong> schnell schuldig gesprochen – o<strong>de</strong>r reingewaschen.<br />

Schweren Vorwürfen <strong>und</strong> Zuschreibungen über ein individuelles o<strong>de</strong>r strukturelles<br />

Versagen stan<strong>de</strong>n rasche Dementis <strong>de</strong>r Jugendämter gegenüber.<br />

Oft wur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Jugendhilfe kritisiert, zu sehr die Eltern <strong>und</strong> zu wenig die Kin<strong>de</strong>r<br />

im Blick zu haben. Die schwierige Aufgabe <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschützer ist aber gera<strong>de</strong>,<br />

mit Eltern in Kontakt zu kommen. Eltern brauchen Unterstützung, um angemessen<br />

für ihre Kin<strong>de</strong>r da zu sein. In <strong>de</strong>r öffentlichen Debatte kann man <strong>de</strong>n Eindruck<br />

gewinnen, dass die konfl iktreiche Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern zum Schutz <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s oft missverstan<strong>de</strong>n wird. Allein die Bemühungen <strong>de</strong>r Sozialarbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Sozialarbeiter, sich mit <strong>de</strong>n Eltern über Gefährdungssituationen zu verständigen<br />

<strong>und</strong> herauszufi n<strong>de</strong>n, welche Hilfe helfen könnte, wer<strong>de</strong>n als von vorn herein<br />

aussichtslos o<strong>de</strong>r überfl üssig entwertet. Es scheint dann, als hieße verstehen wollen,<br />

einverstan<strong>de</strong>n zu sein. Manchmal wird dann die verständliche Wut <strong>und</strong> Empörung<br />

auf die misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Eltern auf die Helfer übertragen.<br />

Gera<strong>de</strong> angesichts einer erregten Öffentlichkeit ist Besonnenheit im Kin<strong>de</strong>rschutz,<br />

<strong>de</strong>r sich am Wohl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> nicht an <strong>de</strong>n Gefühlen <strong>de</strong>r Öffentlichkeit orientiert,<br />

eine zentrale Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Jugendhilfe. Kin<strong>de</strong>rschutz bedarf einer offenen<br />

<strong>und</strong> interessierten Haltung gegenüber <strong>de</strong>njenigen, die ihre Kin<strong>de</strong>r nicht angemessen<br />

versorgen, sie verwahrlosen lassen, sie misshan<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r sie für eigene<br />

Zwecke missbrauchen. Daher interessieren sich Kin<strong>de</strong>rschützer für die Notlagen<br />

<strong>und</strong> dramatischen Lebensgeschichten von Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r aktuellen<br />

Gefährdung. Fachkräfte im Kin<strong>de</strong>rschutz versuchen in <strong>de</strong>r Regel, <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s in Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern zu erwirken.<br />

10


Wenn aber in <strong>de</strong>r öffentlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Diskussion das Jugendamt ausschließlich<br />

als Kontroll- <strong>und</strong> Eingriffsbehör<strong>de</strong> erscheint, wer<strong>de</strong>n Angst <strong>und</strong> Misstrauen<br />

bei betroffenen Eltern erzeugt. Eltern sollen sich doch vertrauensvoll um<br />

Hilfe an die Jugendhilfe wen<strong>de</strong>n, wenn die Beziehungen mit ihren Kin<strong>de</strong>rn nicht<br />

gelingen. Wenn die Debatte um <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschutz jedoch zur Isolation <strong>und</strong> Abschreckung<br />

<strong>de</strong>r Hilfebedürftigen beiträgt, trägt sie ungewollt zur Gefährdung <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r bei.<br />

Die zahlreichen Fälle, wo Jugendhilfe erfolgreich helfen konnte, fi n<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Debatte keinen Platz mehr. Vielmehr wird die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

durch Fälle bestimmt, wo vermeintlich o<strong>de</strong>r tatsächlich <strong>de</strong>r Schutz <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s misslingt o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu Unrecht aus ihren Familien gerissen wer<strong>de</strong>n.<br />

Die prognostische Einschätzung, ob das Wohl eines Kin<strong>de</strong>s gefähr<strong>de</strong>t ist <strong>und</strong> daher<br />

eine Intervention <strong>de</strong>s Jugendamtes notwendig ist, gehört zu <strong>de</strong>n schwierigsten<br />

Aufgaben sozialarbeiterischen Han<strong>de</strong>lns. Oft muss in komplexen <strong>und</strong> wenig überschaubaren<br />

Situationen mit wenigen Informationen eine Entscheidung getroffen<br />

wer<strong>de</strong>n. Häufi g gibt es wegen <strong>de</strong>r Vielzahl beteiligter Helfer <strong>und</strong> wegen <strong>de</strong>r emotional<br />

sehr belasten<strong>de</strong>n Situation auch Probleme in <strong>de</strong>r Kooperation <strong>de</strong>r Beteiligten.<br />

Ausgelöst durch einen Strafprozess gegen eine Mitarbeiterin <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

im Fall eines getöteten Mädchens in Osnabrück wird seit 1995 unter <strong>de</strong>m Stichwort<br />

Garantenpfl icht über die „strafrechtliche Relevanz sozialarbeiterischen Han<strong>de</strong>lns“<br />

diskutiert 1 . Auch wenn in <strong>de</strong>r Praxis eine strafrechtliche Verurteilung einer<br />

Fachkraft <strong>de</strong>r Jugendhilfe wenig wahrscheinlich ist, hat die Debatte zu erheblicher<br />

Unsicherheit <strong>und</strong> Angst bei <strong>de</strong>n Fachkräften <strong>de</strong>r Jugendhilfe geführt 2 . Die Sorge,<br />

ob die Hilfe für ein Kind trägt, ob <strong>de</strong>r Schutz gewährleistet ist, ob nichts passiert,<br />

wird nun ergänzt durch die Sorge, morgen in <strong>de</strong>r Zeitung – o<strong>de</strong>r mit einem<br />

Bein im Gefängnis zu stehen. Neben <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>rschutz stellt sich die Frage <strong>de</strong>s<br />

Schutzes <strong>de</strong>r Fachkräfte. Der einzelne Mitarbeiter steht unter enormem Druck,<br />

keine Fehler zu machen. Angst <strong>und</strong> Druck in krisenhaft zugespitzten Situationen<br />

können das Fehlerrisiko erhöhen.<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz ist als ein zentraler Auftrag im Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfegesetz<br />

(SGB VIII) formuliert. Durch die Einfügung <strong>de</strong>s § 8a KJHG, in Kraft getreten<br />

am 1.10.2005, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schutzauftrag <strong>de</strong>r Jugendhilfe gestärkt 3 . Der Paragraf<br />

1 So <strong>de</strong>r Titel eines Papiers <strong>de</strong>s Deutschen Städtetages, abgedruckt in: Das Jugendamt, 2003, 226 ff.<br />

2 s. auch Strafrechtliche Garantenhaftung in diesem Buch<br />

3 Im Januar 2009 hat die B<strong>und</strong>esregierung <strong>de</strong>n Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes<br />

(Kin<strong>de</strong>rschutzgesetz) BT-Drucksache (16/12429) vorgelegt: Es plant die Einbindung von<br />

„Berufsgeheimnisträgern“ (vor allem von Ärzten <strong>und</strong> Therapeuten) <strong>und</strong> von Personen, die außerhalb<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe Kin<strong>de</strong>r betreuen (z.B. Ausbil<strong>de</strong>r), in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschutz. Außer<strong>de</strong>m normiert es eine<br />

Verpfl ichtung für die Jugendämter, bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Gefährdung das Kind in<br />

11


Was ist neu im Kin<strong>de</strong>rschutz?<br />

präzisiert <strong>de</strong>n Auftrag <strong>de</strong>r Jugendämter <strong>und</strong> bin<strong>de</strong>t überdies alle Fachkräfte, die<br />

Leistungen nach <strong>de</strong>m Gesetz erbringen, in <strong>de</strong>n Schutzauftrag ein. Er bestärkt die<br />

Gr<strong>und</strong>haltung <strong>de</strong>r Jugendhilfe, Kin<strong>de</strong>r in Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern durch<br />

die Bereitstellung geeigneter Hilfen zu schützen. Zugleich markiert er auch eine<br />

Grenze <strong>de</strong>r vertrauensvollen <strong>und</strong> geschützten Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong><br />

Kin<strong>de</strong>rn. Wenn im Kontakt zu <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s nicht<br />

einvernehmlich erarbeitet wer<strong>de</strong>n kann, ruft das Jugendamt das Familiengericht<br />

an <strong>und</strong> die Fachkräfte <strong>de</strong>r Freien Träger nehmen Kontakt zum Jugendamt auf.<br />

Die neue Aufmerksamkeit für <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschutz, die Sorge um die Garantenstellung<br />

<strong>und</strong> die Gesetzesän<strong>de</strong>rung haben eine intensive fachliche Debatte in <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe ausgelöst. Diese hat sich in <strong>de</strong>n letzten zehn Jahren in zahlreichen<br />

Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungen, auf Kongressen <strong>und</strong> Tagungen mit Fragen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes<br />

befasst. Umfangreiche Arbeitshilfen sind entstan<strong>de</strong>n, um eine möglichst<br />

f<strong>und</strong>ierte Einschätzung <strong>de</strong>r Gefährdung vornehmen zu können. Handlungsempfehlungen<br />

wur<strong>de</strong>n erarbeitet, um die Zusammenarbeit <strong>de</strong>r Helfer <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Kontakt<br />

zu <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn in Kin<strong>de</strong>rschutzfällen nach <strong>de</strong>n „Regeln <strong>de</strong>r Kunst“<br />

zu organisieren. Kin<strong>de</strong>rschutz-Netzwerke wur<strong>de</strong>n geknüpft, um in <strong>de</strong>r Kommune<br />

o<strong>de</strong>r im Sozialraum effektiver zusammenzuarbeiten. Eingeb<strong>und</strong>en in diese Netzwerke<br />

wur<strong>de</strong>n die Ges<strong>und</strong>heitsdienste, die Schulen, die Polizei, die Frauenhilfe<br />

<strong>und</strong> die Familiengerichte 4 . Dabei stan<strong>de</strong>n die Fragen <strong>de</strong>s Zugangs <strong>und</strong> <strong>de</strong>s angemessenen<br />

Han<strong>de</strong>lns im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>. Wie kann ich Anzeichen für die Gefährdung<br />

eines Kin<strong>de</strong>s frühzeitig erkennen? Wie kann ich hilfreich mit <strong>de</strong>n Eltern in Kontakt<br />

kommen? Wie kann ich zum Schutze <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s kooperieren? Was sind die<br />

Grenzen meines Han<strong>de</strong>lns?<br />

Wegen <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Verletzbarkeit kleiner Kin<strong>de</strong>r, die zu<strong>de</strong>m nicht in ein soziales<br />

Netzwerk wie Kin<strong>de</strong>rgarten o<strong>de</strong>r Schule eingeb<strong>und</strong>en sind, richtete sich<br />

die Aufmerksamkeit beson<strong>de</strong>rs auf Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> kleinen Kin<strong>de</strong>rn<br />

<strong>und</strong> auf Risiken in <strong>de</strong>r Schwangerschaft. Die Netzwerke beziehen hier, um Anzeichen<br />

von Gefährdungen zu erkennen <strong>und</strong> um <strong>de</strong>r Entwicklungen von gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Beziehungen vorzubeugen, vor allem die Fachkräfte <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heitshilfe<br />

ein – Frauenärztinnen <strong>und</strong> Frauenärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen, Geburtskliniken,<br />

Kin<strong>de</strong>rärztinnen <strong>und</strong> -ärzte <strong>und</strong> Hebammen sowie die Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong><br />

Jugendges<strong>und</strong>heitsdienste. Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) wur<strong>de</strong><br />

gegrün<strong>de</strong>t (März 2007). Es soll Projekte, die präventive Hilfen für junge Familien<br />

entwickeln, unterstützen <strong>und</strong> begleiten, Qualifi zierung in <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />

von Risiken <strong>und</strong> Belastungen bereitstellen, die Wirksamkeit von Hilfen überprü-<br />

Augenschein zu nehmen (in <strong>de</strong>r Regel durch einen Hausbesuch).<br />

4 Die Tätigkeit <strong>de</strong>r Familiengerichte bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wur<strong>de</strong> in einer Neufassung <strong>de</strong>s § 1666<br />

BGB präzisiert (Juli 2008).<br />

12


Was ist neu im Kin<strong>de</strong>rschutz?<br />

fen <strong>und</strong> die multiprofessionelle Kooperation im Arbeitsfeld <strong>de</strong>r frühen Hilfen för<strong>de</strong>rn<br />

5 . Allerdings gab es im Bereich <strong>de</strong>s präventiven Kin<strong>de</strong>rschutzes in <strong>de</strong>n letzten<br />

Jahren eine wi<strong>de</strong>rsprüchliche Entwicklung. Dem Abbau präventiver Hilfen <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m massiven, regional sehr unterschiedlichen Abbau <strong>de</strong>r Hilfen zur Erziehung<br />

stehen interessante neue, mo<strong>de</strong>llhafte Projekte gegenüber, die vor allem neue Kooperationswege<br />

zwischen Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> Jugendhilfe erproben. Durch<br />

Einsparungen bei <strong>de</strong>n Jugendämtern <strong>und</strong> im Bereich <strong>de</strong>r Hilfen zu Erziehung bei<br />

gleichzeitiger Zunahme <strong>de</strong>r Fälle hat die Arbeitsbelastung in <strong>de</strong>r Jugendhilfe erheblich<br />

zugenommen, außer<strong>de</strong>m ist wegen fehlen<strong>de</strong>r Neuanstellungen <strong>de</strong>r Altersdurchschnitt<br />

<strong>de</strong>r Fachkräfte gestiegen. Hilferufe aus einigen Jugendämtern, dass<br />

eine ordnungsgemäße Arbeit im Kin<strong>de</strong>rschutz nicht mehr möglich sei, haben wenig<br />

bewirkt. Viele Jugendämter berichten, dass sie ihre Arbeit auf schwere Kin<strong>de</strong>rschutzfälle<br />

beschränken müssen, dass die Zeit für eine behutsame Kontaktaufnahme<br />

mit Familien nicht ausreiche <strong>und</strong> dass vor allem die präventive familienunterstützen<strong>de</strong><br />

Arbeit nicht gewährleistet sei.<br />

Die erheblichen Anstrengungen <strong>de</strong>r letzten Jahre, die Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit qualitativ<br />

zu verbessern, fi n<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Ausstattung <strong>de</strong>r Jugendhilfe <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r<br />

Jugendämter ihre Grenze. Kin<strong>de</strong>rschutz braucht Zeit, um die Situation eines Kin<strong>de</strong>s<br />

in Ruhe zu untersuchen, um mit <strong>de</strong>n Eltern in Kontakt zu kommen, um die<br />

Kooperation gut zu gestalten <strong>und</strong> in Konfl iktsituationen besonnen zu entschei<strong>de</strong>n.<br />

Zeit braucht es auch für Vernetzung <strong>und</strong> für Fortbildung <strong>de</strong>r Helfer. Die fachlich<br />

anspruchsvolle <strong>und</strong> emotional belasten<strong>de</strong> Arbeit mit Eltern, die ihre Kin<strong>de</strong>r gefähr<strong>de</strong>n,<br />

ist ohne kollegiale Fallrefl exion <strong>und</strong> externe Supervision nicht verantwortbar.<br />

Insofern droht die quantitativ <strong>und</strong> qualitativ mangelhafte Ausstattung <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe selbst zum Risiko für Kin<strong>de</strong>r zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Eine Fach<strong>de</strong>batte über die Untersuchung von Fehlern im Kin<strong>de</strong>rschutz hat begonnen.<br />

Jenseits von Schuldzuweisungen konzentriert sie sich auf Mängel in <strong>de</strong>n<br />

Strukturen <strong>de</strong>r Jugendhilfe <strong>und</strong> auf Mängel in <strong>de</strong>r Kooperation 6 . Ein Netzwerk<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz mit angemessenen Ressourcen bleibt eine Aufgabe für die Zukunft.<br />

Dieses Netzwerk als lernen<strong>de</strong>s System könnte das Lernen aus Kin<strong>de</strong>rschutzfehlern<br />

mit <strong>de</strong>m Lernen von erfolgreicher Praxis verbin<strong>de</strong>n.<br />

5 www.fruehehilfen.<strong>de</strong><br />

6 s. hierzu: Lernen aus problematischen Kin<strong>de</strong>rschutzverläufen – Machbarkeitsexpertise zur Verbesserung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes durch systematische Fehleranalyse, 2008, hrsg. vom BMFSFJ<br />

13


2<br />

Wie können Fälle von Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls erlebt<br />

wer<strong>de</strong>n?<br />

Sind Kin<strong>de</strong>r in Familien verletzt o<strong>de</strong>r massiv in ihrer Entwicklung beeinträchtigt<br />

wor<strong>de</strong>n, stehen Fachkräfte immer vor <strong>de</strong>r Aufgabe einzuschätzen, wie es zu diesen<br />

Verletzungen kommen konnte, ob <strong>und</strong> wie eine Wie<strong>de</strong>rholung ausgeschlossen<br />

wer<strong>de</strong>n kann, welche Hilfen geeignet sind <strong>und</strong> ob ein Kind fremd untergebracht<br />

wer<strong>de</strong>n muss. Das geht nur im Kontakt mit <strong>de</strong>n Eltern. Auch aus Sicht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

führt <strong>de</strong>r Weg zu einer Hilfe notwendig über die Eltern. Die Erfahrung zeigt, dass<br />

alle Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern lieben <strong>und</strong> auch misshan<strong>de</strong>lte Kin<strong>de</strong>r meist bei ihren Eltern<br />

bleiben wollen. Sie wünschen sich keine an<strong>de</strong>ren Eltern son<strong>de</strong>rn Eltern, die<br />

sie an<strong>de</strong>rs behan<strong>de</strong>ln. Hilfen wer<strong>de</strong>n also darauf zielen, Familien zu unterstützen,<br />

damit Kin<strong>de</strong>r Zuhause unbescha<strong>de</strong>t aufwachsen <strong>und</strong> sich gut entwickeln können.<br />

Manchmal ist das aber nicht möglich <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Eltern müssen getrennt wer<strong>de</strong>n.<br />

Auch dann ist es sinnvoll weiter mit <strong>de</strong>n Eltern zu arbeiten, <strong>de</strong>nn Fremdunterbringungen<br />

gelingen besser, wenn die Eltern sie mittragen <strong>und</strong> die Kin<strong>de</strong>r entwickeln<br />

sich meist positiver, wenn <strong>de</strong>r Kontakt zwischen Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn trotz<br />

räumlicher Trennung erhalten bleibt. Wer also misshan<strong>de</strong>lten, missbrauchten, vernachlässigten<br />

Kin<strong>de</strong>rn helfen will, kann das am besten über die Arbeit mit <strong>de</strong>n Eltern<br />

tun. Das KJHG (vgl. z. B. § 1, § 36) schreibt die Einbeziehung <strong>de</strong>r Eltern in<br />

eine Hilfe fest.<br />

Gefühle bei <strong>de</strong>n Helfern<br />

Was zunächst einleuchtend notwendig erscheinen mag, ist in <strong>de</strong>r Praxis doch<br />

schwer umzusetzen. Kin<strong>de</strong>r mit massiven Verletzungen, mit Hämatomen, Brüchen,<br />

starken Entwicklungsverzögerungen, Kin<strong>de</strong>r, die blass <strong>und</strong> ungepfl egt sind,<br />

unterernährt <strong>und</strong> in schlechter ges<strong>und</strong>heitlicher Verfassung, lösen in uns immer<br />

starke Gefühle aus. Fast täglich lesen wir über sie in <strong>de</strong>r Presse. Dabei wer<strong>de</strong>n allerdings<br />

nur sehr schwere Fälle geschil<strong>de</strong>rt, so dass es scheint, als gäbe es keine<br />

leichten Fälle. Es wird zu<strong>de</strong>m nur das Ergebnis geschil<strong>de</strong>rt (ein Kind wur<strong>de</strong> verletzt),<br />

nicht aber, wie die Beziehung <strong>und</strong> die Situation war, in <strong>de</strong>r es zu einer solchen<br />

Schädigung kommen konnte. Wir bleiben zurück mit Unverständnis, Entsetzen<br />

<strong>und</strong> Hilfl osigkeit. Eltern erscheinen als Angst machen<strong>de</strong> Monster, die man<br />

allenfalls wegsperren, mit <strong>de</strong>nen man sich aber nicht weiter befassen muss o<strong>de</strong>r<br />

kann.<br />

Die Intensität <strong>de</strong>r Gefühle<br />

Zu<strong>de</strong>m beobachten wir oft eine bestimmte Abfolge von Gefühlen: Zunächst empfi<br />

n<strong>de</strong>n die meisten von uns, die mit geschädigten Kin<strong>de</strong>rn konfrontiert wer<strong>de</strong>n,<br />

Mitleid für diese Kin<strong>de</strong>r. Rettungsphantasien <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Impuls zu helfen sind sehr<br />

stark. Zeigt sich dann, dass die Verletzungen durch absichtliches Han<strong>de</strong>ln von<br />

Dritten – meist <strong>de</strong>n Eltern – hervorgerufen wur<strong>de</strong>n, tritt neben das Mitleid für das<br />

14


Kind schnell eine heftige Wut auf diese Eltern. For<strong>de</strong>rungen nach Bestrafung regen<br />

sich. Meist sind die Gefühle umso heftiger, je jünger das Kind <strong>und</strong> je offensichtlicher<br />

es geschädigt ist.<br />

Die Intensität unserer Gefühle hängt auch davon ab, in welchem Kontext uns diese<br />

Kin<strong>de</strong>r begegnen <strong>und</strong> auf welche Art <strong>und</strong> in welchem Ausmaß sie geschädigt sind.<br />

Hilfeimpulse für die Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Bestrafungsimpulse gegen die Eltern sind umso<br />

stärker, je direkter wir mit <strong>de</strong>m geschädigten Kind zu tun haben. Eine Kin<strong>de</strong>rkrankenschwester<br />

etwa, die sich um ein schwer verletztes Kind kümmern muss, wird<br />

es daher vermutlich schwerer haben, offen auf die Eltern dieses Kin<strong>de</strong>s zuzugehen<br />

als etwa eine Beraterin o<strong>de</strong>r ein Berater, <strong>de</strong>r die Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s so<br />

direkt gar nicht sehen muss.<br />

Bestrafungsimpulse <strong>de</strong>n Eltern gegenüber sind auch dann um so heftiger, je mehr<br />

die Eltern leugnen, das Kind geschädigt zu haben o<strong>de</strong>r je offener sie es ablehnen<br />

o<strong>de</strong>r ihre Handlungen rechtfertigen. Begegnen sie Helfern mit Missachtung, Entwertung<br />

o<strong>de</strong>r Angriffen o<strong>de</strong>r versuchen sie, sie zu vereinnahmen kann es leicht zu<br />

einem Teufelskreis zwischen Eltern <strong>und</strong> Helfern kommen: Je stärker die Eltern<br />

leugnen, <strong>de</strong>sto massiver begegnen ihnen die Helfer <strong>und</strong> <strong>de</strong>sto mehr ziehen sich die<br />

Eltern zurück, <strong>de</strong>sto weniger wahrscheinlich ist es, gemeinsam mit <strong>de</strong>n Eltern zu<br />

einer Hilfe zu fi n<strong>de</strong>n.<br />

Die Qualität <strong>de</strong>r Gefühle<br />

Aber nicht nur die Intensität <strong>de</strong>r Gefühle ist unterschiedlich. Welche Gefühle bei<br />

Helfern ausgelöst wer<strong>de</strong>n, hängt auch von <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>r Beeinträchtigung <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r ab. In Fachgesprächen <strong>und</strong> Supervisionen fällt immer wie<strong>de</strong>r auf, dass<br />

Helfer auf misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Eltern eher mit aggressiven Impulsen <strong>und</strong> weniger mit<br />

Angst reagieren, während bei sexuellem Missbrauch Angst, Verwirrung, Unsicherheit,<br />

Empörung <strong>und</strong> Handlungsdruck größer sind <strong>und</strong> eine Diskussion oft polarisierend<br />

verläuft (es um richtig o<strong>de</strong>r falsch geht, eher von Opfern <strong>und</strong> Tätern<br />

gesprochen wird). Vernachlässigungsfamilien dagegen lösen in uns überwiegend<br />

Hilfl osigkeit <strong>und</strong> Resignation aus. Schädigungen sind schwerer anzugeben <strong>und</strong><br />

einzugrenzen, Hilfen scheinen schwieriger zu fi n<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wenig Erfolg zu versprechen.<br />

So ist es wohl auch nicht zufällig, dass Fälle von Vernachlässigung am<br />

ehesten übersehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Einfl uss <strong>de</strong>r eigenen Biografi e<br />

Die Reaktion auf verletzte, missbrauchte, vernachlässigte Kin<strong>de</strong>r fällt bei uns Helfern<br />

auch je nach <strong>de</strong>n Erfahrungen, die wir mit unseren eigenen Eltern gemacht<br />

haben, unterschiedlich aus. Heute wissen wir aus <strong>de</strong>r Forschung über Erwachsene,<br />

die als Kin<strong>de</strong>r misshan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n, dass gera<strong>de</strong> sie häufi g dazu neigen, ihre Eltern<br />

zu i<strong>de</strong>alisieren <strong>und</strong> sich immer noch die Liebe von ihnen erhoffen, die sie früher<br />

15


Wie können Fälle von Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls erlebt wer<strong>de</strong>n?<br />

nicht bekommen konnten. Sie rationalisieren die Gewalt („Mir haben die Schläge<br />

nicht gescha<strong>de</strong>t“) <strong>und</strong> beschuldigen sich selbst („Ich hatte es auch verdient“…) 1 .<br />

Diese Rationalisierungen <strong>und</strong> Selbstbeschuldigungen schützen vor <strong>de</strong>m Schmerz,<br />

abgelehnt wor<strong>de</strong>n zu sein <strong>und</strong> sind Versuche, <strong>de</strong>m Unverständlichen einen Sinn<br />

zu geben <strong>und</strong> einen Rest Kontrolle über die Situation empfi n<strong>de</strong>n zu können. Sie<br />

sind zugleich aber nur oberfl ächliche Maskierungen. Auf einer tieferen Ebene<br />

ist immer noch das verletzte, zurückgewiesene Kind lebendig, das nun, konfrontiert<br />

mit <strong>de</strong>r Gewalt an<strong>de</strong>rer Eltern gegen ihre Kin<strong>de</strong>r, seine Stimme wie<strong>de</strong>r hören<br />

lässt. Darüber kann es zu Wahrnehmungsverzerrungen bei Helfern mit ähnlichen<br />

Kindheitserfahrungen kommen. Typische Wahrnehmungsverzerrungen in <strong>de</strong>r<br />

Begegnung mit vernachlässigen<strong>de</strong>n, missbrauchen<strong>de</strong>n, misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Eltern<br />

können dann z. B. sein:<br />

❍<br />

❍<br />

16<br />

Verdrängen, Verschweigen, Bagatellisieren<br />

Die Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s scheinen unerträglich <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n daher auch<br />

zum eigenen Schutz in <strong>de</strong>r Wahrnehmung unterschätzt <strong>und</strong> herunter gespielt.<br />

Unbewusst wer<strong>de</strong>n die Eltern in Schutz genommen, um die eigenen, inneren<br />

Eltern vor <strong>de</strong>n Vorwürfen <strong>de</strong>s inneren Kin<strong>de</strong>s zu schützen.<br />

Projektive Ausgrenzung<br />

Die Eltern wer<strong>de</strong>n als Gewalttäter gesehen, die bestraft wer<strong>de</strong>n müssen. Aus<br />

Angst vor diesen Eltern wird <strong>de</strong>r Kontakt zu ihnen vermie<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r es wird ihnen<br />

aggressiv <strong>und</strong> ausgrenzend begegnet. Die Familie wird in Opfer <strong>und</strong> Täter<br />

gespalten, nach <strong>de</strong>n Beziehungen kann nicht mehr gefragt wer<strong>de</strong>n.<br />

Probleme in <strong>de</strong>r Wahrnehmung, <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>und</strong> im Kontakt sind auf <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Seite aber auch dort <strong>de</strong>nkbar, wo Helfer eine glückliche, ganz an<strong>de</strong>re<br />

Kindheit hatten, als die Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r, die nun vor ihnen sitzen. Dann kann<br />

es ihnen schwer fallen, sich überhaupt vorzustellen <strong>und</strong> wahrzunehmen, was passiert<br />

ist <strong>und</strong> wie es dazu kommen konnte, sich einzufühlen o<strong>de</strong>r die Eltern in ihren<br />

Eigenheiten anzunehmen. Die Gefahr liegt hier eher im Übersehen <strong>und</strong> Unterschätzen<br />

<strong>de</strong>r Not <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Eltern. Auch hier zeigt sich, wie das eigene<br />

Gewor<strong>de</strong>nsein maßgeblich für die Vorstellungen darüber ist, wie Eltern sein <strong>und</strong><br />

wie sie die Erziehung ihrer Kin<strong>de</strong>r gestalten sollten. Es zeigt sich aber auch, wie<br />

schwer es überhaupt sein kann, sich diesem schrecklichen Geschehen zu stellen<br />

<strong>und</strong> es nicht erschrocken über die Gewalt <strong>und</strong> die Verletzungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r auszublen<strong>de</strong>n<br />

2 .<br />

1 Vgl. z.B.: Jochen Hardt: Retrospektive Erfassung von Kindheitsbelastungen bei Erwachsenen. In:<br />

Egle, Hoffmann, Joraschky: Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Schattauer<br />

Verlag, Stuttgart, 2005, 227 ff.<br />

2 Vgl.: Annette Streeck-Fischer: Über die Seelenblindheit im Umgang mit schweren Traumatisierungen.<br />

In: dies.: Adoleszenz <strong>und</strong> Trauma, Van<strong>de</strong>nhoeck u. Ruprecht, Göttingen, 1998


Wie können Fälle von Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls erlebt wer<strong>de</strong>n?<br />

Einen Zugang fi n<strong>de</strong>n<br />

Wie aber mit diesen Gefühlen im Bauch einen Zugang zu diesen Eltern fi n<strong>de</strong>n?<br />

Wie kann man mit Eltern sprechen, die ihre Kin<strong>de</strong>r massiv schädigen o<strong>de</strong>r gar<br />

hassen? Es han<strong>de</strong>lt sich bei diesen Eltern ja um Menschen, die gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Schwierigkeiten haben, mit an<strong>de</strong>ren angemessen in Kontakt zu treten 3 , mit ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn aber eben auch mit Helfern. Unsere Erfahrung zeigt: Wir stehen vor <strong>de</strong>r<br />

doppelten Aufgabe, Zugang zu <strong>de</strong>n eigenen Gefühlen <strong>und</strong> zu <strong>de</strong>n Eltern zu fi n<strong>de</strong>n.<br />

Betroffenen Eltern mit Wut, Empörung, Anklagen <strong>und</strong> Vorwürfen zu begegnen,<br />

wür<strong>de</strong> nicht weiterführen. Dadurch wür<strong>de</strong>n lediglich ihre Angst vor Strafe<br />

<strong>und</strong> ihre Scham verstärkt <strong>und</strong> Rückzug, Verleugnung <strong>und</strong> Abwehr entstehen. Ein<br />

hilfreicher Ansatz ist, Verständnis für die Familie <strong>und</strong> ihr ganz individuelles Leben<br />

zu entwickeln ohne mit <strong>de</strong>r Misshandlung, <strong>de</strong>m Missbrauch, <strong>de</strong>r Vernachlässigung<br />

einverstan<strong>de</strong>n zu sein 4 . Eine solche Haltung verringert das Risiko, nicht mit<br />

<strong>de</strong>n Eltern in Kontakt zu kommen <strong>und</strong> ermöglicht, die Eltern anzunehmen, sie zu<br />

halten <strong>und</strong> sie gleichzeitig mit ihrer Verantwortung zu konfrontieren. „Nicht Empörung<br />

ist die Leiti<strong>de</strong>e von Kin<strong>de</strong>rschutz, son<strong>de</strong>rn Interesse <strong>und</strong> soziale Begegnung“<br />

5 . Voraussetzung dafür ist, sich <strong>de</strong>r eigenen Gefühle so weit als möglich bewusst<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Kann ein Helfer seine eigenen aggressiven Gefühle <strong>de</strong>n Eltern<br />

gegenüber nicht handhaben, kann es sinnvoll sein, <strong>de</strong>n Fall an einen an<strong>de</strong>ren Helfer<br />

abzugeben o<strong>de</strong>r zu zweit zu arbeiten.<br />

Die starken Gefühle, die verletzte, beeinträchtigte Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> ihre Eltern in uns<br />

auslösen, drängen uns zu han<strong>de</strong>ln. Druckverstärkend wirken sowohl die öffentlichen<br />

Skandalisierungen von Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls als auch die Komplexität<br />

<strong>de</strong>r familialen Beziehungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Misshandlungsgeschehens. Helfer<br />

können sich damit schnell überfor<strong>de</strong>rt fühlen. Die Gefahr, als Reaktion auf diese<br />

Überfor<strong>de</strong>rung nicht, zu schnell o<strong>de</strong>r falsch zu han<strong>de</strong>ln, ist groß. Man kann sie reduzieren,<br />

in<strong>de</strong>m man sich daran erinnert, dass man nur dann hilfreich sein kann,<br />

wenn man etwas verstan<strong>de</strong>n hat. Verstehen kann man etwas aber nur, wenn man<br />

sich offen damit auseinan<strong>de</strong>r setzt. Das heißt nicht, in Notfallsituationen abzuwarten.<br />

Es be<strong>de</strong>utet aber auch, sich <strong>de</strong>r eigenen Impulse bewusst zu wer<strong>de</strong>n, bevor<br />

man han<strong>de</strong>lt. Eine gute Hilfe basiert <strong>de</strong>mnach immer auf <strong>de</strong>m Dreischritt: erleben<br />

– refl ektieren – han<strong>de</strong>ln. Übereiltes, unrefl ektiertes Han<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r unrefl ektiertes<br />

Nichthan<strong>de</strong>ln können eher scha<strong>de</strong>n. Vor einer Intervention sollte daher neben einer<br />

möglichst genauen Diagnose, <strong>de</strong>r gründlichen Abschätzung von Risiken <strong>und</strong> einer<br />

prognostischen Beurteilung auch immer eine Selbstrefl exion erfolgen.<br />

3 Vgl: Christine Maihorn, in: Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, DJI, München, 2006<br />

4 Vgl: Thea Bauriedl: Wege aus <strong>de</strong>r Gewalt, Analyse von Beziehungen, Her<strong>de</strong>r Verlag, Freiburg, 2001<br />

5 Pieter Hutz: Sich einmischen bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. Was hilft? Was scha<strong>de</strong>t? In: Jahresbericht<br />

1999, Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V., 37 ff.<br />

17


<strong>Erkennen</strong><br />

19


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

3<br />

Schwere Fälle von Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> -vernachlässigung mit To<strong>de</strong>sfolge<br />

<strong>und</strong> Verän<strong>de</strong>rungen im SGB VIII (insbeson<strong>de</strong>re zum Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>,<br />

§ 8a) haben dazu geführt, dass in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit weitaus intensiver<br />

über die Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls diskutiert wird als darüber, was unter<br />

<strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>swohl verstan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r wie gemeinschaftlich dafür gesorgt wer<strong>de</strong>n<br />

kann, dass es Kin<strong>de</strong>rn wohl ergeht.<br />

Das Kin<strong>de</strong>swohl bzw. Wohlergehen von Kin<strong>de</strong>rn liegt vor allem Eltern am Herzen:<br />

sie sind einerseits durch eine Vielzahl von Erziehungsratgebern überschüttet<br />

in <strong>de</strong>r Frage, ob <strong>und</strong> wodurch es ihren Kin<strong>de</strong>rn gut geht. Eine Auswahl zu treffen<br />

fällt vielen Eltern schwer. Bei genauerem Hinschauen wird <strong>de</strong>utlich, dass dazu,<br />

was Kin<strong>de</strong>r für ihr Wohl wirklich brauchen, weitaus weniger veröffentlicht ist.<br />

Deshalb ist es sinnvoll, zunächst einen Blick darauf zu werfen, was Kin<strong>de</strong>swohl<br />

be<strong>de</strong>utet, um danach das Kin<strong>de</strong>swohl im Dreieck kindlicher Bedürfnisse, elterlicher<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r familialen Bedingungen sowie <strong>de</strong>r Umgebungsfaktoren<br />

zu diskutieren.<br />

1. Zum Begriff Kin<strong>de</strong>swohl<br />

Das Kin<strong>de</strong>swohl ist ein zentraler Begriff <strong>und</strong> ein Entscheidungsmaßstab im Rahmen<br />

<strong>de</strong>s Familienrechts <strong>de</strong>s BGB, insbeson<strong>de</strong>re unter <strong>de</strong>m Titel <strong>de</strong>r „Elterlichen<br />

Sorge“ <strong>und</strong> von Sorgerechtsmaßnahmen. Das Kin<strong>de</strong>swohl ist in diesem Zusammenhang<br />

einerseits eine zentrale Rechtsnorm (o<strong>de</strong>r Generalklausel), an<strong>de</strong>rerseits<br />

ein unbestimmter Begriff, <strong>de</strong>r ausgehend vom Einzelfall stets konkretisiert wer<strong>de</strong>n<br />

muss. Eine Defi nition liegt nicht vor: es wird „nirgends im rechtlichen Regelwerk<br />

gesagt, was unter Kin<strong>de</strong>swohl zu verstehen ist“, obwohl <strong>de</strong>r Begriff als „Orientierungs-<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen<br />

Han<strong>de</strong>lns genutzt wird“. Er soll als „Instrument <strong>und</strong> Kriterium <strong>de</strong>r<br />

Auslegung von z. B. Kin<strong>de</strong>sinteressen dienen“, zugleich „fehlt es ihm selbst an<br />

schlüssiger Auslegung“. 1<br />

Schone (2008) weist daraufhin, dass <strong>de</strong>r Begriff Kin<strong>de</strong>swohl „trotz seiner Unbestimmtheit<br />

zwei wichtige Aufgaben erfüllen soll. Er dient zum einen als Legitimationsgr<strong>und</strong>lage<br />

für staatliche Eingriffe <strong>und</strong> zum an<strong>de</strong>ren als sachlicher Maßstab in<br />

gerichtlichen Verfahren, an <strong>de</strong>m sich die Notwendigkeit gerichtlicher Maßnahmen<br />

festmachen lässt“ 2 .<br />

Für Eltern, an<strong>de</strong>re nahe Bezugspersonen von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>und</strong> für<br />

Professionelle <strong>de</strong>r Jugendhilfe, die mit unterschiedlichem Auftrag um das Wohl<br />

1 H. Dettenborn: Kin<strong>de</strong>swohl <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>swille. Psychologische <strong>und</strong> rechtliche Aspekte. München: Ernst<br />

Reinhardt Verlag. 2007, 47 ff.<br />

2 R. Schone: Kontrolle als Element von Fachlichkeit in <strong>de</strong>n sozialpädagogischen Diensten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r-<br />

<strong>und</strong> Jugendhilfe. <strong>Berlin</strong>: Arbeitsgemeinschaft für Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe – AGJ (Hg.) 2008, 25<br />

20


von Kin<strong>de</strong>rn bemüht sind, ist dieser Begriff ebenso unbestimmt: er wird häufi g<br />

verwen<strong>de</strong>t, ist aber gleichwohl komplex <strong>und</strong> vom Begriffsverständnis her nicht<br />

ein<strong>de</strong>utig. Er ist ein hypothetisches Konstrukt, also etwas, was sich empirisch<br />

nicht herleiten lässt.<br />

Schone weist darauf hin, dass eine positive Bestimmung <strong>de</strong>ssen, was Kin<strong>de</strong>swohl<br />

ist, sich praktisch nicht vornehmen lässt, „man wür<strong>de</strong> sich in unabgrenzbaren philosophischen<br />

Schil<strong>de</strong>rungen verlieren, zumal das, was als gut für Kin<strong>de</strong>r gilt, was<br />

also ihrem Wohl entspricht, nicht allgemeingültig bestimmbar, son<strong>de</strong>rn immer<br />

auch von kulturell, historisch – zeitlichen, o<strong>de</strong>r ethnisch geprägten Menschenbil<strong>de</strong>rn<br />

abhängt“.<br />

Mit Blick auf die Eltern, die sich zuallererst um das Wohl ihrer Kin<strong>de</strong>r sorgen,<br />

wird eine begriffl iche Klärung nicht unkomplizierter. Fragen von Eltern zu ihrem<br />

Erziehungsalltag, u. a. „Wie schaffe ich es, damit mein Kind Ordnung im Zimmer<br />

hält?“; „In welchem Alter darf ferngesehen wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wie lange?“, „Darf ich<br />

meine 5jährige Tochter abends bei ihrem 10jährigen Bru<strong>de</strong>r lassen, wenn ich für<br />

zwei St<strong>und</strong>en zur Arbeit gehe?“ for<strong>de</strong>rn heraus, um zu besprechen, was <strong>de</strong>m Wohl<br />

eines Kin<strong>de</strong>s zuträglich ist <strong>und</strong> was nicht. Ein breites Spektrum elterlicher Haltungen<br />

tut sich bei je<strong>de</strong>r Frage auf, manche Eltern bevorzugen eher Strenge bezogen<br />

auf Einhaltung von Ordnung <strong>und</strong> Disziplin, an<strong>de</strong>ren ist das nicht so wichtig.<br />

Sie betonen, das Kind nicht unterbrechen zu wollen in seinem kreativen Spiel <strong>und</strong><br />

darauf zu vertrauen, dass es später lernen wird, or<strong>de</strong>ntlich zu sein.<br />

Neuere Veröffentlichungen von Hirnforschern regen das Nach<strong>de</strong>nken darüber an,<br />

wie viel Fernsehen das Kin<strong>de</strong>swohl im Vorschulalter verträgt. Und doch berichten<br />

Eltern, dass ihre Vierjährigen schon morgens fernsehen, damit sie sich in Ruhe „fertig<br />

machen können“. Eine Refl exion darüber, ob es <strong>de</strong>m strenger erzogenen Kind<br />

wohler geht als <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, das wenig Begrenzung erfährt, ist nicht möglich.<br />

Das, was Kin<strong>de</strong>rn wohl tut, <strong>de</strong>fi nieren die Eltern selbst. Gr<strong>und</strong>lage hierfür ist Art.6,<br />

Abs. 2 <strong>de</strong>s GG, „Pfl ege <strong>und</strong> Erziehung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r sind das natürliche Recht <strong>de</strong>r<br />

Eltern <strong>und</strong> die ihnen zuvör<strong>de</strong>rst obliegen<strong>de</strong> Pfl icht“ (vgl. auch §1 Abs. 2 KJHG).<br />

Elternrecht wird insbeson<strong>de</strong>re als Elternverantwortung gesehen, in<strong>de</strong>m diese das<br />

Kind in seiner Entwicklung leiten, unterstützen <strong>und</strong> för<strong>de</strong>rn.<br />

Dettenborn schlägt vor, unter „familienrechtspsychologischem Aspekt als Kin<strong>de</strong>swohl<br />

die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage <strong>und</strong> seinen Lebensbedingungen<br />

zu verstehen 3 “. Die Unbestimmtheit verlagert sich hier auf günstig. Gemeint ist,<br />

wenn die Lebensbedingungen von Kin<strong>de</strong>rn die Befriedigung ihrer Bedürfnisse<br />

3 s. dort, 50<br />

21


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

insoweit ermöglichen, dass die sozialen <strong>und</strong> altersmäßigen Durchschnittserwartungen<br />

an körperliche, seelische <strong>und</strong> geistige Entwicklung erfüllt wer<strong>de</strong>n.<br />

Für eine Bestimmung <strong>de</strong>s Begriffs Kin<strong>de</strong>swohl unter Einbeziehung von Gr<strong>und</strong>bedürfnissen<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, d.h. <strong>de</strong>m Spannungsbogen zwischen<br />

<strong>de</strong>m, was Kin<strong>de</strong>rn zusteht <strong>und</strong> <strong>de</strong>m, was sie brauchen, plädiert Maywald, in<strong>de</strong>m er<br />

als Arbeits<strong>de</strong>fi nition vorschlägt: „Ein am Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ausgerichtetes Han<strong>de</strong>ln<br />

ist dasjenige, welches die an <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>rechten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>bedürfnissen von Kin<strong>de</strong>rn<br />

orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative (i. S. von<br />

die am wenigsten schädigen<strong>de</strong>) wählt“ 4 .<br />

Kin<strong>de</strong>swohl wird damit zu einem normativen Begriff, <strong>de</strong>r es ermöglicht, die konkrete<br />

Situation eines Kin<strong>de</strong>s danach zu bewerten, ob sie seinem Wohl entspricht<br />

o<strong>de</strong>r nicht, eine beson<strong>de</strong>re Situation, die sich aus <strong>de</strong>r jeweils individuellen Entwicklung<br />

eines Kin<strong>de</strong>s ergibt. Jacob <strong>und</strong> Wahlen verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Begriff synonym<br />

mit „gelingen<strong>de</strong> kindliche Entwicklung“, die als Selbstentwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

auf Gr<strong>und</strong>lage seiner Bedürfnisse <strong>und</strong> Erfahrungen verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann 5 .<br />

Somit hängt das, was wir als Kin<strong>de</strong>swohl bezeichnen ab von kulturellen, ökonomischen<br />

<strong>und</strong> individuellen Bedingungen in Familien. Obwohl es schwierig ist,<br />

eine klare <strong>und</strong> ein<strong>de</strong>utige Defi nition <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls vorzulegen, gilt es zu benennen,<br />

was Kin<strong>de</strong>r für ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen, d.h. für ihre körperliche, psychische,<br />

emotionale <strong>und</strong> soziale Entwicklung brauchen.<br />

2. Was brauchen Kin<strong>de</strong>r für ihr Wohl?<br />

Die Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn gelingt, wenn ihre Gr<strong>und</strong>bedürfnisse befriedigt<br />

wer<strong>de</strong>n. Brazelton <strong>und</strong> Greenspan beschreiben auf <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> ihrer Erfahrungen<br />

als Pädiater bzw. Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendlichenpsychiater sehr differenziert<br />

„sieben Gr<strong>und</strong>bedürfnisse von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen“ 6 :<br />

Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen<br />

Um ge<strong>de</strong>ihen zu können, benötigen Kin<strong>de</strong>r eine warmherzige <strong>und</strong> verlässliche<br />

Beziehung zu erwachsenen Betreuungspersonen. Feinfühligkeit im Umgang mit<br />

Kin<strong>de</strong>rn be<strong>de</strong>utet, ihre Signale wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren <strong>und</strong><br />

sie angemessen <strong>und</strong> prompt zu beantworten. Wärme, Feinfühligkeit <strong>und</strong> Halt machen<br />

es Kin<strong>de</strong>rn möglich, ihre Gefühle zu spüren <strong>und</strong> später in Worte zu fassen<br />

<strong>und</strong> auch weiterzugeben. Verlässliche <strong>und</strong> sichere Beziehungen unterstützen die<br />

4 J. Maywald: Partnerschaft <strong>und</strong> Familienleben im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert. München: Deutsche Arbeitsgemeinschaft<br />

für Jugend- <strong>und</strong> Eheberatung e.V. Informationsr<strong>und</strong>schreiben zur Jahrestagung 2008, S. 40<br />

5 Vgl. A. Jacob, K. Wahlen: Das multiaxiale Diagnosesystem Jugendhilfe. München: Ernst Reinhardt<br />

Verlag. 2006<br />

6 T.B. Brazelton, S.I. Greenspan: Die sieben Gr<strong>und</strong>bedürfnisse von Kin<strong>de</strong>rn. Weinheim <strong>und</strong> Basel:<br />

Beltz Verlag. 2008<br />

22


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

psychische Entwicklung im Bereich <strong>de</strong>s Denkens, <strong>de</strong>r Sprache, von Wertvorstellungen<br />

<strong>und</strong> sozialen Kompetenzen.<br />

Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit <strong>und</strong> Regulation<br />

Kin<strong>de</strong>r brauchen eine ges<strong>und</strong>e Ernährung, ausreichend Ruhe, Bewegung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />

(Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen), um ges<strong>und</strong> aufwachsen<br />

zu können. Dazu zählen auch die adäquate Versorgung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r bei auftreten<strong>de</strong>n<br />

Krankheiten sowie das Unterlassen aller Formen von Gewalt gegen Kin<strong>de</strong>r,<br />

weil diese physische <strong>und</strong> psychische Verletzungen nach sich ziehen.<br />

Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen<br />

Je<strong>de</strong>s Kind ist auf seine Weise einzigartig <strong>und</strong> braucht Zuwendung <strong>und</strong> Wertschätzung<br />

aufgr<strong>und</strong> dieser Einzigartigkeit. Manche Kin<strong>de</strong>r sind unruhiger o<strong>de</strong>r aktiver<br />

als an<strong>de</strong>re, aufgeschlossener o<strong>de</strong>r auf sich zurückgezogener. Die Kunst <strong>de</strong>r Erwachsenen<br />

besteht darin, Kin<strong>de</strong>r mit ihren individuellen Beson<strong>de</strong>rheiten anzunehmen<br />

<strong>und</strong> zu för<strong>de</strong>rn.<br />

Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen<br />

Erziehungsansprüche <strong>und</strong> For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Bezugspersonen sind <strong>de</strong>m jeweiligen<br />

psychischen Entwicklungsstand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s anzupassen: Über- o<strong>de</strong>r Unterfor<strong>de</strong>rungen<br />

führen zu nicht ausbalancierten Entwicklungsverläufen bzw. psychischer<br />

Instabilität von Kin<strong>de</strong>rn. Kin<strong>de</strong>r meistern entsprechend ihres Alters unterschiedliche<br />

Entwicklungsaufgaben. Sowohl drängen<strong>de</strong>s For<strong>de</strong>rn als auch überbehüten<strong>de</strong><br />

Haltungen können zu Verzögerungen o<strong>de</strong>r Störungen <strong>de</strong>r intellektuellen, emotionalen<br />

<strong>und</strong> sozialen Entwicklung führen.<br />

Das Bedürfnis nach Grenzen <strong>und</strong> Strukturen<br />

Klare <strong>und</strong> wertschätzen<strong>de</strong> Begrenzung <strong>und</strong> Strukturierung hilft Kin<strong>de</strong>rn, sich ihre<br />

Umwelt zu erobern <strong>und</strong> gleichzeitig Gefährdungsmomenten aus <strong>de</strong>m Weg zu gehen.<br />

Durch sinnvolle Grenzsetzung erleichtern Bezugspersonen die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Wichtig ist hierbei, dass Grenzsetzung nicht strafend <strong>und</strong> gewaltsam<br />

daherkommt, son<strong>de</strong>rn in einem Aushandlungsprozess zum Verstehen führen<br />

kann. Grenzziehungen, die gewaltsam durchgesetzt wer<strong>de</strong>n, tragen zu unsicherer,<br />

selbstinstabiler Entwicklung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r bei. Grenzen bieten Gelegenheit zum<br />

Aushan<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> zum miteinan<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r setzen. Kin<strong>de</strong>r lernen mit sicherer<br />

Rahmung, Räume zu erforschen <strong>und</strong> mit Herausfor<strong>de</strong>rungen umzugehen.<br />

Das Bedürfnis nach stabilen, unterstützen<strong>de</strong>n Gemeinschaften <strong>und</strong> kultureller<br />

Kontinuität<br />

Kin<strong>de</strong>r sind sehr auf ein überschaubares Umfeld wie Kitas, Schulen, Nachbarschaften<br />

usw. angewiesen, die zum sozialen Lernfeld wer<strong>de</strong>n können. Fre<strong>und</strong>schaftliche<br />

Beziehungen zu Gleichaltrigen gewinnen mit <strong>de</strong>m Wachsen eine zu-<br />

23


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

nehmen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung für eine ges<strong>und</strong>e psychische Entwicklung. Unterstützen<strong>de</strong><br />

Bedingungen im Umfeld erleichtern die Entwicklung von Selbstsicherheit <strong>und</strong><br />

I<strong>de</strong>ntität.<br />

Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft<br />

Das Kin<strong>de</strong>swohl in einer globalisierten Welt hängt zunehmend davon ab, wie es<br />

gelingt, Bedingungen für sichere Perspektiven von Menschen weltweit zu schaffen.<br />

Hier geht es um Verantwortung von Gesellschaft <strong>und</strong> Politik.<br />

Diese Gr<strong>und</strong>bedürfnisse sind im Zusammenhang zu sehen <strong>und</strong> in ihrer Wirkung<br />

voneinan<strong>de</strong>r abhängig 7 .<br />

3. Das Kin<strong>de</strong>swohl gewährleisten <strong>und</strong> unterstützen: Kindliche Entwicklungsbedürfnisse,<br />

elterliche Fähigkeiten <strong>und</strong> Familien- bzw. Umgebungsfaktoren<br />

Die folgen<strong>de</strong> Übersicht mit <strong>de</strong>m Kern „Kin<strong>de</strong>swohl gewährleisten <strong>und</strong> unterstützen“<br />

ver<strong>de</strong>utlicht sehr anschaulich <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen kindlichen Entwicklungsbedürfnissen,<br />

elterlichen Fähigkeiten <strong>und</strong> familialen bzw. Umgebungsfaktoren.<br />

Die Befriedigung <strong>de</strong>r kindlichen Entwicklungsbedürfnisse gelingt umso besser,<br />

je differenzierter die elterlichen Fähigkeiten entwickelt sind. Kindliche Entwicklungsbedürfnisse<br />

sind in Abhängigkeit vom Alter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu sehen: die Spanne<br />

zwischen <strong>de</strong>n Entwicklungsbedürfnissen eines Babys <strong>und</strong> <strong>de</strong>nen eines Mädchen<br />

o<strong>de</strong>r Jungen in <strong>de</strong>r Pubertät ist sehr breit. Deshalb haben sich Eltern immer wie<strong>de</strong>r<br />

neu auf die Bedürfnisse ihrer Kin<strong>de</strong>r einzustellen, sie wachsen – wenn man<br />

so will – mit.<br />

Familiale Faktoren wie Geschichte <strong>und</strong> Philosophie <strong>de</strong>r Familie, die soziale Integration<br />

<strong>und</strong> die Teilnahme <strong>de</strong>r Eltern am Erwerbsleben sowie Ressourcen im Gemeinwesen<br />

sind letztendlich gr<strong>und</strong>legend be<strong>de</strong>utsame Faktoren für die Gewährleistung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s- <strong>und</strong> Elternwohls.<br />

Die genannten Aspekte können Fachkräften <strong>de</strong>r Jugendhilfe, die häufi g die Gewährleistung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls zu bewerten haben, hilfreiche Anhaltspunkte geben.<br />

Aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Eltern betrachtet wer<strong>de</strong>n Normen <strong>und</strong> Ansprüche<br />

7 Verwiesen sei auf die Darstellung <strong>de</strong>r kindlichen Gr<strong>und</strong>bedürfnisse in Form einer Pyrami<strong>de</strong> nach<br />

Maslow (1983). Schmidtchen (1989) verweist auf <strong>de</strong>n Zusammenhang <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>bedürfnisse<br />

von Kin<strong>de</strong>rn: körperliche Bedürfnisse, Schutzbedürfnisse, Bedürfnisse nach einfühlen<strong>de</strong>m Verständnis,<br />

Bedürfnisse nach Wertschätzung, Bedürfnisse nach Anregung, Spiel <strong>und</strong> Leistung, Bedürfnisse<br />

nach Selbstverwirklichung (vgl. u.a. Institut für Sozialarbeit <strong>und</strong> Sozialpädagogik (Hg.): Vernachlässigte<br />

Kin<strong>de</strong>r besser schützen. München: Ernst Reinhardt Verlag.2008, 58)<br />

24


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

Einschätzungsrahmen<br />

Ges<strong>und</strong>heit<br />

Bildung<br />

Emotionale Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Verhaltensentwicklung<br />

Familiäre <strong>und</strong><br />

soziale Beziehungen<br />

Soziale Kompetenz<br />

Selbstsorgefähigkeit<br />

I<strong>de</strong>ntität<br />

Ressourcen<br />

im Gemeinwesen<br />

kindliche Entwicklungsbedürfnisse<br />

Kin<strong>de</strong>swohl<br />

gewährleisten<br />

<strong>und</strong><br />

unterstützen<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung<br />

elterliche Fähigkeiten<br />

Familiale <strong>und</strong> Umgebungsfaktoren<br />

Soziale Integration<br />

<strong>de</strong>r Familie<br />

Einkommen<br />

Arbeit<br />

Unterkunft<br />

Sicherheit gewährleisten<br />

Emotionale Wärme<br />

weitere Familie<br />

Anregung<br />

Führung <strong>und</strong><br />

Grenzen<br />

Stabilität<br />

Familiengeschichte<br />

<strong>und</strong> Funktionsweise<br />

In: Framework for the Assessment of Children in Need and their Families. Department of Health. Department<br />

for Education and Employment. Home Offi ce. London: TSO. 2007, S.89<br />

formuliert, die nicht immer ausreichend erfüllt wer<strong>de</strong>n können. Deshalb ist es<br />

wichtig, Eltern sehr früh zu unterstützen, damit sie sowohl ihr Wissen über Entwicklungsbedürfnisse<br />

ihrer Kin<strong>de</strong>r als auch ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen<br />

entwickeln können.<br />

Das Wohl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ist letztendlich nur im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Wohl ihrer<br />

Eltern <strong>und</strong> för<strong>de</strong>rlichen Bedingungen <strong>de</strong>r Gemeinschaft (<strong>de</strong>m Gemeinwohl)<br />

<strong>de</strong>nkbar.<br />

Auch im Kontext von Umgangs- <strong>und</strong> Sorgerechtsregelungen hat die Frage nach<br />

<strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>swohl eine wichtige Be<strong>de</strong>utung. In hochstrittigen Trennungs- <strong>und</strong><br />

Scheidungskonfl ikten sind manche Eltern in ihrem machtvollen <strong>und</strong> psychisch<br />

gewaltsamen Kampf mit- <strong>und</strong> gegeneinan<strong>de</strong>r sehr verstrickt, sodass kindliche Be-<br />

25


Was heißt Kin<strong>de</strong>swohl?<br />

dürfnisse <strong>und</strong> Wünsche keinen Platz mehr haben. Die Eltern betonen immer wie<strong>de</strong>r,<br />

dass es ihnen bei allem, was zu entschei<strong>de</strong>n ist, um das Wohl ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

geht, real wird das Kind jedoch häufi g zwischen <strong>de</strong>n Konfl iktfronten nicht gesehen<br />

o<strong>de</strong>r zerrieben.<br />

Familiengerichte haben z. B. im Falle <strong>de</strong>r Beantragung <strong>de</strong>s Sorgerechts durch ein<br />

Elternteil zu prüfen, ob es sich negativ auf das Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s auswirkt, wenn<br />

bei<strong>de</strong> Eltern die Sorge ausüben. Wenn <strong>de</strong>m so ist, wird weiterhin geprüft, welche<br />

Entscheidung hinsichtlich <strong>de</strong>r Sorgerechtsübertragung <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>swohl am besten<br />

dient. Kriterien hierbei sind u. a.:<br />

Aufrechterhaltung familiärer <strong>und</strong> sozialer Bindungen<br />

För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r seelischen, geistigen <strong>und</strong> körperlichen Entwicklung<br />

Bindungen an die Eltern <strong>und</strong> Geschwister8 ❍<br />

❍<br />

❍<br />

.<br />

In diesen Fällen ist Kin<strong>de</strong>swohl nur hinreichend zu gewährleisten. Es geht um die<br />

Schaffung genügend guter Bedingungen für Kin<strong>de</strong>r, um ihre Entwicklung zu stabilisieren.<br />

8 Vgl. S. Happ-Göhring: Kin<strong>de</strong>swohl. In: Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilferecht von A-Z. München: C.H.<br />

Beck. 2008<br />

26


Was ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

4 Konstruktionen<br />

Das Wohl von Kin<strong>de</strong>rn ist in vielerlei Hinsicht gefähr<strong>de</strong>t. Kin<strong>de</strong>r leben in einer bestimmten<br />

Umwelt, in einer bestimmten Gesellschaft, in ihren Familien. Auf je<strong>de</strong>r<br />

dieser drei sich beeinfl ussen<strong>de</strong>n Ebenen gibt es spezifi sche Gefahren, <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>r<br />

ausgesetzt sein können.<br />

In unserem Zusammenhang geht es um die Gefährdungen von Kin<strong>de</strong>rn in Familien<br />

<strong>und</strong> im familiären Umfeld. Das Diagramm soll dabei zweierlei ver<strong>de</strong>utlichen:<br />

Familien sind eingebettet in bestimmte Kontexte <strong>und</strong> es wer<strong>de</strong>n, wenn wir hier von<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en sprechen, bestimmte Gefahren ausgeklammert (etwa<br />

<strong>de</strong>r Straßenverkehr, ges<strong>und</strong>heitliche Beeinträchtigungen durch Umweltgifte).<br />

Die fachliche Diskussion um das, was als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> gelten kann, hat<br />

ihre eigene Geschichte <strong>und</strong> dauert an. Der Begriff Kin<strong>de</strong>swohl selbst stammt ursprünglich<br />

aus <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>r Familiengerichte. Entscheidungen über<br />

das Sorge- <strong>und</strong> Umgangsrecht nach Scheidung <strong>de</strong>r Eltern sollten sich am Kin<strong>de</strong>swohl<br />

orientieren 1 . Noch bis in die 80er Jahre <strong>de</strong>s letzten Jahrh<strong>und</strong>erts hinein<br />

war, wenn es um Schädigungen von Kin<strong>de</strong>rn ging, überwiegend von Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

die Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie <strong>de</strong>r sexuelle<br />

Missbrauch <strong>und</strong> die Vernachlässigung kamen erst nach <strong>und</strong> nach in die Diskussion.<br />

Heute wer<strong>de</strong>n alle Formen von Gefährdungen <strong>und</strong> Schädigungen unter<br />

1 Siehe dazu auch: H. Schmid, T. Meysen: Was ist unter <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> zu verstehen? In:<br />

Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, DJI, 2007<br />

28<br />

Kriege<br />

Natur<br />

Medizinische<br />

Versorgung<br />

Verkehr<br />

UMWELT<br />

Hunger<br />

GESELLSCHAFT<br />

Wohnen<br />

Arbeit<br />

Bildung<br />

FAMILIE


<strong>de</strong>m Begriff <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> gefasst, wobei hervorzuheben ist, dass Gefährdungen<br />

noch nicht Schädigungen sind, d.h. <strong>de</strong>r Begriff hat auch präventive<br />

Implikationen. Gefahren sollen frühzeitig erkannt wer<strong>de</strong>n, um sie abwen<strong>de</strong>n zu<br />

können. Zugleich wirft <strong>de</strong>r Begriff ein Problem auf, insofern als man sich über bereits<br />

eingetretene Schä<strong>de</strong>n bei Kin<strong>de</strong>rn vermutlich noch eher wird einigen können<br />

als über angenommene, zukünftig möglicherweise o<strong>de</strong>r wahrscheinlich zu erwarten<strong>de</strong><br />

Beeinträchtigungen.<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> 2 ist ja auch keine einfache Gegebenheit o<strong>de</strong>r Tatsache, die<br />

man nur wahrzunehmen, zu erfassen <strong>und</strong> zu beschreiben bräuchte um dann darauf<br />

präventiv o<strong>de</strong>r interventiv zu reagieren. Je<strong>de</strong> Aussage, bei einer bestimmten Situation<br />

han<strong>de</strong>le es sich um eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, koppelt Beobachtungen an<br />

Bewertungen. Je<strong>de</strong> Defi nition stellt eine soziale Sinnkonstruktion dar, die Werturteile<br />

ins Spiel bringt, die selbst wie<strong>de</strong>r historischen Verän<strong>de</strong>rungen unterliegen,<br />

was man sich z. B. mit Blick darauf, wie unterschiedlich Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r BRD <strong>und</strong><br />

in <strong>de</strong>r DDR aufwuchsen, ver<strong>de</strong>utlichen kann 3 . Was in einer Gesellschaft, zu einer<br />

bestimmen Zeit, in einer bestimmten Schicht, unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n im<br />

Umgang mit Kin<strong>de</strong>rn als normal o<strong>de</strong>r gefähr<strong>de</strong>nd angesehen wird <strong>und</strong> was nicht,<br />

ist Wandlungen unterworfen, ist gr<strong>und</strong>sätzlich kontrovers <strong>und</strong> gilt nicht absolut.<br />

Obwohl gesellschaftliche Normen vorhan<strong>de</strong>n sind, gibt es keinen absoluten Begriff<br />

von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, so sehr man wünschen könnte, endlich eine allgemein<br />

verbindliche Defi nition zur Verfügung zu haben, um ein Geschehen o<strong>de</strong>r<br />

eine Situation ein<strong>de</strong>utig als gefähr<strong>de</strong>nd zu kennzeichnen 4 .<br />

Selbst darüber, was heute im Eltern-Kind-Verhältnis als normal gelten könnte,<br />

gibt es unterschiedliche Auffassungen. So wissen wir aus zahlreichen empirischen<br />

Untersuchungen, dass trotz <strong>de</strong>r heute gelten<strong>de</strong>n rechtlichen Bestimmungen <strong>und</strong><br />

Festlegungen (wie z. B. im KJHG, <strong>de</strong>m neuen Kindschaftsrecht o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r UN<br />

Charta <strong>de</strong>r Rechte <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s) ca. neun von zehn Kin<strong>de</strong>rn von ihren Eltern hin<br />

<strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r geschlagen wer<strong>de</strong>n, wenn auch 85% <strong>de</strong>r Eltern sich am Leitbild <strong>de</strong>r<br />

gewaltfreien Erziehung orientieren 5 . Und auch die von Mehrheiten geschätzten<br />

Normen wer<strong>de</strong>n im konkreten Alltag noch einmal relativiert, in<strong>de</strong>m die jeweiligen<br />

Umstän<strong>de</strong>, die Situation, die Absicht <strong>und</strong> das Alter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in Betracht gezogen<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

2 Hier folgen wir im Wesentlichen <strong>de</strong>m Text <strong>de</strong>r 9. Aufl age<br />

3 Während es z.B. in <strong>de</strong>r DDR normal war, dass kleine Kin<strong>de</strong>r die Krippe besuchten, gab es in <strong>de</strong>r BRD<br />

intensive Diskussionen um Zuträglichkeit o<strong>de</strong>r Schädlichkeit von frühkindlicher, außerfamiliärer Betreuung<br />

4 Erst 1980 wur<strong>de</strong> im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r „elterlichen Gewalt“ durch <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r „elterlichen Sorge“ ersetzt. Erst seit 2000 ächtet das BGB ausdrücklich elterliche Gewalt<br />

5 K.D. Bussmann: Ergebnisse <strong>de</strong>r Experten- <strong>und</strong> Elternstudie. Pressemitteilung am 8. Febr. 2002 in<br />

<strong>Berlin</strong><br />

29


Was ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

Hinzu kommt, dass eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> sich in <strong>de</strong>r Regel nicht auf eine<br />

einzelne isolierte Handlung o<strong>de</strong>r Unterlassung reduzieren lässt. Von Be<strong>de</strong>utung ist<br />

vielmehr die familiäre Atmosphäre, in <strong>de</strong>r ein Kind aufwächst, ob Beziehungen<br />

verlässlich sind, ob es neben Gefährdungen schützen<strong>de</strong> Faktoren gibt, ob ein Kind<br />

über einen längeren Zeitraum so behan<strong>de</strong>lt wird, dass es zu Schädigungen <strong>und</strong> Beeinträchtigungen<br />

seiner Entwicklung kommt, wobei sich körperliche, seelische,<br />

vernachlässigen<strong>de</strong> <strong>und</strong> sexuelle Misshandlungsformen in vielen Fällen nicht<br />

scharf voneinan<strong>de</strong>r abgrenzen lassen. <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ist insofern als ein<br />

Syndrom zu verstehen, bei <strong>de</strong>m ein zielgerichtetes aber auch ein ungewolltes Han<strong>de</strong>ln<br />

bzw. Unterlassen in konfl iktreichen Beziehungsarrangements <strong>und</strong> schwierigen<br />

Lebensverhältnissen (d.h. in komplexen Situationen) zur Verletzung, Beeinträchtigung<br />

<strong>und</strong> Verstörung eines Kin<strong>de</strong>s führen können.<br />

Wenn man nach Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte zum Schluss kommt,<br />

dass in einer konkreten Situation eine Gefährdung vorliegt, konstruiert man ein<br />

Geschehen als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> <strong>und</strong> entwirft damit eine nie von allen Seiten<br />

geteilte, bestimmten Wertmaßstäben <strong>und</strong> Kriterien verpfl ichtete Version, die<br />

„ein Ergebnis sozialen Aushan<strong>de</strong>lns (‚social negotiation‘) zwischen unterschiedlichen<br />

Wertvorstellungen <strong>und</strong> Überzeugungen, unterschiedlichen sozialen Normen<br />

<strong>und</strong> professionellen Auffassungen <strong>und</strong> Sichtweisen über Kin<strong>de</strong>r, kindliche<br />

Entwicklung <strong>und</strong> elterliche Sorge ist.” 6 Damit markiert man eine Schwelle, zieht<br />

man eine Grenze an einer bestimmten Stelle auf einem Kontinuum aller möglichen<br />

Verhaltensweisen im Verhältnis zu Kin<strong>de</strong>rn, das sich von unbedingter Achtung<br />

<strong>und</strong> liebevoller Zuwendung (auf <strong>de</strong>r einen Seite) bis hin zu Mord <strong>und</strong> Totschlag<br />

(auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite) erstreckt. Und je nach<strong>de</strong>m, ob man die Schwelle<br />

hoch o<strong>de</strong>r niedrig ansetzt, sinkt o<strong>de</strong>r wächst die Anzahl <strong>de</strong>r Fälle, die wir als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

bezeichnen, selbst wenn sich möglicherweise in <strong>de</strong>n Eltern-<br />

Kind-Verhältnissen gar nichts verän<strong>de</strong>rt hat.<br />

In <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Fachkräfte spielen darüber hinaus bei <strong>de</strong>r Problemkonstruktion<br />

eines bestimmten Geschehens als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> – neben <strong>de</strong>r Berücksichtigung<br />

bestehen<strong>de</strong>r Verfahrensrichtlinien 7 – ganz pragmatische Überlegungen<br />

eine Rolle, ob überhaupt ein Eingreifen als notwendig angesehen wird, wie ein<br />

Eingreifen gestaltet sein kann, wann es erfolgen soll <strong>und</strong> ob ein Eingreifen wofür<br />

hilfreich wäre.<br />

6 N. Parton, D. Thorpe, C. Wattam: Child Protection. Risk and the Moral Or<strong>de</strong>r. Ho<strong>und</strong>smills, Basingstoke;<br />

London: Macmillan Press, 1997, 67. [Unsere Übersetzung]<br />

7 Eine interessante Problematisierung fi n<strong>de</strong>t sich bei: Thomas Mörsberger: Schutzauftrag gem. § 8a<br />

SGB VIII als „Dienst nach Vorschrift“? in: Das Jugendamt, Heft 07-08, 2008<br />

30


Was ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

Defi nitionen<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ist eine soziale Konstruktion, keine einfache Gegebenheit<br />

o<strong>de</strong>r Tatsache, son<strong>de</strong>rn ein Geschehen, das die professionellen Helfer in <strong>de</strong>r Regel<br />

nicht selbst miterlebt haben. Ein doppeltes Dreieck von 2 x 3 Dimensionen kennzeichnet<br />

eine praxisrelevante kritische Konstruktion (Defi nition) von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>:<br />

A: (1) die Rechte <strong>und</strong> Bedürfnisse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s; (2) die Rechte <strong>und</strong> Verpfl ichtungen<br />

<strong>de</strong>r Inhaber <strong>de</strong>r elterlichen Sorge, (3) die staatlichen Rechte <strong>und</strong> Verpfl ichtungen,<br />

Kin<strong>de</strong>r zu schützen.<br />

B: (1) eine Handlung bzw. Unterlassung von Inhabern <strong>de</strong>r elterlichen Sorge;<br />

(2) soziokulturelle <strong>und</strong> fachliche Bewertungskriterien zur Beurteilung einer erheblichen<br />

Beeinträchtigung eines Kin<strong>de</strong>s; (3) professionelle Handlungsverpfl ichtungen,<br />

die im Kern auf hilfesystemischen Risikoeinschätzungen beruhen 8 .<br />

Bewertungskriterien<br />

Rechte <strong>und</strong> Pfl ichten<br />

<strong>de</strong>r Sorgeberechtigten<br />

Handlung Unterlassung<br />

Rechte<br />

<strong>und</strong><br />

Bedürfnisse<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

Rechte <strong>und</strong> Pfl ichten <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe & Familiengerichte<br />

Professionelle<br />

Handlungmuster<br />

Weil <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> eine soziale Konstruktion ist, wird verständlich, warum<br />

die Erstbegegnung mit einer Familie bei einem Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

nicht selten zu einem Kampf darüber wer<strong>de</strong>n kann, wer in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

die Defi nitionsmacht erringt. Die Bewertung <strong>de</strong>ssen, was Anlass für<br />

ein Gespräch ist, muss zwischen Familie <strong>und</strong> Helfern ausgehan<strong>de</strong>lt <strong>und</strong> „plausibel<br />

gemacht“ wer<strong>de</strong>n. Erst wenn sich die unterschiedlichen Sinnkonstruktionen er-<br />

8 Vgl.auch <strong>de</strong>n wichtigen gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Text: J. Giovannoni: Defi nitional issues in child maltreatment.<br />

In: Dante Cicchetti, Vicki Carlson (Eds.): Child maltreatment: Theory and research on the<br />

causes and consequences of child abuse and neglect. Cambridge: Cambridge University Press, 1989,<br />

3-37<br />

31


Was ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

gänzen o<strong>de</strong>r sogar <strong>de</strong>cken, wenn es eine Problemübereinstimmung („Problemkongruenz”)<br />

gibt, wer<strong>de</strong>n bloße Zuschreibungen von außen durch ein gemeinsames<br />

Verständnis aufgehoben. Nur das offene Gespräch zwischen <strong>de</strong>n Beteiligten kann<br />

eine gute Basis für <strong>de</strong>n Schutz von Kin<strong>de</strong>rn sein.<br />

32<br />

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

❚<br />

ist ein das Wohl <strong>und</strong> die Rechte eines Kin<strong>de</strong>s<br />

(nach Maßgabe gesellschaftlich gelten<strong>de</strong>r Normen <strong>und</strong><br />

begrün<strong>de</strong>ter professioneller Einschätzung)<br />

beeinträchtigen<strong>de</strong>s Verhalten o<strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln bzw.<br />

ein Unterlassen einer angemessenen Sorge<br />

durch Eltern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Personen<br />

in Familien o<strong>de</strong>r Institutionen<br />

(wie z. B. Heimen, Kin<strong>de</strong>rtagesstätten, Schulen,<br />

Kliniken o<strong>de</strong>r in bestimmten Therapien)<br />

das zu nicht-zufälligen Verletzungen,<br />

zu körperlichen <strong>und</strong> seelischen Schädigungen<br />

<strong>und</strong> / o<strong>de</strong>r Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />

eines Kin<strong>de</strong>s führen kann,<br />

was die Hilfe <strong>und</strong> eventuell das Eingreifen<br />

von Jugendhilfe-Einrichtungen <strong>und</strong> Familiengerichten<br />

in die Rechte <strong>de</strong>r Inhaber <strong>de</strong>r elterlichen Sorge<br />

im Interesse <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>r Bedürfnisse <strong>und</strong> <strong>de</strong>s<br />

Wohls eines Kin<strong>de</strong>s notwendig machen kann.


5<br />

Was sind Ursachen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>? *<br />

Nur wenige Erwachsene berichten ohne Scheu darüber, wie es dazu gekommen<br />

ist, dass sie das Kind in ihrer Obhut hatten verletzen, verwirren, zurichten, missbrauchen<br />

o<strong>de</strong>r vernachlässigen können. Eher wird <strong>de</strong>utlich, wie die Angst <strong>und</strong> die<br />

Abwehr die Geschichten bestimmt, die sie unsicher <strong>und</strong> stockend o<strong>de</strong>r auch übermäßig<br />

glatt einer Sozialarbeiterin im Jugendamt, einem Arzt in einer Notaufnahmestelle<br />

eines Krankenhauses, einer Erzieherin in einer Kin<strong>de</strong>rtagesstätte, einer<br />

Familientherapeutin erzählen.<br />

Oft fangen Sätze nach einer körperlichen Misshandlung so an:<br />

Es hat sich <strong>de</strong>n Kopf am Bettpfosten gestoßen …<br />

Mein Kind ist die Treppe runter gefallen …<br />

Julia hat <strong>de</strong>n heißen Ofen angefasst …<br />

An<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r seine Geschwister haben ihn verprügelt <strong>und</strong> gegen die<br />

Schaukel gestoßen …<br />

Das Baby ist vom Wickeltisch gefallen …<br />

So habe ich Marion gef<strong>und</strong>en, als ich zurückkam …<br />

Dann hat das Kind plötzlich alles ausgespuckt <strong>und</strong> hat Krämpfe gekriegt<br />

<strong>und</strong> dann bin ich her gekommen …<br />

Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen …<br />

Nein, damit haben wir nichts zu tun, ich brächte mich um, wenn das die<br />

Wahrheit wäre …<br />

Solche Texte sind nicht allein Entlastungsgeschichten, die aus Angst erzählt wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> die die eigene Beteiligung am Misshandlungsgeschehen leugnen o<strong>de</strong>r<br />

verkürzen. Sie geben vielmehr einen Hinweis auf die bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en<br />

typischen Problemkonstruktionen: Diejenigen, die ein Kind misshan<strong>de</strong>ln,<br />

vernachlässigen o<strong>de</strong>r missbrauchen, sehen sich in <strong>de</strong>n meisten Fällen als Nicht-<br />

Beteiligte. Die Ereignisse wer<strong>de</strong>n fremdbestimmt erlebt, als wirkten unbekannte<br />

Kräfte (<strong>de</strong>r Zufall, ein Unfall, Außenstehen<strong>de</strong>, an<strong>de</strong>re). Sie haben <strong>de</strong>n Eindruck:<br />

Ihnen sei etwas zugestoßen. („Dass gera<strong>de</strong> mir das jetzt passieren muss!”) Die Eltern<br />

verstehen sich gewissermaßen nicht als verantwortlich Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> <strong>und</strong> sie stehen<br />

vor einem „Rätsel”. Sie können sich nicht erklären, „wie es dazu hat kommen<br />

können.” O<strong>de</strong>r sie sagen: „Es ist einfach mit mir durchgegangen!” Blind war hier<br />

irgen<strong>de</strong>twas am Werk, unbeeinfl ussbar, <strong>de</strong>m eigenen verstan<strong>de</strong>smäßigen Zugriff<br />

entzogen. An<strong>de</strong>re sind Schuld. Sie selbst haben keine Probleme, sind keine „Problembesitzer”.<br />

Sie sehen sich selbst eher als Opfer, als jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m das Leben<br />

übel mitgespielt hat (was auch oft stimmt). Sie scheinen von Fein<strong>de</strong>n umstellt, zu<br />

<strong>de</strong>nen sie auch erst einmal die Kin<strong>de</strong>rschützer zählen, die ihnen ihre Hilfe anbieten.<br />

Sie fühlen sich allein gelassen <strong>und</strong> isoliert <strong>und</strong> jetzt sind sie in Deckung ge-<br />

* Wir folgen hier im Wesentlichen <strong>de</strong>m Text <strong>de</strong>r 9. Aufl age von: Kin<strong>de</strong>smisshandlung. <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Helfen</strong>, 2000<br />

34


gangen, verteidigen sich trotzig, weichen aus o<strong>de</strong>r warten ab. Manche allerdings<br />

hoffen auf ein W<strong>und</strong>er 1 .<br />

Hier <strong>de</strong>utet sich an, worum es bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en ursächlich geht: es<br />

han<strong>de</strong>lt sich um ein ziemliches Durcheinan<strong>de</strong>r, nichts ist von vornherein klar. Es<br />

gibt viele Fragen <strong>und</strong> kaum Antworten. Und: Keine Familie ist gleich. Je<strong>de</strong>r Fall<br />

hat seine beson<strong>de</strong>re Ausprägung. Vielfältige Ursachenfaktoren wirken offenbar<br />

zusammen, bis eine Situation entsteht, die wir als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> kennzeichnen<br />

<strong>und</strong> verstehen können. Und doch gibt es Muster, typische kulturelle Ausgangsbedingungen,<br />

beziehungsmäßige Konstellationen <strong>und</strong> spezifi sche Krisensituationen,<br />

die bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en ursächlich eine Rolle spielen.<br />

Einige wesentliche Gesichtspunkte wollen wir hier festhalten:<br />

Einfache, eindimensionale Ursache-Wirkungs-Mo<strong>de</strong>lle sind nicht ausreichend, um<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en zu verstehen 2 . Es han<strong>de</strong>lt sich um ein vielgestaltiges,<br />

von zahlreichen Faktoren bestimmtes, kontextuelles Mehrpersonen-Geschehen,<br />

das sich laufend verän<strong>de</strong>rt. Es ist von Hintergrün<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Vorgeschichten beeinfl<br />

usst. Aktionen <strong>und</strong> Reaktionen aller Beteiligten erzeugen unvorhersehbare Handlungsstrukturen.<br />

Lebendige, bewusste <strong>und</strong> unbewusste Wünsche <strong>und</strong> lei<strong>de</strong>nschaftliche<br />

Bedürfnisse, sprachliche Kommunikationen <strong>und</strong> rationale Kalküle ebenso wie<br />

die konkreten materiellen Voraussetzungen <strong>und</strong> Bedingungen nehmen darauf Einfl<br />

uss. Es ist dies ein Prozess von hoher Komplexität, <strong>de</strong>r emotional, interaktiv <strong>und</strong><br />

interpretativ, vor allem aber gr<strong>und</strong>sätzlich konfl iktreich sich ständig neu erzeugt.<br />

Auf vier Ebenen, die aufeinan<strong>de</strong>r bezogen sind, lässt sich ein systemisches Erklärungsmo<strong>de</strong>ll<br />

von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> beschreiben 3 . Es stellt im Wesentlichen<br />

die Wechselwirkung zwischen vier verschie<strong>de</strong>nen Ebenen heraus:<br />

Der soziokulturelle Kontext mit bestimmten Schichtstrukturen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Verhältnissen (Arbeit, Wohnen, Bildung) <strong>und</strong> mit ganz bestimmten Ein-<br />

1 C. Reinhold, H. Kindler: Was ist über Eltern, die ihre Kin<strong>de</strong>r gefähr<strong>de</strong>n, bekannt? verweisen im „DJI-<br />

Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nach § 1666 BGB <strong>und</strong> Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)“ 18-4<br />

ff. auf entsprechen<strong>de</strong> Studien.<br />

2 Die Sicht auf die komplexen Ursachen einer wie auch immer gearteten <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> beeinfl<br />

usst die Risikoeinschätzung von Fachkräften maßgeblich, siehe dazu weiter Kapitel 9.<br />

3 An<strong>de</strong>re Autoren bezeichnen diese Erklärungsmo<strong>de</strong>lle z.B. auch als „psychopathologisches, soziologisches<br />

<strong>und</strong> sozial-situationales“. Vgl.: A. Engfer: Formen <strong>de</strong>r Misshandlung von Kin<strong>de</strong>rn – Defi nitionen,<br />

Häufi gkeiten, Erklärungsansätze. In: Egle, Hoffmann, Joraschky: Sexueller Missbrauch, Misshandlung,<br />

Vernachlässigung. Schattauer Verlag, Stuttgart, 2005<br />

Eine internationale Literaturübersicht zu <strong>de</strong>n Ursachen von Kin<strong>de</strong>smisshandlung fi n<strong>de</strong>t sich auch in:<br />

Prof. Dr. Spangler: Wirksamkeit ambulanter Jugendhilfemassnahmen bei Misshandlung bzw. Vernachlässigung.<br />

DJI, 2004 (www.dji.<strong>de</strong>/bibs/146_expertise_spangler.pdf)<br />

35


Was sind Ursachen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

stellungen zu Gewalt, zu Generationen- <strong>und</strong> Geschlechterverhältnissen, zur Rolle<br />

von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> zur Kin<strong>de</strong>rerziehung, schließlich mit mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />

formellen o<strong>de</strong>r informellen sozialen Netzwerken o<strong>de</strong>r umfassen<strong>de</strong>n sozialen<br />

Hilfesystemen.<br />

Der familiale Kontext mit seinen Strukturverän<strong>de</strong>rungen (Geburtenrückgang,<br />

Pluralisierung von Ehe- Familien- <strong>und</strong> Lebensformen, Trennungs- <strong>und</strong> Scheidungshäufi<br />

gkeit, zunehmen<strong>de</strong>r räumlicher, berufl icher <strong>und</strong> sozialer Mobilität) <strong>und</strong><br />

einer spezifi schen Beziehungsdynamik (Rollenumkehr im Eltern-Kind-Verhältnis,<br />

hoher Glücks- <strong>und</strong> Erfolgsanspruch an Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Partner bei abnehmen<strong>de</strong>r Konfl<br />

iktfähigkeit <strong>und</strong> Enttäuschungstoleranz <strong>und</strong> geringer sozialer Unterstützung).<br />

Der individuelle Kontext bei <strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>r einen Seite die Eltern zu sehen sind:<br />

Eltern, die Stärken <strong>und</strong> Schwächen haben, die über spezifi sche ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Voraussetzungen, über eine beson<strong>de</strong>re Sicht auf die eigenen Kindheitserfahrungen<br />

<strong>und</strong> die über unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten Beziehungen zu gestalten<br />

<strong>und</strong> Konfl ikte auszutragen, verfügen. Eltern mit unsicheren o<strong>de</strong>r überzogenen<br />

Selbstkonzepten <strong>und</strong> zwanghafter o<strong>de</strong>r geringer Selbstkontrolle, Eltern mit typischen<br />

überkontrollieren<strong>de</strong>n bzw. inkonsistenten Erziehungseinstellungen <strong>und</strong><br />

-metho<strong>de</strong>n, Eltern mit unterschiedlicher Frustrationstoleranz <strong>und</strong> unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten zur Stress-Bewältigung. Manchen Eltern gelingt es aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Erfahrungen o<strong>de</strong>r ihrer Ängste nicht, sich Hilfe zu holen.<br />

Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite sind die Kin<strong>de</strong>r zu sehen: Kin<strong>de</strong>r, die Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />

haben, Kin<strong>de</strong>r, die nicht allein Objekte an<strong>de</strong>rer sind, son<strong>de</strong>rn die agieren <strong>und</strong><br />

reagieren, Kin<strong>de</strong>r, die Eltern vor beson<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rungen stellen o<strong>de</strong>r in ihnen<br />

beson<strong>de</strong>re Eigenschaften wecken können 4 .<br />

Der Krisenkontext mit einem hohen Maß an chronischem Stress bei gleichzeitig<br />

geringer Chance, Belastungen kompetent zu bewältigen. Steigen diese Belastungen<br />

situativ an, besteht eine große Gefahr mit Notfallmaßnahmen wie Gewalt<br />

zu reagieren, um Kontrolle <strong>und</strong> Selbstachtung wie<strong>de</strong>r herzustellen, o<strong>de</strong>r mit resigniertem<br />

Rückzug aus <strong>de</strong>r Situation <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Beziehung (Vernachlässigung).<br />

Der Stellenwert <strong>de</strong>r Kontexte kann unterschiedlich sein. Je schärfer ihre negativen<br />

Merkmale hervortreten, umso pathogener wirken sie selbst. In extremer Isolation<br />

4 Die Resilienzforschung hat damit begonnen, zu untersuchen, welche Faktoren Kin<strong>de</strong>r trotz schwieriger<br />

familiärer Lebensbedingungen vor bleiben<strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>n schützen können <strong>und</strong> damit zu <strong>de</strong>n Risikofaktoren<br />

die Sicht auf protektive Faktoren hinzugefügt. Siehe z.B.: U. T. Egle: Frühe Stresserfahrungen:<br />

Langzeitfolgen für die Ges<strong>und</strong>heit. In: Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V.: Kin<strong>de</strong>swohl <strong>und</strong><br />

Elternverantwortung. Dokumentation einer Fachtagung zum 30-jährigen Bestehen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutz-<br />

Zentrums <strong>Berlin</strong> am 19.10.2005.<br />

36


Was sind Ursachen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>?<br />

<strong>und</strong> Armut, bei schweren psychopathologischen Störungen o<strong>de</strong>r zugespitzten familialen<br />

Strukturkonfl ikten, sinkt die Chance erheblich, gut für ein Kind zu sorgen.<br />

Individuelle, familiale, kulturell-gesellschaftliche <strong>und</strong> situative Momente verschränken<br />

sich zu einem Konfl iktgeschehen, das verzweifelte Kontrollversuche<br />

mit Gewalt ebenso nahe legt wie ängstliches Ausweichen, Grenzüberschreitungen<br />

<strong>und</strong> beziehungslose Gleichgültigkeit. Gewalt, Grenzüberschreitungen <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

sind untaugliche, das Wohl von Kin<strong>de</strong>rn gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Bewältigungsstrategien<br />

wo an<strong>de</strong>re Möglichkeiten <strong>de</strong>r Befriedigung von Wünschen <strong>und</strong><br />

Bedürfnissen nicht verfügbar sind.<br />

Insofern ist <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> Ausdruck von akuten o<strong>de</strong>r chronischen Konfl<br />

iktsituationen, in <strong>de</strong>nen versucht wird, Wünsche <strong>und</strong> Ängste in Beziehungen<br />

auszubalancieren 5 . Dabei kann es dann zu Gewalt, Grenzüberschreitungen o<strong>de</strong>r<br />

Vernachlässigung kommen.<br />

Kin<strong>de</strong>smisshandlung ist <strong>de</strong>r Versuch, die Beziehung zum Kind <strong>und</strong> die eigene<br />

Selbstachtung gewaltsam aufrecht zu erhalten. Je größer <strong>de</strong>r Druck <strong>und</strong> je schärfer<br />

die Krise, um so eher verkörpert das Kind (<strong>und</strong> sei es in <strong>de</strong>r bloßen Vorstellung<br />

<strong>de</strong>s Erwachsenen) eine Bedrohung <strong>und</strong> Überfor<strong>de</strong>rung. Kin<strong>de</strong>smisshandlung ist<br />

darum in <strong>de</strong>r Regel ein hilfl oser <strong>und</strong> sprachloser Versuch, die Beziehungskonfl ikte<br />

zwischen Erwachsenen <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn gewaltsam zu bewältigen. Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

ist im Kern ohnmächtige Gewalt.<br />

Kin<strong>de</strong>svernachlässigung stellt <strong>de</strong>n Rückzug aus <strong>de</strong>r Beziehung zum Kind dar, ein<br />

resigniertes, überfor<strong>de</strong>rtes Ausweichen vor <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Elternseins<br />

bei mangeln<strong>de</strong>n Fähigkeiten, Unterstützung zu suchen, anzunehmen o<strong>de</strong>r zu erhalten.<br />

Im familiären (sexuellen, emotionalen) Missbrauch können Wünsche <strong>und</strong> Ängste<br />

nicht auf einer erwachsenen Ebene ausbalanciert wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n in Richtung<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r umgeleitet. Kin<strong>de</strong>r sollen dann die besseren (sexuellen o<strong>de</strong>r emotional-verständnisvolleren)<br />

Partner sein mit allen damit verb<strong>und</strong>enen zerstörerischen<br />

Konsequenzen für ihre Entwicklung.<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ist ein Scheitern in Beziehungen. Daraus folgt die Verwirrung<br />

in <strong>de</strong>r Beziehung <strong>de</strong>r Generationen; so wer<strong>de</strong>n aus Kin<strong>de</strong>rn phantasierte <strong>und</strong><br />

real ausgebeutete Partner, gefürchtete <strong>und</strong> darum in Panik <strong>und</strong> Wut angegriffene<br />

Fein<strong>de</strong>, wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r in ihrem Eigensinn <strong>und</strong> in ihrer Lebendigkeit zu einer Belastung,<br />

die die Kräfte <strong>de</strong>r Erwachsenen, ihren Verstand <strong>und</strong> ihre Handlungsmöglichkeiten<br />

übersteigt. Erwachsene klammern sich ans Kind, verführen es, greifen es an<br />

o<strong>de</strong>r lassen es ganz fallen, wen<strong>de</strong>n sich enttäuscht ab, wenn es sich für die eigenen<br />

Wünsche nicht instrumentalisieren lässt.<br />

5 vgl.: T. Bauriedl: Leben in Beziehungen. Von <strong>de</strong>r Notwendigkeit, Grenzen zu fi n<strong>de</strong>n. Freiburg, 1996<br />

37


6<br />

Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir<br />

unterschei<strong>de</strong>n?<br />

Die Neufassung <strong>de</strong>s Paragrafen 1631, Abs. 2 BGB aus <strong>de</strong>m Jahr 2000 besagt:<br />

„Kin<strong>de</strong>r haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen,<br />

seelische Verletzungen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re entwürdigen<strong>de</strong> Maßnahmen sind unzulässig.“<br />

Der Gesetzgeber wollte mit dieser Festlegung eine Norm setzen, die Orientierung<br />

im Umgang von Eltern mit ihren Kin<strong>de</strong>rn ist. Diese Norm ist sinnvoll, wenn es<br />

auch unmöglich ist, alle Erziehungsmaßnahmen aufzulisten, die Kin<strong>de</strong>rn scha<strong>de</strong>n.<br />

So wird immer im Einzelfall zu entschei<strong>de</strong>n sein, wo etwa „körperliche Bestrafungen“<br />

anfangen o<strong>de</strong>r was unter „seelischen Verletzungen“ zu verstehen ist.<br />

Auch eine klare Abgrenzung unterschiedlicher Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en<br />

ist nicht möglich. Im alltäglichen Umgang von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn vermischen<br />

<strong>und</strong> überschnei<strong>de</strong>n sich die Formen. Die meisten betroffenen Kin<strong>de</strong>r sind<br />

zur gleichen Zeit mehreren Formen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ausgesetzt. Bei<br />

<strong>de</strong>r Beurteilung einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ist zu<strong>de</strong>m die familiäre Atmosphäre,<br />

die Qualität <strong>de</strong>r familiären Beziehungen von ebenso großer Be<strong>de</strong>utung wie einzelne<br />

Handlungen o<strong>de</strong>r Unterlassungen <strong>de</strong>r Eltern. Dennoch soll hier versucht wer<strong>de</strong>n,<br />

die Hauptformen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> zu beschreiben.<br />

Körperliche Misshandlung<br />

Die körperliche Kin<strong>de</strong>smisshandlung umfasst alle Arten bewusster o<strong>de</strong>r unbewusster<br />

Handlungen, die zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen<br />

o<strong>de</strong>r gar zum To<strong>de</strong> führen. Misshandlungsformen können einzelne Schläge<br />

mit <strong>de</strong>r Hand sein, Prügeln, Festhalten 1 , Verbrühen, Verbrennen, hungern o<strong>de</strong>r<br />

dursten lassen, Unterkühlen, Beißen, Würgen bis zum gewaltsamen Angriff mit<br />

Riemen, Stöcken, Küchengeräten <strong>und</strong> Waffen. Körperliche Misshandlungen sind<br />

immer auch mit psychischen Belastungen verb<strong>und</strong>en wie Angst, Scham, Demütigung,<br />

Erniedrigung, Entwürdigung <strong>und</strong> entsprechen<strong>de</strong>n Auswirkungen auf die<br />

Persönlichkeitsentwicklung. Sie sind in <strong>de</strong>r Regel einerseits Folge gezielter Gewaltausübung,<br />

z. B. bei exzessiven Kontrollmaßnahmen (die häufi g als Disziplinierung<br />

<strong>und</strong> Strafe legitimiert wer<strong>de</strong>n). An<strong>de</strong>rerseits stellen körperliche Misshandlungen<br />

eine Form impulsiver sowie reaktiver Gewalttätigkeit dar. Dies ist vor allem<br />

in zugespitzten Stress-Situationen <strong>de</strong>r Fall. Dann kommt es zu einem Kontrollverlust<br />

als Folge einer affektiven Krise <strong>und</strong> eines „emotionalen Ausnahmezustan<strong>de</strong>s“. Es<br />

han<strong>de</strong>lt sich um eine blin<strong>de</strong> Wut, um <strong>de</strong>n hilfl osen aber gewaltsamen Versuch, Kontrolle<br />

wie<strong>de</strong>r zu erlangen <strong>und</strong> narzisstischen Kränkungen entgegen zu wirken.<br />

Manche Handlungen, die bei Kin<strong>de</strong>rn zu körperlichen Schä<strong>de</strong>n führen können wer<strong>de</strong>n<br />

gesellschaftlich eher toleriert wie z. B. religiöse <strong>und</strong> kulturelle Bräuche (z. B.<br />

Beschneidungen), körperlich schädigen<strong>de</strong> Tätigkeiten (z. B. Kin<strong>de</strong>rarbeit, Lei-<br />

1 Manchmal als „therapeutisch“ legitimiert in bestimmten Therapien. Vgl: U. Benz (Hg.): Gewalt gegen<br />

Kin<strong>de</strong>r. Traumatisierungen durch Therapie? <strong>Berlin</strong>, 2004<br />

38


stungssport) <strong>und</strong> die Verabreichung von Psychopharmaka zur Erhöhung <strong>de</strong>r physischen<br />

<strong>und</strong> psychischen Leistungsfähigkeit.<br />

Fallbeispiel: Körperliche Misshandlung<br />

Herr <strong>und</strong> Frau G. (21 <strong>und</strong> 20 Jahre alt) suchten ihre Kin<strong>de</strong>rärztin auf als ihr zweieinhalb<br />

Monate alter Sohn Daniel sich nach <strong>de</strong>n Mahlzeiten mehrmals erbrach<br />

<strong>und</strong> sich auch sein Blick verän<strong>de</strong>rt hatte. Die Ärztin stellte neben <strong>de</strong>n obigen Symptomen<br />

eine unnormale Vergrößerung <strong>de</strong>s Kopfumfangs fest <strong>und</strong> überwies daraufhin<br />

das Kind zur stationären Untersuchung in eine Kin<strong>de</strong>rklinik. In <strong>de</strong>r Klinik<br />

wur<strong>de</strong> eine Wassergeschwulst (Hygrom) im vor<strong>de</strong>ren Hirnbereich als Folge einer<br />

Hirnblutung diagnostiziert, bleiben<strong>de</strong> Schä<strong>de</strong>n beim Kind waren wahrscheinlich.<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schwere <strong>de</strong>r Verletzung ging die Klinik von <strong>de</strong>m Verdacht aus, dass<br />

es sich um ein Schütteltrauma han<strong>de</strong>ln könnte. Die Eltern hatten auf Nachfrage<br />

<strong>de</strong>r Klinik keine plausible Erklärung für diese Verletzung. Sie äußerten, dass Daniel<br />

sich die Verletzung möglicherweise beim Herausfallen aus seinem Gitterbett,<br />

bei <strong>de</strong>m zwei Stäbe fehlten, zugezogen haben könnte. Da <strong>de</strong>r Eindruck entstand,<br />

dass die Eltern das wahre Geschehen verleugneten, informierte die Klinik das Jugendamt<br />

<strong>und</strong> erstattete Anzeige bei <strong>de</strong>r Polizei 2 .<br />

Nach<strong>de</strong>m die Eltern darauf hingewiesen wur<strong>de</strong>n, dass das Jugendamt einen gerichtlichen<br />

Antrag auf Entzug <strong>de</strong>s Aufenthaltsbestimmungsrechts stellen wür<strong>de</strong>,<br />

wenn sie <strong>de</strong>r Unterbringung ihres Kin<strong>de</strong>s nicht zustimmten, erklärten die Eltern<br />

ihre Bereitschaft zur Unterbringung ihres Kin<strong>de</strong>s in einer Pfl egefamilie. Im Rahmen<br />

<strong>de</strong>s Hilfeplans wur<strong>de</strong>n einmal wöchentlich begleitete Besuche vereinbart.<br />

Weiterhin verpfl ichteten sich die Eltern, im Rahmen von Beratungsgesprächen<br />

die Umstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verletzung zu klären <strong>und</strong> zu überlegen, wie zukünftige Gefährdungen<br />

ihres Kin<strong>de</strong>s verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n könnten.<br />

Über folgen<strong>de</strong> Fragen <strong>und</strong> Themen sollte Klarheit darüber hergestellt wer<strong>de</strong>n, wie<br />

es zu <strong>de</strong>r Gefährdungssituation gekommen war <strong>und</strong> wie das Risiko zukünftiger<br />

Gefährdungen eingeschätzt wer<strong>de</strong>n könnte:<br />

❍ In welcher konkreten Situation kam es zur Gefährdung <strong>und</strong> Verletzung?<br />

❍ Gab es eine aktuelle Krisensituation?<br />

❍ Wie verliefen Schwangerschaft <strong>und</strong> Geburt?<br />

❍ Weist die Kindheit <strong>de</strong>r Eltern Gewalterfahrungen auf?<br />

❍ Gibt es Konfl ikte in <strong>de</strong>r Paarbeziehung?<br />

❍ Wie ist die aktuelle materielle Situation (Wohnung, Arbeit, Finanzen)?<br />

❍ Wie gehen die Eltern bei <strong>de</strong>n Besuchen mit ihrem Kind um?<br />

❍<br />

Über welche Ressourcen verfügen die Eltern?<br />

2 Es gibt in Deutschland keine Verpfl ichtung, Misshandlungen polizeilich anzuzeigen.<br />

39


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

40<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage sollte dann eine Entscheidung darüber getroffen wer<strong>de</strong>n, ob<br />

Daniel nach Hause zurückgeführt wer<strong>de</strong>n könnte. Im Verlauf <strong>de</strong>r Beratung sprachen<br />

die Eltern über ihre Geschichte. Frau S. verließ als 14-Jährige ihr Elternhaus,<br />

da sie vom Vater geschlagen wur<strong>de</strong> <strong>und</strong> sich von <strong>de</strong>r Mutter nicht genügend<br />

beschützt fühlte. Herr G. unternahm im Alter von 13 Jahren einen Suizidversuch,<br />

kam danach in ein Heim <strong>und</strong> später in die Jugendwohngemeinschaft, in <strong>de</strong>r er<br />

Frau S. kennenlernte.<br />

Aufgr<strong>und</strong> ihres ähnlichen Schicksals wollten sie sich gegenseitig Unterstützung<br />

geben <strong>und</strong> es besser machen als ihre Eltern. Es entwickelte sich jedoch zwischen<br />

ihnen eine Art Hassliebe mit heftigen gegenseitigen Entwertungen <strong>und</strong> Handgreifl<br />

ichkeiten <strong>und</strong> anschließen<strong>de</strong>n Versöhnungsritualen. Die Schwangerschaft<br />

mit Daniel war nicht geplant. Als Frau S. davon erfuhr, dachte sie zunächst an<br />

eine Abtreibung, da sie sich in ihrer aktuellen Lebenssituation (keine Ausbildung,<br />

Schul<strong>de</strong>n, Unerfahrenheit) nicht vorstellen konnte, ein Kind aufzuziehen. Herr G.<br />

war gegen eine Abtreibung <strong>und</strong> freute sich auf das Kind. Als Frau S. jedoch bei<br />

einer ärztlichen Untersuchung die Herztöne ihres Kin<strong>de</strong>s hörte, entschied auch<br />

sie sich für das Kind.<br />

Im Beratungsverlauf fassten die Eltern Vertrauen <strong>und</strong> so erzählte die Mutter dann<br />

auch, wie es zur Misshandlung gekommen war. Daniel verweigerte immer wie<strong>de</strong>r<br />

das Trinken. In einer solchen Situation verlor die Mutter die Kontrolle über sich <strong>und</strong><br />

schüttelte Daniel außer sich vor Wut. Danach entwickelten sich die oben aufgeführten<br />

Symptome. Am liebsten hätte Frau S. alles ungeschehen gemacht. Bei<strong>de</strong><br />

Eltern waren einerseits erschrocken über die Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, an<strong>de</strong>rerseits<br />

auch voller Angst was geschehen könnte, wenn sie sich offen über die Misshandlung<br />

ihres Kin<strong>de</strong>s äußern wür<strong>de</strong>n.<br />

Sexuelle Misshandlung<br />

Sexuelle Misshandlung ist eine unter Ausnutzung einer Macht- <strong>und</strong> Autoritätsposition<br />

grenzüberschreiten<strong>de</strong> sexuelle Handlung eines Erwachsenen o<strong>de</strong>r Jugend-<br />

lichen an einem Kind in Form <strong>de</strong>r<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

Belästigung,<br />

Masturbation,<br />

<strong>de</strong>s oralen, analen o<strong>de</strong>r genitalen Verkehrs,<br />

sexuellen Nötigung,<br />

Vergewaltigung,<br />

sexuellen Ausbeutung durch Einbeziehung von Min<strong>de</strong>rjährigen in pornographische<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> Prostitution 3 .<br />

3 R. Wolff: Der Einbruch <strong>de</strong>r Sexualmoral. In: R. Wolff, K. Rutschky: Handbuch Sexueller Missbrauch.,<br />

Klein Verlag, Hamburg, 1999


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

Kin<strong>de</strong>r sind aufgr<strong>und</strong> ihres Entwicklungsstands nicht in <strong>de</strong>r Lage, diesen Handlungen<br />

informiert <strong>und</strong> frei zuzustimmen. Emotional vernachlässigte Kin<strong>de</strong>r, die<br />

keine o<strong>de</strong>r wenig Möglichkeiten hatten, sichere Bindungen zu entwickeln, haben<br />

ein höheres Risiko, sexuell misshan<strong>de</strong>lt bzw. Opfer kommerzieller sexueller<br />

Ausbeutung zu wer<strong>de</strong>n. Innerfamilial wird häufi g <strong>de</strong>r zärtliche Körperkontakt mit<br />

einem Kind zunehmend sexualisiert, verb<strong>und</strong>en mit <strong>de</strong>r Verpfl ichtung zur Verschwiegenheit<br />

bei gleichzeitiger Erziehungsinkompetenz <strong>und</strong> Nichtbeachtung<br />

normativer Orientierungen seitens <strong>de</strong>r Bezugspersonen.<br />

Durch sexuelle Misshandlung wird die körperliche <strong>und</strong> seelische Entwicklung,<br />

die Unversehrtheit <strong>und</strong> Autonomie <strong>und</strong> die sexuelle Selbstbestimmung <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rjährigen<br />

beeinträchtigt. Unangebrachtes Sexualverhalten, psychotraumatische<br />

Belastungsstörungen, Angst, Depression, geringer Selbstwert, selbstverletzen<strong>de</strong>s<br />

bzw. nach außen aggressives Verhalten sind häufi ge Folgen 4 . Die Schwere <strong>de</strong>s<br />

Traumas sexueller Misshandlungen ist abhängig vom Alter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s bei Misshandlungsbeginn<br />

sowie von <strong>de</strong>r Dauer <strong>und</strong> Intensität <strong>de</strong>r sexuellen Misshandlung<br />

<strong>und</strong> von <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Folgen einer Auf<strong>de</strong>ckung.<br />

Chronische <strong>und</strong> gewaltsame Missbrauchserfahrungen, insbeson<strong>de</strong>re durch Täter,<br />

die <strong>de</strong>m Kind nahe stan<strong>de</strong>n, können eine heftigere Symptomatik auslösen als verbale<br />

Entgleisungen o<strong>de</strong>r exhibitionistische bzw. voyeuristische Ereignisse.<br />

Nur in einer Min<strong>de</strong>rzahl <strong>de</strong>r Fälle fi n<strong>de</strong>n sich medizinisch ein<strong>de</strong>utige Hinweise,<br />

um sexuelle Misshandlung bestätigen zu können. Die klare <strong>und</strong> <strong>de</strong>taillierte Beschreibung<br />

einer sexuellen Misshandlung durch das Kind, sicher auffällige Bef<strong>und</strong>e<br />

am Genital o<strong>de</strong>r Anus ohne schlüssige Vorgeschichte eines Unfallgeschehens,<br />

gesicherte Infektion mit Chlamydien, Herpes genitalis o<strong>de</strong>r Trichomona<strong>de</strong>n<br />

beim präpubertären Kind, sind <strong>de</strong>utliche Anzeichen <strong>und</strong> machen eine sexuelle<br />

Misshandlung wahrscheinlich.<br />

Fachkräfte sind häufi g mit Vermutungen sexueller Misshandlung konfrontiert.<br />

Professionell mit Vermutungen umzugehen, be<strong>de</strong>utet:<br />

❍ Verhaltensauffälligkeiten eines Kin<strong>de</strong>s wahrzunehmen <strong>und</strong> in einen Kontext<br />

einzuordnen (aktuelle Situation, in <strong>de</strong>r das Verhalten auffi el, die Beson<strong>de</strong>rheiten<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> seine familiäre Situation),<br />

❍ die Äußerungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s genau zu hören <strong>und</strong> dabei zu wissen, dass auch die<br />

Äußerungen eines Kin<strong>de</strong>s in einem Kontext stehen (wie ist die Äußerung entstan<strong>de</strong>n<br />

– spontan o<strong>de</strong>r auf Nachfrage?),<br />

❍<br />

zu wissen, wie Kin<strong>de</strong>r sich in einem bestimmten Alter psycho-sexuell entwickeln,<br />

4 Vgl.: A. Un<strong>de</strong>rstaller: Wie wirkt sich sexueller Missbrauch auf Kin<strong>de</strong>r aus? In: H. Kindler, S. Lillig,<br />

H. Blüml, Th. Meysen & A. Werner (Hg.). Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nach § 1666 BGB <strong>und</strong><br />

Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut e.V., 2006<br />

41


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

❍<br />

42<br />

zu prüfen, ob es an<strong>de</strong>re Erklärungsmöglichkeiten für das Verhalten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

gibt, in<strong>de</strong>m Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, z. B. hinsichtlich seines Entwicklungsstands,<br />

<strong>de</strong>r Familiendynamik ( Familiengeschichte, <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s<br />

Elternpaars), <strong>de</strong>r Familienkultur berücksichtigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong>de</strong> vermutete <strong>und</strong> reale sexuelle Misshandlung bedarf <strong>de</strong>r professionellen Risikoeinschätzung.<br />

Das vordringliche Ziel ist <strong>de</strong>r Schutz von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />

Es gilt, <strong>de</strong>m jeweiligen Fall entsprechen<strong>de</strong>, angemessene Hilfemaßnahmen<br />

zu ergreifen. Gera<strong>de</strong> in Fällen von sexuellem Missbrauch besteht die Gefahr<br />

<strong>de</strong>r Spaltung zwischen Wegschauen <strong>und</strong> Bagatellisieren auf <strong>de</strong>r einen Seite <strong>und</strong><br />

Aktionismus auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite. Diese Spaltung gehört ursächlich zum Missbrauchsgeschehen.<br />

Ob sich diese Spaltung auf Helferseite wie<strong>de</strong>rholt, hängt wesentlich<br />

davon ab, wie es <strong>de</strong>n Helfern gelingt, dabei die eigenen Gefühle wahrzunehmen<br />

<strong>und</strong> zu refl ektieren.<br />

In <strong>de</strong>r Praxis haben Fachkräfte häufi g mit Fällen vermuteter sexueller Misshandlung<br />

zu tun. Das folgen<strong>de</strong> Beispiel beinhaltet einerseits Hinweise auf eine mögliche<br />

sexuelle Grenzüberschreitung, an<strong>de</strong>rerseits bleiben Fragen zum Kontext <strong>de</strong>r<br />

Situation, <strong>de</strong>r Familiendynamik <strong>und</strong> zu Auffälligkeiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s entsprechend<br />

seines Entwicklungsstan<strong>de</strong>s offen <strong>und</strong> bedürfen einer Klärung.<br />

Auch in Fällen vermuteter sexueller Übergriffe wird von Fachkräften eine sorgfältige,<br />

offene <strong>und</strong> fachlich differenzierte Untersuchung mit <strong>de</strong>mentsprechen<strong>de</strong>r<br />

Hilfeplanung erwartet.<br />

Fallbeispiel: Vermutete sexuelle Misshandlung<br />

Die zwölfjährige Anna fällt im Hort durch Zurückgezogenheit auf. Sonst ist sie<br />

eher kontaktfreudig. Die Erzieherin spricht sie an <strong>und</strong> Anna beginnt bitterlich zu<br />

weinen, ohne sich beruhigen zu können. Dabei sagt sie: „Papa hat mich nackt<br />

aus <strong>de</strong>m Bad geholt <strong>und</strong> mir an die Brust gefasst“. Die Erzieherin ist schockiert,<br />

sucht nach Feierabend die zuständige Sozialarbeiterin auf, berichtet ihr über Annas<br />

Äußerung <strong>und</strong> ihren Zusammenbruch. Diese wie<strong>de</strong>rum geht noch am Abend<br />

zur Familie, konfrontiert sie mit <strong>de</strong>m, was die Erzieherin mitgeteilt hat <strong>und</strong> äußert<br />

die dringen<strong>de</strong> Erwartung, dass sich die Familie ins Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum zur Abklärung<br />

begibt.<br />

Am Morgen steht eine fünfköpfi ge Familie vor <strong>de</strong>r Tür, Mutter, Vater, die zwölfjährige<br />

Anna, <strong>de</strong>r achtjährige Kevin <strong>und</strong> das neun Monate alte Baby Paul im Kin<strong>de</strong>rwagen.<br />

Die Eltern geben in großer Verunsicherung die Geschehnisse vom Vorabend<br />

wie<strong>de</strong>r. Es schließt sich ein längerer Beratungsprozess an. Die Mutter ist mit<br />

<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn sehr überfor<strong>de</strong>rt, sie sagt, sie habe seit Paul auf <strong>de</strong>r Welt ist, kaum<br />

noch Zeit für Anna. Anna sei sowieso eine „Vater-Tochter“ <strong>und</strong> wen<strong>de</strong> sich mehr<br />

an ihn. Den Zusammenbruch von Anna könne sie sich nicht erklären.


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

Anna scheint tatsächlich emotional enger an <strong>de</strong>n Vater geb<strong>und</strong>en zu sein, sie sitzt<br />

in <strong>de</strong>n ersten St<strong>und</strong>en nur neben ihm <strong>und</strong> sagt nichts. Sie ist ein Mädchen mit einer<br />

sensomotorischen Behin<strong>de</strong>rung, die wahrscheinlich durch Sauerstoffmangel<br />

während <strong>de</strong>r Geburt entstand, zieht das eine Bein etwas nach <strong>und</strong> ist verlangsamt<br />

im Sprechen <strong>und</strong> in ihren Reaktionen. Anna besucht ein För<strong>de</strong>rzentrum.<br />

Der Vater erzählt über <strong>de</strong>n vorletzten Abend: Anna halte sich in <strong>de</strong>n letzten Wochen<br />

lange im Bad auf <strong>und</strong> er hätte sie oft ermahnt, sich zu beeilen. Er arbeitet in<br />

Schichten <strong>und</strong> muss sehr pünktlich sein, um seinen Nachtdienst anzutreten. Er<br />

kam immer mehr unter Druck, zumal Anna nicht auf sein Klopfen gegen die Tür<br />

reagierte, sodass er sie aus <strong>de</strong>r Wanne gezerrt <strong>und</strong> nackt auf ihr Bett gestaucht<br />

habe <strong>und</strong> schimpfend die Wohnung verließ. Anna hat die heftige Reaktion <strong>de</strong>s Vaters<br />

schockiert, verletzt <strong>und</strong> geängstigt.<br />

Sie sagt in einer <strong>de</strong>r nächsten St<strong>und</strong>en, dass sie Angst hat, er habe sie nicht mehr<br />

lieb. Und die Mama hätte doch soviel zu tun mit Paul … Es gelingt, mit <strong>de</strong>n Eltern<br />

über Annas Bedürfnis nach Zuneigung <strong>und</strong> Anerkennung zu sprechen sowie über<br />

ihre sexuelle Entwicklung, die sich äußerlich in verän<strong>de</strong>rten Körperformen zeigt<br />

<strong>und</strong> innerlich sehr stürmisch ist.<br />

Vernachlässigung<br />

Kin<strong>de</strong>svernachlässigung ist eine situative o<strong>de</strong>r andauern<strong>de</strong> Unterlassung fürsorglichen<br />

Han<strong>de</strong>lns. Der Begriff beschreibt die Unkenntnis o<strong>de</strong>r Unfähigkeit von Eltern,<br />

die körperlichen, seelischen, geistigen <strong>und</strong> materiellen Gr<strong>und</strong>bedürfnisse eines Kin<strong>de</strong>s<br />

zu befriedigen, es angemessen zu ernähren, zu pfl egen, zu klei<strong>de</strong>n, zu beherbergen,<br />

für seine Ges<strong>und</strong>heit zu sorgen, es emotional, intellektuell, beziehungsmäßig<br />

<strong>und</strong> erzieherisch zu för<strong>de</strong>rn. Kin<strong>de</strong>svernachlässigung ist im Kern eine Beziehungsstörung.<br />

Vernachlässigungsfamilien sind zum ganz überwiegen<strong>de</strong>n Teil arme Familien,<br />

die Eltern sind oft arbeitslos, abhängig von Transferleistungen, ohne Schulabschluss<br />

<strong>und</strong> ohne Ausbildung. In materiell gut gestellten Familien zeigt sich Vernachlässigung<br />

meist in materieller Überversorgung bei emotionaler Unterversorgung <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r. Diese Kin<strong>de</strong>r haben dann scheinbar alles, nur kein verlässliches Gegenüber.<br />

Vernachlässigung kann auf Mangelerfahrungen von Eltern basieren, die diese bereits<br />

aus ihrer eigenen Kindheit mitbringen. Sie haben dann die Fähigkeiten nicht<br />

ausreichend ausbil<strong>de</strong>n können, sich um sich selbst <strong>und</strong> ihre Kin<strong>de</strong>r zu kümmern.<br />

Vernachlässigung kann aber auch auftreten, wenn Eltern, die lange Zeit ihre Elternrolle<br />

durchaus gut ausfüllen konnten, aufgr<strong>und</strong> länger anhalten<strong>de</strong>r schwieriger<br />

Lebensumstän<strong>de</strong> für sich selbst <strong>und</strong> ihre Kin<strong>de</strong>r nun keine Perspektive mehr sehen.<br />

Eltern geben dann schleichend auf <strong>und</strong> ziehen sich resigniert auch aus <strong>de</strong>m<br />

Kontakt zu ihren Kin<strong>de</strong>rn zurück, ihnen wird scheinbar alles egal 5 .<br />

5 Man spricht hier vom „Apathie-Nutzlosigkeits-Syndrom“, siehe: K. Killen-Heap: A predictive and fol-<br />

43


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

Vernachlässigungsfamilien sind zu<strong>de</strong>m meist beziehungsmäßig <strong>de</strong>sorganisierte<br />

Familien. Brüchige Beziehungen bei <strong>de</strong>n Eltern, Neuzusammensetzungen <strong>de</strong>r Familie<br />

<strong>und</strong> Fremdunterbringungen von Kin<strong>de</strong>rn sind häufi g. In <strong>de</strong>r sozialpädagogischen<br />

Praxis erscheinen Vernachlässigungsfamilien oft als Multiproblemfamilien.<br />

Vernachlässigung geht dann einher mit Schul<strong>de</strong>n, Misshandlungen, Gewalt<br />

zwischen <strong>de</strong>n Eltern, psychischen Auffälligkeiten, Drogenkonsum o<strong>de</strong>r sexuellem<br />

Missbrauch. Häufi g fi n<strong>de</strong>n sich jahrelange Helfereinsätze, wobei diese Familien<br />

bei <strong>de</strong>n Helfern Gefühle von Nutzlosigkeit <strong>und</strong> Hoffnungslosigkeit auslösen, in<br />

<strong>de</strong>nen sich wie<strong>de</strong>rum ähnliche Gefühle <strong>de</strong>r Eltern spiegeln.<br />

Die Auswirkungen auf die Kin<strong>de</strong>r sind auch hier um so stärker, je jünger die Kin<strong>de</strong>r<br />

sind. Im Extremfall kommen Kin<strong>de</strong>r durch Unterernährung o<strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong><br />

Zuwendung zu To<strong>de</strong>. Da die Eltern ihre Kin<strong>de</strong>r nicht ausreichend positiv emotional<br />

besetzen können, bleiben diese immer emotional unterversorgt <strong>und</strong> beziehungshungrig,<br />

was sie wie<strong>de</strong>rum anfällig für missbräuchliche Beziehungsangebote<br />

Dritter macht.<br />

44<br />

Fallbeispiel: Vernachlässigung<br />

Frau P., eine alleinerziehen<strong>de</strong> junge Frau, wird mit ihrem vierjährigen Sohn an<br />

die Beratungsstelle überwiesen. In <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rtagesstätte war aufgefallen, dass<br />

<strong>de</strong>r Junge nur sehr unregelmäßig erscheint, er habe gravieren<strong>de</strong> Entwicklungsrückstän<strong>de</strong>,<br />

beson<strong>de</strong>rs im motorischen <strong>und</strong> sprachlichen Bereich, er habe schon<br />

mehrere Unfälle gehabt. Frau P. hat ihren Sohn sehr gern <strong>und</strong> wünscht sich eine<br />

gute Beziehung zu ihm. Sie selber habe in ihrer Herkunftsfamilie viel Schlimmes<br />

erlebt. Eine Bekannte habe sie beim Jugendamt gemel<strong>de</strong>t, worüber sie sehr wütend<br />

sei, <strong>de</strong>nn bei ihr sei alles in Ordnung <strong>und</strong> sie brauche keine Hilfe, je<strong>de</strong>nfalls<br />

nicht bei <strong>de</strong>r Erziehung.<br />

Die junge Frau ist sehr mit sich beschäftigt, mit <strong>de</strong>r Suche nach einer passen<strong>de</strong>n<br />

Arbeit <strong>und</strong> nach einer neuen Partnerschaft. Sie verbringt viel Zeit am PC, beson<strong>de</strong>rs<br />

auch nachts, wacht dann morgens oft erst spät auf, so dass ihr Sohn schon<br />

frühmorgens viel Zeit allein vor <strong>de</strong>m Fernseher verbringt <strong>und</strong> manchmal eben<br />

nicht mehr in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten gebracht wird. Frau P. meint, <strong>de</strong>r Junge sei sehr<br />

ungeschickt <strong>und</strong> höre nicht auf ihre Ratschläge, dann müsse er halt merken, wenn<br />

es weh tue. Sie spricht selber ziemlich verkürzt <strong>und</strong> <strong>und</strong>eutlich mit ihm, nennt ihn<br />

nie bei seinem Namen son<strong>de</strong>rn erfi n<strong>de</strong>t entsprechend ihrer Laune verschie<strong>de</strong>ne<br />

Bezeichnungen für ihn. Ihr Verhältnis bezeichnet sie als „kumpelhaft <strong>und</strong> eher geschwisterlich“<br />

<strong>und</strong> das fi n<strong>de</strong> sie so auch gera<strong>de</strong> richtig. Die Leute auf <strong>de</strong>r Straße<br />

wür<strong>de</strong>n sich manchmal w<strong>und</strong>ern, wie sie mit ihm spreche, aber sie fi n<strong>de</strong>t das lustig.<br />

Sie ist stolz auf ihren Sohn, auch darauf, dass er schon sehr selbständig sei.<br />

Sie habe ihm beigebracht, aufzuwaschen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Müll rauszubringen. Wenn er<br />

lowup study of abusive and neglectful families by case analysis. In: Child abuse and neglect, 3: 261-271


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

bockig sei, habe sie keine Lust, sich zu streiten, sie lasse ihn dann machen, was<br />

er will. Als ihr doch mal die Hand ausgerutscht sei, tat ihr das furchtbar Leid <strong>und</strong><br />

sie hätten sich gegenseitig getröstet.<br />

Frau P. hat eine sehr eigene Beziehung zu ihrem Kind. Sie kann es zum Teil gut<br />

<strong>und</strong> angemessen versorgen <strong>und</strong> versucht, ihrer Rolle als Mutter gerecht zu wer<strong>de</strong>n.<br />

An<strong>de</strong>rerseits fällt es ihr schwer, einen Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n Auffälligkeiten<br />

ihres Sohnes <strong>und</strong> ihren Einstellungen zu sehen. Schon jetzt „prophezeit“<br />

sie, dass er garantiert auch so ein Versager in <strong>de</strong>r Schule wer<strong>de</strong>, wie sie einer<br />

war.<br />

Psychische / emotionale Misshandlung<br />

Die Grenze zwischen üblichen <strong>und</strong> weitgehend tolerierten, auf psychischem Druck<br />

basieren<strong>de</strong>n Erziehungspraktiken (z. B. Hausarrest, Liebesentzug, Schimpfen) <strong>und</strong><br />

psychisch beschädigen<strong>de</strong>m Elternverhalten ist fl ießend. Je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Form <strong>de</strong>r Beeinträchtigung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls geht immer auch mit mehr o<strong>de</strong>r weniger starken<br />

psychischen Beeinträchtigungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s einher 6 . Zu<strong>de</strong>m besteht wie bei an<strong>de</strong>ren<br />

Misshandlungsformen das Problem, scharf zu <strong>de</strong>fi nieren, wo sie beginnt.<br />

Eine einheitliche Defi nition psychischer Misshandlung steht bislang aus <strong>und</strong> die<br />

Forschungslage ist dürftig. Die Familiengerichte <strong>und</strong> die Jugendämter sind mit<br />

psychischer Misshandlung meist nur dann befasst, wenn gleichzeitig auch an<strong>de</strong>re<br />

Formen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> auftreten. Studien belegen, dass nur ein<br />

Fünftel <strong>de</strong>r psychisch misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Eltern auch körperlich misshan<strong>de</strong>lt. 7 Die<br />

Zahl <strong>de</strong>r psychischen Misshandlungen ist damit weit größer als die Zahl <strong>de</strong>r körperlichen<br />

Misshandlungen. Schaut man sich die Ergebnisse <strong>de</strong>r empirischen Forschung<br />

an, so kann man sagen, „ … dass es die psychischen Begleiterscheinungen<br />

sind, mehr noch als die Schwere <strong>de</strong>r Handlungen selbst, die das wahre Trauma<br />

ausmachen …“ 8 Wir sind daher nicht nur <strong>de</strong>r Ansicht, dass psychische Misshandlung<br />

als eigenständige Misshandlungsform angesehen wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn wir<br />

sehen in ihr <strong>de</strong>n Kern einer je<strong>de</strong>n Misshandlung.<br />

Psychische Misshandlung umfasst chronische qualitativ <strong>und</strong> quantitativ ungeeignete<br />

<strong>und</strong> unzureichen<strong>de</strong>, altersinadäquate Handlungen <strong>und</strong> Beziehungsformen<br />

von Sorgeberechtigten zu Kin<strong>de</strong>rn. Dem Kind wird zu verstehen gegeben, es sei<br />

wertlos, mit Fehlern behaftet, ungeliebt, ungewollt, gefähr<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r nur dazu nütze,<br />

die Bedürfnisse an<strong>de</strong>rer Menschen zu erfüllen. Psychische Misshandlung kann<br />

6 Teil einer Misshandlung etwa ist, dass das Kind angebrüllt wird, es wird ihm Schuld zugewiesen, es<br />

wird herabgesetzt <strong>und</strong> ausgegrenzt.<br />

7 P.M. Critten<strong>de</strong>n and Claussen: Physical and psychological maltreatment: relations between types of<br />

maltreatment. In: Child abuse and neglect, 1991, 15: 5-18<br />

8 Brassard <strong>und</strong> Hardy: Psychische Misshandlung. In: Helfer, Kempe, Krugmann: Das misshan<strong>de</strong>lte<br />

Kind, Frankfurt/M., 2002, 593 f.<br />

45


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

sich eher laut zeigen, etwa in offener Ablehnung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r eher leise <strong>und</strong><br />

subtil z. B. in <strong>de</strong>r Zuschreibung bestimmter Eigenschaften. In <strong>de</strong>r Literatur wer<strong>de</strong>n<br />

als Formen psychischer Misshandlung genannt: Ablehnung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s (totale Ablehnung<br />

o<strong>de</strong>r z. B. in seinem Geschlecht o<strong>de</strong>r in bestimmten Wesenszügen), ignorieren,<br />

herabsetzen, ängstigen (auch durch Gewalt o<strong>de</strong>r Gewaltandrohung gegen<br />

einen Elternteil), terrorisieren, isolieren, korrumpieren, zuschreiben von Eigenschaften,<br />

vorenthalten eigener Entwicklungsschritte (etwa durch Einbindung in<br />

Sekten), chronisch überfor<strong>de</strong>rn, parentifi zieren, ausbeuten. 9 Diese Faktoren können<br />

einzeln o<strong>de</strong>r in Kombination auftreten. Je jünger ein Kind ist, je häufi ger <strong>und</strong><br />

regelmäßiger es diesem Umgang ausgesetzt ist, <strong>de</strong>sto schädlicher sind die Auswirkungen<br />

auf das Kind.<br />

Spezialformen <strong>de</strong>r psychischen Misshandlung sind:<br />

❍<br />

❍<br />

46<br />

Eskalierte Partnerschaftskonfl ikte / Gewalt zwischen <strong>de</strong>n Eltern / Häusliche<br />

Gewalt<br />

Hier wird das Kind wie<strong>de</strong>rholt Zeuge gewaltsamer Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen<br />

<strong>de</strong>n Eltern. Das Kind fühlt sich extrem ohnmächtig <strong>und</strong> hilfl os, entwickelt<br />

Schuldgefühle, weil es nicht helfen kann. Es wird in starke Angst versetzt,<br />

überfor<strong>de</strong>rt <strong>und</strong> in seiner Entwicklung behin<strong>de</strong>rt, viele Kin<strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<br />

Symptome aus (Unkonzentriertheit, Unruhe, Tagträumen, sozialer Rückzug,<br />

Aggressionen, Einnässen …). Die Ausbildung einer sicheren Geschlechtsrolleni<strong>de</strong>ntität<br />

kann ebenso behin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n wie die Fähigkeit, Beziehungen<br />

einzugehen <strong>und</strong> sich Konfl ikten zu stellen <strong>und</strong> sie mit angemessenen Mitteln<br />

auszutragen. Häufi g wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r auch selbst Opfer <strong>de</strong>r Gewalt. 10<br />

Hochstrittige, eskalierte Trennungs- <strong>und</strong> Sorgerechtskonfl ikte<br />

Hier wird das Kind <strong>de</strong>m Dauerstreit – besser: <strong>de</strong>m Dauerkrieg – <strong>de</strong>r getrennten<br />

Eltern ausgesetzt. Dieser Krieg tobt um das Sorge- <strong>und</strong> Besuchsrecht, um die<br />

Ausgestaltung <strong>de</strong>r Kontakte, um die Frage, was gut für das Kind ist. Die Eltern<br />

beschuldigen sich gegenseitig, an <strong>de</strong>r Trennung Schuld zu sein, setzen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

vor <strong>de</strong>m Kind herab o<strong>de</strong>r wollen es als Bündnispartner gegen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

gewinnen. Begrün<strong>de</strong>t wird dieser Streit mit <strong>de</strong>r Sorge um das Wohlergehen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Dabei entspringt die Überzeugung, um das Kind besorgt zu sein<br />

weniger einer echten Orientierung am Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s als nicht bewussten,<br />

kaum erträglichen <strong>und</strong> daher rationalisierten Kränkungs-, Trauer-, Wut- <strong>und</strong><br />

Rachegefühlen <strong>de</strong>m Partner gegenüber. Die Erfahrung, dass ein Kind bei<strong>de</strong><br />

Eltern liebt, zu bei<strong>de</strong>n Eltern einen Kontakt möchte, wird pervertiert. Unter-<br />

9 vgl.: Brassard <strong>und</strong> Hardy, siehe dort, S. 585 ff.<br />

10 M. Weber-Hornig, G. Kohaupt: Partnerschaftsgewalt in <strong>de</strong>r Familie. Das Drama <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> Folgerungen<br />

für die Hilfe. In: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V., 2005


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

schwellig geht es eher darum zu verhan<strong>de</strong>ln, wer Schuld an <strong>de</strong>r Trennung ist<br />

<strong>und</strong> darum, das verletzte eigene Selbstwertgefühl wie<strong>de</strong>r aufzurichten 11 . Es<br />

gelingt <strong>de</strong>n Eltern nicht, sich weiterhin als Eltern zu begreifen <strong>und</strong> sich als Eltern<br />

gegenseitig wertzuschätzen. Das Kind wird einseitig wahrgenommen, es<br />

wird unter Druck gesetzt, Stellung zu beziehen gegen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren <strong>und</strong> wird so<br />

in starke Loyalitätskonfl ikte gestürzt, sein Selbstbewusstsein lei<strong>de</strong>t, seine Entwicklung<br />

kann dadurch beeinträchtigt wer<strong>de</strong>n 12 .<br />

Manchmal eskalieren Sorgerechtskonfl ikte auch, weil Kin<strong>de</strong>r noch lange nach<br />

Trennungen Irritationen zeigen können. Sie machen Rückschritte in ihrer Entwicklung<br />

o<strong>de</strong>r reagieren nach Besuchen mit Trauer o<strong>de</strong>r Aggression. Solche<br />

Irritationen sind als eher normal anzusehen, wer<strong>de</strong>n von Eltern aber schnell im<br />

Sinne ihrer eigenen Intentionen o<strong>de</strong>r Ängste interpretiert („Die Besuche scha<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>m Kind!“) 13 , was dann in einen eskalierten Sorgerechtsstreit mün<strong>de</strong>n<br />

kann. Heute wird versucht, mit Beratung <strong>und</strong> begleitetem Umgang die Eskalationsspirale<br />

zu durchbrechen, aber manchmal ist auch dieser Weg nicht erfolgreich.<br />

Es kann für ein Kind in solchen eskalierten Situationen eine Entlastung<br />

sein, wenn es nur zu einem Elternteil Kontakt haben kann. Welche Folgen eine<br />

Scheidung für das Kind hat, hängt eben auch ganz erheblich davon ab, was <strong>de</strong>r<br />

Trennung <strong>de</strong>r Eltern vorausging, wie die Trennung gestaltet wird <strong>und</strong> was auf<br />

sie folgt.<br />

Fallbeispiel: Gewalt zwischen <strong>de</strong>n Eltern<br />

Frau M. bringt ihren 13-jährigen Sohn Dennis in eine Beratungsstelle. Dennis prügelt<br />

sich häufi g mit seinen Geschwistern, streitet fast ständig mit ihnen, seine<br />

Schulleistungen sind schlecht. Er hat keine Fre<strong>und</strong>e, ist nach <strong>de</strong>r Schule immer<br />

Zuhause. Auch Frau M. gegenüber ist er manchmal sehr grob <strong>und</strong> frech, lässt sich<br />

nichts von ihr sagen, dann wie<strong>de</strong>r ist er ausgesprochen lieb, hilft ihr beim Einkauf<br />

<strong>und</strong> ist ihr sehr zugewandt. Einmal hat Frau M. Dennis schon für drei Wochen in<br />

eine kin<strong>de</strong>rpsychiatrische Klinik gebracht „wegen seiner Aggression“. Frau M. hat<br />

drei Kin<strong>de</strong>r von zwei Männern. An<strong>de</strong>rs als seine jüngeren Geschwister, ein zehnjähriger<br />

Bru<strong>de</strong>r <strong>und</strong> eine achtjährige Schwester, hat Dennis keinen Kontakt zu<br />

seinem Vater. Die Familie lebt von Hartz IV, die getrennt leben<strong>de</strong>n Väter zahlen<br />

bei<strong>de</strong> keinen Unterhalt.<br />

Dem Berater gegenüber wirkt Dennis im Erstkontakt eher retardiert, <strong>de</strong>utlich jünger<br />

<strong>und</strong> sehr bedürftig. Verschämt hält er die Augen unter seiner Basecap verborgen,<br />

spricht mit leiser Stimme. Nach seinem Anliegen gefragt meint er, er fühle<br />

11 In <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esrepublik wur<strong>de</strong> 1977 das Schuldprinzip bei Ehescheidungen aufgegeben.<br />

12 U. Alberstötter: Wenn Eltern gegeneinan<strong>de</strong>r Krieg führen. Zu einer neuen Praxis <strong>de</strong>r Beratungsarbeit<br />

mit hoch strittigen Eltern. In: Weber, Schilling (Hrsg.): Eskalierte Elternkonfl ikte, München, 2006<br />

13 H. Figdor: Kin<strong>de</strong>r aus geschie<strong>de</strong>nen Ehen. Zwischen Trauma <strong>und</strong> Hoffnung. Gießen, 2004<br />

47


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

48<br />

sich nicht gesehen, er leiste so viel Zuhause doch das wer<strong>de</strong> ihm nicht gedankt.<br />

Seine Geschwister nervten ihn, gingen an seine Sachen, störten ihn ständig, da<br />

schlage er halt manchmal zu.<br />

In <strong>de</strong>r Beratung mit Frau M. geht es schnell nicht mehr um Dennis. Immer wie<strong>de</strong>r<br />

spricht sie spontan davon, selbst unter extremer Gewalt groß gewor<strong>de</strong>n zu<br />

sein. Sie konnte <strong>de</strong>n Erwartungen ihrer Mutter nie entsprechen, wur<strong>de</strong> von ihr<br />

über viele Jahre schwer misshan<strong>de</strong>lt <strong>und</strong> hängt <strong>de</strong>nnoch bis heute sehr an ihr,<br />

wird aber noch immer von ihr zurückgewiesen <strong>und</strong> ausgenutzt. Ihr Vater war selten<br />

Zuhause <strong>und</strong> konnte Frau M. nicht schützen. Diese frühe Traumatisierung hat<br />

sie nie aufarbeiten können. Von ihren Partnern wünscht sich Frau M. eine Beziehung,<br />

in <strong>de</strong>r sie sich angenommen <strong>und</strong> aufgehoben fühlen kann, hat dabei aber<br />

kein Gespür für Gefährdungen <strong>und</strong> kann sich kaum abgrenzen <strong>und</strong> geht daher<br />

immer wie<strong>de</strong>r Beziehungen zu Männern ein, die, wie ihre Mutter, von ihr versorgt<br />

wer<strong>de</strong>n wollen. Enttäuschte sie diese Erwartungen, wur<strong>de</strong> sie wie<strong>de</strong>rholt – z. T.<br />

in Gegenwart <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r – schwer misshan<strong>de</strong>lt. Dennis versuchte dann nach<br />

Kräften, sie zu schützen <strong>und</strong> intervenierte, wenn die Mutter wie<strong>de</strong>r einmal verprügelt<br />

wur<strong>de</strong>. Er stellte sich dazwischen o<strong>de</strong>r rief die Nachbarn o<strong>de</strong>r die Polizei. Bald<br />

zeigt sich, dass die Geschwister von Dennis ebenfalls massive Probleme haben,<br />

die Schwester nässt permanent ein <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r ist aufgr<strong>und</strong> seiner Hyperaktivität<br />

kaum beschulbar.<br />

Auch wenn die Kin<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Partnern <strong>de</strong>r Mutter nicht geschlagen wer<strong>de</strong>n, so<br />

wird doch <strong>de</strong>utlich, wie sehr alle drei unter <strong>de</strong>r Gewalt lei<strong>de</strong>n. Eine starke, gera<strong>de</strong>zu<br />

existentielle Angst ergreift sie, alle Kin<strong>de</strong>r haben behandlungsbedürftige Symptome:<br />

Angst <strong>und</strong> Überdruck äußern sich im Einnässen bei Dennis’ Schwester.<br />

Sein Bru<strong>de</strong>r bekämpft die Angst mit ständiger Überaktivität. Die traumatischen<br />

Kindheitserfahrungen <strong>de</strong>r Mutter bestehen bis heute fort <strong>und</strong> Dennis ist letztlich<br />

<strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r die Mutter „wegen Aggression“ zu einer Hilfe führt. Zuhause geriet<br />

er in eine Ersatzpartnerposition, die ihn einerseits chronisch überfor<strong>de</strong>rt, ihm<br />

an<strong>de</strong>rerseits aber auch Bestätigung bringt. Von <strong>de</strong>r Gewalt gegen seine Mutter<br />

spricht Dennis in <strong>de</strong>r Beratung von sich aus nicht. Vielleicht spielt Scham eine Rolle,<br />

vielleicht will er sie auch hier schützen.<br />

Beeinträchtigungen <strong>de</strong>r elterlichen Erziehungskompetenz<br />

Die Erziehungskompetenz von Eltern kann durch psychische Erkrankung, Substanzabhängigkeit<br />

o<strong>de</strong>r geistige Behin<strong>de</strong>rung eingeschränkt sein, was jeweils<br />

spezifi sche Auswirkungen auf die betroffenen Kin<strong>de</strong>r haben kann. Ob diese Einschränkungen<br />

<strong>de</strong>r Eltern auf Seiten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu Beeinträchtigungen führen,<br />

hängt – wie bei an<strong>de</strong>ren Formen auch – vom Vorhan<strong>de</strong>nsein protektiver (Resilienz-)<br />

Faktoren ebenso ab wie vom Alter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schwere <strong>und</strong> Chronizität<br />

<strong>de</strong>r elterlichen Erkrankung. Die Auswirkungen dieser Einschränkungen <strong>de</strong>r elter-


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

lichen Fähigkeiten auf die Kin<strong>de</strong>r können bei je<strong>de</strong>r einzelnen Form unterschiedlich<br />

sein <strong>und</strong> lassen sich bei kleinen Kin<strong>de</strong>rn am besten über Beobachtungen <strong>de</strong>r<br />

Eltern-Kind-Interaktion in unterschiedlichen Situationen abschätzen 14 .<br />

❍<br />

Beeinträchtigungen durch psychische Erkrankung von Eltern<br />

Wir können hier Eltern unterschei<strong>de</strong>n, die an Schizophrenie, an affektiven Störungen,<br />

an Persönlichkeitsstörungen o<strong>de</strong>r an schweren neurotischen Störungen<br />

lei<strong>de</strong>n. Der Grad <strong>de</strong>r Gefährdung von Kin<strong>de</strong>rn durch diese Erkrankungen ist<br />

unterschiedlich, er kann bei psychisch kranken Eltern mit kleinen Kin<strong>de</strong>rn sehr<br />

hoch sein, wenn diese etwa ihre Kin<strong>de</strong>r im Wahn verzerrt wahrnehmen o<strong>de</strong>r in<br />

tiefer Depression versunken unfähig sind, sich ihnen zuzuwen<strong>de</strong>n 15 . So unterschiedlich<br />

diese Erkrankungen sind, so ist ihnen doch allen gemein, dass Kin<strong>de</strong>r,<br />

sofern sie mit <strong>de</strong>n Erkrankungen ihrer Eltern aufgewachsen sind, diese zunächst<br />

meist für normal halten. Schon Babys reagieren mit großer Anpassung<br />

o<strong>de</strong>r Hyperaktivität auf die Stimmungen <strong>de</strong>r Eltern 16 . Größere Kin<strong>de</strong>r beziehen<br />

das Unverständliche daran auf sich selbst, sehen es als eigene Schuld o<strong>de</strong>r eigene<br />

Unfähigkeit an <strong>und</strong> können es so nicht verarbeiten <strong>und</strong> sich An<strong>de</strong>rn auch<br />

nicht mitteilen. Sie bleiben dann mit ihrer Überfor<strong>de</strong>rung, ihrer Angst, ihren<br />

Schuldgefühlen <strong>und</strong> ihrem Unverständnis allein. Die Beziehung zum kranken<br />

Elternteil kann von Ambivalenz gekennzeichnet sein, neben überfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r<br />

Sorge um <strong>de</strong>n kranken Elternteil stehen Wut <strong>und</strong> Ärger 17 . Hinzu kommt, dass<br />

durch die Erkrankung <strong>de</strong>r Eltern auch die Außenbeziehungen <strong>de</strong>r Familie meist<br />

verarmen <strong>und</strong> sich soziale Probleme häufen.<br />

Eine Spezialform ist das Münchhausen-Syndrom. Hierbei fügen Eltern ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn körperlichen Scha<strong>de</strong>n z. B. durch Verabreichung giftiger Substanzen zu,<br />

um sie dann von Ärzten behan<strong>de</strong>ln zu lassen. Das schädigen<strong>de</strong> Verhalten ist dabei<br />

abgespalten, d.h. <strong>de</strong>n betreffen<strong>de</strong>n Eltern hinterher meist selbst nicht bewusst.<br />

Der Gewinn für sie besteht darin, als „gute, fürsorgliche Eltern“ an <strong>de</strong>r Zuwendung<br />

durch Ärzte <strong>und</strong> Schwestern zu profi tieren. Kin<strong>de</strong>r können durch diese<br />

Eltern schwere körperliche <strong>und</strong> seelische Schä<strong>de</strong>n erlei<strong>de</strong>n, oft kann diese<br />

Störung erst nach längerer Zeit von <strong>de</strong>n Ärzten ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, zumal diese<br />

Eltern häufi g die behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Ärzte wechseln.<br />

14 Siehe: P.M. Critten<strong>de</strong>n (1979-2004). CARE-In<strong>de</strong>x: Coding Manual. Unpublished manuscript, Miami,<br />

FL. available from the author.<br />

15 M. Mullick, L.J. Miller, T. Jacobsen (2001): Insight into Mental Illness and Child Maltreatment Risk<br />

in Mothers with Major Psychiatric Disor<strong>de</strong>rs. Psychiatric Services, 52: 488-492<br />

16 Chr. Deneke, B. Lü<strong>de</strong>rs: Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Interaktion zwischen psychisch kranken Eltern <strong>und</strong> ihren<br />

kleinen Kin<strong>de</strong>rn. In: Praxis <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpsychologie <strong>und</strong> –psychiatrie 52: 172-181, 2003<br />

17 vgl. auch: R. Schone, S. Wagenblass: Wenn Eltern psychisch krank sind.. Kindliche Lebenswelten<br />

<strong>und</strong> institutionelle Handlungsmuster. Votum, 2002<br />

F. Mattejat, B. Lisofsky (Hg.): ... nicht von schlechten Eltern. Kin<strong>de</strong>r psychisch Kranker. Psychiatrie<br />

Verlag, 2001<br />

49


Welche Formen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können wir unterschei<strong>de</strong>n?<br />

❍<br />

❍<br />

50<br />

Beeinträchtigungen durch elterliche Substanzabhängigkeit<br />

Hierunter fallen Eltern, die für ihre körperliche <strong>und</strong> psychische Stabilität auf<br />

bestimmte Substanzen (z. B. Alkohol, Drogen, Medikamente …) angewiesen<br />

sind o<strong>de</strong>r die kauf- o<strong>de</strong>r computersüchtig sind. Hier besteht die Gefahr, dass<br />

sie ihren Kin<strong>de</strong>rn nicht ausreichend zur Verfügung stehen (s. Vernachlässigung)<br />

<strong>und</strong> sehr wechselhaft <strong>und</strong> wenig berechenbar in ihren Stimmungen <strong>und</strong><br />

im Umgang sind. Kin<strong>de</strong>r von Suchtkranken übernehmen häufi g viel Verantwortung<br />

für ihre Eltern, helfen schamvoll die Abhängigkeit <strong>de</strong>r Eltern zu ver<strong>de</strong>cken<br />

<strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n parentifi ziert in<strong>de</strong>m sie sich um die familiären Belange<br />

<strong>und</strong> um ihre Eltern wie Erwachsene kümmern 18 .<br />

Beeinträchtigungen durch geistige Behin<strong>de</strong>rung<br />

Hier ist die Fähigkeit <strong>de</strong>r Eltern, sich angemessen um ihre Kin<strong>de</strong>r zu kümmern,<br />

sie zu versorgen <strong>und</strong> fürsorglich zu begleiten graduell unterschiedlich<br />

eingeschränkt. Die Gefährdung ist vor allem für Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r<br />

groß, wenn ihre Eltern nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, sich in die Bedürfnisse <strong>de</strong>r Kleinen<br />

einzufühlen o<strong>de</strong>r zu wenig um die Bedürfnisse von kleinen Kin<strong>de</strong>rn wissen<br />

<strong>und</strong> nur schlecht antizipieren können. Sind die Kin<strong>de</strong>r größer, kann es zu<br />

einer Rollenumkehr kommen bei <strong>de</strong>r die Kin<strong>de</strong>r etwa die Außenvertretung <strong>de</strong>r<br />

Familie übernehmen o<strong>de</strong>r in I<strong>de</strong>ntifi kation mit <strong>de</strong>n Eltern o<strong>de</strong>r aus Schuldgefühlen<br />

heraus Lernstörungen in <strong>de</strong>r Schule zeigen.<br />

18 Trockene Alkoholiker neigen häufi g dazu, im Umgang mit ihren Kin<strong>de</strong>rn übermäßig rigi<strong>de</strong> zu sein.


7<br />

Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> aus kin<strong>de</strong>rärztlicher Sicht<br />

Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung entstehen als soziale, zwischenmenschliche<br />

Probleme, haben aber für die betroffenen Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

oft schwerwiegen<strong>de</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Folgen. Die Gesetzgebung <strong>und</strong> Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n<br />

orientieren sich überwiegend an beweisbaren <strong>und</strong> möglicherweise<br />

strafbaren Handlungen o<strong>de</strong>r Unterlassungen. Auch die Öffentlichkeit interessiert<br />

sich häufi g sehr für die Handlungen <strong>und</strong> Motive <strong>de</strong>r misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Personen <strong>und</strong><br />

weniger für die Verletzungen bei <strong>de</strong>m betroffenen Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen. Häufi g<br />

wird impliziert, dass, je schrecklicher die Tat im Empfi n<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Außenstehen<strong>de</strong>n<br />

ist, die seelischen Folgen umso schrecklicher für das Opfer seien. Dies ist jedoch<br />

nicht richtig, weil je<strong>de</strong>s Kind <strong>und</strong> Jugendlicher über individuell sehr unterschiedliche<br />

Bewältigungsstrategien verfügt.<br />

In diesem Abschnitt sprechen wir <strong>de</strong>mgegenüber ausschließlich von Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

o<strong>de</strong>r Vernachlässigung, wenn Beeinträchtigungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in seiner<br />

seelischen, körperlichen o<strong>de</strong>r sozialen Ges<strong>und</strong>heit festzustellen sind, die mit<br />

einem Kontext von schädigen<strong>de</strong>n Handlungen o<strong>de</strong>r Unterlassungen von Erwachsenen<br />

in Verbindung gebracht wer<strong>de</strong>n können. Dies hat zur Folge, dass die Aufmerksamkeit<br />

für frühe Formen von Deprivation, körperliche <strong>und</strong> emotionale Vernachlässigung<br />

<strong>und</strong> Verwahrlosung in <strong>de</strong>n ersten Lebensjahren verstärkt wird, weil<br />

gera<strong>de</strong> diese Formen die Kin<strong>de</strong>sentwicklung nachhaltig <strong>und</strong> mit oft gravieren<strong>de</strong>n<br />

Folgen beeinträchtigen. Diese Orientierung an <strong>de</strong>n Konsequenzen <strong>de</strong>r Gewalt gegen<br />

Kin<strong>de</strong>r ist wichtig, weil sie hilft, Prioritäten im Hilfesystem zu Gunsten <strong>de</strong>r<br />

betroffenen Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen zu setzen – unabhängig von an<strong>de</strong>ren Personen,<br />

die unter Umstän<strong>de</strong>n ebenfalls Hilfe, Unterstützung o<strong>de</strong>r einer Bestrafung<br />

bedürfen. Neben <strong>de</strong>r genauen Diagnostik von körperlichen, geistigen <strong>und</strong> seelischen<br />

Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r individuellen Entwicklung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s erfor<strong>de</strong>rt eine solche Sichtweise gleichzeitig einen ganzheitlichen<br />

Blick auf das Lebensumfeld <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Sie zwingt zu einer familienorientierten<br />

Analyse <strong>und</strong> einem familiensystemischen Eingreifen, da <strong>de</strong>r Kontext einer Familie<br />

für Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn von allergrößter Be<strong>de</strong>utung ist.<br />

Bronfenbrenner hat die Auswirkung von <strong>de</strong>n das Kind umgeben<strong>de</strong>n Systemen in<br />

seiner Theorie <strong>de</strong>r Ökologie <strong>de</strong>r menschlichen Entwicklung ausführlich beschrieben.<br />

Zu diesen Systemen gehören neben <strong>de</strong>m Mikrosystem <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> <strong>de</strong>m<br />

Makrosystem <strong>de</strong>s gesellschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong> ökonomischen Zusammenhangs<br />

auch die Mesosysteme <strong>de</strong>s Erziehungs-, Bildungs-, <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Jugend- <strong>und</strong> Sozialhilfe. Der Einfl uss aller Systeme muss im Hilfeprozess<br />

refl ektiert wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> bedarf einer kritischen Selbstrefl ektion aller beteiligten<br />

Hilfesysteme. Interventionen sollen <strong>und</strong> können helfen, aber auch selbst<br />

schwerwiegen<strong>de</strong> Probleme verursachen.<br />

Der Begriff Ges<strong>und</strong>heit wird hier in einem sehr breiten Sinn verstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r über<br />

das körperliche Wohlbefi n<strong>de</strong>n hinausgeht <strong>und</strong> Aspekte <strong>de</strong>r seelischen <strong>und</strong> sozialen<br />

52


Ges<strong>und</strong>heit einschließt. Er berücksichtigt die Dynamik von Entwicklungsprozessen<br />

<strong>und</strong> nutzt eine Perspektive von Übereinstimmungen o<strong>de</strong>r Diskrepanzen zwischen<br />

Entwicklungspotentialen <strong>und</strong> -chancen einerseits <strong>und</strong> Entwicklungshemmnissen<br />

<strong>und</strong> -problemen an<strong>de</strong>rerseits. Ges<strong>und</strong>heit kann nach diesen Konzepten nur<br />

im Kontext <strong>de</strong>r aktuellen Lebensumstän<strong>de</strong> eines je<strong>de</strong>n Individuums verwirklicht<br />

wer<strong>de</strong>n. Zum Verständnis <strong>de</strong>r Bewältigung von Gewalterfahrungen <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

in <strong>de</strong>r Kindheit ist das psychosoziobiologische Mo<strong>de</strong>ll zur Entstehung<br />

von Funktions- <strong>und</strong> Teilhabestörungen <strong>und</strong> Antonovskys Konzept <strong>de</strong>r Salutogenese<br />

(Ges<strong>und</strong>werdung) hilfreicher als das traditionelle auf negative Verän<strong>de</strong>rungen<br />

fi xierte Konzept <strong>de</strong>r Pathogenese. Ressourcen, Potentiale, Unterstützungen <strong>und</strong><br />

Erfahrungen müssen bei <strong>de</strong>r Evaluation ebenso in <strong>de</strong>n Blick genommen wer<strong>de</strong>n<br />

wie Verletzlichkeit (Vulnerabilität), Isolation, Ausmaß <strong>und</strong> Folgen <strong>de</strong>r Verletzungen<br />

(Traumatisierung).<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Verhaltensprobleme, seelische Störungen <strong>und</strong> körperliche Verletzungen<br />

sind in <strong>de</strong>r Regel zunächst als unspezifi sche Symptome zu werten, die<br />

auf eine Misshandlungs- o<strong>de</strong>r Vernachlässigungssituation hinweisen, aber auch<br />

an<strong>de</strong>re Ursachen haben können.<br />

Wenige Schädigungen o<strong>de</strong>r Verletzungen haben quasi beweisen<strong>de</strong>n Charakter.<br />

Insofern hat die ärztliche <strong>und</strong> psychologische Diagnostik eine wichtige Funktion<br />

für die Feststellung von interventionspfl ichtigen Ges<strong>und</strong>heitsstörungen <strong>und</strong><br />

Beeinträchtigungen. Die Klärung <strong>de</strong>r Entstehung dieser Beeinträchtigungen ist<br />

in <strong>de</strong>r Regel jedoch nur in <strong>de</strong>r Gesamtschau aller erhobenen ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Bef<strong>und</strong>e, Daten aus <strong>de</strong>r psychosozialen Anamnese, <strong>de</strong>r Biographien von Eltern<br />

<strong>und</strong> Kind <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schil<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Betroffenen selbst möglich. Wichtig ist<br />

also zu be<strong>de</strong>nken, dass die Feststellung von Schädigungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ein diagnostischer<br />

Hinweis auf eine Misshandlungs- o<strong>de</strong>r Vernachlässigungssituation<br />

ist <strong>und</strong> umgekehrt aus <strong>de</strong>r Kenntnis einer Misshandlungs- o<strong>de</strong>r Vernachlässigungssituation<br />

zu erwarten<strong>de</strong> Entwicklungsprobleme – in allerdings begrenztem<br />

Umfang – abgeschätzt wer<strong>de</strong>n können.<br />

Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung – Voraussetzungen <strong>und</strong> schädigen<strong>de</strong> Einfl üsse<br />

Um Schädigungen von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen im Zusammenhang mit Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

o<strong>de</strong>r Vernachlässigung zu erkennen <strong>und</strong> zu verstehen, sind gute<br />

Kenntnisse in <strong>de</strong>r körperlichen <strong>und</strong> seelischen Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

nötig. Kin<strong>de</strong>r haben je nach Alter verschie<strong>de</strong>ne Entwicklungsaufgaben<br />

zu bewältigen, Stärken <strong>und</strong> Schwächen bil<strong>de</strong>n sich aus, je nach<strong>de</strong>m, wie gut die<br />

gestellten Entwicklungsaufgaben bewältigt wer<strong>de</strong>n. Schädigen<strong>de</strong> Einfl üsse wirken<br />

sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien völlig unterschiedlich aus – als<br />

Faustregel kann gelten, dass eine Störung <strong>de</strong>r psychoemotionalen Entwicklung<br />

umso gravieren<strong>de</strong>re Folgen hat, je jünger das Kind ist.<br />

53


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Alle Helferinnen <strong>und</strong> Helfer im Kin<strong>de</strong>rschutz müssen min<strong>de</strong>stens über Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

<strong>de</strong>r Entwicklungspsychologie verfügen <strong>und</strong> die Meilensteine <strong>de</strong>r Entwicklung<br />

von Kin<strong>de</strong>rn kennen. Die Vermittlung dieses Wissens kann hier nicht geleistet<br />

wer<strong>de</strong>n, wir möchten aber auf einige beson<strong>de</strong>rs wichtige Aspekte hinweisen:<br />

Emotionale Vernachlässigung <strong>und</strong> frühe Deprivation<br />

Emotionale Vernachlässigung <strong>und</strong> frühkindliche Deprivation von Säuglingen <strong>und</strong><br />

Kleinkin<strong>de</strong>rn wird nach wie vor wenig beachtet, obwohl sie aus entwicklungspsychologischer<br />

Sicht möglicherweise das Kernstück aller Misshandlungsformen bil<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> die schwersten psychosozialen Folgen für das Kind haben dürften. Diese<br />

Störungen in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n am besten konzeptuell erfasst<br />

als Beziehungsstörungen, das heißt als Folge einer Dysfunktion im System<br />

Eltern-Kind-Umgebung. Für eine för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Eltern-Kind-Beziehung sind vier wesentliche<br />

Eigenschaften von Eltern erfor<strong>de</strong>rlich:<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

54<br />

Die Fähigkeit <strong>de</strong>r Empathie <strong>und</strong> Kommunikation mit <strong>de</strong>m Kind<br />

Nach <strong>de</strong>r Bindungstheorie ist diese elterliche Fähigkeit gr<strong>und</strong>legend für die<br />

Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn. Eltern müssen in <strong>de</strong>r Lage sein, ihre eigenen Interessen<br />

zurückzustellen, <strong>de</strong>m Kind empathisch <strong>und</strong> einfühlsam zuzuhören, sich<br />

emotional in das Kind hineinzuversetzen <strong>und</strong> die Situation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu verstehen,<br />

emotional verfügbar zu sein, wenn das Kind es braucht. In <strong>de</strong>r Kommunikation<br />

mit <strong>de</strong>m Kind haben Eltern sowohl die Aufgabe, die Autonomie<br />

<strong>und</strong> Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu achten, als auch seinem Entwicklungsstand angemessen<br />

zu antworten.<br />

Die Fähigkeit, das Kind realistisch wahrzunehmen<br />

Es ist nicht ungewöhnlich, dass misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Eltern ein verzerrtes Bild von<br />

ihren Kin<strong>de</strong>rn haben <strong>und</strong> von <strong>de</strong>m, was Kin<strong>de</strong>r entsprechend ihres Alters <strong>und</strong><br />

ihres Entwicklungsstan<strong>de</strong>s leisten können. Hierzu gehören insbeson<strong>de</strong>re überhöhte<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen an die Selbständigkeit, zum Beispiel die Sauberkeitsentwicklung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, unzureichen<strong>de</strong> Aufsicht, mangeln<strong>de</strong> Sicherheit <strong>und</strong><br />

Übertragung nicht altersgemäßer Aufgaben.<br />

Die Fähigkeit zu realistischen Erwartungen bezüglich <strong>de</strong>r Bedürfnisse,<br />

die ein Kind erfüllen kann<br />

In manchen Familien erwarten die Eltern von ihren Kin<strong>de</strong>rn Fürsorge <strong>und</strong> Trost<br />

statt fürsorglich <strong>und</strong> tröstend zu sein. Es lastet ein großer Druck auf <strong>de</strong>m Kind<br />

Bedürfnisse zu erfüllen, die hätten erfüllt wer<strong>de</strong>n müssen, als die Eltern Kin<strong>de</strong>r<br />

waren. Dabei for<strong>de</strong>rn Eltern von ihren Kin<strong>de</strong>rn zweierlei: Die Kin<strong>de</strong>r sollen<br />

die Eltern für das entschädigen, was die eigenen Eltern ihnen vorenthalten<br />

haben, <strong>und</strong> sie sollen die Eltern für die selbst erlittenen Frustrationen trösten.


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

4.<br />

In ihrem Wunsch, von ihren Eltern anerkannt zu wer<strong>de</strong>n, versuchen viele Kin<strong>de</strong>r,<br />

ihren Eltern diese liebevollen Ersatzeltern zu sein. Der Konfl ikt zwischen<br />

<strong>de</strong>n eigenen kindlichen Bedürfnissen nach Versorgung <strong>und</strong> Anerkennung <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m Zwang, sich ihren Eltern zur Verfügung zu stellen, wird sie jedoch früher<br />

o<strong>de</strong>r später überfor<strong>de</strong>rn. Von Eltern wird die Fähigkeit erwartet, <strong>de</strong>n Bedürfnissen<br />

eines Kin<strong>de</strong>s Vorrang vor <strong>de</strong>n eigenen Bedürfnissen einzuräumen.<br />

Die Fähigkeit, aggressives Verhalten <strong>de</strong>m Kind gegenüber zurückzuhalten<br />

Eltern müssen in <strong>de</strong>r Lage sein, ihren eigenen Schmerz o<strong>de</strong>r ihre Aggression<br />

zurückzuhalten <strong>und</strong> sie nicht <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn gegenüber auszuagieren. Wir sprechen<br />

von <strong>de</strong>r Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren, sie ist beson<strong>de</strong>rs bei Suchtkranken<br />

o<strong>de</strong>r psychisch kranken Eltern oft eingeschränkt. Nur wenn Eltern<br />

über diese Fähigkeit in ausreichen<strong>de</strong>m Maß verfügen, können Kin<strong>de</strong>r eine sichere<br />

Bindung entwickeln, die zum Mo<strong>de</strong>ll für zukünftige menschliche Beziehungen<br />

wird.<br />

Die von John Bowlby entwickelte Bindungstheorie hat einen wesentlichen Beitrag<br />

zum Verständnis <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s jungen Kin<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Familie beigetragen.<br />

Mary Ainsworth beschrieb in <strong>de</strong>r Folge drei gr<strong>und</strong>sätzliche Bindungsmuster:<br />

1. Sichere Bindung: Hier vertraut das Kind darauf, dass ein Elternteil o<strong>de</strong>r eine<br />

Eltern-Figur verfügbar, verständnisvoll <strong>und</strong> helfend ist, wenn es in eine feindliche<br />

o<strong>de</strong>r erschrecken<strong>de</strong> Situation kommt. Mit dieser Sicherheit fühlt es sich<br />

frei, die Welt zu erk<strong>und</strong>en. Dieses Muster wird von Eltern geför<strong>de</strong>rt, die bereitwillig<br />

zur Verfügung stehen, die empfi ndsam für die Signale ihres Kin<strong>de</strong>s sind<br />

<strong>und</strong> die ihm liebevoll entgegenkommen, wenn es Schutz o<strong>de</strong>r Trost sucht.<br />

2. Angstbindung: Hier ist das Kind unsicher, ob die Elternperson verfügbar sein<br />

wird, Antworten geben o<strong>de</strong>r helfen wird, wenn sie gerufen wird. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Unsicherheit ist das Kind immer wie<strong>de</strong>r von Trennungsangst bestimmt,<br />

neigt dazu, zu klammern <strong>und</strong> hat Angst, die Welt zu erk<strong>und</strong>en. Dieses Muster,<br />

in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Konfl ikt offensichtlich ist, wird durch Eltern geför<strong>de</strong>rt, die manchmal<br />

verfügbar <strong>und</strong> hilfreich sind <strong>und</strong> manchmal nicht.<br />

3. Bindungsvermeidung: Hier hat das Individuum kein Vertrauen darauf Hilfe<br />

zu erhalten, wenn es sie braucht. Im Gegenteil erwartet es, zurückgewiesen<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Wenn diese Erfahrung in ausgeprägtem Maß vorliegt, versucht ein<br />

solches Kind, sein Leben auch weiterhin ohne die Liebe <strong>und</strong> Unterstützung<br />

an<strong>de</strong>rer zu leben, es versucht, emotional selbst genügsam zu wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> mag<br />

später als narzisstisch eingestuft wer<strong>de</strong>n. Dieses Muster ist das Ergebnis ständiger<br />

Zurückweisung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durch die Eltern, wenn es sich um Trost o<strong>de</strong>r<br />

Schutz an sie wen<strong>de</strong>t.<br />

Bei vernachlässigten <strong>und</strong> misshan<strong>de</strong>lten Kin<strong>de</strong>rn wur<strong>de</strong> überwiegend eine Mischung<br />

aus Angstbindung <strong>und</strong> bindungsvermei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m Muster beschrieben. Die<br />

55


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Früherkennung von Formen <strong>und</strong> Folgen früher Deprivation <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

ist schwierig, da Säuglinge, Kleinkin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Vorschulkin<strong>de</strong>r zum Teil nur geringe<br />

klinische Symptome gestörter Entwicklung zeigen. Sie entwickeln <strong>und</strong> nutzen<br />

Überlebensstrategien im Sinne komplizierter Anpassungsleistungen, um mit<br />

<strong>de</strong>m Leben zurecht zu kommen. Frühe <strong>und</strong> <strong>de</strong>zente Warnzeichen für eine Gefährdung<br />

<strong>de</strong>r Entwicklung lassen sich jedoch in <strong>de</strong>r Beziehung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Interaktion<br />

zwischen Kind <strong>und</strong> Bezugspersonen i<strong>de</strong>ntifi zieren. Das Versagen eines angemessenen<br />

elterlichen Verhaltens kann frühzeitig wahrgenommen <strong>und</strong> angesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n, damit es gelingt, <strong>de</strong>n Schutz <strong>und</strong> die Entwicklungsför<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

präventiv <strong>und</strong> nicht reaktiv zu gestalten.<br />

Der sorgfältigen Beobachterin fällt manchmal die »frozen watchfulness« von<br />

Säuglingen auf, die Traurigkeit ihres Gesichtsausdrucks, die übermäßige Passivität<br />

o<strong>de</strong>r auch Ängstlichkeit (Bild<br />

1). Eingeschränktes Lautieren,<br />

verzögerte Sprachentwicklung<br />

<strong>und</strong> fehlen<strong>de</strong> Freu<strong>de</strong> an Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Interaktion<br />

<strong>de</strong>uten auf eine Deprivation in<br />

<strong>de</strong>r Interaktion mit Bezugspersonen<br />

hin, mangeln<strong>de</strong> Motivation,<br />

die Umgebung zu explorieren,<br />

auf wie<strong>de</strong>rholte negative<br />

Erfahrung bei <strong>de</strong>r Vergrö-<br />

Bild 1<br />

56<br />

ßerung <strong>de</strong>s Aktionsradius <strong>und</strong><br />

Eigenaktivitäten wie auch auf<br />

fehlen<strong>de</strong> positive Verstärkung <strong>und</strong> fehlen<strong>de</strong>s Lob. Eine feindselige o<strong>de</strong>r negative<br />

Einstellung zum Kind wird sich in Rückzug, Apathie <strong>und</strong> einer verzögerten psychomotorischen<br />

Entwicklung zeigen. Kleinkin<strong>de</strong>r fallen <strong>de</strong>mgegenüber auch<br />

manchmal durch Distanzlosigkeit o<strong>de</strong>r übergroße Lebhaftigkeit auf, wobei sie<br />

durch ihr Verhalten teils nach Aufmerksamkeit suchen, auch wenn sie negative Reaktionen<br />

zu befürchten haben, o<strong>de</strong>r sie lenken intuitiv vom elterlichen Verhalten ab.<br />

Eine offene, im Verhalten wahrnehmbare o<strong>de</strong>r sprachlich geäußerte Ablehnung<br />

<strong>de</strong>r Eltern durch das kleine Kind ist eine seltene Folge von Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung. Kin<strong>de</strong>r sind in <strong>de</strong>r Regel loyal ihren Eltern gegenüber. Die<br />

Eltern sind die einzigen Eltern, die das Kind hat <strong>und</strong> so schützen Kin<strong>de</strong>r sich mit<br />

ihrer Loyalität vor <strong>de</strong>r emotional verstören<strong>de</strong>n Tatsache, dass ihre Eltern nicht in<br />

<strong>de</strong>r Lage sind, für sie zu sorgen, sie zu beschützen <strong>und</strong> sie in schwierigen Situationen<br />

zu trösten. Damit wird jedoch in <strong>de</strong>r Folge das Selbstbild <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, sein<br />

Bild von an<strong>de</strong>ren, von menschlichen Beziehungen, Lebenszielen <strong>und</strong> Lebensstrategien<br />

beeinträchtigt.


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Schwere <strong>und</strong> früh einsetzen<strong>de</strong> Deprivation führt zur<br />

❍ nicht-organischen Ge<strong>de</strong>ihstörung,<br />

❍ Sprachentwicklungsverzögerung,<br />

❍ frühkindlichen Depression <strong>und</strong><br />

❍ zu schweren, langfristigen Störungen <strong>de</strong>r psychoemotionalen Entwicklung.<br />

Vernachlässigung <strong>de</strong>r Fürsorge, Verwahrlosung<br />

Neben emotionaler Deprivation, die sich umso gravieren<strong>de</strong>r auswirkt, je jünger<br />

das Kind ist, treten nicht selten an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r Vernachlässigung auf. Vernachlässigung<br />

<strong>de</strong>r ges<strong>und</strong>heitlichen Fürsorge be<strong>de</strong>utet, dass ges<strong>und</strong>heitliche Probleme<br />

nicht wahrgenommen o<strong>de</strong>r nicht angemessen behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, dass empfohlene<br />

Vorsorge- <strong>und</strong> Früherkennungsuntersuchungen nicht angenommen wer<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r die Ges<strong>und</strong>heit durch fahrlässiges Verhalten gefähr<strong>de</strong>t wird. Die Beurteilung<br />

eines solchen Verhaltens unterliegt kulturellen Standards <strong>und</strong> gilt nicht<br />

unwi<strong>de</strong>rsprochen als Kin<strong>de</strong>smisshandlung. Die jüngste Debatte um die Verpfl ichtung<br />

zur Wahrnehmung <strong>de</strong>r ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen zeigt die<br />

Schwierigkeiten, in einem Ges<strong>und</strong>heitswesen mit einer ausgeprägten Tradition in<br />

<strong>de</strong>r Eigenverantwortung <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Selbstmanagements durch <strong>de</strong>n Inanspruchnehmer<br />

(Patienten/Klienten) einen systematischen Zugang zu Kin<strong>de</strong>rn in schwierigen<br />

Lebensverhältnissen zu organisieren. Die Beurteilung, was ausreichen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />

nicht mehr ausreichen<strong>de</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge ist, hängt davon ab, wie viel Freiraum<br />

Eltern in ihrer Verantwortung für das Kind zugetraut wer<strong>de</strong>n soll. Gera<strong>de</strong> im<br />

Bereich <strong>de</strong>r Vernachlässigung spielen Aspekte nicht nur <strong>de</strong>r Verhaltensprävention<br />

son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Verhältnisprävention eine große Rolle.<br />

Die Eltern haben als erste <strong>und</strong> wichtigste Aufgabe, das Kind vor Gefahren zu<br />

schützen <strong>und</strong> es in <strong>de</strong>r Entwicklung zu för<strong>de</strong>rn. Es gilt das „Gefährdungsabwendungsprimat“<br />

(s. Salgo) <strong>de</strong>r Eltern. Allerdings gibt es auch Gefahren <strong>und</strong> Problemlagen<br />

in Lebenswelten von jungen Familien, insbeson<strong>de</strong>re solchen in prekären<br />

Lebensverhältnissen, die nicht von <strong>de</strong>n Eltern zu verantworten <strong>und</strong> nicht sicher<br />

abzuwen<strong>de</strong>n sind. Dies betrifft etwa nicht-kindgerechte Wohnungen <strong>und</strong> Verkehrsanlagen.<br />

Hier muss sich <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutz auch als Mesosystem verstehen,<br />

das eine Anwaltschaft für bessere Lebensverhältnisse von Kin<strong>de</strong>rn übernimmt.<br />

Ein Beispiel mag ver<strong>de</strong>utlichen, wie sehr auch gesellschaftliche Normen <strong>und</strong> Bewertungen<br />

die Klassifi kation einer unterlassenen Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge beeinfl ussen:<br />

Erkrankt ein Kleinkind an Rachitis, weil die Eltern aus weltanschaulichen<br />

Grün<strong>de</strong>n keine Vitamin D Prophylaxe gegeben haben, wird dies zwar kritisiert,<br />

in <strong>de</strong>r Regel aber nicht als körperliche Vernachlässigung bewertet. Wie wird die<br />

Situation beurteilt, wenn die Eltern in chaotischen Lebensumstän<strong>de</strong>n leben <strong>und</strong><br />

trotz wie<strong>de</strong>rholter Auffor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gabe von Vitamin D nicht nachkommen <strong>und</strong><br />

empfohlene Vorsorgen nicht annehmen? Zu einer Schädigung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ist es in<br />

57


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

allen Fällen gekommen, die Intervention in <strong>de</strong>r Familie wird sich nach <strong>de</strong>n individuellen<br />

Umstän<strong>de</strong>n richten.<br />

Vernachlässigung <strong>de</strong>r Witterung angemessener Kleidung führt im Extremfall zu<br />

Erfrierungen o<strong>de</strong>r schweren Sonnenbrän<strong>de</strong>n, in weniger schweren Fällen zu einer<br />

Infektgefährdung durch ständige Unterkühlung. Ein kontrovers diskutierter Sachverhalt<br />

ergibt sich, wenn Eltern ihr Kind zwingen, in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s peinliche<br />

o<strong>de</strong>r lächerliche Kleidung bzw. Kleidung <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts zu tragen.<br />

Vernachlässigung <strong>de</strong>r Ernährung zeigt sich am häufi gsten in einer zwar kalorisch<br />

ausreichen<strong>de</strong>n aber mangelhaften Ernährung, die insbeson<strong>de</strong>re bei kleinen Kin<strong>de</strong>rn<br />

zu Blutarmut <strong>und</strong> Vitaminmangelzustän<strong>de</strong>n führen kann <strong>und</strong> damit Wachstum<br />

<strong>und</strong> Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ernsthaft gefähr<strong>de</strong>t. Bei unterkalorischer Ernährung,<br />

entwe<strong>de</strong>r weil die Eltern das Kind nicht ausreichend ernähren, Nahrungsentzug<br />

als Strafmaßnahme nutzen o<strong>de</strong>r bei Nahrungsverweigerung durch das Kind<br />

selbst aufgr<strong>und</strong> schwerer Beziehungsstörungen, spricht man von nicht organischer<br />

Ge<strong>de</strong>ihstörung. Die Kin<strong>de</strong>r zeigen eine Gewichtsentwicklung, die nicht im altersentsprechen<strong>de</strong>n<br />

Normalbereich verläuft <strong>und</strong> schließlich auch ein Abknicken <strong>de</strong>s<br />

Längenwachstums. Schwere akute Unterernährung durch Nahrungsentzug o<strong>de</strong>r<br />

häufi ger Beziehungsverlust <strong>und</strong> Nichtwahrnehmung <strong>de</strong>s hungern<strong>de</strong>n, zunehmend<br />

schwachen <strong>und</strong> apathischen Kin<strong>de</strong>s ist selten, kann aber zu lebensbedrohlichen Situationen<br />

<strong>und</strong> To<strong>de</strong>sfällen führen.<br />

Vernachlässigung in Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung kann bereits im Kleinkind- <strong>und</strong><br />

Kin<strong>de</strong>rgartenalter vorkommen. Allerdings wird die Gefahr für die Kin<strong>de</strong>sentwicklung<br />

durch nicht ausreichen<strong>de</strong> Bildungs- <strong>und</strong> außerfamiliäre Beziehungsangebote<br />

noch wenig als <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> angesehen. Dies könnte sich än<strong>de</strong>rn, wenn<br />

Angebote entwe<strong>de</strong>r universell <strong>und</strong> ohne Kosten für Familien angeboten wer<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r wenn För<strong>de</strong>rmaßnahmen dringend empfohlen, aber von <strong>de</strong>n Eltern nicht<br />

wahrgenommen wer<strong>de</strong>n. Die gegenwärtige Debatte um die Aufnahme eigener<br />

Kin<strong>de</strong>rrechte ins Gr<strong>und</strong>gesetz ver<strong>de</strong>utlicht, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch<br />

schwierig ist, das Recht <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s auf Bildung <strong>und</strong> Entwicklungsför<strong>de</strong>rung justiziabel<br />

zu machen; es wür<strong>de</strong> wohl auch be<strong>de</strong>uten, dass sehr viel mehr hochqualifi<br />

zierte Betreuungsangebote <strong>und</strong> Bildungsmaßnahmen für sehr junge Kin<strong>de</strong>r angeboten<br />

wer<strong>de</strong>n müssten.<br />

Eine rechtlich relevante <strong>und</strong> justiziable Vernachlässigung tritt aber auf je<strong>de</strong>n Fall<br />

bei Verletzung <strong>de</strong>r Schulpfl icht ein. Regelmäßiger Schulbesuch ist für Kin<strong>de</strong>r von<br />

großer Be<strong>de</strong>utung für eine ges<strong>und</strong>e psychosoziale Entwicklung. Versäumnisse<br />

wer<strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>r häufi g von Seiten <strong>de</strong>s Schulsystems nicht mit Nachdruck verfolgt,<br />

auch aufgr<strong>und</strong> fehlen<strong>de</strong>r Kooperation <strong>de</strong>s Schul- <strong>und</strong> Sozialwesens, mangeln<strong>de</strong>r<br />

Informationsweitergabe bei Umzug <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> fehlen<strong>de</strong>n An- <strong>und</strong> Abmeldungen<br />

durch die Familie. Es gibt auch in unserem Land immer wie<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

58


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

<strong>und</strong> Jugendliche, die jahrelang keine Schulbildung genossen haben. Schüler mit<br />

schweren Verhaltensstörungen, insbeson<strong>de</strong>re Aggressivität, die vorübergehend ausgeschult<br />

o<strong>de</strong>r längere Zeit kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> jugendpsychiatrisch betreut wer<strong>de</strong>n, erhalten<br />

kein ausreichen<strong>de</strong>s Monitoring durch die Schulbehör<strong>de</strong>, etwa ob sie nach <strong>de</strong>r Behandlung<br />

wie<strong>de</strong>r regelhaft zum Schulbesuch erscheinen. Schulverweise erschweren<br />

die Situation, wenn von <strong>de</strong>r Schule kein alternatives Angebot gemacht wird.<br />

Emotionale <strong>und</strong> körperliche Verwahrlosung droht, wenn Kin<strong>de</strong>r mit Eltern leben,<br />

<strong>de</strong>ren Zusammenleben von Hass, Feindseligkeit <strong>und</strong> Partnergewalt gekennzeichnet<br />

ist. Die Kin<strong>de</strong>r sind ängstlich <strong>und</strong> verwen<strong>de</strong>n viel Kraft darauf, sich um sich<br />

selbst, die Geschwister <strong>und</strong>, ironischerweise, um die Eltern zu kümmern. Häufi g<br />

i<strong>de</strong>ntifi zieren sich die Kin<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Eltern – sowohl mit <strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>r die<br />

Übergriffe ausführt, als auch mit <strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>r sich unterwirft. Kin<strong>de</strong>r von Alkohol-<br />

<strong>und</strong> Drogenabhängigen erleben Eltern, die sehr mit sich selbst beschäftigt<br />

sind <strong>und</strong> sie wenig o<strong>de</strong>r wechselhaft wahrnehmen. Manchmal kommt es zur Umkehr<br />

<strong>de</strong>s Generationenverhältnisses <strong>und</strong> zur Parentifi zierung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. In diesem<br />

Kontext von unsicherer Bindung, Vernachlässigung <strong>und</strong> einer Suchtproblematik<br />

kommt es häufi g auch zu körperlichen <strong>und</strong> sexuellen Übergriffen durch Erwachsene.<br />

Das Kind ist aufgr<strong>und</strong> wie<strong>de</strong>rholter Ablehnung o<strong>de</strong>r Nichtbeachtung eigener<br />

Bedürfnisse nicht in <strong>de</strong>r Lage, klar Wünsche o<strong>de</strong>r Ablehnung zu äußern, Grenzen<br />

zu setzen o<strong>de</strong>r Übergriffe an<strong>de</strong>ren zu berichten.<br />

Körperliche Schädigungen<br />

Körperliche Verletzungen können sowohl durch<br />

❍ aktive Handlungen als auch<br />

❍ durch Unterlassungen, z. B. Verletzung <strong>de</strong>r Aufsichtspfl icht o<strong>de</strong>r<br />

❍ durch mangeln<strong>de</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Fürsorge entstehen.<br />

Die Einschätzung, ob eine körperliche Verletzung mit einer Misshandlung assoziiert<br />

ist, o<strong>de</strong>r als solche einzustufen ist, hängt von <strong>de</strong>n gesellschaftlich gültigen<br />

Standards <strong>und</strong> kulturellen Normen ab. Während bis vor wenigen Jahren körperliche<br />

Bestrafungen noch als Erziehungsmittel akzeptiert wur<strong>de</strong>n, hat sich mit<br />

<strong>de</strong>m Recht <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s auf eine gewaltfreie Erziehung ein gesellschaftlicher Wan<strong>de</strong>l<br />

vollzogen, wenn auch lei<strong>de</strong>r immer noch nicht alle Kin<strong>de</strong>r gewaltfrei erzogen<br />

wer<strong>de</strong>n. Im Weiteren soll über bekannte <strong>und</strong> relativ ein<strong>de</strong>utige körperliche<br />

Verletzungen als Folge von Misshandlung gesprochen wer<strong>de</strong>n. Die körperlichen<br />

Schmerzen <strong>und</strong> Beschädigungen wer<strong>de</strong>n immer von Angst, Hilfl osigkeit <strong>und</strong> Verzweifl<br />

ung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s begleitet sein. Das Kind muss erleben, dass <strong>de</strong>r Erwachsene,<br />

<strong>de</strong>r es schützen soll, die Kontrolle verliert <strong>und</strong> ihm Scha<strong>de</strong>n zufügt. Die Beachtung<br />

dieses psychischen Traumas ist ebenso wichtig wie die Versorgung <strong>de</strong>r<br />

äußerlichen W<strong>und</strong>en.<br />

59


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Die weitaus häufi gsten oberfl ächlichen Verletzungen bei Kin<strong>de</strong>rn sind<br />

❍ Blutergüsse, gefolgt von<br />

❍ Abschürfungen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Hautverletzungen,<br />

❍ Hauteinblutungen durch Strangulationen,<br />

❍ Schnitt- <strong>und</strong> Bissverletzungen,<br />

❍ Verbrühungen <strong>und</strong> Verbrennungen.<br />

Blutergüsse resultieren aus Stoß- <strong>und</strong> Schlagverletzungen. Fast alle Kin<strong>de</strong>r weisen<br />

Blutergüsse (blaue Flecken) auf, die jedoch an typischen Körperstellen lokalisiert<br />

sind: An <strong>de</strong>n Schienbeinen, <strong>de</strong>r Außenseite <strong>de</strong>r Arme, bei Kleinkin<strong>de</strong>rn auch an<br />

<strong>de</strong>r Stirn. Blaue Flecken an relativ gepolsterten<br />

Körperteilen wie <strong>de</strong>n Wangen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Gesäß<br />

o<strong>de</strong>r solche an geschützten Körperstellen wie im<br />

Genitalbereich, Hals, Ohrmuscheln o<strong>de</strong>r Oberlippe<br />

sind verdächtig hinsichtlich einer Misshandlung.<br />

Weiterhin haben unverdächtige blaue<br />

Flecke eine relativ r<strong>und</strong>e o<strong>de</strong>r ovale Form, während<br />

manche durch Misshandlung hervorgerufenen<br />

Blutergüsse die Form von Griffmarken haben.<br />

Streifi ge Abdrücke resultieren von Schlägen<br />

mit <strong>de</strong>r Hand o<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong>n (Bild 2).<br />

Achten Sie auf eine Diskrepanz zwischen <strong>de</strong>m<br />

Entwicklungsalter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Verletzungen!<br />

Blaue Flecken bei einem Kind, das noch<br />

nicht krabbelt, wecken immer <strong>de</strong>n Verdacht auf<br />

Misshandlungen, wenn nicht plausible Unfallmechanismen<br />

geschil<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können.<br />

Bild 2<br />

60<br />

An dieser Stelle ist eine Warnung angebracht. Es<br />

gibt eine Anzahl von Krankheiten, die zu Hautblutungen<br />

führen, wie zum Beispiel Störung <strong>de</strong>r<br />

Blutgerinnung. Diese Krankheiten sind zwar alle<br />

recht selten, können aber <strong>de</strong>n misshandlungstypischen<br />

Verletzungen sehr ähnlich sein. Bei exzessiven<br />

blauen Flecken von Kin<strong>de</strong>rn sollte immer<br />

eine kin<strong>de</strong>rärztliche <strong>und</strong> entsprechen<strong>de</strong> Laboruntersuchung<br />

erfolgen, um diese Krankheiten<br />

auszuschließen.<br />

Menschliche Bissmarken sind meist gut zu erkennen,<br />

kommen im Spektrum körperlicher Misshandlungen<br />

aber selten vor. Verdächtige Bissmar-


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

ken sollten von einem Rechtsmediziner gesehen <strong>und</strong> dokumentiert wer<strong>de</strong>n, da die<br />

Abdrücke helfen können, die für die Verletzung verantwortliche Person zu i<strong>de</strong>ntifi<br />

zieren.<br />

Verbrühungen <strong>und</strong> Verbrennungen wer<strong>de</strong>n insbeson<strong>de</strong>re im Klein- <strong>und</strong> Schulkindalter<br />

durch Unfälle verursacht. Bei diesen oft schweren Unfällen fi n<strong>de</strong>t sich<br />

häufi g ein Kontext von mangeln<strong>de</strong>r Umsicht <strong>und</strong> Vorsicht, sie sind aber meist<br />

nicht absichtlich herbeigeführt wor<strong>de</strong>n. Absichtliche Verbrühungen <strong>und</strong> Verbrennungen<br />

zeigen ein für versierte Mediziner gut erkennbares, klassisches Muster:<br />

Absichtliche Verbrühungen kommen in zwei Formen vor:<br />

❍<br />

❍<br />

Eintauchen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in zu heißes Wasser verursacht scharf begrenzte Verbrühungsrän<strong>de</strong>r,<br />

im Gegensatz zu <strong>de</strong>n unregelmäßig begrenzten Verletzungen<br />

eines Kin<strong>de</strong>s, das unabsichtlich in das zu heiße Wasser geraten ist <strong>und</strong> sich zu<br />

befreien sucht. Typisch bei Misshandlung sind Verbrühungen <strong>de</strong>s Gesäßes, <strong>de</strong>s<br />

unteren Teils <strong>de</strong>s Rückens <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Rückseite <strong>de</strong>r Oberschenkel bei Eintauchen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, die Beugefalten sind dann wenig betroffen.<br />

An<strong>de</strong>re typische Verletzungen sind scharf begrenzte strumpfförmige Verbrühungen<br />

<strong>de</strong>r Hän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Füße, wenn diese mit Zwang in das Wasser gesteckt<br />

wer<strong>de</strong>n. Bilateral symmetrische Verletzungen sind sehr verdächtig auf Misshandlung.<br />

Nichtzufällige Verbrennungen weisen in ihrer Lokalisation o<strong>de</strong>r Form häufi g auf<br />

das Muster <strong>de</strong>r Misshandlung hin. Während Verletzungen durch Anfassen heißer<br />

Herdplatten in <strong>de</strong>r Regel einseitig <strong>und</strong> auf wenige Fingerkuppen begrenzt sind,<br />

weisen beidseitige Verbrennungen, o<strong>de</strong>r solche, die die Handinnenfl äche betreffen,<br />

auf Misshandlungen hin. Weitere Muster sind Verletzungen durch brennen<strong>de</strong><br />

Zigaretten, Bügeleisen, Lockenscheren, insgesamt jedoch selten.<br />

Ebenso bizarr wie Verbrühungen <strong>und</strong> Verbrennungen muten absichtlich beigebrachte<br />

Schnittw<strong>und</strong>en o<strong>de</strong>r Verletzungen durch Fesselungen an. Sie sind insgesamt<br />

selten, sollten jedoch zur sofortigen stationären Aufnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s führen,<br />

da von einer beträchtlichen Gefahr für das Kind ausgegangen wer<strong>de</strong>n muss<br />

<strong>und</strong> oft begleiten<strong>de</strong> Verletzungen bestehen. Solche Hautverletzungen müssen genau<br />

beschrieben <strong>und</strong> dokumentiert wer<strong>de</strong>n, in all diesen Fällen sollten sofort Gerichtsmediziner<br />

eingeschaltet wer<strong>de</strong>n, um eine aktuelle Bef<strong>und</strong>dokumentation<br />

<strong>und</strong> Interpretation vorzunehmen.<br />

Knochenbrüche sind nach Hautverletzungen die häufi gste Form von Verletzungen<br />

durch Misshandlung. Sie sind bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn häufi ger als bei<br />

älteren Kin<strong>de</strong>rn. Verletzungen <strong>de</strong>s Skeletts wer<strong>de</strong>n viel häufi ger durch Unfälle<br />

verursacht als durch Misshandlungen, auch hier gelten die bei <strong>de</strong>n Blutergüssen<br />

aufgeführten Hinweise, die nicht-unfallbedingte Verletzungen vermuten lassen –<br />

die Lokalisation, die Art <strong>de</strong>r Verletzungen <strong>und</strong> Alter <strong>und</strong> Entwicklungsstand <strong>de</strong>s<br />

61


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Kin<strong>de</strong>s. Mehrere Knochenbrüche unterschiedlichen Alters sind nahezu beweisend<br />

für Misshandlung, wenn an<strong>de</strong>re, seltene Erkrankungen <strong>de</strong>s Knochenstoffwechsels<br />

wie die Glasknochenkrankheit ausgeschlossen wur<strong>de</strong>n. Knochenbrüche bei Kin<strong>de</strong>rn<br />

unter einem Jahr sind immer verdächtig auf körperliche Misshandlung, wenn<br />

nicht plausible Unfallmechanismen angegeben wer<strong>de</strong>n können. Durch Misshandlung<br />

hervorgerufene Knochenbrüche sind im Röntgenbild oft charakteristisch, z. B.<br />

Absprengungen von <strong>de</strong>n En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r langen Knochen an Armen <strong>und</strong> Beinen, Unterblutungen<br />

<strong>de</strong>r Knochenhaut o<strong>de</strong>r Verletzungen <strong>de</strong>r Wachstumsfugen. Bei Verdacht<br />

auf körperliche Misshandlungen muss bei Säuglingen das gesamte Skelett auf frische<br />

<strong>und</strong> alte Knochenbrüche untersucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Kopfverletzungen mit Schädigung <strong>de</strong>s Gehirns kommen insbeson<strong>de</strong>re bei Säuglingen<br />

<strong>und</strong> sehr kleinen Kin<strong>de</strong>rn als Folge von Kin<strong>de</strong>smisshandlung vor. Einblutungen<br />

durch Einrisse <strong>de</strong>r Blutgefäße zwischen <strong>de</strong>r Schä<strong>de</strong>l<strong>de</strong>cke <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Gehirn<br />

treten als Folge heftiger Schläge auf <strong>de</strong>n Kopf auf, o<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r Kopf gegen eine<br />

harte Oberfl äche geschlagen wird. Je nach Schwere <strong>de</strong>r Blutung führen die Verletzungen<br />

zu Bewusstseinsverlust, Krampfanfällen, Koma o<strong>de</strong>r Tod. Bei Säuglingen<br />

können diese Verletzungen auch durch heftiges Hin- <strong>und</strong> Herschütteln <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

hervorgerufen wer<strong>de</strong>n (Schütteltrauma <strong>de</strong>s Säuglings, siehe Bild 3). Hier sind neben<br />

<strong>de</strong>n akuten Blutungen Abscherverletzungen <strong>de</strong>r Verknüpfungen <strong>de</strong>r Nervenfasern<br />

die Ursache für sehr schwerwiegen<strong>de</strong> Schä<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Gehirns. Die Verletzungen<br />

können in Verbindung mit Blutungen am Augenhintergr<strong>und</strong> auftreten, selten sind<br />

äußere Verletzungshinweise gegeben. Bei einem bewusstlosen Säugling ohne Fieber<br />

<strong>und</strong> ohne Angabe einer plausiblen Krankengeschichte muss solange von einem<br />

Schütteltrauma ausgegangen wer<strong>de</strong>n, bis das Gegenteil bewiesen ist. Die Diagnostik<br />

ist oft sehr schwierig <strong>und</strong> erfor<strong>de</strong>rt spezielle Expertise in diesem Krankheitsbild.<br />

An<strong>de</strong>rerseits ist die richtige Diagnose für das betroffene Kind <strong>und</strong> seine<br />

Geschwister im Hinblick auf die Verhütung weiterer Misshandlungen von großer<br />

Be<strong>de</strong>utung. Die Prognose ist ungünstig, viele Säuglinge versterben an einem<br />

akuten Schütteltrauma,<br />

bei zahlreichen an<strong>de</strong>ren<br />

folgt eine bleiben<strong>de</strong> Behin<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r motorischen<br />

<strong>und</strong> geistigen Entwicklung.<br />

Die Eltern han<strong>de</strong>ln<br />

dabei meist im Affekt<br />

<strong>und</strong> nicht in <strong>de</strong>r Absicht,<br />

das Kind zu töten, allerdings<br />

ist ihnen in <strong>de</strong>r Regel<br />

bewusst, dass es sich<br />

um ein inadäquates <strong>und</strong><br />

Bild 3<br />

auch gefährliches Verhal-<br />

62


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

ten han<strong>de</strong>lt. Da das akute Schütteln zu Apathie <strong>und</strong> Ruhigwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Säuglings<br />

führt <strong>und</strong> für die Eltern keine akute Schädigung erkennbar wird, wird das Schütteln<br />

häufi g mehrfach wie<strong>de</strong>rholt, bis es schließlich zu lebensbedrohlichen Zustän<strong>de</strong>n<br />

kommt.<br />

Innere Verletzungen sind vergleichsweise seltener, können jedoch lebensbedrohlich<br />

sein. Es han<strong>de</strong>lt sich um Verletzung <strong>de</strong>r Bauchorgane durch Schläge o<strong>de</strong>r<br />

Tritte. Der Verdacht auf solche inneren Verletzungen rechtfertigt eine sofortige<br />

Krankenhauseinweisung.<br />

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist eine schwere, bizarr anmuten<strong>de</strong><br />

Kombination von emotionaler <strong>und</strong> körperlicher Misshandlung. Hier simulieren<br />

die Eltern bei ihrem oft sehr kleinen Kind eine Krankheit. Manchmal han<strong>de</strong>lt es<br />

sich nur um erf<strong>und</strong>ene, berichtete Krankheitssymptome, manchmal wer<strong>de</strong>n jedoch<br />

auch körperliche Symptome herbeigeführt, um eine Krankheit vorzutäuschen.<br />

Psychodynamisch liegt wohl ein psychischer Gewinn für die Eltern durch<br />

die intensive ärztliche Betreuung <strong>und</strong> Zuwendung vor. Diese Misshandlungsform<br />

ist extrem schwer festzustellen <strong>und</strong> häufi g wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r zahlreichen, zum<br />

Teil auch invasiven <strong>und</strong> schmerzhaften Eingriffen unterzogen, die alle ohne krankhaften<br />

Bef<strong>und</strong> bleiben. Wenn ernstzunehmen<strong>de</strong>r Verdacht besteht, sollte das Kind<br />

wegen <strong>de</strong>r ungünstigen Prognose rasch fremduntergebracht wer<strong>de</strong>n.<br />

Vergiftungen durch chemische Substanzen, Drogen o<strong>de</strong>r Medikamente, die nicht<br />

zufällig son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Eltern bewusst verursacht wur<strong>de</strong>n, sind ähnlich schwer<br />

aufzu<strong>de</strong>cken. Sie gehören vermutlich zu <strong>de</strong>n schlecht erkannten <strong>und</strong> zahlenmäßig<br />

unterschätzten Formen von Kin<strong>de</strong>smisshandlung. Vergiftungen bei Kin<strong>de</strong>rn unter<br />

einem Jahr o<strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m 5. <strong>und</strong> 10. Lebensjahr sind ebenso verdächtig<br />

wie klinische Vergiftungserscheinungen, die nicht mit <strong>de</strong>n gemachten Angaben<br />

über die Art <strong>de</strong>s Medikaments o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r chemischen Substanz übereinstimmen <strong>und</strong><br />

Vergiftungen durch mehrere Substanzen. Viele Stoffe können im Blut o<strong>de</strong>r Urin<br />

nachgewiesen wer<strong>de</strong>n – im Zweifel ist ein erfahrener Toxikologe zu Rate zu ziehen.<br />

Bestrafungen von Kin<strong>de</strong>rn mit Seifen, scharfen Gewürzen wie Tabasco o<strong>de</strong>r<br />

Pfeffer o<strong>de</strong>r Salzwasserlösungen, die <strong>de</strong>m Kind in <strong>de</strong>n M<strong>und</strong> gegeben wer<strong>de</strong>n,<br />

gehören zu seltenen Formen von Kin<strong>de</strong>smisshandlung, sie sind potentiell lebensbedrohlich.<br />

Sexuelle Misshandlungen<br />

Sexuelle Misshandlung wird nicht etwa zuletzt erwähnt, weil diese Misshandlungsform<br />

von untergeordneter Be<strong>de</strong>utung ist, son<strong>de</strong>rn weil sie sich häufi g im<br />

Kontext an<strong>de</strong>rer Misshandlungsformen ereignet. Abgesehen von <strong>de</strong>r Hilfl osigkeit,<br />

<strong>de</strong>n unangenehmen körperlichen Kontakten, Verletzungen <strong>und</strong> Schmerzen, <strong>de</strong>r<br />

63


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Verpfl ichtung zur Geheimhaltung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Scham, erfahren die Kin<strong>de</strong>r, dass die<br />

Eltern ihren eigenen Bedürfnissen Vorrang gegenüber <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s geben.<br />

Bei sexuellem Missbrauch fi n<strong>de</strong>n sich nur in einer Min<strong>de</strong>rzahl <strong>de</strong>r Fälle medizinisch<br />

ein<strong>de</strong>utige Hinweise, die eine sexuelle Misshandlung beweisen, auch wenn<br />

keine anamnestischen Hinweise vorliegen. Die Untersuchung von Mädchen wie<br />

auch Jungen gehört in die Hand erfahrener Kin<strong>de</strong>rärzte, die in manchen Kliniken<br />

einen Liasondienst mit Frauenärzten <strong>und</strong> Rechtsmedizinern eingerichtet haben.<br />

Es gehört viel Erfahrung dazu, die sehr variablen körperlichen Bef<strong>und</strong>e im Anogenitalbereich<br />

bei Kin<strong>de</strong>rn richtig zu interpretieren <strong>und</strong> weiterführen<strong>de</strong> Untersuchungen<br />

zu veranlassen. Es gehört an<strong>de</strong>rerseits auch sehr viel Erfahrung dazu, die<br />

Untersuchung ohne Stress für die betroffenen Kin<strong>de</strong>r durchzuführen. In einem ruhigen<br />

<strong>und</strong> unterstützen<strong>de</strong>n Kontext kann die körperliche Untersuchung auch eine<br />

sehr positive Funktion erfüllen. Dem Kind können Bef<strong>und</strong>e gezeigt <strong>und</strong> Heilungsprozesse<br />

erläutert wer<strong>de</strong>n, es kann seiner körperlichen Unversehrtheit versichert<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> eine positive Rückmeldung über seinen Körper bekommen. Diese Atmosphäre<br />

ist insbeson<strong>de</strong>re bei geplanten, d.h. vorbereiteten Untersuchungen gut<br />

herzustellen. Wenn allerdings <strong>de</strong>r Verdacht einer akuten sexuellen Misshandlung<br />

innerhalb <strong>de</strong>r vergangenen 48 St<strong>und</strong>en besteht, muss eine sorgfältige Untersuchung<br />

sehr kurzfristig zur Spurensicherung erfolgen. Manchmal ist dann bei sehr<br />

kleinen o<strong>de</strong>r sehr ängstlichen Kin<strong>de</strong>rn eine Untersuchung in Kurznarkose o<strong>de</strong>r Sedierung<br />

gerechtfertigt.<br />

Zu beweisen<strong>de</strong>n Bef<strong>und</strong>en bei sexueller Misshandlung zählen nach Hermann:<br />

❍ Nachweis von Spermien o<strong>de</strong>r Bestandteile <strong>de</strong>r Spermienfl üssigkeit am Körper<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s,<br />

❍ ausgeprägte o<strong>de</strong>r bestimmte typische vaginale o<strong>de</strong>r anale Verletzungen,<br />

❍ Gonorrhoe <strong>und</strong> Syphilis bei Kin<strong>de</strong>rn jenseits <strong>de</strong>s Neugeborenenalters,<br />

❍ Schwangerschaft,<br />

❍ glaubhafte Schil<strong>de</strong>rung durch Zeugen o<strong>de</strong>r Vorliegen pornographischer Fotos<br />

o<strong>de</strong>r Vi<strong>de</strong>os.<br />

Folgen<strong>de</strong> Bef<strong>und</strong>e machen eine sexuelle Misshandlung wahrscheinlich:<br />

❍ Klare, beständige, schlüssige <strong>und</strong> <strong>de</strong>taillierte Beschreibung einer sexuellen<br />

Misshandlung durch das Kind mit <strong>und</strong> ohne weitere medizinische Bef<strong>und</strong>e,<br />

❍ sicher auffällige Bef<strong>und</strong>e am Genital o<strong>de</strong>r Anus mit o<strong>de</strong>r ohne Hinweise durch<br />

das Kind bei Fehlen einer schlüssigen Vorgeschichte eines Unfallgeschehens,<br />

❍ gesicherte Infektion mit Chlamydien, Herpes genitalis o<strong>de</strong>r Trichomona<strong>de</strong>n<br />

beim präpubertären Kind.<br />

Sexuelle Misshandlung ist möglich bei:<br />

❍ Verhaltensverän<strong>de</strong>rungen, untersucht <strong>und</strong> bewertet durch erfahrenen Spezialisten<br />

<strong>und</strong> leicht verdächtige körperliche Bef<strong>und</strong>e ohne Auf<strong>de</strong>ckung durch das Kind,<br />

64


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

❍<br />

❍<br />

verdächtige Äußerungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ohne weitergehen<strong>de</strong> <strong>de</strong>taillierte Beschreibung,<br />

auffällige körperliche Bef<strong>und</strong>e ohne Verhaltensän<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Hinweise <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s.<br />

Eine unauffällige Untersuchung kann eine sexuelle Misshandlung also nie ausschließen,<br />

auffällige Ergebnisse sind meist nur hinweisend <strong>und</strong> selten beweisend.<br />

Ges<strong>und</strong>heitliche Folgen<br />

To<strong>de</strong>sfälle<br />

Der Tod eines Kin<strong>de</strong>s ist die schwerwiegendste Folge von Kin<strong>de</strong>smisshandlung.<br />

Bei allen Formen von Kin<strong>de</strong>smisshandlung kommen Schädigungen mit To<strong>de</strong>sfolge<br />

vor. Schwere körperliche Misshandlungen führen durch die Verletzungen insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>s Kopfes <strong>und</strong> <strong>de</strong>r inneren Organe akut zum To<strong>de</strong>; schwere körperliche<br />

Vernachlässigung zum Verhungern <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s; schwere seelische <strong>und</strong> körperliche<br />

Misshandlungen, sexueller Missbrauch o<strong>de</strong>r Vernachlässigung können zu<br />

Suizid bei Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen führen; sexueller Missbrauch <strong>und</strong> Vergewaltigung<br />

ist insbeson<strong>de</strong>re bei außerfamiliärer Gewalt manchmal mit Tötung <strong>de</strong>s Opfers<br />

verb<strong>und</strong>en. Das Risiko, an <strong>de</strong>n Folgen einer Misshandlung zu versterben, ist<br />

für Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r am größten, etwa die Hälfte aller Fälle betrifft Kin<strong>de</strong>r<br />

unter einem Jahr, 90% Kin<strong>de</strong>r unter drei Jahren.<br />

Eine beson<strong>de</strong>re Form <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smisshandlung mit To<strong>de</strong>sfolge ist die Kindstötung<br />

<strong>de</strong>s Säuglings in <strong>de</strong>n ersten Lebenstagen o<strong>de</strong>r -wochen durch die leibliche Mutter.<br />

Diese Form wird in <strong>de</strong>r Kriminalstatistik dokumentiert <strong>und</strong> ist in <strong>de</strong>n letzten<br />

dreißig Jahren stark zurückgegangen, von 155 Fällen in <strong>de</strong>n 50er Jahren auf 20<br />

Fälle in <strong>de</strong>n 80er Jahren in <strong>de</strong>r alten B<strong>und</strong>esrepublik im Jahr, die letzten zur Verfügung<br />

stehen<strong>de</strong>n Daten berichten über 20 Fälle in 2002, 33 Fälle in 2003 <strong>und</strong> 11<br />

Fälle in 2004.<br />

Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung mit To<strong>de</strong>sfolge jenseits <strong>de</strong>s Neugeborenenalters<br />

hat in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten eine stetig abnehmen<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nz, die polizeiliche<br />

Kriminalstatistik weist eine Halbierung <strong>de</strong>r jährlichen Fallzahlen seit 1980<br />

aus. Während es sich bei <strong>de</strong>n jüngeren Kin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Regel um To<strong>de</strong>sfälle nach<br />

Misshandlung han<strong>de</strong>lt, dürfte bei <strong>de</strong>n älteren Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen (18 Fälle<br />

bei Kin<strong>de</strong>rn 10–15 Jahre, 33 Fälle bei Jugendlichen 15–20 Jahre) zum Teil Mord<br />

o<strong>de</strong>r Totschlag vorgelegen haben.<br />

Suizi<strong>de</strong> bzw. Suizidversuche im Kin<strong>de</strong>salter basieren wesentlich auf einer gestörten<br />

Sozialisation <strong>und</strong> konfl iktbesetzten familiären Verhältnissen. Häufi g sind<br />

die erwachsenen Bezugspersonen selbst psychisch instabil <strong>und</strong> nicht in <strong>de</strong>r Lage,<br />

<strong>de</strong>m Kind bei <strong>de</strong>r individuellen Krisenbewältigung stützend zur Seite zu stehen.<br />

65


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Suizi<strong>de</strong> von Kin<strong>de</strong>rn vor <strong>de</strong>m 10. Lebensjahr sind extrem selten, zwischen <strong>de</strong>m<br />

10. <strong>und</strong> 14. Lebensjahr kommen ca. 30 bis 40 Suizi<strong>de</strong> pro Jahr vor. In <strong>de</strong>r Altersgruppe<br />

<strong>de</strong>r 15- bis 19-Jährigen ist <strong>de</strong>r Suizid hingegen die zweithäufi gste To<strong>de</strong>sursache<br />

mit pro Jahr mehr als 200 Teenager-Suizi<strong>de</strong>n.<br />

Körperliche Schä<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rungen<br />

Die Zahl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen, die eine geistige o<strong>de</strong>r körperliche Behin<strong>de</strong>rung<br />

in <strong>de</strong>r Folge von Kin<strong>de</strong>smisshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung erworben<br />

haben, ist nicht bekannt <strong>und</strong> lässt sich schwer abschätzen. Eine schon 30 Jahre<br />

zurückliegen<strong>de</strong> Untersuchung in Einrichtungen für geistig Behin<strong>de</strong>rte in England<br />

zeigte, dass sicher 3% <strong>und</strong> möglicherweise bis zu 11% <strong>de</strong>r Bewohner/innen<br />

von Institutionen für körperlich <strong>und</strong> geistig behin<strong>de</strong>rte Menschen die Behin<strong>de</strong>rung<br />

als Folge körperlicher Misshandlung erworben hatten. In 24% <strong>de</strong>r Fälle hatte<br />

Vernachlässigung zumin<strong>de</strong>st als Faktor zur Behin<strong>de</strong>rung beigetragen. Die ungünstigste<br />

Prognose dürften Schä<strong>de</strong>l-Hirnverletzungen bei kleinen Kin<strong>de</strong>rn haben,<br />

insbeson<strong>de</strong>re das Schütteltrauma <strong>de</strong>s Säuglings. Etwa 15% <strong>de</strong>r betroffenen Kin<strong>de</strong>r<br />

versterben akut, 50% überleben mit bleiben<strong>de</strong>n Behin<strong>de</strong>rungen, nur etwa ein<br />

Drittel überlebt ohne Folgeschä<strong>de</strong>n. Behin<strong>de</strong>rungen können die Folge von Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung sein, sind aber in Kombination mit an<strong>de</strong>ren<br />

Faktoren auch ein Risikofaktor für körperliche <strong>und</strong> sexuelle Misshandlung<br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung. Menschen, die mit behin<strong>de</strong>rten Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

arbeiten, sollten daher beson<strong>de</strong>rs aufmerksam sein für Hinweise auf Misshandlungen,<br />

Vernachlässigungen o<strong>de</strong>r sexuelle Ausbeutung, da sich diese Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong><br />

Jugendlichen noch schlechter als an<strong>de</strong>re verständlich machen können.<br />

Emotionale Schä<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Entwicklungsstörungen<br />

Seelische Schä<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Entwicklungsstörungen sind die weitaus häufi gsten Folgen<br />

von Kin<strong>de</strong>smisshandlung. Sie sind auch in Deutschland in einigen größeren<br />

Langzeitstudien gut dokumentiert wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Mannheimer Langzeitstudie von<br />

Esser <strong>und</strong> Mitarbeitern über Risikokin<strong>de</strong>r fand sich, dass Kin<strong>de</strong>r von Müttern, die<br />

ihrem 3 Monate alten Kind gegenüber ein ablehnen<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r vernachlässigen<strong>de</strong>s<br />

Verhalten gezeigt hatten, im Alter von zwölf Monaten einen signifi kanten Entwicklungsrückstand<br />

zeigten, <strong>de</strong>r auch im Alter von vier Jahren noch nachweisbar<br />

war. Eine Langzeitstudie am v.Haunerschen Kin<strong>de</strong>rspital in München konnte zeigen,<br />

dass misshan<strong>de</strong>lte <strong>und</strong> vernachlässigte Kin<strong>de</strong>r dreieinhalb Jahre nach <strong>de</strong>m<br />

Klinikaufenthalt wesentlich häufi ger Störungen <strong>de</strong>r emotionalen <strong>und</strong> sozialen<br />

Entwicklung zeigten als Kin<strong>de</strong>r in einer Kontrollgruppe. 27 von 41 Kin<strong>de</strong>rn (65%)<br />

in <strong>de</strong>r Misshandlungsgruppe zeigten Verhaltensstörungen, im Vergleich zu 16 von<br />

41 Kin<strong>de</strong>rn (39%) in <strong>de</strong>r Kontrollgruppe; die erste Gruppe war signifi kant mehr<br />

negativen psychosozialen Faktoren ausgesetzt. Verhaltens- <strong>und</strong> Entwicklungsstörungen<br />

sind keine spezifi schen Folgen von Misshandlungen o<strong>de</strong>r Vernachlässigung,<br />

kommen aber in dieser Gruppe häufi ger vor als bei an<strong>de</strong>ren Bevölkerungs-<br />

66


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

gruppen o<strong>de</strong>r stellen eine große Herausfor<strong>de</strong>rung an die schulische <strong>und</strong> integrative<br />

Betreuung dieser Kin<strong>de</strong>r dar.<br />

Die seelischen Folgen von sexueller Misshandlung sind im Wesentlichen in rückblicken<strong>de</strong>n<br />

Befragungen von erwachsenen Opfern sexuellen Missbrauchs in <strong>de</strong>r<br />

Kindheit erfragt wor<strong>de</strong>n. In einer Hamburger Befragung von Richter-Appelt<br />

bei Universitätsstu<strong>de</strong>nten berichteten beispielsweise 16%, dass sie in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

sowohl körperlich als auch sexuell misshan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n. Von diesen sagten<br />

21%, dass sie in <strong>de</strong>r Kindheit o<strong>de</strong>r Jugend an Essstörungen litten (Vergleichspersonen<br />

zu 8%), 26% berichteten zerstören<strong>de</strong>s <strong>und</strong> 8% über selbstverletzen<strong>de</strong>s<br />

Verhalten (Vergleichspersonen 1%), 26% über selbst begangene Diebstähle (Vergleichspersonen<br />

6%) <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Formen von Jugend<strong>de</strong>linquenz. Im Erwachsenenalter<br />

rauchten 62% dieser Personen (16% Vergleichspersonen), 22% tranken<br />

regelmäßig Alkohol (Vergleichspersonen 5%), 18% konsumierten Drogen (Vergleichspersonen<br />

3%), 15% litten an Bulimie (Vergleichspersonen 3%) <strong>und</strong> 7% an<br />

Anorexie (Vergleichspersonen 7%). 16% hatten Selbstmordversuche unternommen<br />

(Vergleichspersonen 2%) <strong>und</strong> 60% berichteten über sexuelle Schwierigkeiten<br />

(Vergleichspersonen 15%). Langzeituntersuchungen von Kin<strong>de</strong>rn nach sexueller<br />

Misshandlung liegen noch nicht vor.<br />

Sicher erscheint auch, dass Frauen, die in <strong>de</strong>r Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch<br />

waren <strong>und</strong> gewaltförmige Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen ihren Eltern erlebt<br />

hatten, <strong>de</strong>utlich häufi ger Opfer erneuter sexueller Gewalt durch ihre Partner<br />

im Erwachsenenleben wer<strong>de</strong>n, als Frauen ohne diese Kindheitserfahrungen. Dies<br />

belegt die These eines erworbenen Risikos für Reviktimisierung nach erlittener<br />

Gewalt.<br />

Aus entwicklungspsychologischer Sicht lässt sich die seelische Schädigung <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s nur bedingt aus <strong>de</strong>r Schwere <strong>de</strong>r sichtbaren Misshandlung, d.h. <strong>de</strong>n Handlungen<br />

<strong>und</strong> Unterlassungen <strong>de</strong>r Erwachsenen ableiten. Dafür gibt es im Wesentlichen<br />

zwei Grün<strong>de</strong>:<br />

1. Die verschie<strong>de</strong>nen schädigen<strong>de</strong>n Einfl üsse kommen fast nie isoliert voneinan<strong>de</strong>r<br />

vor. Kin<strong>de</strong>r, die körperlich misshan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, erleben häufi g auch<br />

emotionale Ablehnung o<strong>de</strong>r unzuverlässige Zuwendung; Kin<strong>de</strong>r, die sexuell<br />

misshan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, sind oft in <strong>de</strong>r Vorgeschichte vernachlässigt wor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

haben Verwahrlosung erlebt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind Entwicklungsstörungen<br />

nicht spezifi schen Ursachen o<strong>de</strong>r Handlungsmustern zuzuordnen.<br />

2. Eine Vielzahl verschie<strong>de</strong>ner Faktoren beeinfl usst die Entwicklungsprognose<br />

ehemals misshan<strong>de</strong>lter Kin<strong>de</strong>r, wobei die schädigen<strong>de</strong>n Einfl üsse die Vulnerabilität<br />

<strong>und</strong> die schützen<strong>de</strong>n Einfl üsse die Wi<strong>de</strong>rstandsfähigkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

(Resilienz) <strong>und</strong> seines Bezugssystems beschreiben. Die schädigen<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

schützen<strong>de</strong>n Einfl üsse wirken jedoch nicht immer gleich, son<strong>de</strong>rn sind vom<br />

Alter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, von seinem Entwicklungsstand <strong>und</strong> <strong>de</strong>m sozialen Kontext<br />

67


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

68<br />

abhängig. Schützen<strong>de</strong> Einfl üsse fi n<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r auch häufi g in Personen ihres<br />

sozialen Nahfel<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r in einer insgesamt an Beziehungsangeboten reichen<br />

Umgebung. Kin<strong>de</strong>smisshandlung wirkt am gravierendsten dort, wo spezifi sche<br />

Entwicklungsprozesse <strong>und</strong> Entwicklungsaufgaben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s massiv behin<strong>de</strong>rt<br />

o<strong>de</strong>r gestört wer<strong>de</strong>n.<br />

Risikofaktoren für Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

In <strong>de</strong>r Literatur fi n<strong>de</strong>t sich häufi g <strong>de</strong>r Hinweis, dass bestimmte Gruppen von Kin<strong>de</strong>rn<br />

ein höheres Risiko haben, misshan<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r vernachlässigt zu wer<strong>de</strong>n. Diese<br />

Annahmen entsprangen häufi g anekdotischen Beobachtungen o<strong>de</strong>r Untersuchungen<br />

an nicht repräsentativen Kollektiven. Selbst wenn in einer großen Studie<br />

ein statistisch erhöhtes Risiko beschrieben wird, heißt dies in <strong>de</strong>r Regel lediglich,<br />

dass sich die Wahrscheinlichkeit in einer messbaren Weise verän<strong>de</strong>rt. Dazu<br />

ein Beispiel: Die Häufi gkeit für körperliche Misshandlung in <strong>de</strong>r bislang größten<br />

<strong>de</strong>utschen epi<strong>de</strong>miologischen Studie über Misshandlungserfahrungen in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

durch Wetzels wird mit 10% angegeben. Das Risiko, körperliche Misshandlung<br />

in <strong>de</strong>r Kindheit erlebt zu haben, war bei <strong>de</strong>njenigen, die angaben, Zeuge von<br />

gewaltsamen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen ihrer Eltern gewor<strong>de</strong>n zu sein, auf das achtfache<br />

erhöht. Dies be<strong>de</strong>utet aber auch, dass mehr als die Hälfte <strong>de</strong>rjenigen, die Zeuge<br />

elterlicher gewalttätiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen wur<strong>de</strong>n, nicht körperlich misshan<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n. Risikofaktoren helfen, Hochrisikogruppen zu i<strong>de</strong>ntifi zieren, um<br />

Interventionsprogramme gezielt zu planen; sie sind aber nicht geeignet, das Risiko<br />

im individuellen Fall abzuschätzen. Die überwältigen<strong>de</strong> Mehrzahl <strong>de</strong>r Menschen,<br />

die mit einem Risikofaktor für Kin<strong>de</strong>smisshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung behaftet<br />

sind, misshan<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r vernachlässigen ihre Kin<strong>de</strong>r nicht.<br />

Dreißig Jahre Forschung über Risikofaktoren für Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

haben uns einige wenige, sehr grobe Anhaltspunkte gelehrt, welche<br />

persönlichen <strong>und</strong> sozialen Bedingungen häufi ger mit Kin<strong>de</strong>smisshandlung verb<strong>und</strong>en<br />

sind. Diese Risikofaktoren sind nicht spezifi sch für Kin<strong>de</strong>smisshandlung,<br />

sie fi n<strong>de</strong>n sich auch im Vorfeld an<strong>de</strong>rer lebensgeschichtlicher Ereignisse o<strong>de</strong>r Erkrankungen.<br />

Es erstaunt, dass trotz intensivster Forschungstätigkeit im Zusammenhang mit elterlichen<br />

Charakteristika im Sinne psychischer Auffälligkeiten <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Misshandlungsrisiko<br />

keine <strong>de</strong>fi nitiven Ergebnisse vorliegen. Entgegen früheren Annahmen<br />

scheint es die klassischen Persönlichkeitsmerkmale misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Eltern<br />

nicht zu geben. Wir wissen zu wenig über die große Zahl <strong>de</strong>r Eltern mit Schwierigkeiten<br />

in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung o<strong>de</strong>r psychiatrischen Erkrankungen, die<br />

nicht ihre Kin<strong>de</strong>r misshan<strong>de</strong>ln. Genauere Untersuchungen über Kin<strong>de</strong>r psychiatrisch<br />

kranker Eltern sind dringend erfor<strong>de</strong>rlich.


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Es scheint so zu sein, dass Eltern mit eigener Gewalterfahrung eher ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

misshan<strong>de</strong>ln als an<strong>de</strong>re Eltern. Die zitierte Nie<strong>de</strong>rsachsen-Studie fand heraus,<br />

dass Eltern, die selbst körperliche Misshandlungen in <strong>de</strong>r Kindheit erlebt hatten,<br />

<strong>de</strong>utlich häufi ger gewaltförmige Erziehungspraktiken bei ihren Kin<strong>de</strong>rn anwen<strong>de</strong>ten<br />

als Eltern ohne eigene Gewalterfahrung. 70,8% <strong>de</strong>r Eltern, die in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

häufi g geschlagen wor<strong>de</strong>n waren, schlagen auch ihre Kin<strong>de</strong>r. An<strong>de</strong>rerseits schlagen<br />

auch 46,2% <strong>de</strong>r Eltern, die selbst keine körperliche Gewalt erlebt haben, ihre<br />

Kin<strong>de</strong>r. Immerhin 34,3% <strong>de</strong>r Eltern, die körperliche Misshandlungen in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

erlebten, schlagen ihre Kin<strong>de</strong>r nicht.<br />

Die Annahme spezifi scher kindlicher Risikofaktoren wie Frühgeburt, niedriges<br />

Geburtsgewicht, Behin<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> Entwicklungsstörungen hat sich zwischenzeitlich<br />

nicht bestätigt. Die wenigen prospektiven Langzeitstudien, die veröffentlicht<br />

wur<strong>de</strong>n, zeigen kein sicher o<strong>de</strong>r nur marginal erhöhtes Risiko für diese Kin<strong>de</strong>r,<br />

wenn an<strong>de</strong>re soziale Faktoren berücksichtigt wer<strong>de</strong>n. Es konnte vielmehr gezeigt<br />

wer<strong>de</strong>n, dass soziale Deprivation mit vielen entwicklungsgefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Risiken<br />

assoziiert ist, d.h. Armut ist sowohl ein Risikofaktor für Frühgeburtlichkeit als<br />

auch für Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung. Frühgeburt allein, ohne das<br />

Vorhan<strong>de</strong>nsein sozialer Risikofaktoren, erhöht die Wahrscheinlichkeit für Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

vermutlich nicht.<br />

Ein<strong>de</strong>utige Risikofaktoren wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mgegenüber im sozialen Bereich gef<strong>und</strong>en.<br />

Armut, sehr junge Eltern, alleinerziehen<strong>de</strong> Eltern, psychosozialer Stress <strong>und</strong> sozial<br />

verarmte Nachbarschaften erhöhen das Risiko für ein Kind, misshan<strong>de</strong>lt zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Allerdings sind diese Risikofaktoren untauglich zur diagnostischen Klärung<br />

im Einzelfall; es han<strong>de</strong>lt sich um ein statistisch erhöhtes Risiko bezogen auf<br />

eine große Gruppe von Menschen. Fest steht, dass die Mehrzahl <strong>de</strong>r ökonomisch<br />

<strong>und</strong> sozial benachteiligten Eltern ihre Kin<strong>de</strong>r nicht vernachlässigt, misshan<strong>de</strong>lt<br />

o<strong>de</strong>r sexuell missbraucht. Im Rahmen präventiver Bemühungen muss die Kenntnis<br />

von Risikofaktoren dazu führen, dass Familien in schwierigen Lebensverhältnissen<br />

unterstützt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dass gesamtgesellschaftlich dafür Sorge getragen<br />

wird, dass Kin<strong>de</strong>r, die in Armut leben, keine Einschränkungen <strong>de</strong>r Teilhabe an Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Entwicklungschancen <strong>und</strong> sozialer Beziehungen erlei<strong>de</strong>n.<br />

Es sind vermutlich nicht einzelne Risikofaktoren, die für sich genommen das Gewaltpotential<br />

in einer Familie erhöhen können, <strong>de</strong>nn das Risiko kann durch protektive<br />

Faktoren vermin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Eine <strong>de</strong>fi zitorientierte Sicht auf Familien ist<br />

abgelöst wor<strong>de</strong>n von einer Analyse sowohl <strong>de</strong>r Risiken als auch <strong>de</strong>r Ressourcen,<br />

<strong>de</strong>r Möglichkeiten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Barrieren. Neben Umfeldfaktoren spielen auch persönlichkeitsbezogene<br />

Faktoren eine Rolle in <strong>de</strong>r Verarbeitung von Gewalterfahrung,<br />

insbeson<strong>de</strong>re die Resilienz eines Kin<strong>de</strong>s, seine sozial-emotionalen Kompetenzen,<br />

Intelligenz <strong>und</strong> Temperament. So ist es heute möglich, neben negativen Faktoren<br />

69


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

auch Bedingungen zu verstehen, die zu einer erhöhten Wi<strong>de</strong>rstandskraft, fl exiblen<br />

Anpassungsfähigkeit <strong>und</strong> glückvollen Lebensentwürfen führen <strong>und</strong> vor Gewalt in<br />

<strong>de</strong>r Familie schützen.<br />

Abschätzung <strong>de</strong>r Risiken <strong>und</strong> Intervention<br />

Bei <strong>de</strong>r ärztlichen Erstuntersuchung steht die Bef<strong>und</strong>erhebung <strong>und</strong> -sicherung<br />

einschließlich einer Befragung <strong>de</strong>r Eltern o<strong>de</strong>r Begleitpersonen im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>.<br />

In diesem Zusammenhang sollte auch nach <strong>de</strong>m vorbehan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Arzt gefragt<br />

wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>s Kind mit einer Verdachtsdiagnose Misshandlung, Vernachlässigung<br />

o<strong>de</strong>r Missbrauch sollte in kurzen Abstän<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r einbestellt wer<strong>de</strong>n. In<br />

schweren Fällen ist die Einweisung in eine Klinik angezeigt.<br />

Stationäre Unterbringung ist in allen Fällen von Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

notwendig, wenn eine akute Gefährdung für die Ges<strong>und</strong>heit <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s besteht. Bei einer drohen<strong>de</strong>n ges<strong>und</strong>heitlichen Gefährdung ist eine solche<br />

Aufnahme gerechtfertigt <strong>und</strong> dient <strong>de</strong>r sicheren Unterbringung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

<strong>und</strong> ausführlicher Diagnostik (medizinisch, psychologisch, sozial). Der stationäre<br />

Aufenthalt kann auch <strong>de</strong>r vorübergehen<strong>de</strong>n Entlastung in einer Krisensituation<br />

dienen – letzteres allein rechtfertigt jedoch keinen stationären Krankenhausaufenthalt.<br />

In einem solchen Fall müssen durch die sozialen Dienste Unterbringungsmöglichkeiten<br />

gef<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n.<br />

Wenn es bereits zur Vernachlässigung o<strong>de</strong>r Misshandlung eines Kin<strong>de</strong>s gekommen<br />

ist, muss häufi g die Frage geklärt wer<strong>de</strong>n, ob die Sicherheit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong><br />

positive Entwicklungschancen in seiner eigenen Familie gewährleistet sind. Der<br />

englische Kin<strong>de</strong>rarzt Arnon Bentovim hat dazu Kriterien entwickelt, die diese<br />

Einschätzung erleichtern können. Es geht dabei um:<br />

1. das Ausmaß <strong>de</strong>r Verantwortung, die die Eltern für <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

übernehmen sowie <strong>de</strong>r Einsicht <strong>de</strong>r Eltern, dass eine Verän<strong>de</strong>rung notwendig<br />

ist – im Gegensatz zu mangeln<strong>de</strong>r Verantwortung<br />

2. das Ausmaß <strong>de</strong>r Wärme, Empathie <strong>und</strong> Fähigkeit, die Bedürfnisse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

auch unter Belastung voranzustellen – im Gegensatz zu Abwehr <strong>und</strong> Schuldzuweisungen<br />

an das Kind<br />

3. Einsicht <strong>und</strong> Annahme von Hilfe in Bezug auf elterliche <strong>und</strong> erzieherische<br />

Probleme – im Gegensatz zu Verleugnung <strong>und</strong> Bagatellisierung <strong>de</strong>r Probleme<br />

4. Flexibilität in Beziehungen <strong>und</strong> das Potential, Lebensmuster zu än<strong>de</strong>rn – im<br />

Gegensatz zu Verleugnung <strong>und</strong> erstarrter Haltung<br />

5. kooperative Einstellung professionellen Helfern gegenüber – im Gegensatz zu<br />

übermäßiger Verbitterung<br />

6. die Verfügbarkeit von Ressourcen im Umfeld <strong>de</strong>r Familie – im Gegensatz zu<br />

einer psychosozial <strong>und</strong> strukturell verarmten Lebensumwelt.<br />

70


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Je<strong>de</strong>s dieser Kriterien bietet ein Kontinuum zwischen positiv einzuschätzen<strong>de</strong>n<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> <strong>de</strong>m völligen Fehlen dieser Fähigkeiten. Eine sicher positive Prognose<br />

kann erwartet wer<strong>de</strong>n, wenn alle sechs Kriterien zumin<strong>de</strong>st mit »gut« o<strong>de</strong>r<br />

»ausreichend« bewertet wer<strong>de</strong>n.<br />

Ablehnen<strong>de</strong>s Verhalten, unrealistische Einschätzungen, mangeln<strong>de</strong> Empathie o<strong>de</strong>r<br />

Kommunikationsangebote sowie Aggressivität <strong>de</strong>m Kind gegenüber sollten aufmerksam<br />

machen, diesen Familien unsere Unterstützung anzubieten <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r<br />

vor drohen<strong>de</strong>r Misshandlung zu schützen. Dabei ist es beson<strong>de</strong>rs wichtig, nicht in<br />

die Übertragungsfalle zu gehen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>monstrieren zu wollen, dass wir<br />

eigentlich selbst die besseren Eltern sind. Den Eltern muss mit allem Respekt begegnet<br />

wer<strong>de</strong>n, es sollte entsprechend klar formuliert wer<strong>de</strong>n, wo ihre Elternverantwortung<br />

liegt <strong>und</strong> wo Diskrepanzen zum Kin<strong>de</strong>swohl gesehen wer<strong>de</strong>n. Wenn<br />

Schwierigkeiten in <strong>de</strong>r Eltern/Kind-Beziehung beobachtet wer<strong>de</strong>n, ist es meist<br />

hilfreich, sich mit an<strong>de</strong>ren Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen auszutauschen <strong>und</strong> Fachleute<br />

hinzuzuziehen. So wichtig ein empathischer Umgang mit Eltern ist, so be<strong>de</strong>utsam<br />

ist das frühzeitige, klare <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> auch Aussprechen von Defi ziten in <strong>de</strong>r<br />

Elternschaft, um Kin<strong>de</strong>r zu schützen.<br />

Die Abschätzung <strong>de</strong>r Entwicklungsprognose eines Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> seiner Rehabilitation<br />

ist eine Aufgabe, die Möglichkeiten eines einzelnen Helfers übersteigt, <strong>und</strong><br />

die nur in einem interdisziplinären Team, d.h. im Rahmen einer Helferkonferenz<br />

erfolgen kann.<br />

Die Diagnostik <strong>und</strong> Intervention erfolgt in <strong>de</strong>r Regel interdisziplinär, unabhängig<br />

davon, ob das Kind primär in einer Einrichtung <strong>de</strong>r sozialen Dienste, <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heitswesens,<br />

Kin<strong>de</strong>rbetreuungseinrichtungen, Schulen o<strong>de</strong>r einer speziellen<br />

Kin<strong>de</strong>rschutzeinrichtung gesehen wird. Dabei ist auf eine beson<strong>de</strong>re Expertise im<br />

Erstgespräch mit Eltern <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Durchführung von Fallkonferenzen zu achten.<br />

Der neu gefasste § 8a <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfegesetzes hat die Verpfl ichtung<br />

zur Kooperation betont <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Austausch von Informationen erleichtert, wenn<br />

auch dies an <strong>de</strong>r Schnittstelle <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Jugendhilfesystems noch immer<br />

schwierig ist.<br />

Prävention in <strong>de</strong>r kin<strong>de</strong>rärztlichen Praxis<br />

Kin<strong>de</strong>rärzte gehören zu <strong>de</strong>n wenigen außerfamiliären Kontaktpersonen, die das<br />

Kind im Säuglings- <strong>und</strong> Vorschulalter regelmäßig sehen. Sie wer<strong>de</strong>n damit in die<br />

Verantwortung genommen, Anzeichen für Kin<strong>de</strong>smisshandlung frühzeitig zu erkennen<br />

<strong>und</strong> Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Erst im Kin<strong>de</strong>rgarten – <strong>und</strong> später in <strong>de</strong>r<br />

Schule – erweitert sich <strong>de</strong>r Kreis <strong>de</strong>r außerfamiliären Bezugspersonen. Für die<br />

Früherkennung von Risiken für Misshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung stehen uns<br />

keine Tests, Checklisten o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Screeningmassnahmen zur Verfügung. Kin-<br />

71


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

<strong>de</strong>smisshandlung ist selten ein isoliertes Ereignis, son<strong>de</strong>rn meist eine chronische<br />

Situation, die zu Entwicklungsstörungen im Kin<strong>de</strong>salter führt. In vielen retrospektiven<br />

Fallanalysen zeigt sich, dass es zahlreiche Früh-Warnzeichen in <strong>de</strong>r Anamnese<br />

gibt, die als Hilferufe <strong>de</strong>r Eltern verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, wenn wir uns<br />

die Zeit nehmen zuzuhören.<br />

Zu einer primären Prävention gehören das anamnestische Gespräch, die teilnehmen<strong>de</strong><br />

Beobachtung <strong>und</strong> die antizipatorische Aufklärung. Wichtige Informationen,<br />

die Kin<strong>de</strong>rärzte <strong>und</strong> -ärztinnen im Rahmen eines anamnestischen Gesprächs<br />

in Bezug auf die Lebensumstän<strong>de</strong> sammeln sollten, beinhalten fi nanzielle<br />

Ressourcen, Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> Unterstützungssysteme innerhalb<br />

<strong>de</strong>r Familie. Abwesenheit eines Elternteils, soziale Isolation, wie<strong>de</strong>rholte<br />

Ortswechsel <strong>und</strong> Leben in Armut gehören dazu ebenso wie die erzählte Lebensgeschichte<br />

<strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Vitalität <strong>de</strong>r Eltern. Mit einem solchen<br />

anamnestischen Gespräch, das sich insbeson<strong>de</strong>re bei neuen Patienten <strong>und</strong> Neugeborenen<br />

mit bei<strong>de</strong>n Eltern anbietet, sammeln die Kin<strong>de</strong>rärzte nicht nur wichtige<br />

Informationen, son<strong>de</strong>rn signalisieren gleichzeitig ihr Interesse <strong>und</strong> ihre Anteilnahme.<br />

Da in unserem Land nicht alle Eltern mit kleinen Kin<strong>de</strong>rn durch die<br />

kin<strong>de</strong>rärztlichen Früherkennungsuntersuchungen erreicht wer<strong>de</strong>n, wäre ein aufsuchen<strong>de</strong>s<br />

System wünschenswert, in <strong>de</strong>m Familien mit Neugeborenen generell<br />

Hausbesuche erhalten, die mit einer Beratung über Hilfsmöglichkeiten <strong>und</strong> Hinweisen<br />

zur Pfl ege, Erziehung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsför<strong>de</strong>rung einhergehen.<br />

Anteilnehmen<strong>de</strong> Beobachtung <strong>und</strong> im-Gespräch-bleiben mit <strong>de</strong>r Familie ist eine<br />

wesentliche Voraussetzung für <strong>de</strong>n Erfolg vorbeugen<strong>de</strong>r Maßnahmen. Es erscheint<br />

hilfreich, die Eltern durch frühzeitige, sozusagen antizipatorische Aufklärungen<br />

über normale Phasen <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>und</strong> häufi ge Übergangsschwierigkeiten von<br />

einer Entwicklungsphase zur nächsten zu unterstützen. Bei dieser Beratung wird<br />

gleichfalls <strong>de</strong>utlich, ob die Erwartungen <strong>de</strong>r Eltern an das Kind realistisch sind<br />

<strong>und</strong> ob die Erziehungshaltung <strong>de</strong>r Eltern unmäßig rigi<strong>de</strong> <strong>und</strong> starr erscheint. In<br />

<strong>de</strong>n Hinweisen zur Durchführung <strong>de</strong>r Vorsorgeuntersuchung wird als Hauptziel in<br />

<strong>de</strong>r Betreuung genannt, das Vertrauen <strong>de</strong>r Eltern, vor allem <strong>de</strong>r Mütter, in ihre eigenen<br />

Fähigkeiten zu stärken. Gegebenenfalls sollen weitere soziale o<strong>de</strong>r psychologische<br />

Hilfen vermittelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Bestimmte Gruppen bedürfen beson<strong>de</strong>rer Zuwendung (sek<strong>und</strong>äre Prävention):<br />

Die I<strong>de</strong>ntifi kation dieser Familien ergibt sich aus <strong>de</strong>n oben genannten Risikofaktoren<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Verständnis psychodynamischer Entwicklungen in gewaltbelasteten<br />

Familien.<br />

Kin<strong>de</strong>r mit Beziehungswechseln wie Stief-, Adoptions- o<strong>de</strong>r Pfl egekin<strong>de</strong>r verdienen<br />

beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Unterstützung, insbeson<strong>de</strong>re gilt dies für<br />

Kin<strong>de</strong>r, die mit alleinerziehen<strong>de</strong>n Müttern <strong>und</strong> wechseln<strong>de</strong>n männlichen Bezugs-<br />

72


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

personen leben. Frühe soziale Hilfen, zu <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>rärzte <strong>und</strong> -ärztinnen <strong>de</strong>n<br />

Anstoß geben können, schließen Frühför<strong>de</strong>rung, Tagesbetreuung, <strong>und</strong> verschie<strong>de</strong>ne<br />

entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Therapien ein. Für Kin<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n Alters sind soziale<br />

Erfahrungen sehr wichtig, Kin<strong>de</strong>rgartenbesuch <strong>und</strong> vor allem regelmäßiger Schulbesuch<br />

sind für die Integration <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s be<strong>de</strong>utsam.<br />

Die kin<strong>de</strong>rärztliche Beziehung zu jugendlichen Patienten muss intensiver <strong>und</strong><br />

aktiver gestaltet wer<strong>de</strong>. Abgesehen von <strong>de</strong>n Jugendlichen mit chronischen Lei<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rungen, lei<strong>de</strong>n Jugendliche eher selten an körperlichen Erkrankungen.<br />

Unser Angebot muss sich auf ihre Besorgnisse <strong>und</strong> Fragen zur körperlichen<br />

Entwicklung, <strong>de</strong>s Wachstums, <strong>de</strong>r äußeren Erscheinung, zu Essgewohnheiten,<br />

sportlicher Aktivität, Sexualität, Schwangerschaftsverhütung, sexuell übertragbaren<br />

Krankheiten, Schulschwierigkeiten <strong>und</strong> familiären Konfl ikte beziehen.<br />

Jugendliche brauchen viel Unterstützung <strong>und</strong> Verständnis beim Heranwachsen.<br />

Es kann daher von großer Be<strong>de</strong>utung sein, nachzufragen <strong>und</strong> Interesse zu bek<strong>und</strong>en.<br />

Individuelle Gespräche, aber auch Gruppenangebote zum Beispiel in Schule<br />

<strong>und</strong> Freizeit- <strong>und</strong> Sporteinrichtungen bieten die Möglichkeit zu ges<strong>und</strong>heitlicher<br />

Aufklärung, Verstärkung von Autonomie <strong>und</strong> Eigenverantwortung <strong>und</strong> gezielten<br />

Angeboten zur therapeutischen Intervention in Einzelfällen. Diese Maßnahmen<br />

können dazu beitragen, verfrühte Schwangerschaften, Gewalterfahrung in Beziehungen,<br />

sexuell übertragbare Krankheiten <strong>und</strong> Schulversagen zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Mütter, insbeson<strong>de</strong>re junge Frauen, sind in gewaltbelasteten Familien häufi g auch<br />

Opfer von Misshandlungen. Da viele Frauen weiterhin in ökonomischer <strong>und</strong> sozialer<br />

Abhängigkeit von Ehemännern <strong>und</strong> Partnern leben <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>n überwiegen<strong>de</strong>n<br />

Anteil an <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rerziehung leisten, müssen wir im Interesse <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

auf Hinweise für Gewalterfahrung <strong>de</strong>r Mütter achten o<strong>de</strong>r sie danach fragen.<br />

Bei Hinweisen für eine gewaltbelastete Situation o<strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung sollten die Beobachtungen <strong>und</strong> Sorgen um die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s frühzeitig mit <strong>de</strong>n Eltern besprochen <strong>und</strong> nach gemeinsamen<br />

Lösungen gesucht wer<strong>de</strong>n. Dabei kann es von großer Wichtigkeit sein, dieses Gespräch<br />

mit Fachleuten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes vorzubereiten <strong>und</strong> ggf. nachzubereiten.<br />

Diese fachliche Beratung kann zunächst ohne Nennung <strong>de</strong>r Familie erfolgen. In<br />

je<strong>de</strong>m Fall sollte offen mit <strong>de</strong>n Eltern über Unterstützungsmöglichkeiten <strong>und</strong> ihre<br />

Verantwortung, Risiken abzuwen<strong>de</strong>n, gesprochen wer<strong>de</strong>n. Es ist sicherzustellen,<br />

dass ein langfristiges Monitoring hinsichtlich <strong>de</strong>r Annahme von Angeboten <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Familie erfolgt.<br />

Wenn im Rahmen <strong>de</strong>r Betreuung eines Kin<strong>de</strong>s Merkmale auffallen, die <strong>de</strong>n Verdacht<br />

auf eine bereits eingetretene Misshandlung (tertiäre Prävention) hervorrufen,<br />

sollte die weitere Intervention in Teamarbeit mit professionellen Helfern<br />

erfolgen. Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte sollten über die Möglichkeiten <strong>de</strong>r lokalen Kin<strong>de</strong>r-<br />

73


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

schutzarbeit (Krisenbetreuung, Kin<strong>de</strong>rnotaufnahme, Frauenschutzeinrichtungen,<br />

soziale Dienste, Beratungsstellen, Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren) gut informiert sein.<br />

Eine Meldung <strong>de</strong>r Familie an die Jugendhilfe, das Familiengericht o<strong>de</strong>r an Beratungsstellen<br />

ohne Eltern vorher von diesem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, ist<br />

unbedingt zu vermei<strong>de</strong>n. Sie sollte nur erfolgen, wenn unmittelbare Gefahr für<br />

Leib <strong>und</strong> Leben eines Familienmitglieds besteht. Wenn keine Kooperation mit <strong>de</strong>r<br />

Familie erreicht wer<strong>de</strong>n kann <strong>und</strong> <strong>de</strong>nnoch eine Gefährdung <strong>de</strong>s Wohls <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

besteht, sollte die Familie informiert wer<strong>de</strong>n, dass die zuständige Einrichtung<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe <strong>und</strong> / o<strong>de</strong>r das Familiengericht eingeschaltet wird. Dabei muss<br />

§34 StGB (Schweigepfl icht) beachtet wer<strong>de</strong>n. Falls Ärzte die ärztliche Schweigepfl<br />

icht brechen, ist dies bei einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, auch wenn sie nur vermutet<br />

wird, gerechtfertigt, weil das Recht <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s auf Schutz <strong>und</strong> körperliche<br />

Unversehrtheit das höhere Rechtsgut ist. Bei akuter Gefahr für Leib <strong>und</strong> Leben<br />

eines Kin<strong>de</strong>s sollte umgehend die Polizei eingeschaltet wer<strong>de</strong>n. Dies gilt auch,<br />

wenn mögliche Spuren o<strong>de</strong>r Beweismittel im häuslichen Bereich gesichert wer<strong>de</strong>n<br />

müssen (Wäschestücke, pornographische Aufzeichnungen, Fotos, Filme, elektronische<br />

Daten), wenn die Angaben <strong>de</strong>r Bezugspersonen zur Entstehung von Verletzungen<br />

überprüft wer<strong>de</strong>n müssen (z. B. bei Verbrennungen <strong>und</strong> Verbrühungen)<br />

o<strong>de</strong>r wenn an<strong>de</strong>re Min<strong>de</strong>rjährige potentiell Gefahren ausgesetzt sind.<br />

Die außerfamiliären Formen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>smisshandlung<br />

Kin<strong>de</strong>smisshandlung, sexuelle Ausbeutung <strong>und</strong> Vernachlässigung kennt viele Gesichter.<br />

Die außerfamiliären Formen, wie Kin<strong>de</strong>rarbeit, Kin<strong>de</strong>r im Krieg, Han<strong>de</strong>l<br />

<strong>und</strong> Verkauf von Kin<strong>de</strong>rn, Misshandlung <strong>und</strong> Missbrauch in Institutionen, Kin<strong>de</strong>rprostitution<br />

<strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rpornographie, sind weltweit von sehr großer, innerhalb<br />

Deutschlands im Vergleich zu innerfamiliären Formen jedoch von geringerer Be<strong>de</strong>utung.<br />

Die Initiativen <strong>de</strong>r internationalen Institutionen wie UNICEF o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

WHO richten sich im Wesentlichen gegen extrafamiliäre Gewalt gegen Kin<strong>de</strong>r,<br />

insbeson<strong>de</strong>re im Bereich <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rarbeit, <strong>de</strong>r sexuellen Ausbeutung von Kin<strong>de</strong>rn<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Opfer von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen unter Kriegsverhältnissen,<br />

Flucht <strong>und</strong> Folter. Diese Probleme sind auch in Deutschland präsent: Die Globalisierung<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpornographie <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rprostitution, die weltweite Vermarktung<br />

von Produkten aus Kin<strong>de</strong>rarbeit <strong>und</strong> die Probleme von asylsuchen<strong>de</strong>n<br />

Familien stellen das Hilfesystem vor neue <strong>und</strong> unerwartete Herausfor<strong>de</strong>rungen. In<br />

diesen Bereichen ist häufi g eine Expertise gefragt, die wegen <strong>de</strong>r kulturellen <strong>und</strong><br />

sprachlichen Schwierigkeiten oft nur durch enge Kooperation mit spezialisierten<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Therapeuten erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Konzepte zur Erkennung,<br />

Beurteilung <strong>und</strong> Intervention bei diesen Formen von Gewalt gegen Kin<strong>de</strong>r überschreiten<br />

<strong>de</strong>n Rahmen dieses Beitrags, sind aber in <strong>de</strong>r heutigen Zeit bei <strong>de</strong>r Entstehung<br />

von multikulturellen Gesellschaften von zunehmen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung.<br />

74


Wie lässt sich <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> erkennen?<br />

Literatur<br />

Bowlby, J., Ainsworth, M.S.: Frühe Bindung <strong>und</strong> kindliche Entwicklung. Reinhardt,<br />

München, 5. Aufl age, 2005<br />

Bronfenbrenner, U.: Die Ökologie <strong>de</strong>r menschlichen Entwicklung, Stuttgart, Klett-<br />

Cotta, 1981<br />

Dornes, M.: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie <strong>de</strong>r ersten Lebensjahre.<br />

Frankfurt: Fischer, 1997<br />

Esser, G.: Die Auswirkungen von Ablehnung <strong>und</strong> Vernachlässigung für die Mutter-<br />

Kind-Beziehung <strong>und</strong> die weitere Kin<strong>de</strong>sentwicklung. Monatsschrift Kin<strong>de</strong>rheilk<strong>und</strong>e,<br />

1997, 145: 998<br />

Frank, R., Rä<strong>de</strong>r, K.: Früherkennung <strong>und</strong> Intervention bei Kin<strong>de</strong>smisshandlung.<br />

Forschungsbericht, 1994, erhältlich beim Bayrischen Staatsministerium für Arbeit<br />

<strong>und</strong> Sozialordnung, Familie, Frauen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, 80792 München<br />

Garbarino, J., Gilliam, G.: Un<strong>de</strong>rstanding Abusive Families. Lexington: Lexington<br />

Books; D.C. Heath, 1989<br />

Herrmann, B., Veit, S., Neises, M.: Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kin<strong>de</strong>smissbrauch.<br />

In: Monatsschrift Kin<strong>de</strong>rheilk<strong>und</strong>e, 1997, 145: 1219-1226<br />

Richter-Appelt, H.: Sexuelle Traumatisierungen <strong>und</strong> körperliche Misshandlung.<br />

Eine Befragung von Stu<strong>de</strong>ntinnen <strong>und</strong> Stu<strong>de</strong>nten. In: Rutschky, K., Wolff, R.:<br />

Handbuch Sexueller Missbrauch, Hamburg, 1994, 116-142<br />

Salgo, L. :§ 8a SGB VIII- Anmerkungen <strong>und</strong> Überlegungen zur Vorgeschichte <strong>und</strong><br />

die Konsequenzen <strong>de</strong>r Gesetzesän<strong>de</strong>rung. In: Ziegenhain U, Fegert JM.: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung, Reinhardt, München, 2007, 9-29<br />

Thyen, U., Kirchhofer, F., Wattam, C.: Gewalterfahrung in <strong>de</strong>r Kindheit – Risiken<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Folgen. Das Ges<strong>und</strong>heitswesen, 2000; 62: 311-319<br />

Thyen, U., Dörries A.: Ärztliches Han<strong>de</strong>ln bei Kin<strong>de</strong>smisshandlung. Zeitschrift für<br />

medizinische Ethik, 2005, 51: 139-151<br />

Wetzels, P.: Gewalterfahrung in <strong>de</strong>r Kindheit. Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen<br />

Forschung, Bd.8, Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>n, 1997<br />

75


8<br />

Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls<br />

auf Kin<strong>de</strong>r haben?<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> aus neurobiologischer Sicht<br />

1. Defi nition <strong>de</strong>s Problembereichs<br />

Unter Misshandlung <strong>und</strong> Missbrauch von Kin<strong>de</strong>rn versteht man gewaltsame physische<br />

o<strong>de</strong>r psychische Beeinträchtigungen von Kin<strong>de</strong>rn durch Eltern bzw. Erziehungsberechtigte,<br />

teilweise jedoch auch an<strong>de</strong>re Erwachsene in <strong>de</strong>r Umgebung.<br />

Derartige Beeinträchtigungen können durch aktive Handlungen (z. B. körperliche<br />

Misshandlung, sexueller Missbrauch, verbale Beschimpfungen <strong>und</strong> Entwertungen),<br />

aber auch durch Unterlassungen (z. B. physische <strong>und</strong> emotionale Vernachlässigung)<br />

bedingt sein (vgl. Engfer 2006). Sowohl die Erfassung in amerikanischen<br />

Kin<strong>de</strong>rschutzregistern als auch die Ergebnisse von epi<strong>de</strong>miologischen ebenso wie<br />

Studien an klinischen Populationen belegen erhebliche Überlappungen <strong>und</strong> zeitliche<br />

Verkettungen zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Formen von Missbrauch, Miss-<br />

76<br />

Risikofaktoren<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

Niedriger sozioökonomischer Status<br />

Schlechte Schulbildung <strong>de</strong>r Eltern<br />

Arbeitslosigkeit<br />

Große Familien <strong>und</strong> sehr wenig Wohnraum<br />

Kontakte mit Einrichtungen <strong>de</strong>r sozialen Kontrolle (z. B. Jugendamt)<br />

Kriminalität o<strong>de</strong>r Dissozialität eines Elternteils<br />

Chronische Disharmonie in <strong>de</strong>r Primärfamilie<br />

Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr<br />

Unsicheres Bindungsverhalten nach 12./18. Lebensmonat<br />

Psychische Störungen <strong>de</strong>r Mutter/<strong>de</strong>s Vaters<br />

Schwere körperliche Erkrankungen <strong>de</strong>r Mutter/<strong>de</strong>s Vaters<br />

Chronisch krankes Geschwister<br />

Alleinerziehen<strong>de</strong> Mutter<br />

Autoritäres väterliches Verhalten<br />

Verlust <strong>de</strong>r Mutter<br />

Längere Trennung von <strong>de</strong>n Eltern in <strong>de</strong>n ersten sieben Lebensjahren<br />

Anhalten<strong>de</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen infolge Scheidung/Trennung <strong>de</strong>r Eltern<br />

Häufi g wechseln<strong>de</strong> frühe Beziehungen<br />

Sexueller <strong>und</strong>/o<strong>de</strong>r aggressiver Missbrauch<br />

Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in <strong>de</strong>r Schule<br />

Altersabstand zum nächsten Geschwister


handlung <strong>und</strong> Vernachlässigung bei <strong>de</strong>n davon betroffenen Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

(vgl. Wetzels 1997, Emery <strong>und</strong> Laumann-Billings 1998, Fergusson <strong>und</strong> Mullen<br />

1999, Jonson-Reid et al 2003). Das kumulative Ausmaß belasten<strong>de</strong>r Familienmerkmale<br />

erklärt all jene psychischen Langzeitfolgen, die man zunächst eindimensional<br />

als Folge sexueller Missbrauchserfahrung in <strong>de</strong>r Kindheit interpretiert hatte.<br />

Insofern ist heute eine getrennte Behandlung <strong>de</strong>r Langzeitfolgen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Kindheitsbelastungsfaktoren wissenschaftlich nicht mehr haltbar. In Tabelle 1 sind<br />

die heute im Rahmen prospektiver Longnitudinalstudien sowie sorgfältiger retrospektiver<br />

Studien hinsichtlich ges<strong>und</strong>heitlicher Langzeitfolgen als gesichert gelten<strong>de</strong>n<br />

frühen Stressfaktoren zusammengefasst (vgl. Egle et al 1997, Egle et al 2002).<br />

Jegliche Form <strong>de</strong>r Primärprävention sollte darauf ausgerichtet sein, das kumulative<br />

Einwirken dieser Faktoren während <strong>de</strong>r Kindheit zu verhin<strong>de</strong>rn. Im Rahmen<br />

von Maßnahmen <strong>de</strong>r Sek<strong>und</strong>ärprävention muss es darum gehen, die psychischen<br />

wie biologischen Auswirkungen einer <strong>de</strong>rartigen kumulativen Stresseinwirkung<br />

zu mil<strong>de</strong>rn. Be<strong>de</strong>utsam sind dabei auch potentiell kompensatorisch wirken<strong>de</strong> protektive<br />

Faktoren (Tabelle 2). Stehen sie hinreichend zur Verfügung, so können<br />

sie beim Einwirken eines einzelnen bzw. einiger weniger Risikofaktoren nicht<br />

nur <strong>de</strong>ren pathogene Langzeitfolgen verhin<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn sogar zu einer erhöhten<br />

Stressresistenz („Resilienz“) führen (vgl. Glantz & Johnson 1999, Ben<strong>de</strong>r & Lösel<br />

2005). Vereinfachend könnte man sagen, dass bei hinreichend vorhan<strong>de</strong>nen<br />

Schutzfaktoren Risikofaktoren als eine Art Impfung wirken können, was später zu<br />

einer erhöhten Stressresistenz führen kann. Dies be<strong>de</strong>utet auch, ein primär <strong>de</strong>fi zitorientiertes<br />

Herangehen an diese Problematik aufzugeben, wie dies heute lei<strong>de</strong>r<br />

immer noch verbreitet ist.<br />

Schutzfaktoren<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

Dauerhafte gute Beziehung zu min<strong>de</strong>stens einer primären Bezugsperson<br />

Sicheres Bindungsverhalten<br />

Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen<br />

Entlastung <strong>de</strong>r Mutter (v.a. wenn alleinerziehend)<br />

Gutes Ersatzmilieu nach früherem Mutterverlust<br />

Überdurchschnittliche Intelligenz<br />

Robustes, aktives <strong>und</strong> kontaktfreudiges Temperament<br />

Internale Kontrollüberzeugungen, „self-effi cacy“<br />

Soziale För<strong>de</strong>rung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche)<br />

Verlässlich unterstützen<strong>de</strong> Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter<br />

Lebenszeitlich spätere Familiengründung (i.S. von Verantwortungsübernahme)<br />

Geringe Risiko-Gesamtbelastung<br />

Geschlecht: Mädchen weniger vulnerabel<br />

Tabelle 2: Empirisch gesicherte kompensatorische Schutzfaktoren (Egle et al., 1997, 2002)<br />

77


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

2. Epi<strong>de</strong>miologie<br />

Die relativ größte Zahl epi<strong>de</strong>miologischer Studien zu <strong>de</strong>n genannten frühen Stressfaktoren<br />

mit potentieller Langzeitwirkung liegt zum sexuellen Missbrauch <strong>und</strong><br />

zur körperlichen Misshandlung vor, während zu Häufi gkeit von körperlicher <strong>und</strong><br />

emotionaler Vernachlässigung sowie psychischer Misshandlung bisher nur wenige<br />

Studien durchgeführt wur<strong>de</strong>n (Engfer 2006, Lampe 2002). Bei körperlicher<br />

Misshandlung <strong>und</strong> sexuellem Missbrauch ist die Studienlage jedoch ebenfalls nur<br />

bedingt aussagefähig, da teilweise sehr unterschiedliche Defi nitionen bei <strong>de</strong>n einzelnen<br />

Studien zu Gr<strong>und</strong>e gelegt wur<strong>de</strong>n. Legt man bei sexuellen Missbrauchserfahrungen<br />

eine enge Defi nition (genitale Manipulation bzw. Penetration) zu Gr<strong>und</strong>e,<br />

so liegt in <strong>de</strong>r Allgemeinbevölkerung in Deutschland, ebenso wie in Schwe<strong>de</strong>n,<br />

Finnland <strong>und</strong> Frankreich die Rate bei Frauen bei 6–7%, während sie in <strong>de</strong>r<br />

Schweiz, in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, in Großbritannien <strong>und</strong> in <strong>de</strong>n USA zwischen 11<br />

<strong>und</strong> 15% liegt. Bei Männern liegt die Rate durchgehend bei etwa 2–3%.<br />

Die Prävalenz körperlicher Misshandlungen unterschei<strong>de</strong>t sich innerhalb Europas<br />

sehr stark: mit 2% sehr niedrig ist sie in Schwe<strong>de</strong>n, wo es allerdings seit 1979 ein<br />

Gesetz gibt, welches das Schlagen von Kin<strong>de</strong>rn gr<strong>und</strong>sätzlich verbietet. Der Inhalt<br />

dieses Gesetzes wur<strong>de</strong> in Schwe<strong>de</strong>n sehr einfallsreich verbreitet, in<strong>de</strong>m mehrere<br />

Wochen die verän<strong>de</strong>rte Gesetzeslage auf allen Milchpackungen aufgedruckt wur<strong>de</strong><br />

<strong>und</strong> damit für Eltern wie Kin<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m täglichen Frühstückstisch nachlesbar<br />

war (Deley 1988, Edtfeld 1996). In Finnland liegt die Rate mit 7,7% schon <strong>de</strong>utlich<br />

höher (Sariola <strong>und</strong> Uutela 1992). In Deutschland ist sie zwischen 10 <strong>und</strong> 18% anzusie<strong>de</strong>ln<br />

(Kreuzer et al 1993, Bussmann 1996, Wetzels 1997). Bei klinischen Populationen<br />

erhöhen sich – je nach Diagnosegruppe – die genannten Prävalenzzahlen<br />

aus <strong>de</strong>r allgemeinen Bevölkerung um das 3- bis 6-fache (vgl. Egle et al 2005).<br />

Eine kontinuierlich steigen<strong>de</strong> Zahl von Ehescheidungen (2002 mehr als 200 000)<br />

führt dazu, dass inzwischen 24% aller Kin<strong>de</strong>r unter 18 Jahre (2,1 Mill.) in Deutschland<br />

bei Alleinerziehen<strong>de</strong>n aufwachsen. 81% <strong>de</strong>r Alleinerziehen<strong>de</strong>n sind Frauen,<br />

von <strong>de</strong>nen 41% geschie<strong>de</strong>n sind, 15% getrennt leben <strong>und</strong> 37,5% ledig sind; <strong>de</strong>r<br />

Anteil verwitweter allein erziehen<strong>de</strong>r Mütter ist mit 6,5% relativ klein (vgl. Statistisches<br />

Jahrbuch für die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland 2005). Häufi g vorausgegangen,<br />

<strong>und</strong> nicht selten nach Trennung <strong>de</strong>r Eltern weiterhin bestehend, waren<br />

chronische Konfl ikte zwischen <strong>de</strong>n Eltern, welche das Familienleben beeinträchtigten<br />

<strong>und</strong> auch nach <strong>de</strong>r Trennung <strong>de</strong>n Alltag <strong>und</strong> das Erleben <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r weiterhin<br />

belasten. Hinzu kommen sehr häufi g ausgeprägte ökonomische Einschränkungen.<br />

40% <strong>de</strong>r Alleinerziehen<strong>de</strong>n-Haushalte leben in relativer Armut unterhalb<br />

<strong>de</strong>r Hälfte <strong>de</strong>s Äquivalenzeinkommens (Palentien et al 1999), während dies im<br />

B<strong>und</strong>esdurchschnitt nur für 10% aller Haushalte zutrifft. Die Doppelbelastung von<br />

Kin<strong>de</strong>rerziehung <strong>und</strong> Unterhaltssicherung führt – vor allem bei fehlen<strong>de</strong>r sozialer<br />

Unterstützung – zu einer erheblichen Rate <strong>de</strong>pressiver <strong>und</strong> an<strong>de</strong>rer psychischer<br />

Erkrankungen bei <strong>de</strong>n allein erziehen<strong>de</strong>n Müttern (Franz 2004). Dies verstärkt in<br />

78


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

Form emotionaler Vernachlässigung, nicht selten jedoch auch über eine erhöhte<br />

Neigung zu körperlicher Misshandlung, die Stressbelastung <strong>de</strong>r betroffenen Kin<strong>de</strong>r<br />

noch weiter. Auch emotionaler Missbrauch in Form von Parentifi zierung <strong>und</strong><br />

Rollenumkehr sind nicht selten die Folge (Amato 1999, Hardt 2003).<br />

Während die Häufi gkeit emotionalen Missbrauchs <strong>und</strong> emotionaler Vernachlässigung<br />

in <strong>de</strong>r Allgemeinbevölkerung bisher noch wenig untersucht ist, zeigen Studien<br />

an klinischen Populationen mit psychischer bzw. psychosomatischer Symptombildung<br />

diesbezüglich Prävalenzraten von 50% <strong>und</strong> mehr (z. B. Imbierowicz<br />

<strong>und</strong> Egle 2003, Hardt 2003, van Hou<strong>de</strong>nhouve et al 2001). Eine Form unsicheren<br />

Bindungsverhaltens als Ausdruck einer frühen emotionalen Vernachlässigung<br />

wur<strong>de</strong> in einer US-amerikanischen epi<strong>de</strong>miologischen Studie in <strong>de</strong>r Allgemeinbevölkerung<br />

immerhin bei 36% beobachtet (Mickelson et al 1997). Neben einer negativen<br />

Einstellung zum Kind können dafür vor allem auch psychische Störungen<br />

seitens <strong>de</strong>r Hauptbezugsperson (z. B. postpartale Depression, Angsterkrankung,<br />

Suchtprobleme, Persönlichkeitsstörung) die Ursache sein.<br />

3. Entwicklungspsychologische <strong>und</strong> neurobiologische Folgen<br />

Sowohl entwicklungspsychologisch als auch neurobiologisch hinterlässt das kumulative<br />

Einwirken <strong>de</strong>r o.g. Formen von Missbrauch, Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

Narben, welche die Vulnerabilität für eine Reihe psychischer bzw.<br />

psychosomatischer sowie auch körperlicher Erkrankungen im Erwachsenenalter<br />

<strong>de</strong>utlich erhöhen. Die diesbezüglich bisher gesicherten Krankheitsbil<strong>de</strong>r <strong>und</strong> die<br />

zwischen diesen <strong>und</strong> frühen Stresserfahrungen vermitteln<strong>de</strong>n Mechanismen sind<br />

in Abbildung 1 dargestellt<br />

<strong>und</strong> sollen im Folgen<strong>de</strong>n<br />

etwas genauer<br />

Tod<br />

ausgeführt wer<strong>de</strong>n (für<br />

vorzeitig<br />

eine ausführliche Darstellung<br />

vgl. Egle et<br />

Krankheit<br />

al 2002, Cierpka et al<br />

soziale Probleme<br />

2009).<br />

Ges<strong>und</strong>heitliches<br />

Risikoverhalten<br />

Psychobiologische Dysfunktion<br />

Emotionale <strong>und</strong> kognitive Beeinträchtigung<br />

Früher Stress<br />

Kindheitsbelastungsfaktoren, Bindung<br />

Abb.1: Potentielle Auswirkungen früher Stresserfahrungen auf das weitere Leben (Felitti et al., 1998)<br />

79


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

3.1 Psycho-biologische Auswirkungen<br />

Das Bindungsbedürfnis <strong>de</strong>s Menschen ist Teil seines evolutionären Erbes. Was<br />

aus diesem genetisch <strong>de</strong>terminierten Bindungsbedürfnis eines Neugeborenen<br />

wird, entschei<strong>de</strong>t sich ganz wesentlich in <strong>de</strong>r Beziehung zur primären Bezugsperson.<br />

Ein nicht adäquat erwi<strong>de</strong>rtes Bindungsbedürfnis kann neben verhaltensbezogenen<br />

Konsequenzen (vgl. unten) auch zu psychobiologischen Folgen führen<br />

<strong>und</strong> dabei die individuelle Ausreifung <strong>de</strong>s Stressverarbeitungssystems beeinträchtigen.<br />

Die Arbeitsgruppe um Meaney (Weaver et al 2004) konnte experimentell<br />

belegen, dass ein einfühlsames Bindungsverhalten seitens <strong>de</strong>s Muttertiers nach<br />

<strong>de</strong>r Geburt darüber entschei<strong>de</strong>t, ob ein bestimmter Genabschnitt ablesbar wird.<br />

Dafür ist die Entfernung von sog. Methylgruppen erfor<strong>de</strong>rlich. Diese sitzen wie<br />

Kappen auf <strong>de</strong>m entsprechen<strong>de</strong>n Genabschnitt. Nur durch die Entfernung dieser<br />

„Kappen“ ist die Ablesbarkeit gewährleistet <strong>und</strong> führt dann zur Exprimierung<br />

von Glucocorticoid-Rezeptoren. Je mehr von diesen gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto niedriger<br />

ist <strong>de</strong>r Glucocorticoid-Spiegel im Blut <strong>und</strong> <strong>de</strong>sto stressresistenter das Individuum.<br />

Glucocorticoi<strong>de</strong> (bei Menschen Kortisol) <strong>und</strong> Glucocorticoid-Rezeptoren<br />

spielen eine zentrale Rolle im Rahmen von sog. Allostase-Prozessen, <strong>de</strong>ren<br />

übergeordnetes Ziel die Wie<strong>de</strong>rherstellung eines bedrohten biologischen Gleichgewichtes<br />

ist (Chrousos <strong>und</strong> Gold 1992, McEwen 1998). Eine zentrale Be<strong>de</strong>utung<br />

bei <strong>de</strong>r Verarbeitung früher Stresserfahrungen kommt <strong>de</strong>r Hypophysen-Nebennierenrin<strong>de</strong><br />

(HPA)- sowie <strong>de</strong>r Locus-Ceruleus-Norepinephrin (LC-NE)-Achse<br />

zu. Diese Verbindungsachsen zwischen Gehirn <strong>und</strong> Körper wer<strong>de</strong>n durch das vor<br />

allem im Nucleus paraventriculus <strong>de</strong>s Hypothalamus gebil<strong>de</strong>te Corticotropin Releasing<br />

Hormon (CRH) stimuliert. Bei Kleinkin<strong>de</strong>rn kommt es über eine erhöhte<br />

Ausschüttung von CRH zu einer gesteigerten ACTH-Reaktion <strong>und</strong> damit zu einer<br />

anhalten<strong>de</strong>n Sensitivierung <strong>de</strong>r HPA-Achse (Heim et al 1998, Kaufmann et<br />

al 1997). Lang andauern<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r häufi g sich wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong> biologische bzw. psychosoziale<br />

Stress einwirkungen führen im Verlauf <strong>de</strong>s Lebens – <strong>und</strong> dies gilt in beson<strong>de</strong>rem<br />

Maße, wenn sie in das beson<strong>de</strong>rs vulnerable Zeitfenster <strong>de</strong>r frühen Entwicklung<br />

fallen – über erhöhte Glucocorticoidspiegel zu Schädigungen <strong>de</strong>s Hippocampus<br />

<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en zu Einbußen im <strong>de</strong>klarativen Gedächtnis, d.h. zu<br />

erheblichen kognitiven Einschränkungen (Lupien et al 1998), bzw. über erhöhte<br />

Dopamin-/Noradrenalin-Spiegel zu Schädigungen im Bereich <strong>de</strong>s orbitalen Cortex<br />

praefrontalis (Arnsten 1999, Braun et al 2000, Francis et al 1999) sowie zu<br />

einer anhalten<strong>de</strong>n Dysfunktion <strong>de</strong>s autonomen Nervensystems (Heim et al 2000,<br />

Perry 2001). Die gestörte Funktion <strong>de</strong>s Hippocampus hat dann sowohl Konsequenzen<br />

für das Kurzzeitgedächtnis <strong>und</strong> die dynamisch-assoziative Verknüpfung<br />

von Erlebnisinhalten (>> Dissoziation) als auch für die Kontrolle <strong>de</strong>r Cortisol-<br />

Freisetzung in Form eines negativen Feedback-Mechanismus, was das Ausmaß<br />

<strong>de</strong>r Glucocorticoid bedingten Schädigung noch verstärkt (Sapolsky 1996). Die<br />

Dysfunktion <strong>de</strong>s LC-NE-Systems (vegetatives Nervensystem) bewirkt die Entwicklung<br />

multipler körperlicher Beschwer<strong>de</strong>n (Heim et al 2000) <strong>und</strong> damit die<br />

80


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

Neigung zur Somatisierung in körperlichen ebenso wie in psychosozialen Belastungssituationen.<br />

Früh einwirken<strong>de</strong> Kindheitsbelastungsfaktoren führen also in einem vulnerablen<br />

Zeitfenster <strong>de</strong>r Entwicklung, in <strong>de</strong>m das genetisch <strong>de</strong>terminierte Stressverarbeitungssystem<br />

noch nicht hinreichend ausgereift ist, zu „biologischen Narben“, welche<br />

sich lebenslang in einer Dysfunktion <strong>de</strong>s Stressverarbeitungssystems im Sinne<br />

einer erheblich erhöhten Vulnerabilität bei körperlichen wie psychosozialen Belastungssituationen<br />

nie<strong>de</strong>rschlagen können (McEwen 1999, 2003).<br />

Neben kompensatorisch wirksamen Umweltfaktoren (vgl. Tabelle 2) können offensichtlich<br />

auch genetische Faktoren das Ausmaß <strong>de</strong>r Vulnerabilität für psychische<br />

Störungen als Langzeitfolge min<strong>de</strong>rn. So puffert ein genetischer Polymorphismus<br />

in einem bestimmten Genabschnitt, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Serotoninstoffwechsel<br />

Einfl uss hat, <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen körperlicher Misshandlung in <strong>de</strong>r<br />

Kindheit <strong>und</strong> <strong>de</strong>m späteren Auftreten antisozialer Persönlichkeitsmerkmale ab<br />

(Caspi et al 2002). Umgekehrt konnte jedoch in einer Studie bei eineiigen Zwillingen<br />

gezeigt wer<strong>de</strong>n, dass sexueller Missbrauch <strong>und</strong> körperliche Misshandlung<br />

als Umweltfaktoren die Wahrscheinlichkeit, an einer häufi gen psychischen Störung<br />

zu erkranken (Depression, Angsterkrankung, Sucht, Essstörung), um das 2,5-<br />

bis 5,5-fache erhöht (Kendler et al 2000). Schon zuvor wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r gleichen Arbeitsgruppe<br />

(Kendler et al 1992) <strong>de</strong>r Faktor Trennung von <strong>de</strong>n Eltern bzw. Verlust<br />

eines Elternteils ebenfalls bei eineiigen Zwillingen als ungünstig für die spätere<br />

Stressvulnerabilität nachgewiesen.<br />

3.2 Entwicklungspsychologische Auswirkungen<br />

Auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s psychischen Erlebens <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Verhaltens kommt es infolge früher<br />

Stressoren zu emotionalen <strong>und</strong> kognitiven Beeinträchtigungen. Die Unfähigkeit,<br />

Emotionen zu modulieren, trägt zu einer Reihe von Verhaltensweisen bei, die<br />

als unzureichen<strong>de</strong> Versuche <strong>de</strong>r Selbstregulation verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können (van<br />

<strong>de</strong>r Kolk <strong>und</strong> Fisler 1994). Die eingeschränkte Flexibilität von Reaktionsmöglichkeiten<br />

führt dazu, dass Affekte häufi g ausgelebt, statt zunächst refl ektiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Dies kann mit <strong>de</strong>n dargestellten psychobiologischen Schädigungen im Bereich<br />

<strong>de</strong>s präfrontalen Cortex in Verbindung gebracht wer<strong>de</strong>n. Die individuell zur Verfügung<br />

stehen<strong>de</strong>n Bewältigungsstrategien sind als Folge von Kindheitstraumatisierungen<br />

meist unreife, d.h. es stehen vor allem Wendung gegen das Selbst <strong>und</strong><br />

Projektion bzw. Katastrophisieren, Generalisieren <strong>und</strong> Schwarz-Weiß-Denken im<br />

Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> (Schmidt et al 1993, Elton et al 1994, Fearon <strong>und</strong> Hotopf 2001, Nickel<br />

<strong>und</strong> Egle 2001, 2006). Insgesamt kommt es zu Beeinträchtigungen bei <strong>de</strong>r<br />

Bewältigung phasenspezifi scher Entwicklungsaufgaben in <strong>de</strong>r Jugend <strong>und</strong> im jungen<br />

Erwachsenenalter, welche das Selbstwerterleben <strong>und</strong> die soziale Kompetenz<br />

einschränken <strong>und</strong> sich letztendlich auch in einem subjektiv eingeschränkten Ges<strong>und</strong>heitserleben<br />

nie<strong>de</strong>rschlagen (Kendall-Tackett 2002).<br />

81


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

3.3 Risikoverhalten<br />

In einer großen Studie an insgesamt 26 000 Kaliforniern konnten Felitti et al<br />

(1998) zeigen, dass das kumulative Einwirken von vier <strong>und</strong> mehr frühen Stressfaktoren<br />

in <strong>de</strong>r Kindheit im Vergleich zu <strong>de</strong>ren vollständigem Fehlen zu einem<br />

<strong>de</strong>utlich erhöhten Auftreten ges<strong>und</strong>heitlicher Risikoverhaltensweisen führt (vgl.<br />

Abb.1). Signifi kant erhöht waren jedoch auch häufi g wechseln<strong>de</strong> Sexualpartner<br />

<strong>und</strong> sexuell übertragene Erkrankungen, ein Body-Mass-In<strong>de</strong>x (BMI: kg/m²) von<br />

über 35, weit reichen<strong>de</strong>r Bewegungsmangel <strong>und</strong> nicht zuletzt bereits in <strong>de</strong>r frühen<br />

Jugend einsetzen<strong>de</strong>r Nikotinabusus. Beson<strong>de</strong>rs stark erhöht waren Alkohol- <strong>und</strong><br />

Drogenkonsum (5- bis 10-fach) sowie die Häufi gkeit von Suizidversuchen (12fach).<br />

Auch Hardt et al (2007, 2008) konnten einen signifi kanten Zusammenhang<br />

zwischen Suizidversuchen im Erwachsenenalter <strong>und</strong> sexuellen Missbrauchserfahrungen<br />

in <strong>de</strong>r Kindheit belegen. Auch zwischen ausgeprägtem mütterlichen Kontrollverhalten<br />

in Verbindung mit <strong>de</strong>m Fehlen von emotionaler Zuwendung bzw.<br />

mit <strong>de</strong>r frühen Übernahme von Pfl ichten (Rollenumkehr/Parentifi zierung) <strong>und</strong><br />

späteren Suizidversuchen bestand ein signifi kanter Zusammenhang.<br />

All diese „Risikoverhaltensweisen“ können als insuffi ziente Versuche <strong>de</strong>r Betroffenen<br />

verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, ein negatives Selbstwerterleben <strong>und</strong> unreife Konfl iktbewältigungsstrategien<br />

einerseits sowie eine subjektiv durchaus auch wahrgenommene<br />

erhöhte Stressvulnerabilität an<strong>de</strong>rerseits zu kompensieren.<br />

3.4 Körperliche <strong>und</strong> psychische Erkrankungen als Langzeitfolge<br />

Vor allem durch die Kombination von mehreren <strong>de</strong>r o.g. Risikoverhaltensweisen<br />

erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, eine Gefäßerkrankung (koronare Herzerkrankung,<br />

Schlaganfall), eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung o<strong>de</strong>r ein<br />

Typ II-Diabetes mellitus zu entwickeln, erheblich. Auch das Auftreten bestimmter<br />

Krebserkrankungen (Schl<strong>und</strong>/Rachen, Lunge, Genitalbereich) wird durch einige<br />

<strong>de</strong>r genannten Risikofaktoren (Alkohol, Rauchen, wechseln<strong>de</strong> Sexualpartner)<br />

<strong>de</strong>utlich erhöht. Die meisten <strong>de</strong>r genannten körperlichen Erkrankungen gehen mit<br />

einer erhöhten Mortalität einher, so dass die Schlussfolgerung nicht abwegig ist,<br />

dass frühe Stresserfahrungen letztendlich auch zu einer erhöhten Mortalität beitragen<br />

(vgl. Felitti 2002). Die ersten Ergebnisse <strong>de</strong>s Längsschnittteils dieser kalifornischen<br />

Studie bestätigen dies.<br />

Hinsichtlich psychischer <strong>und</strong> psychosomatischer Erkrankungen ist die Vulnerabilität<br />

durch frühe Stressfaktoren <strong>und</strong> die genannten vermitteln<strong>de</strong>n Mechanismen<br />

für <strong>de</strong>pressive <strong>und</strong> Angsterkrankungen, Suizidalität, somatoforme Störungen, Essstörungen<br />

<strong>und</strong> auch für Suchterkrankungen sowie eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen<br />

gut belegt (Übersicht bei Egle et al 2005).<br />

Auf <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s skizzierten Vulnerabilitätskonzeptes lassen sich bestimmte<br />

Risikopopulationen i<strong>de</strong>ntifi zieren, bei <strong>de</strong>nen die dargestellten Mechanismen<br />

im Hinblick auf Langzeitfolgen früher Stresserfahrungen beson<strong>de</strong>rs of-<br />

82


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

fensichtlich sind <strong>und</strong> <strong>de</strong>shalb Maßnahmen <strong>de</strong>r Primärprävention beson<strong>de</strong>rs be<strong>de</strong>utsam<br />

wären. Neben Migranten wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n letzten Jahren im beson<strong>de</strong>ren<br />

Maße die Langzeitfolgen einer Kindheit in einer Ein-Eltern-Familie, meist bei allein<br />

erziehen<strong>de</strong>n Müttern, untersucht (Übersicht bei Franz 2004). Beson<strong>de</strong>rs eindrucksvoll<br />

wur<strong>de</strong> dies in einer schwedischen Studie an insgesamt knapp 1 Million<br />

Kin<strong>de</strong>rn untersucht, von <strong>de</strong>nen etwa 65.000 bei Alleinerziehen<strong>de</strong>n aufgewachsen<br />

waren: auch nach Adjustierung hinsichtlich sozioökonomischer Faktoren sowie<br />

psychischer bzw. Suchterkrankungen <strong>de</strong>r Eltern ergab sich im jungen Erwachsenenalter<br />

für Jungen eine um das 2,5-fache, für Mädchen um das 2,1-fache erhöhte<br />

Vulnerabilität für eine psychische Erkrankung. Drogenprobleme waren um<br />

das 4- bzw. 3,2-fache, alkoholbedingte Störungen um das 2,2- bis 2,4-fache <strong>und</strong><br />

Suizi<strong>de</strong> bzw. Suizidversuche um das 2,3- bzw. 2,0-fache häufi ger. Für Jungen bestand<br />

bereits im jungen Erwachsenenalter ein signifi kant erhöhtes Mortalitätsrisiko<br />

(Weitoft et al 2003). Repräsentative US-amerikanische Studien erbrachten für<br />

diese Kin<strong>de</strong>r bzw. Jugendlichen niedrige Bildungsabschlüsse <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en<br />

ein signifi kant niedrigeres Einkommen im Erwachsenenalter sowie instabilere<br />

Partnerbeziehungen, erhöhte Scheidungsraten sowie eine insgesamt <strong>de</strong>utlich reduzierte<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit (Amato 1996, Amato <strong>und</strong> Wooth 1991, Amato et<br />

al 1995). Auch hier war die Wahrscheinlichkeit, bereits als Jugendliche mit <strong>de</strong>m<br />

Rauchen zu beginnen, <strong>de</strong>utlich erhöht (Kirby 2002). Teil dieser eingeschränkten<br />

Lebenszufrie<strong>de</strong>nheit sind <strong>de</strong>utlich erhöhte Depressionsraten im Alter zwischen 20<br />

<strong>und</strong> 40 Jahren als Langzeitfolge elterlicher Trennung (Gilman et al 2003, Sadowski<br />

et al 1999). Dieser Zusammenhang wird dann noch durch eine schlechte sozioökonomische<br />

Situation in <strong>de</strong>r Kindheit, die nicht selten eine weitere Folge <strong>de</strong>r<br />

Trennung <strong>de</strong>r Eltern ist, verstärkt.<br />

4. Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick<br />

Ungünstige Umweltbedingungen im Vorschulalter <strong>und</strong> hier beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n ersten<br />

drei Lebensjahren führen über heute gut gesicherte neurobiologische Mechanismen<br />

ebenso wie über entwicklungspsychologische Zusammenhänge <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren<br />

permanente Wechselwirkungen zu einer erhöhten Stressvulnerabilität im Erwachsenenalter.<br />

Im Erwachsenenalter einwirken<strong>de</strong> Belastungen stellen dann sowohl<br />

neurobiologisch als auch verhaltensbezogen <strong>de</strong>utlich schneller Überfor<strong>de</strong>rungen<br />

dar, welche sich – vermittelt durch Risikoverhaltensweisen – in Form von körperlichen<br />

Erkrankungen (koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Altersdiabetes,<br />

bestimmte Krebserkrankungen, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung), ebenso<br />

wie in Form von psychischen Erkrankungen (Angsterkrankung, Depression,<br />

somatoforme Störungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörung) auswirken<br />

können. Die schwereren Persönlichkeitsstörungen erhöhen dann das Risiko für<br />

Delinquenz <strong>und</strong> Kriminalität (vgl. Johnson et al 2002). Abbildung 1 fasst die heute<br />

gesicherten Faktoren <strong>und</strong> ihr Ineinan<strong>de</strong>rgreifen im Hinblick auf Langzeitfolgen<br />

83


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

zusammen. Das Verständnis dieser neurobiologischen <strong>und</strong> verhaltensbezogenen<br />

Entwicklungsprozesse schafft auch Möglichkeiten für Einsätze zu einer Primär-,<br />

Sek<strong>und</strong>är- bzw. Terziärprävention. Im beson<strong>de</strong>ren Maße wäre dies bei Risikogruppen<br />

erfor<strong>de</strong>rlich, <strong>de</strong>ren Anteil auf 20–30% geschätzt wird. Im beson<strong>de</strong>ren Maße<br />

betroffen davon sind Kin<strong>de</strong>r von Migranten, Alleinerziehen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Arbeitslosen.<br />

Entsprechen<strong>de</strong> Präventionsprogramme sind vorhan<strong>de</strong>n <strong>und</strong> haben sich in Mo<strong>de</strong>llprojekten<br />

bewährt (vgl. Cierpka 2005). Es bedarf für ihre Einführung in <strong>de</strong>r Breite<br />

<strong>de</strong>s entsprechen<strong>de</strong>n politischen Willens <strong>und</strong> <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n Verfügbarkeit<br />

fi nanzieller Ressourcen.<br />

Literatur<br />

Amato, P.R., Booth, A.: Consequences of parental divorce and marital unhappiness<br />

for adult wellbeing. Social Forces 69: 895-914, 1991<br />

Amato, P.R.: Explaining the intergenerational transmission of divorce. J Marriage<br />

Family 58: 628-640, 1996<br />

Amato, P.R. (1999): Children of divorced parents as young adults. In Hetherington<br />

EM (ed) Coping with divorce, single parenting, and remarriage. Lawrence<br />

Erlbaum London.<br />

Arnsten, A.F. (1997): Catecholamine regulation of the prefrontal cortex. J Psychopharmacol,<br />

11(2): 151-62.<br />

Arnsten, A.F.: Development of the cerebral cortex: XIV. stress impairs prefrontal<br />

cortical function. J Am Acad Child Adolesc Psychiatr 38: 220-2, 1999<br />

Ben<strong>de</strong>r, D., Lösel, F.: Risiko- <strong>und</strong> Schutzfaktoren in <strong>de</strong>r Genese <strong>und</strong> Bewältigung<br />

von Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung. In: Sexueller Missbrauch, Misshandlung,<br />

Vernachlässigung. Egle, U.T., Hoffmann, O., Joraschky, P. (Hg). Stuttgart:<br />

Schattauer 2000; 40-56 (2. Aufl ).<br />

Braun, K., Lange, E., Metzger, M., Poeggel, G.: Maternal separation followed<br />

by early social <strong>de</strong>privation affects the <strong>de</strong>velopment of monoaminergic fi ber systems<br />

in the medial prefrontal cortex of Octodon <strong>de</strong>gus. Neuroscience 95: 309-<br />

18, 2000.<br />

Caspi, A., McClay, J., Moffi tt, T.E., Mill, J., Martin, J., Craig, I.W.: Role of genotype<br />

in cycle of violence in maltreated children. Science 297: 851-54, 2002.<br />

Chrousos, G.P., Gold, P.W.: The concepts of stress and stress system disor<strong>de</strong>rs.<br />

Overview of physical and behavioral homeostasis. JAMA 267: 1244-52, 1992<br />

Cierpka, M. (2005): Ansätze zur Prävention <strong>de</strong>r Langzeitfolgen früher Stresserfahrungen.<br />

In: Egle, U.T., Hoffmann S.O., Joraschky, P. (Hrsg.) Sexueller Missbrauch,<br />

Misshandlung, Vernachlässigung. Erkennung, Therapie <strong>und</strong> Prävention<br />

<strong>de</strong>r Langzeitfolgen früher Stresserfahrungen. Schattauer, Stuttgart, 650-662.<br />

Cierpka, M., Franz, M., Egle, U.T. (2009): Primäre Prävention <strong>und</strong> Früherkennung.<br />

In Uexkülls Psychosomatische Medizin (im Druck)<br />

84


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

Deley, W.W. (1988): Physical punishment of children: Swe<strong>de</strong>n and the U.S.A. J<br />

Compar Fam Studies, 19, 419-431.<br />

Edtfeld, A.W. (1996): The Swedish Aga Ban plus fi fteen. In D. Frehsee, W. Horn &<br />

K.D. Bussmann (eds.), Family violence against children, a challenge for society<br />

(pp. 27-37). <strong>Berlin</strong>: De Gruyter.<br />

Egle, U.T., Hardt, J., Nickel, R., Kappis, B., Hoffmann, S.O. (2002): Früher<br />

Stress <strong>und</strong> Langzeitfolgen für die Ges<strong>und</strong>heit – Wissenschaftlicher Erkenntnisstand<br />

<strong>und</strong> Forschungs<strong>de</strong>si<strong>de</strong>rate 48: 411-434.<br />

Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Steffens, M. (1997): Psychosoziale Risiko- <strong>und</strong><br />

Schutzfaktoren in Kindheit <strong>und</strong> Jugend als Prädisposition für psychische Störungen<br />

im Erwachsenenalter. Nervenarzt 9-97: 683-695.<br />

Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (2005): Sexueller Missbrauch, Misshandlung,<br />

Vernachlässigung. Erkennung, Therapie <strong>und</strong> Prävention <strong>de</strong>r Langzeitfolgen<br />

früher Stresserfahrungen. Stuttgart, 3. Aufl ., Schattauer<br />

Emery, R.E., Laumann-Billings L. (1998): An overview of the nature, causes, and<br />

consequences of abusive family relationships. Toward differentiating maltreatment<br />

and violence. Am Psychol. 53(2): 121-35.<br />

Engfer, A. (2005): Formen <strong>de</strong>r Misshandlung von Kin<strong>de</strong>rn – Defi nitionen, Häufi<br />

gkeiten, Erklärungsansätze. In: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P.<br />

(Hg.) Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. Schattauer, Stuttgart, 3-<br />

19.<br />

Fearon P., Hotopf, M. (2001): Relation between headache in childhood and physical<br />

and psychiatric symptoms in adulthood: National birth cohort study. BMJ,<br />

322 (7295): 1145.<br />

Felitti, V.J., Anda, R.F., Nor<strong>de</strong>nberg, D., Williamson, D.F., Spitz, A.M, Edwards,<br />

V.: Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the<br />

leading causes of <strong>de</strong>ath in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE)<br />

Study. Am J Prev Med, 14: 245-258, 1998.<br />

Fergusson, D.M., Mullen, P.E. (1999): Childhood sexual abuse: An evi<strong>de</strong>nce based<br />

perspective. Thousand Oaks, California: Sage Publications.<br />

Franz, M. (2005): Langzeitfolgen von Trennung <strong>und</strong> Scheidung. In: Egle. U.T.,<br />

Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (Hg.) Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung.<br />

Erkennung, Therapie <strong>und</strong> Prävention <strong>de</strong>r Langzeitfolgen früher<br />

Stresserfahrungen. Schattauer, Stuttgart, 116-128<br />

Gilman, S.E., Kawachi, I., Fitzmaurice, G.M., Buka, S.L. (2003): Familiy disruption<br />

in childhood and risk of adult <strong>de</strong>pression. Am J Psychiatry 160:939-46.<br />

Hardt, J. (2003): Psychische Langzeitfolgen manifester Kindheitsbelastungen:<br />

Die Rolle von Eltern-Kind-Beziehungen. Universitätsklinikum Mainz: Unveröff.<br />

Habilitationsschrift.<br />

Hardt, J, Egle, U.T., Johnson, J.G. (2007): Suici<strong>de</strong> attempts and retrospective reports<br />

about parent-child relationships: evi<strong>de</strong>nce for the affectionless control hypothesis.<br />

GMS Psychosoc Med 4: Doc 12.<br />

85


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

Hardt, J., Sidor, A., Nickel, R., Kappis, B., Petrak, F., Egle, U.T. (2008): Childhood<br />

Adversities and Suici<strong>de</strong> Attempts: A Retrospective Study. J Fam Viol 23:<br />

713–718<br />

Heim, C., Ehlert, U. (1998): Abuse-related posttraumatic stress disor<strong>de</strong>r and alterations<br />

of the hypothalamic-pituitary-adrenal axis in women with chronic pelvic<br />

pain. Psychosom Med, 60(3): 309-18.<br />

Heim, C., Newport, D.J., Heit, S., Graham, Y.P., Wilcox, M., Bonsall, R., Miller,<br />

A.H., Nemeroff, C.B. (2000): Pituitary-adrenal and autonomic responses to stress<br />

in women after sexual and physical abuse in childhood. JAMA, 284(5): 592-7.<br />

Imbierowicz, K., Egle, U.T. (2003): Childhood adversities in patients with fi bromyalgia<br />

and somatoform pain disor<strong>de</strong>r. Eur J Pain, 7: 113-119.<br />

Jonson-Reid, M., Drake, B., Chung, S., Way, I. (2003): Cross-type recidivism<br />

among child maltreatment victims and perpetrators. Child Abuse Negl 27(8):<br />

899-917.<br />

Kendall-Tackett, K. (2002): The health effects of childhood abuse: four pathways<br />

by which abuse can infl uence health. Child Abuse Negl 26: 715-29,.<br />

Kendler, K.S., Myers, J., Prescott, C.A. (2000): Parenting and adult mood, anxiety<br />

and substance use disor<strong>de</strong>rs in female twins: an epi<strong>de</strong>miological, multi-informant,<br />

retrospective study. Psychol Med 30: 281-294,.<br />

Kendler, K.S., Neale, M.C., Kessler, R.C., Heath, A,C., Eaves, L.J. (1992):<br />

Childhood parental loss and adult psychopathology in women. A twin study<br />

perspective. Arch Gen Psychiatr 49: 109-16,<br />

Lampe, A. (2002): Prävalenz von sexuellem Missbrauch, physischer Misshandlung<br />

<strong>und</strong> emotionaler Vernachlässigung in Europa. Z Psychosom. Med. Psychother<br />

48: 370-80.<br />

Lupien, S.J., <strong>de</strong> Leon, M., <strong>de</strong> Santi, S., Convit, A., Tarshish, C., Nair, N.P., Thakur,<br />

M., McEwen, B.S., Hauger, R.L., Meaney, M.J. (1998): Cortisol levels<br />

during human aging predict hippocampal atrophy and memory <strong>de</strong>fi cits. Nat<br />

Neurosci, 1(1): 69-73.<br />

McEwen, B.S.: Stress, adaptation, and disease. Allostasis and allostatic load. Ann<br />

N Y Acad Sci 840: 33-44, 1998<br />

McEwen, B.S. (2003): Early life infl uences on life-long paterns of behavior and<br />

health. Mental Retard Developmental Disabilities Res Reviews 9, 149-154.<br />

Mickelson, K.D., Kessler, R.C., Shaver, P.R. (1997): Adult attachment in a nationally<br />

representative sample. J Personal Soc Psychol 73: 1092-1106.<br />

Nickel, R., Egle, U.T.: Coping with confl ict as a pathogenetic link between psychosocial<br />

adversities in childhood and psychic disor<strong>de</strong>rs in adulthood. Z Psychosom<br />

Med Psychother 47: 332-47, 2001<br />

Nickel, R., Egle, U.T. (2006): Psychological <strong>de</strong>fense styles, childhood adversities<br />

and psychopathology in adulthood. Child Abuse Negl. 30(2): 157-70.<br />

Palentien, C., Klocke, A., Hurrelmann, K. (1999): Armut im Kin<strong>de</strong>s- <strong>und</strong> Jugendalter.<br />

Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte 18: 33-38.<br />

86


Welche Auswirkungen können Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls haben?<br />

Perry, B.D. (2001): The neuro<strong>de</strong>velopmental impact of violence in childhood. In<br />

Schetky D, Bene<strong>de</strong>k E (eds.): Textbook of child and adolescent forensic psychiatry,<br />

pp. 221-238. Washington, D.C.<br />

Sadowski, H., Ugarte, B., Kolvin, I., Kaplan, C., Barnes, J. (1999): Early life family<br />

disadvantages and major <strong>de</strong>pression in adulthood. Br J Psychiatry 174: 112-20.<br />

Sapolsky, R.M.: Stress, glucocorticoids and damage to the nervous system: The<br />

current state of confusion. Stress 1: 1-19, 1996.<br />

Sariola, H., Uutela, A. (1992): The prevalence and context of family violence<br />

against childrren in Finland. Child Abuse Negl, 16: 823-832.<br />

Schmidt, U., Slone, G., Tiller, J., Treasure, J.: Childhood adversity and adult <strong>de</strong>fense<br />

style in eating disor<strong>de</strong>r patients – a controlled study. Br J Med Psychol 66:<br />

353-62, 1993<br />

Van <strong>de</strong>r Kolk, B.A., Fisler, R.E. (1994): Childhood abuse and neglect and loss of<br />

self-regulation. Bull Menninger Clin 58: 145-68,.<br />

Weaver, I.C., Cervoni, N., Champagne, F.A., D`Alessio, A.C., Sharma, S., Seckl,<br />

J.R., Dymov, S., Szyf, M., Meaney, M.J. (2004): Epigenetic programming by<br />

maternal behavior. Nat Neurosci 7: 847-54,.<br />

Weitoft, G.R., Hjern, A., Hagl<strong>und</strong>, B., Rosen, M. (2003): Mortality, severe morbidity,<br />

and injury in children living with single parents in Swe<strong>de</strong>n: a populationbased<br />

study. Lancet 361: 289-95,.<br />

Wetzels ,P. (1997): Gewalterfahrungen in <strong>de</strong>r Kindheit: Sexueller Missbrauch, körperliche<br />

Misshandlung <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren langfristige Konsequenzen. Nomos, Ba<strong>de</strong>n<br />

Ba<strong>de</strong>n<br />

Van Hou<strong>de</strong>nhove, B., Neerincks, E., Lyssens, R., Vertommen, H., Van Hou<strong>de</strong>nhove,<br />

L., Onghena, P., Westhovens, R., D`Hooghe, M.B. (2001): Victimization<br />

in chronic fatigue syndrome and fi bromyalgia in tertiary care: a controlled<br />

study on prevalence and characteristics. Psychosomatics 42: 21-28.<br />

87


9<br />

Wie kann das Risiko einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> fachlich<br />

f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

1. Risiko <strong>und</strong> Gefahr<br />

Wenn vom Risiko einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> die Re<strong>de</strong> ist, wird in <strong>de</strong>r Regel angenommen,<br />

dass mit einer Risikoeinschätzung das Risiko eines Kin<strong>de</strong>s bestimmt<br />

wird, Scha<strong>de</strong>n zu erlei<strong>de</strong>n. Bei genauerem Hinsehen wird aber <strong>de</strong>utlich, dass es<br />

die Professionellen sind, die in ihrer Einschätzung Risiken eingehen. Sie sollen<br />

einschätzen, welche Gefahr für ein Kind in seiner Umgebung besteht, an Körper<br />

<strong>und</strong> Seele Scha<strong>de</strong>n zu lei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> auf dieser Gr<strong>und</strong>lage entschei<strong>de</strong>n, ob das Kind<br />

<strong>und</strong> seine Familie Unterstützung brauchen. Allerdings gibt es keine Sicherheit,<br />

ob durch die Entscheidung <strong>de</strong>r Professionellen die kindliche Entwicklung frei<br />

von Gefährdungen verlaufen wird. Die Professionellen gehen mit ihren Entscheidungen<br />

also ein Risiko ein für die zukünftige Entwicklung eines Kin<strong>de</strong>s. Pointiert<br />

könnte man sagen, <strong>de</strong>r Helfer nimmt mit seiner Entscheidung einen bestimmten<br />

Grad von Gefahr für das Kind in Kauf. In dieser Beziehung ist das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

Professionellen riskant.<br />

2. Risiken <strong>de</strong>r Professionellen<br />

Das Risiko von Professionellen liegt darin, Gefahren in <strong>de</strong>r Umgebung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

zu übersehen o<strong>de</strong>r Gefahren falsch einzuschätzen. Riskant ist also, unter welchen<br />

Bedingungen die Professionellen Gefahren für das Kind wahrnehmen. Verschie<strong>de</strong>ne<br />

Risikofaktoren beeinfl ussen die Entscheidung <strong>de</strong>r Professionellen:<br />

Risikofaktor personelle Ausstattung<br />

Je geringer die personelle Ausstattung ist, <strong>de</strong>sto eher wer<strong>de</strong>n Gefahren für Kin<strong>de</strong>r<br />

unterschätzt, übersehen o<strong>de</strong>r überschätzt. Wenig Personal in Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Diensten be<strong>de</strong>utet, dass <strong>de</strong>r Einzelne sich mit vielen Fällen beschäftigen muss<br />

<strong>und</strong> damit für je<strong>de</strong>n Einzelfall nur ein geringes Zeitkontingent bleibt. Schon dieser<br />

Fakt führt dazu, dass Gefahren für das Kind falsch eingeschätzt wer<strong>de</strong>n können.<br />

Die Professionellen sind nicht in <strong>de</strong>r Lage, frühzeitig auf Familien zuzugehen, in<br />

<strong>de</strong>nen eine Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s vermutet wird. Auch besteht das Risiko, dass<br />

die Gefahren für das Kind nicht wie im Gesetz vorgeschrieben von mehreren Professionellen<br />

beurteilt wer<strong>de</strong>n. Entscheidungen wer<strong>de</strong>n allein aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r subjektiven<br />

Wahrnehmung eines Einzelnen gefällt.<br />

Risikofaktor Qualifi kation<br />

Geringe Qualifi kation <strong>de</strong>r Professionellen führt dazu, dass Kontexte von Gefährdung<br />

falsch eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Um Gefahren für das Kind zu erkennen, bedarf<br />

es genauer Kenntnisse <strong>de</strong>r kindlichen Entwicklung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Anzeichen von gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Familienstrukturen <strong>und</strong> Umweltbedingungen. Ferner brauchen Professionelle<br />

Kompetenzen in Gesprächsführung, damit sie mit <strong>de</strong>n Familien in Kontakt<br />

88


kommen können. Eine Refl exion <strong>de</strong>r eigenen Haltung zu Eltern <strong>und</strong> Kind macht<br />

die subjektive Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage transparent.<br />

Risikofaktor Druck<br />

Handlungsdruck in je<strong>de</strong>r Form birgt das Risiko, keinen ausreichen<strong>de</strong>n Kontakt zu<br />

<strong>de</strong>n Eltern zu fi n<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dadurch unangemessene Entscheidungen zu treffen. Zeitdruck<br />

verhin<strong>de</strong>rt häufi g, dass ein Dialog mit <strong>de</strong>n Eltern über die Gefahren für das<br />

Kind geführt wer<strong>de</strong>n kann. Zeitlicher Druck verhin<strong>de</strong>rt, dass die Gefahren für das<br />

Kind genau geprüft wer<strong>de</strong>n können. Häufi g ist es notwendig mit <strong>de</strong>r Familie mehrere<br />

Gespräche in verschie<strong>de</strong>nen Situationen zu führen, um die Gefährdung <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s gut einschätzen zu können. Die Wahrnehmung bloß einzelner Situationen<br />

kann dazu führen, die gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Moment zu über- o<strong>de</strong>r unterschätzen.<br />

Der mediale Druck über die Skandalisierung von Einzelfällen kann bei Professionellen<br />

die Angst erzeugen, in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit als unfähig dargestellt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Sie sind dadurch in <strong>de</strong>r Gefahr, die eigenen Sicherheitsbedürfnisse mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s zu vermischen <strong>und</strong> Gefahren zu überschätzen. Der Druck, Hilfen aus Kostengrün<strong>de</strong>n<br />

nur beschränkt einzusetzen kann umgekehrt zum Unterschätzen von<br />

Gefahren führen.<br />

Risikofaktor Ambivalenz<br />

Neben zeitlichem Druck spielt auch <strong>de</strong>r persönliche Verantwortungsdruck eine<br />

Rolle. Professionelle müssen abwägen, wieweit sie das Risiko einer möglicherweise<br />

falschen Entscheidung eingehen wollen. Als Dritte versuchen sie die Perspektive<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> die Perspektive <strong>de</strong>r Eltern einzunehmen, je nach<strong>de</strong>m mit<br />

welcher Perspektive sie sich i<strong>de</strong>ntifi zieren, wer<strong>de</strong>n sie Gefahren <strong>und</strong> Ressourcen<br />

unterschiedlich wahrnehmen <strong>und</strong> gewichten. Die Entscheidungen <strong>de</strong>r Professionellen<br />

wer<strong>de</strong>n also auch durch persönliche Einstellungen zur Gewichtung von gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Bedingungen <strong>und</strong> Ressourcen mitbestimmt.<br />

3. Gefahren für das Kind <strong>und</strong> seine Familie<br />

Indikatoren für Gefährdung können am Kind, an seiner Familie sowie an <strong>de</strong>r Lebenssituation<br />

<strong>de</strong>r Familie festgestellt wer<strong>de</strong>n. Gefahren für das Kind ergeben sich<br />

in bestimmten Kontexten. Sie bil<strong>de</strong>n sich aus einem Zusammenspiel von Merkmalen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, auf die die Eltern mit ihren Erziehungspraktiken reagieren. Die<br />

Eltern können an <strong>de</strong>r Befriedigung <strong>de</strong>r kindlichen Bedürfnisse aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r eigenen<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Lebensgeschichte, persönlicher, die realistische Wahrnehmung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s verhin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Dispositionen (z. B. Sucht o<strong>de</strong>r psychische<br />

Krankheit), familiärer Konfl ikte o<strong>de</strong>r Problemen bei <strong>de</strong>r Stressbewältigung <strong>und</strong><br />

schwieriger Lebensumstän<strong>de</strong> scheitern. Ferner spielt die Einstellung <strong>de</strong>r Eltern<br />

bezüglich <strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> bezüglich ihrer eigenen Entwicklungsfähigkeiten<br />

eine Rolle.<br />

89


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

Generell kann <strong>de</strong>r Entwicklungsstand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s Hinweise geben, welche Folgen<br />

die Handlungen o<strong>de</strong>r Unterlassungen <strong>de</strong>r Eltern beim Kind bewirkt haben. Da<br />

eine Prognose für eine künftige Gefährdung abgegeben wer<strong>de</strong>n soll, gilt es auch<br />

die Ressourcen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern abzuschätzen.<br />

Merkmale am Kind<br />

Studien1 belegen, dass Verhaltens- <strong>und</strong> Entwicklungsauffälligkeiten von Kin<strong>de</strong>rn<br />

wesentliche Indikatoren sind, die zukünftige Gefährdungen vorhersagen zu können.<br />

Dies ist insofern nicht verw<strong>und</strong>erlich, als das Verhalten eines Kin<strong>de</strong>s in engem<br />

Zusammenhang zu <strong>de</strong>n Erziehungskompetenzen <strong>und</strong> -praktiken seiner Eltern<br />

steht. Folgen<strong>de</strong> Merkmale weisen auf eine mögliche künftige Gefährdung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s hin:<br />

❍ Verhaltensauffälligkeiten<br />

❍ Bindungsstörungen<br />

❍ Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />

❍ Charakteristische Verletzungen durch aktuelle Misshandlungen<br />

Merkmale bei <strong>de</strong>n Eltern<br />

❍ Eigene Erfahrungen von Misshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

❍ Alkohol/Drogensucht eines Elternteils<br />

❍ Psychische o<strong>de</strong>r intellektuelle Beeinträchtigung eines Elternteils<br />

❍ Rigi<strong>de</strong> Erziehungspraktiken<br />

❍ Konfl ikthafte Beziehung <strong>de</strong>r Eltern (mit Gewaltausbrüchen / häusliche Gewalt)<br />

❍ Eingeschränkte Fähigkeit mit Stresssituationen umzugehen<br />

❍ Negative Erwartungen an die persönliche Entwicklung <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Familie<br />

Merkmale in <strong>de</strong>n Lebensumstän<strong>de</strong>n<br />

Neben <strong>de</strong>n persönlichen Einstellungen <strong>und</strong> Fähigkeiten bil<strong>de</strong>n auch Merkmale in<br />

<strong>de</strong>n Lebensumstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Familie Gefährdungsfaktoren:<br />

❍ Geringe materielle Ressourcen<br />

❍ Beengte Wohnverhältnisse<br />

❍ Mehrere Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Familie unter 5 Jahren<br />

❍ Wenig Kontakte zur Außenwelt (isolierte Familie)<br />

❍<br />

Geringe soziale Unterstützung<br />

1 J. Barber u.a. haben bei ihrer Untersuchung <strong>de</strong>s Vorhersagewertes von Items <strong>de</strong>s Risikofragebogens<br />

<strong>de</strong>r in Ontario verwen<strong>de</strong>t wird, festgestellt, dass Items bezogen auf Verhaltensauffälligkeiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

in Kombination mit Items für das elterliche Stressverhalten zuverlässige Werte für eine Prognose<br />

abgeben (J. Barber u.a. The reliability and predictive Validity of consensus-based Risk assessment,<br />

Centre of Exellence for Child Welfare 2007)<br />

90


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

4. Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Einschätzung<br />

Prozessorientiertes Vorgehen bei <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung<br />

Eine Gefährdungseinschätzung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls umfasst mehrere Ebenen. Zum<br />

einen geht es darum, <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Gefährdung zum gegenwärtigen Zeitpunkt anhand<br />

<strong>de</strong>r Auffälligkeiten beim Kind, seiner Äußerungen über gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Handlungen<br />

bzw. Unterlassungen <strong>de</strong>r Eltern sowie <strong>de</strong>s Verhaltens <strong>de</strong>r Eltern zu bestimmen.<br />

Zum an<strong>de</strong>ren muss geklärt wer<strong>de</strong>n, ob das Kind in seiner gegenwärtigen<br />

Umgebung vor einer zukünftigen Gefährdung seines Wohles geschützt ist. Eine<br />

Einschätzung ist immer prognostisch ausgerichtet <strong>und</strong> daher mit Unsicherheitsfaktoren<br />

belegt, sie kann nur gelingen, wenn sie prozesshaft angelegt ist. Um eine<br />

Prognose zu erstellen, müssen die gegenwärtigen Lebensbedingungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s,<br />

die aktuellen Anzeichen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ins Verhältnis gesetzt<br />

wer<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>n Ressourcen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Personen, mit <strong>de</strong>nen es zusammenlebt.<br />

Ferner muss eingeschätzt wer<strong>de</strong>n, wie kooperations- <strong>und</strong> verän<strong>de</strong>rungsbereit<br />

<strong>und</strong> –fähig die Eltern sind. Auch gilt es mit einzubeziehen, welche Ressourcen in<br />

<strong>de</strong>r Umgebung <strong>de</strong>r Familie vorhan<strong>de</strong>n sind <strong>und</strong> welche Hilfestrukturen <strong>de</strong>r Familie<br />

zur Unterstützung ihrer Entwicklung angeboten wer<strong>de</strong>n können. Letztlich geht<br />

es bei <strong>de</strong>r Einschätzung darum, herauszufi n<strong>de</strong>n, wie entwicklungsfähig das Familiensystem<br />

ist. Einige Autoren sprechen daher bei <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung<br />

auch von einer sozialpädagogischen Diagnostik. 2<br />

Das Gespräch mit <strong>de</strong>n Betroffen: Zugang fi n<strong>de</strong>n<br />

Eine Gefährdungseinschätzung bedarf eines Dialogs mit <strong>de</strong>n Betroffenen. Für eine<br />

umfassen<strong>de</strong> Einschätzung ist eine Einbeziehung von Eltern unbedingt notwendig,<br />

da nur im direkten Kontakt mit Eltern <strong>und</strong> Kind sich die von außen wahrgenommenen<br />

Anzeichen einer Gefährdung genauer erfassen lassen <strong>und</strong> auch Ressourcen<br />

zur Abwendung einer möglichen Gefährdung herausgef<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n können.<br />

Die Klärung <strong>de</strong>r Frage, ob eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> vorliegt <strong>und</strong> worin sie<br />

besteht, geschieht im Kontakt mit Eltern <strong>und</strong> Kind. Eine Einschätzung kann daher<br />

nur gelingen, wenn die Person, die die Einschätzung vornimmt, Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r<br />

als han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Subjekte wahrnimmt <strong>und</strong> sie an <strong>de</strong>r Suche nach Antworten beteiligt<br />

statt sie als Objekte einer Untersuchung zu behan<strong>de</strong>ln.<br />

2 vgl. auch:<br />

Chr. Gerber: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> – Von <strong>de</strong>r Checkliste zur persönlichen Risikoeinschätzung, Vortrag<br />

Fachkongress Hamburg 16./17.02.06<br />

www.kin<strong>de</strong>rschutz-zentren.org/pdf/vortrag_gerber-hamburg_06.pdf<br />

R. Wolff: Inwiefern können Fachkräfte <strong>de</strong>s sozialen Dienstes durch ihr Han<strong>de</strong>ln Kin<strong>de</strong>rn scha<strong>de</strong>n<br />

bzw. zur <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> beitragen?<br />

in: DJI; Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> (2007)<br />

R. Wolff: Demokratische Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit – zwischen Risiko <strong>und</strong> Gefahr<br />

Vortrag Fachtagung <strong>de</strong>s Vereins für Kommunalwissenschaften 22./23.06.06 “Kin<strong>de</strong>rschutz gemeinsam<br />

gestalten. § 8a SGB VIII – Schutzauftrag“<br />

91


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

Das direkte Gespräch mit Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn birgt aber auch das Risiko einer<br />

Fehleinschätzung, wenn es nicht gelingt, einen tragfähigen Kontakt zu Eltern bzw.<br />

Kin<strong>de</strong>rn herzustellen.<br />

Haltung zu <strong>de</strong>n Eltern<br />

Einer <strong>de</strong>r häufi gsten Grün<strong>de</strong>, warum Gespräche mit Eltern scheitern, ist die mangeln<strong>de</strong><br />

Refl exion <strong>de</strong>r Fachkraft über ihre eigene Haltung zu <strong>de</strong>n Eltern. Vor allem<br />

muss sie sich fragen, ob sie sich <strong>de</strong>r Einbeziehung <strong>de</strong>r Eltern in die Abschätzung<br />

gewachsen fühlt. Die unbewusste Einstellung zu <strong>de</strong>n Eltern spielt eine nicht zu unterschätzen<strong>de</strong><br />

Rolle im Kontakt. Eltern spüren eine ablehnen<strong>de</strong> Haltung <strong>und</strong> reagieren<br />

darauf mit eigenen offenen o<strong>de</strong>r ver<strong>de</strong>ckten Aggressionen. Eine wertschätzen<strong>de</strong><br />

Haltung, die Eltern vermittelt, dass sie als primäre Bezugspersonen eine<br />

beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung für die Kin<strong>de</strong>r haben, trägt eher zu einer gemeinsamen Klärung<br />

von Auffälligkeiten bei, als eine Haltung, die <strong>de</strong>n Eltern vermittelt, dass sie<br />

inkompetent sind. Je mehr die Eltern sich auch in ihrem Scheitern angenommen<br />

fühlen, <strong>de</strong>sto weniger müssen sie sich rechtfertigen. Eine Einbeziehung <strong>de</strong>r Eltern<br />

gelingt am besten, wenn ein echtes Interesse an <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Eltern <strong>de</strong>utlich wird<br />

<strong>und</strong> die Hilfeorientierung im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> steht. Nur durch eine solche Haltung ist<br />

es möglich, die Ressourcen <strong>de</strong>r Eltern zu ermitteln.<br />

Thematisierung <strong>de</strong>r Gefährdung<br />

Im Gespräch mit <strong>de</strong>n Eltern soll <strong>de</strong>ren Problemsicht <strong>und</strong> Mitarbeitsbereitschaft<br />

zur Abwendung einer möglichen Gefährdung in Erfahrung gebracht wer<strong>de</strong>n. Anzeichen<br />

von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> sollten <strong>de</strong>utlich aber ohne Wertung <strong>und</strong> Vorwurf<br />

formuliert wer<strong>de</strong>n. Fachkräfte scheuen sich oft ihre Beobachtungen genau<br />

zu benennen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong> ihrer Sorgen zu erklären. Dies geschieht<br />

meist aus <strong>de</strong>r Angst heraus, die Eltern könnten <strong>de</strong>n Kontakt abbrechen o<strong>de</strong>r aggressiv<br />

reagieren. Meist steckt hinter dieser Befürchtung entwe<strong>de</strong>r die eigene Unsicherheit,<br />

ob die Anzeichen selbst richtig ge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> die Eltern nicht<br />

zu unrecht konfrontiert wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die eigene Angst vor einer aggressiven Reaktion<br />

<strong>de</strong>r Eltern.<br />

Eine Thematisierung <strong>de</strong>r Anzeichen einer Gefährdung gelingt dann am ehesten,<br />

wenn die Beobachtungen sachlich <strong>und</strong> klar benannt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> die Haltung <strong>de</strong>r<br />

Eltern dazu erfragt wird. Die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Einschätzung <strong>de</strong>r Fachkräfte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>und</strong> Einschätzung <strong>de</strong>r Eltern<br />

wer<strong>de</strong>n herausgearbeitet, ohne die Eltern wegen Verleugnung o<strong>de</strong>r Bagatellisierung<br />

zu verurteilen. Verleugnungen <strong>und</strong> Bagatellisierungen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

durch Eltern sind Versuche, Scham- <strong>und</strong> Schuldgefühle zu verstecken.<br />

Leitfä<strong>de</strong>n zur Gefährdungseinschätzung<br />

Auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r Defi nition kindlicher Bedürfnisse <strong>und</strong> familiärer Risikofaktoren<br />

wur<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Leitfä<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Checklisten zur Abschätzung <strong>de</strong>s<br />

92


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

Gefährdungsrisikos entwickelt. Diese Listen sollen dazu dienen, die Einschätzung<br />

<strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos zu objektivieren. Alle Listen sind mehrdimensional angelegt.<br />

Sie berücksichtigen die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, die Wahrnehmung <strong>de</strong>r<br />

kindlichen Bedürfnisse durch die Eltern, die Eltern-Kind-Beziehung, die persönliche<br />

Entwicklung <strong>und</strong> <strong>de</strong>n momentanen Stand <strong>de</strong>r Beziehung <strong>de</strong>r Eltern sowie<br />

ihre psychische Disposition <strong>und</strong> konkrete Handlungsfähigkeit. Ferner wird die<br />

Kooperationsbereitschaft <strong>und</strong> -fähigkeit <strong>de</strong>r Eltern sowie ihre Verän<strong>de</strong>rungsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> -fähigkeit abgefragt. Einige Checklisten sind bezüglich <strong>de</strong>r Einschätzung<br />

<strong>de</strong>r Befriedigung <strong>de</strong>r kindlichen Bedürfnisse allgemein gehalten, <strong>und</strong> überlassen<br />

es damit <strong>de</strong>r Person, die <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung einschätzt,<br />

eine eigene Bewertungsskala anzulegen (z. B. Bewertungsbogen <strong>de</strong>r Stadt Recklinghausen,<br />

Prüfbögen <strong>de</strong>s Deutschen Jugend Instituts), an<strong>de</strong>re Checklisten sind<br />

differenziert nach Altersstufen aufgebaut. Sie geben anhand eines Orientierungskatalogs<br />

Situationsbeschreibungen für <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Erfüllung <strong>de</strong>r kindlichen Bedürfnisse,<br />

abgestimmt auf die Altersstufen, die die Bewertung <strong>de</strong>r konkreten Gefährdung<br />

erleichtern sollen (z. B. Stuttgarter Kin<strong>de</strong>rschutzbogen).<br />

Hilfreich an <strong>de</strong>n Checklisten ist, dass sie eine Orientierung bieten, welche Aspekte<br />

<strong>de</strong>r kindlichen Entwicklung, <strong>de</strong>r Interaktion <strong>de</strong>r Eltern mit <strong>de</strong>m Kind <strong>und</strong> <strong>de</strong>r familialen<br />

Risikofaktoren bei <strong>de</strong>r Einschätzung berücksichtigt wer<strong>de</strong>n müssen. Beson<strong>de</strong>rs<br />

bei Problemlagen, in <strong>de</strong>nen die Hinweise auf eine Gefährdung eher diffus<br />

sind, kann mit Hilfe <strong>de</strong>r Checklisten ein genaues Bild <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern erstellt wer<strong>de</strong>n. Allerdings führt ein bloßes Abfragen <strong>de</strong>r Bereiche<br />

noch nicht zu einer differenzierten Gefährdungseinschätzung. Es wird lediglich<br />

vermie<strong>de</strong>n, dass aufgr<strong>und</strong> einer starken subjektiven Betroffenheit die Gefährdung<br />

zu hoch eingeschätzt wird o<strong>de</strong>r gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Faktoren ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. In<br />

je<strong>de</strong>m individuellen Fall muss nach <strong>de</strong>r Abfrage <strong>de</strong>r Einstellungen <strong>und</strong> Lebensumstän<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Familie eine subjektive Bewertung <strong>de</strong>r Ergebnisse <strong>und</strong> eine Abschätzung<br />

<strong>de</strong>r Ressourcen <strong>de</strong>r Betroffenen erfolgen. Manche Checklisten, die ein<br />

Bewertungsschema für <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Befriedigung <strong>de</strong>r Bedürfnisse angeben, suggerieren,<br />

dass die Gefährdung mathematisch berechnet wer<strong>de</strong>n kann. Dabei wird<br />

vernachlässigt, dass die Qualität <strong>de</strong>r Gefährdung eingeschätzt wer<strong>de</strong>n muss. Eine<br />

einmalige schwere Verletzung eines kleinen Kin<strong>de</strong>s bei sonst guter Befriedigung<br />

<strong>de</strong>r kindlichen Bedürfnisse kann unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n die gleiche zukünftige<br />

Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohles darstellen wie die Vernachlässigung eines<br />

Kleinkin<strong>de</strong>s in allen Bereichen <strong>de</strong>r Versorgung. Im ersten Fall kann die persönliche<br />

Unfähigkeit <strong>de</strong>r Bezugsperson, die das Kind verletzt hat, mit Stress umzugehen<br />

alle an<strong>de</strong>ren positiven Faktoren aufwiegen.<br />

Checklisten verführen dazu, Fakten abzufragen, ohne in einen Dialog mit <strong>de</strong>n beteiligten<br />

Personen zu treten. Durch Bewertungsskalen wird eine Objektivität unterstellt,<br />

die nicht gegeben ist. Je<strong>de</strong> Situation, in <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> eingeschätzt<br />

wer<strong>de</strong>n muss, ist von subjektiven Faktoren geprägt. Beim Erheben von<br />

Daten spielt sowohl <strong>de</strong>r Kontakt zu <strong>de</strong>n Bezugspersonen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s eine Rolle als<br />

93


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

auch die Einstellung <strong>de</strong>r die Daten erheben<strong>de</strong>n Person zur Familie. Ohne die Refl<br />

exion dieser eigenen Einstellung entsteht ein pseudo-objektives Bild.<br />

5. Aufgaben <strong>de</strong>r Professionellen in <strong>de</strong>n jeweiligen Tätigkeitsfel<strong>de</strong>rn<br />

Je nach Aufgabe <strong>de</strong>s Trägers <strong>und</strong> seinem daraus sich ergeben<strong>de</strong>n Kontakt zu Eltern<br />

<strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn gestaltet sich die Möglichkeit einer differenzierten Einschätzung<br />

<strong>de</strong>r Gefährdung unterschiedlich. Erzieherinnen in einer Kin<strong>de</strong>rtagesstätte, die das<br />

Kind regelmäßig sehen <strong>und</strong> auch Kontakt zu <strong>de</strong>n Eltern haben, können aus <strong>de</strong>n<br />

Informationen, die sie durch <strong>de</strong>n täglichen Umgang mit Eltern <strong>und</strong> Kind gewinnen,<br />

leichter eine Einschätzung gewinnen als Betreuer in einem Jugendfreizeitheim,<br />

in das das Kind nur gelegentlich kommt. Die präziseste Einschätzung <strong>de</strong>r<br />

Gefährdung kann <strong>de</strong>rjenige machen, <strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> Kind auch in ihrer häuslichen<br />

Umgebung im Umgang miteinan<strong>de</strong>r erlebt. Vor allem Institutionen, die keinen intensiven<br />

Kontakt zur Familie haben, müssen sich bewusst machen, auf welcher<br />

Gr<strong>und</strong>lage ihre Einschätzung <strong>de</strong>r Gefährdung beruht.<br />

Eine umfassen<strong>de</strong> Einschätzung erfor<strong>de</strong>rt einen Blick auf Eltern <strong>und</strong> Kind aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

Perspektiven. Wichtig ist daher, dass je<strong>de</strong> Einrichtung sich ihre Möglichkeiten<br />

für die Einschätzung <strong>und</strong> die daraus folgen<strong>de</strong>n Unsicherheiten klar macht.<br />

Bei <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Schritten <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung gilt es nach je<strong>de</strong>m<br />

Schritt zu prüfen, ob die Handlungsmöglichkeiten <strong>de</strong>r Einrichtung, die Hinweise<br />

auf eine Gefährdung festgestellt hat, ausgeschöpft sind <strong>und</strong> sie zur weiteren Einschätzung<br />

an<strong>de</strong>re Einrichtungen <strong>de</strong>r Jugendhilfe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heitswesens einbeziehen<br />

muss.<br />

Gewichtige Anhaltspunkte wahrnehmen<br />

Der Begriff gewichtige Anhaltspunkte ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Wann<br />

in Einrichtungen Anhaltspunkte im Erscheinungsbild <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, in seinen Äußerungen<br />

o<strong>de</strong>r in seinem Verhalten als gewichtig eingeschätzt wer<strong>de</strong>n, hängt ab von<br />

<strong>de</strong>r subjektiven Wahrnehmung <strong>de</strong>r Betreuungspersonen, ihrer fachlichen Qualifi -<br />

kation in Bezug auf Kin<strong>de</strong>rschutz <strong>und</strong> vom Kontext, in <strong>de</strong>m das Kind betreut wird.<br />

Eine Betreuungsperson, die selbst als Kind Gewalt o<strong>de</strong>r Vernachlässigung erlebt<br />

hat, reagiert gegebenenfalls sensibler o<strong>de</strong>r auch zögerlicher auf Anzeichen als Personen,<br />

die solche Erfahrungen nicht gemacht haben. Auch können in Wohngebieten,<br />

in <strong>de</strong>nen viele <strong>de</strong>klassierte Familien leben, an<strong>de</strong>re Normen für Gefährdung<br />

ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n als in gut situierten Wohnvierteln. Ein weiterer Faktor ist die<br />

Dichte <strong>de</strong>r Betreuung. Wenn das Kind eine Einrichtung regelmäßig besucht, wer<strong>de</strong>n<br />

Verän<strong>de</strong>rungen im Verhalten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Eltern an<strong>de</strong>rs beachtet als<br />

bei einem gelegentlichen Zusammentreffen mit <strong>de</strong>m Kind.<br />

Der Gesetzgeber überlässt <strong>de</strong>n Einrichtungen die Verantwortung, wann sie tätig<br />

wer<strong>de</strong>n wollen. Dies führt häufi g zu Unsicherheiten, wann Anhaltspunkte gewichtig<br />

genug sind. Ein frühzeitiges Wahrnehmen von Anhaltspunkten für eine<br />

94


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

Gefährdung erhöht die Chance, mit Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn in einen produktiven<br />

Dialog eintreten zu können. Wann eine Einrichtung tätig wird, hängt in hohem<br />

Maße von ihrer Haltung <strong>und</strong> ihrem Kontakt zu <strong>de</strong>n Eltern ab. In einer Kin<strong>de</strong>rtagesstätte,<br />

in <strong>de</strong>r regelmäßig Entwicklungsgespräche über das Kind stattfi n<strong>de</strong>n,<br />

wer<strong>de</strong>n Anhaltspunkte für Gefährdungen meist frühzeitig thematisiert. In Einrichtungen,<br />

die ein Kind nur sporadisch sehen <strong>und</strong> zu <strong>de</strong>n Eltern keinen Kontakt haben,<br />

wer<strong>de</strong>n wahrscheinlich nur sehr <strong>de</strong>utliche Anhaltspunkte für Gefährdungen<br />

auffallen.<br />

Einschätzung <strong>de</strong>s Gra<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Gewährleistung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls<br />

Zur Objektivierung dieser aus <strong>de</strong>r subjektiven Anschauung gewonnenen Anhaltspunkte<br />

soll die weitere Einschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos im Zusammenwirken<br />

mehrerer Fachkräfte (4 Augen Prinzip) o<strong>de</strong>r bei Trägern <strong>de</strong>r freien Jugendhilfe<br />

unter Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft stattfi n<strong>de</strong>n. Die Abschätzung<br />

<strong>de</strong>r Gefährdung bezieht sich zum einen auf das Ausmaß <strong>de</strong>r gegenwärtigen<br />

Schädigung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, positiv formuliert auf <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Gewährleistung <strong>de</strong>r<br />

Befriedigung <strong>de</strong>r Bedürfnisse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> seines daraus resultieren<strong>de</strong>n Entwicklungsstan<strong>de</strong>s,<br />

zum an<strong>de</strong>ren auf die Ressourcen von Eltern <strong>und</strong> Kind zur Abwendung<br />

zukünftiger Gefährdung. Für eine Einschätzung <strong>de</strong>r Gefährdung muss<br />

soweit wie möglich die gesamte Lebenssituation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s betrachtet wer<strong>de</strong>n,<br />

was wie<strong>de</strong>rum die Einbeziehung von Kind <strong>und</strong> Eltern erfor<strong>de</strong>rlich macht.<br />

Ausmaß <strong>de</strong>r Schädigung<br />

Zur Feststellung <strong>de</strong>s Ausmaßes <strong>de</strong>r Schädigung wird die Schwere <strong>de</strong>r Schädigung<br />

(welche Art von Verletzung o<strong>de</strong>r Beeinträchtigung weist das Kind auf) <strong>und</strong> ihre<br />

Dauer (Häufi gkeit von Verletzungen über einen Zeitraum) bestimmt. Für diese<br />

Einschätzung müssen häufi g an<strong>de</strong>re Fachkräfte wie Ärzte o<strong>de</strong>r Psychologen einbezogen<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Auf dieser Stufe <strong>de</strong>r Einschätzung wer<strong>de</strong>n die erwähnten spezifi schen Beobachtungs-<br />

<strong>und</strong> Einschätzungsinstrumente herangezogen (Checklisten), die durch die<br />

Defi nition von Gefährdungsindikatoren eine größere Verlässlichkeit von individuellen<br />

Einschätzungen schaffen. Die Instrumente sind mehrdimensional aufgebaut,<br />

so dass neben weiteren gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Aspekten auch Ressourcen erfasst wer<strong>de</strong>n.<br />

Wenn das Kind selbst über gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Handlungen o<strong>de</strong>r Unterlassungen seiner<br />

Bezugspersonen berichtet, muss als erstes eingeschätzt wer<strong>de</strong>n, ob eine akute Gefährdung<br />

vorliegt, die eine sofortige Benachrichtigung <strong>de</strong>s Jugendamtes erfor<strong>de</strong>rlich<br />

macht. Bei Berichten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ist es wichtig, <strong>de</strong>n Kontext zu berücksichtigen,<br />

in <strong>de</strong>m das Kind erzählt. Ein<strong>de</strong>utige Hinweise auf akute Gefährdung ergeben<br />

sich aus spontanen Berichten von Kin<strong>de</strong>rn, die nicht im Zusammenhang mit<br />

Gruppengesprächen über unangemessene elterliche Erziehungsmetho<strong>de</strong>n stehen.<br />

Die emotionale Beteiligung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s an <strong>de</strong>r Erzählung kann als Indikator für<br />

die akute Gefährdung gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

95


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

Einschätzung <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung<br />

Für eine Prognose über die zukünftige Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ist die Qualität <strong>de</strong>r<br />

Eltern-Kind-Beziehung maßgeblich. Die Interaktion kann zum einen beobachtet<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Einrichtung zusammentreffen, zum an<strong>de</strong>ren<br />

wird sie aus Berichten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich. Eingeschätzt wer<strong>de</strong>n soll die Art<br />

<strong>und</strong> die Qualität <strong>de</strong>s Kontaktes zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind: Vor welche Aufgaben<br />

stellt dieses Kind seine Eltern? Wieweit beachten die Eltern die Bedürfnisse ihres<br />

Kin<strong>de</strong>s, wie weit verfügen sie über Feinfühligkeit <strong>und</strong> Empathiefähigkeit? Wie<br />

sind sie ihrem Kind gegenüber eingestellt, gibt es eine eher feindselige Einstellung,<br />

wie nehmen sie ihr Kind wahr? Im Kontakt mit <strong>de</strong>n Eltern kann herausgef<strong>und</strong>en<br />

wer<strong>de</strong>n, wie sie selbst ihr Kind wahrnehmen <strong>und</strong> welche Einstellung sie<br />

zu ihrem Kind haben.<br />

Einschätzung <strong>de</strong>r Kooperationsbereitschaft <strong>und</strong> -fähigkeit <strong>de</strong>r Eltern<br />

Die Kooperationsbereitschaft <strong>de</strong>r Eltern bemisst sich am Grad <strong>de</strong>r Problemakzeptanz,<br />

<strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>r Problemkongruenz sowie <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>r Hilfeakzeptanz.<br />

Mit <strong>de</strong>r Teilnahme am Gespräch zeigen die Eltern ihre prinzipielle Bereitschaft<br />

zur Zusammenarbeit. Ob mit ihnen eine produktive Zusammenarbeit erreicht<br />

wer<strong>de</strong>n kann, hängt davon ab, wie weit eine Übereinstimmung <strong>de</strong>r Problemsicht<br />

erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Im Elterngespräch muss eruiert wer<strong>de</strong>n, wie sie die Anhaltspunkte<br />

für Gefährdung wahrnehmen. Akzeptieren sie, dass bei ihrem Kind<br />

Anzeichen einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> vorliegen? Welche Anzeichen sehen<br />

sie selbst? Wie bewerten die Eltern die Anzeichen? Welche Erklärung haben sie<br />

für die Anzeichen? Mit diesen Fragen kann herausgef<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n, ob die Eltern<br />

eine ähnliche Sicht <strong>de</strong>r Problemlage haben wie die Einrichtung. Als nächstes<br />

gilt es herauszufi n<strong>de</strong>n, wie die Eltern ihre eigene Beteiligung an <strong>de</strong>r Gefährdung<br />

einschätzen. Sehen sie sich als Eltern in <strong>de</strong>r Verantwortung, ihre Kin<strong>de</strong>r zu schützen<br />

o<strong>de</strong>r haben sie <strong>de</strong>n Eindruck, auf die Gefährdung keinen Einfl uss zu haben?<br />

Im nächsten Schritt gilt es zu klären, ob die Eltern sich in <strong>de</strong>r Lage sehen, selbst<br />

etwas zu unternehmen, um die Gefährdung abzuwen<strong>de</strong>n. Welche eigenen I<strong>de</strong>en<br />

haben sie? Wie ist ihre Bereitschaft, externe Hilfe anzunehmen, was befürchten<br />

sie?<br />

Auch wenn Eltern die Bereitschaft zur Kooperation signalisieren, zeigt sich im<br />

Gespräch manchmal, dass sie zu einer echten Kooperation nicht fähig sind. Vor<br />

allem wenn Eltern von psychischen Krankheiten betroffen sind o<strong>de</strong>r exzessives<br />

Suchtverhalten zeigen, ist eine Kooperation schwer möglich, da diese Eltern Vereinbarungen<br />

nur eingeschränkt einhalten können.<br />

Einschätzung <strong>de</strong>r Ressourcen von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn<br />

Die Ressourcen von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn geben Auskunft darüber, welche Entwicklungsmöglichkeiten<br />

in <strong>de</strong>r Familie vorhan<strong>de</strong>n sind. Als Ressourcen gelten die<br />

persönlichen Fähigkeiten <strong>de</strong>r Bezugspersonen wie intellektuelle Leistungsfähig-<br />

96


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

keit, Refl ektionsfähigkeit <strong>und</strong> Strukturiertheit sowie die materiellen Ressourcen<br />

einer angemessenen Wohnung <strong>und</strong> fi nanzieller Mittel zur Bestreitung <strong>de</strong>s Lebensunterhalts.<br />

Ferner wer<strong>de</strong>n die sozialen Bezüge <strong>de</strong>r Familie wie Kontakte zu Fre<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Verwandten als Ressourcen gesehen wie auch infrastrukturelle Gegebenheiten,<br />

die sich auf die Unterstützungsangebote im unmittelbaren Umfeld <strong>de</strong>r Familie<br />

beziehen. Die Ressourcen, über die das Kind verfügt, sind abhängig vom<br />

Alter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> seinem Entwicklungsstand sowie seiner Fähigkeit, Kontakt<br />

zu Bezugspersonen außerhalb <strong>de</strong>r Familie herzustellen.<br />

Vereinbarung zur Abwendung <strong>de</strong>r Gefährdung – Vermittlung von Hilfen<br />

Wenn mit Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn eine Verständigung zur Gefährdungslage erfolgt ist,<br />

müssen Verabredungen über die nächsten Schritte zur Abwendung <strong>de</strong>r Gefährdung<br />

getroffen wer<strong>de</strong>n. Dazu ist es notwendig, dass die Einrichtung mit <strong>de</strong>n Eltern<br />

Hilfen fi n<strong>de</strong>t, die eine künftige Gefährdung verhin<strong>de</strong>rn. Diese Hilfen können<br />

je nach Gefährdung einfache Handlungsanweisungen sein (z. B. die Vereinbarung,<br />

dass die Eltern das Kind künftig nicht mehr allein zum Spielplatz schicken) o<strong>de</strong>r<br />

Aufträge (z. B. das Kind einem Arzt vorzustellen). Es kann aber auch eine Vereinbarung<br />

über regelmäßige Entwicklungsgespräche o<strong>de</strong>r die Anmeldung bei einer<br />

Beratungsstelle sein. Bei <strong>de</strong>n Verabredungen zur Abwendung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos<br />

muss darauf geachtet wer<strong>de</strong>n, dass sie von <strong>de</strong>n Eltern verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,<br />

dass sie von ihnen umgesetzt wer<strong>de</strong>n können, dass sie in einem begrenzten Zeitraum<br />

stattfi n<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dass ihr Erfolg überprüft wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Hilfe mit Kontrolle<br />

Mit <strong>de</strong>n Eltern ist auszuhan<strong>de</strong>ln, wie die Einrichtung sich davon überzeugen kann,<br />

dass die Vereinbarungen eingehalten wur<strong>de</strong>n. Der Erfolg <strong>de</strong>r Vereinbarung wird<br />

an Indikatoren überprüft, die gemeinsam mit <strong>de</strong>n Betroffenen entwickelt wer<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r Regel beziehen sich die Indikatoren auf Verhalten von Eltern, das sich in<br />

<strong>de</strong>r Einrichtung am Verhalten o<strong>de</strong>r Erscheinungsbild <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s spiegelt. Zum<br />

Beispiel kann eine Kita mit Eltern aushan<strong>de</strong>ln, dass sie auf die körperliche Pfl ege<br />

ihres Kin<strong>de</strong>s achten, was am Erscheinungsbild <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s überprüft wer<strong>de</strong>n<br />

kann.<br />

Bei Vereinbarungen über das Hinzuziehen eines an<strong>de</strong>ren Dienstes (z. B. eines Arztes<br />

o<strong>de</strong>r einer Beratungsstelle) wäre abzusprechen, wie die überweisen<strong>de</strong> Einrichtung<br />

eine Rückmeldung darüber erhält, dass die Eltern <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Dienst aufgesucht<br />

haben. Diese Kontrolle <strong>de</strong>r Einhaltung <strong>de</strong>r Vereinbarung muss immer mit <strong>de</strong>n Eltern<br />

ausgehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, da direktes Nachfragen bei <strong>de</strong>m hinzugezogenen Dienst<br />

ohne Schweigepfl ichtentbindung datenschutzrechtlich nicht zulässig ist. Ein solches<br />

Vorgehen wür<strong>de</strong> auch das Vertrauensverhältnis zu <strong>de</strong>n Eltern schwer belasten.<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Überprüfung <strong>de</strong>r Einhaltung getroffener Vereinbarungen erfolgt<br />

gleichzeitig eine abschließen<strong>de</strong> Einschätzung über noch bestehen<strong>de</strong> Risiken einer<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>.<br />

97


Wie kann das Risiko fachlich f<strong>und</strong>iert eingeschätzt wer<strong>de</strong>n?<br />

6. Rolle <strong>und</strong> Verantwortung <strong>de</strong>r hinzuzuziehen<strong>de</strong>n insoweit erfahrenen<br />

Fachkraft<br />

Der Gesetzgeber schreibt das Hinzuziehen einer im Kin<strong>de</strong>rschutz erfahrenen<br />

Fachkraft bei <strong>de</strong>r Abschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos für freie Träger zwingend<br />

vor. Die Fachkraft soll die Einrichtungen von <strong>de</strong>r Bewertung <strong>de</strong>r gewichtigen Anhaltspunkte<br />

an auf <strong>de</strong>n weiteren Schritten <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos<br />

begleiten. Diese Unterstützung sichert <strong>de</strong>n Einrichtungen die Qualität ihrer<br />

Einschätzung.<br />

Die Aufgaben <strong>de</strong>r hinzuzuziehen<strong>de</strong>n Fachkraft sind:<br />

❍ Unterstützung <strong>de</strong>r Einrichtung bei <strong>de</strong>r Bewertung <strong>de</strong>r gewichtigen Anhaltspunkte<br />

❍ Begleitung <strong>de</strong>r Einrichtung bei <strong>de</strong>r Einbeziehung von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn in<br />

die Risikoeinschätzung<br />

❍ Unterstützung <strong>de</strong>r Einrichtung bei <strong>de</strong>r Entwicklung von Vereinbarungen mit<br />

<strong>de</strong>n Eltern zur Abwendung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos<br />

Die hinzuzuziehen<strong>de</strong> insoweit erfahrene Fachkraft kann helfen, von Verstrickungen<br />

mit Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn frei zu wer<strong>de</strong>n. Als im Kin<strong>de</strong>rschutz erfahrene<br />

Kraft kann sie die Einrichtung im weiteren Prozess <strong>de</strong>r Risikoeinschätzung begleiten.<br />

Sie gibt Hinweise bei Schwierigkeiten in <strong>de</strong>r Einbeziehung von Eltern, zur<br />

Gesprächsführung <strong>und</strong> überlegt mit <strong>de</strong>r Einrichtung im weiteren Verlauf, welche<br />

Vereinbarungen zur Beseitigung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos mit <strong>de</strong>n Eltern geschlossen<br />

wer<strong>de</strong>n können.<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Prozesshaftigkeit <strong>de</strong>r Risikoeinschätzung ist die Hinzuziehung <strong>de</strong>r<br />

insoweit erfahrenen Fachkraft kein einmaliges Ereignis, sie kann im Verlauf <strong>de</strong>r<br />

Einschätzung immer wie<strong>de</strong>r zu Rate gezogen wer<strong>de</strong>n. Bei schwierigen Konstellationen<br />

mit hohen Risikofaktoren bei Eltern o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rn (z. B. psychische Krankheit<br />

<strong>de</strong>r Eltern) kann es notwendig sein, unterschiedliche insoweit erfahrene Fachkräfte<br />

zu konsultieren.<br />

Verantwortung <strong>de</strong>r hinzuzuziehen<strong>de</strong>n Fachkraft<br />

Die hinzuzuziehen<strong>de</strong> Fachkraft ist stets nur beratend tätig <strong>und</strong> wird nicht selbst<br />

aktiv in <strong>de</strong>n Klärungsprozess einbezogen, um beispielsweise mit Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn<br />

zu sprechen. Dies be<strong>de</strong>utet, dass die Verantwortung für die einzelnen Schritte<br />

im Prozess <strong>de</strong>r Risikoeinschätzung bei <strong>de</strong>r Einrichtung verbleibt. Die hinzuzuziehen<strong>de</strong><br />

Fachkraft ist allerdings dafür verantwortlich, dass die Einschätzung auf <strong>de</strong>r<br />

Gr<strong>und</strong>lage objektiver Kriterien erfolgt. Sie ist die Hüterin <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>s Einschätzungsprozesses.<br />

98


100


<strong>Helfen</strong><br />

101


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

10<br />

Bevor bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> eine Institution ins Spiel kommt, besteht ein Verdacht.<br />

Ein Kind erzählt seiner Lehrerin von Übergriffen, eine Erzieherin bemerkt<br />

blaue Flecken, ein Nachbar hört wie<strong>de</strong>rholt jämmerliches Kin<strong>de</strong>rgeschrei, eine<br />

Großmutter hat Anhaltspunkte, dass ihr Enkel nicht gut versorgt wird. An wen kann<br />

man sich wen<strong>de</strong>n? Welche Institution hat welche Aufgaben <strong>und</strong> wie kooperieren<br />

die Institutionen untereinan<strong>de</strong>r? Hier ein Überblick über die wichtigsten Dienste:<br />

Das Jugendamt<br />

Die vielfältigen Aufgaben <strong>de</strong>s Jugendamtes wer<strong>de</strong>n vom Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfegesetz<br />

(KJHG / SGB VIII) <strong>de</strong>fi niert (s. auch Kapitel 13) 1 . Allgemeine Aufgabe<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe ist es, Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche „vor Gefahren für ihr<br />

Wohl zu schützen.“ (§1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII) <strong>und</strong> Hilfen anzubieten (z. B. Einzelfall-<br />

o<strong>de</strong>r Familienhilfe). Je<strong>de</strong>r kann sich an das Jugendamt wen<strong>de</strong>n. Fachkräfte<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfeeinrichtungen sind nach § 8a SGB VIII ausdrücklich verpfl ichtet,<br />

das Jugendamt einzuschalten, falls ihre Hilfen nicht ausreichen o<strong>de</strong>r nicht angenommen<br />

wer<strong>de</strong>n. Hinweisen über eine drohen<strong>de</strong> <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> müssen<br />

die Sozialarbeiter <strong>de</strong>s Jugendamts nachgehen. Dabei müssen sie sich weitere Informationen<br />

zur Klärung eines Verdachts beschaffen. Bestätigt sich <strong>de</strong>r Verdacht,<br />

müssen sie prüfen, welche Hilfen geeignet sind <strong>und</strong> ob das Kind durch Hilfen für<br />

die Familie (Erziehungsberatung, Familienhilfe …) geschützt wer<strong>de</strong>n kann, o<strong>de</strong>r<br />

ob das Kind von <strong>de</strong>r Familie getrennt wer<strong>de</strong>n muss. Besteht eine dringen<strong>de</strong> Gefahr,<br />

kann das Jugendamt ein Kind o<strong>de</strong>r einen Jugendlichen in Obhut nehmen<br />

(§ 8a, § 42 SGB VIII). Soweit zur Abwendung einer Gefährdung die Einschaltung<br />

an<strong>de</strong>rer Stellen notwendig ist, kann das Jugendamt diese hinzuziehen (z. B.<br />

die Polizei, <strong>de</strong>n Sozialpsychiatrischen Dienst). Das Jugendamt hat, sofern es sich<br />

nicht um Kapitalverbrechen nach § 138 StGB han<strong>de</strong>lt, keine Verpfl ichtung zur polizeilichen<br />

Anzeige.<br />

Im Fall einer Inobhutnahme hat <strong>de</strong>r Sozialarbeiter <strong>de</strong>s Jugendamts die Personensorge-<br />

o<strong>de</strong>r Erziehungsberechtigten unverzüglich von <strong>de</strong>r Inobhutnahme zu unterrichten<br />

<strong>und</strong> mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Wi<strong>de</strong>rsprechen die<br />

Personensorge- o<strong>de</strong>r Erziehungsberechtigten <strong>de</strong>r Inobhutnahme, so hat das Jugendamt<br />

unverzüglich<br />

1.<br />

das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jugendlichen <strong>de</strong>n Personensorge- o<strong>de</strong>r Erziehungsberechtigten<br />

zu übergeben, sofern nach <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>de</strong>s Jugendamts eine Gefährdung<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls nicht besteht o<strong>de</strong>r die Personensorge- o<strong>de</strong>r Erziehungsberechtigten<br />

bereit <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Lage sind, die Gefährdung abzuwen<strong>de</strong>n<br />

1 R. Wiesner (Hg.): SGB VIII – Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendhilfe, Beck Verlag, München 2006<br />

J. Mün<strong>de</strong>r u.a.: Frankfurter Lehr- <strong>und</strong> Praxiskommentar zum SGB VIII. Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, 5.<br />

Aufl age, Votum Verlag, Münster 2006<br />

102


2.<br />

o<strong>de</strong>r<br />

eine Entscheidung <strong>de</strong>s Familiengerichts über die erfor<strong>de</strong>rlichen Maßnahmen<br />

zum Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Jugendlichen herbeizuführen.<br />

Die Inobhutnahme en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r Übergabe <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen an die<br />

Personensorge- o<strong>de</strong>r Erziehungsberechtigten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Entscheidung über die Gewährung<br />

von Hilfen nach <strong>de</strong>m Sozialgesetzbuch.<br />

Solange die Sozialarbeiter im Jugendamt von einer ausreichen<strong>de</strong>n Kooperation<br />

<strong>de</strong>r Eltern bei <strong>de</strong>r Gefahrenabwehr für ein Kind ausgehen können, sind sie nicht<br />

auf die Unterstützung durch ein Familiengericht angewiesen. Sind die Eltern aber<br />

nicht willens o<strong>de</strong>r nicht in <strong>de</strong>r Lage Hilfen anzunehmen, so müssen die Sozialarbeiter<br />

das Familiengericht anrufen.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsamt – Öffentlicher Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienst<br />

Eine wesentliche Aufgabe <strong>de</strong>r öffentlichen Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienste<br />

besteht darin, ges<strong>und</strong>heitliche Interessen von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen zu vertreten,<br />

insbeson<strong>de</strong>re entwicklungsauffällige o<strong>de</strong>r von Beeinträchtigungen bedrohte<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche zu betreuen <strong>und</strong> zu för<strong>de</strong>rn.<br />

Fachkräfte <strong>de</strong>s öffentlichen Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienstes kommen häufi<br />

g sehr früh mit Familien nach <strong>de</strong>r Geburt eines Kin<strong>de</strong>s in Kontakt <strong>und</strong> können<br />

sowohl Unterstützung anbieten als auch verschie<strong>de</strong>ne Belastungsfaktoren bis hin<br />

zur Gefährdung von Kin<strong>de</strong>rn erkennen.<br />

Auch im Rahmen <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heitsför<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitserziehung in <strong>de</strong>n<br />

öffentlichen Betreuungs- <strong>und</strong> Bildungseinrichtungen besteht für <strong>de</strong>n öffentlichen<br />

Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienst die Möglichkeit, durch Beratung <strong>und</strong> Kooperation<br />

mit an<strong>de</strong>ren Diensten, Kliniken, Sozialpädiatrischen Zentren, nie<strong>de</strong>rgelassenen<br />

Ärzten <strong>und</strong> Therapeuten Einfl uss auf eine för<strong>de</strong>rliche Entwicklung von<br />

Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendliche zu nehmen.<br />

Der öffentliche Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienst ist für Eltern, Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong><br />

Jugendliche sowie für Fachkräfte aus <strong>de</strong>m Bereich Jugend, <strong>de</strong>s Sozial-, Erziehungs-<br />

<strong>und</strong> Bildungswesens zugänglich <strong>und</strong> insofern ein wichtiger Kooperationspartner<br />

in Fällen von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>.<br />

Das Familiengericht<br />

Das Gr<strong>und</strong>gesetz garantiert Eltern in Fragen von Pfl ege <strong>und</strong> Erziehung ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

einen Vorrang gegenüber <strong>de</strong>m Staat (Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Allerdings<br />

ist <strong>de</strong>r Staat zur Abwehr von Gefährdungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls zum Eingriff in die<br />

elterliche Sorge berechtigt (Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 GG, „staatliches Wächteramt“).<br />

Nach § 1666 BGB kann nur das Familiengericht in die elterliche Sorge eingreifen,<br />

<strong>und</strong> zwar dann, wenn das Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durch elterliches Erziehungs-<br />

103


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

versagen gefähr<strong>de</strong>t ist <strong>und</strong> die Eltern nicht bereit o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Lage sind, die Gefahr<br />

abzuwen<strong>de</strong>n. Konkrete Maßnahmen sieht das Gesetz nicht vor, son<strong>de</strong>rn überlässt<br />

sie <strong>de</strong>m Gericht. Das Gericht kann in einem „Erziehungsgespräch“ auf die Eltern<br />

einwirken, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen 2 . Das kann Erziehungsberatung<br />

sein o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r regelmäßige Besuch einer Kin<strong>de</strong>rtagesstätte, eine ärztliche<br />

Untersuchung o<strong>de</strong>r die Sicherung <strong>de</strong>s Schulbesuchs. Folgen die Eltern <strong>de</strong>n gerichtlichen<br />

Aufl agen nicht o<strong>de</strong>r kann das Kin<strong>de</strong>swohl darüber nicht gesichert wer<strong>de</strong>n,<br />

kann das Gericht die elterliche Sorge ganz o<strong>de</strong>r teilweise (Aufenthaltsbestimmungsrecht/ABR)<br />

entziehen <strong>und</strong> einen Pfl eger o<strong>de</strong>r Vorm<strong>und</strong> bestellen. Das Gericht<br />

hört die Eltern, das Kind <strong>und</strong> das Jugendamt an. Kin<strong>de</strong>rn wird dabei in <strong>de</strong>r<br />

Regel ein Verfahrenspfl eger an die Seite gestellt. Die Hinzuziehung von Sachverständigen,<br />

etwa zur Erstellung eines Gutachtens, ist möglich.<br />

Familiengericht <strong>und</strong> Jugendamt sind in ihrer Arbeit eng aufeinan<strong>de</strong>r angewiesen 3 .<br />

Jugendämter können ein familiengerichtliches Verfahren anstreben, wenn die Eltern<br />

nicht an einer Risikoabschätzung mitwirken wollen o<strong>de</strong>r die jugendamtseigenen<br />

Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft o<strong>de</strong>r nicht ausreichend sind. Zugleich<br />

sind die Jugendämter die sozialpädagogische Fachbehör<strong>de</strong>, die die Leistungen <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe in Kooperation mit freien Trägern anbietet <strong>und</strong> die Geeignetheit<br />

<strong>und</strong> Notwendigkeit <strong>de</strong>r Hilfen <strong>und</strong> Maßnahmen einschätzt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m<br />

Gericht vorträgt.<br />

Die Polizei<br />

Die Polizei ist verantwortlich für Maßnahmen <strong>de</strong>r Strafverfolgung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gefahrenabwehr.<br />

Sie muss ermitteln, wenn ihr Fälle von Kin<strong>de</strong>smisshandlung, sexuellem<br />

Missbrauch <strong>und</strong> Vernachlässigung bekannt wer<strong>de</strong>n. Im Unterschied zum Jugendamt<br />

richtet sich <strong>de</strong>r Fokus <strong>de</strong>r Polizeiarbeit auf das Ermitteln einer Straftat,<br />

die Sicherung von Beweisen, die Abwehr unmittelbarer Gefahren für Kin<strong>de</strong>r. „Im<br />

Blickfeld <strong>de</strong>r Polizei steht zwar auch das konkrete Opfer – jedoch gleichzeitig <strong>de</strong>r/<br />

die Täter/in. (Es) … ist zu prüfen, ob es … weitere Opfer gibt <strong>und</strong> … ob Anhaltspunkte<br />

für eine Wie<strong>de</strong>rholungsgefahr … vorliegen“ 4 . Ermittlungsergebnisse <strong>de</strong>r<br />

polizeilichen Arbeit dienen als Gr<strong>und</strong>lage für Entscheidungen von Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> Strafgericht. Besteht bei Hinweisen auf eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

2 Pressemitteilung <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>esministeriums für Justiz vom 13.1.2006 auf www.bmj.<strong>de</strong><br />

3 Arbeitsgruppe „Familienrechtliche Maßnahmen bei Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls“ beim B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Justiz, Abschlussbericht vom 17.11.2006<br />

Prof. Dr. R. Ernst: Zusammenarbeit von Jugendamt <strong>und</strong> Familiengericht beim Kin<strong>de</strong>rschutz, in: Stiftung<br />

SPI, Infoblatt Nr. 39, Oktober 2006, www.stiftung-spi.<strong>de</strong><br />

4 O. Knecht: Kin<strong>de</strong>rschutz – Eine Annäherung an einen Begriff aus Sicht <strong>de</strong>r Polizei, in: Stiftung SPI,<br />

Infoblatt Nr. 35 vom Oktober 2005, www.stiftung-spi.<strong>de</strong>/Archiv<br />

104


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

kein sofortiger Handlungsbedarf, ist die Polizei nach Polizeiaufgabengesetz verpfl<br />

ichtet, das Jugendamt zu informieren.<br />

Eine Anzeigepfl icht bei <strong>de</strong>r Polizei gibt es bei Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

in Deutschland nicht. Im Einzelfall kann eine Anzeige aber dann notwendig<br />

sein, wenn sie das einzige verbleiben<strong>de</strong> Mittel ist, eine Straftat abzuwen<strong>de</strong>n (§ 34<br />

StGB spricht vom „rechtfertigen<strong>de</strong>n Notstand“). Die Einschaltung <strong>de</strong>r Polizei<br />

kann zu<strong>de</strong>m helfen, eine konkrete Missbrauchs- o<strong>de</strong>r Misshandlungssituation zu<br />

been<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits ist dabei zu be<strong>de</strong>nken, dass polizeiliche Ermittlungen <strong>und</strong><br />

ein Strafverfahren große Belastungen für die kindlichen Zeugen <strong>und</strong> die Familie<br />

mit sich bringen können. Insbeson<strong>de</strong>re Aussagen gegen die eigenen Eltern stürzen<br />

Kin<strong>de</strong>r oft in schwere Schuldgefühle <strong>und</strong> Loyalitätskonfl ikte.<br />

Kliniken <strong>und</strong> nie<strong>de</strong>rgelassene Ärzte<br />

Speziell Kin<strong>de</strong>rärzte können bereits frühzeitig Probleme in Familien <strong>und</strong> Gefährdungen<br />

von Kin<strong>de</strong>rn erkennen <strong>und</strong> Eltern auf Hilfsangebote hinweisen. Das Problembewusstsein<br />

bei Ärzten ist vorhan<strong>de</strong>n, etliche Kliniken haben inzwischen<br />

eigene Beratungsangebote. Die diagnostischen Möglichkeiten erlauben es, eine<br />

Misshandlung früher <strong>und</strong> ein<strong>de</strong>utiger zu erkennen. In Fällen von akuter <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

kommt Ärzten in Praxen <strong>und</strong> in Kliniken die Aufgabe zu, Verletzungen<br />

zu behan<strong>de</strong>ln, zu dokumentieren <strong>und</strong> Hilfen einzuleiten. Sie haben dafür<br />

allerdings einen fi nanziell <strong>und</strong> zeitlich sehr begrenzten Rahmen. Bei einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

wer<strong>de</strong>n Eltern in <strong>de</strong>r Regel an das Jugendamt verwiesen, da wo<br />

Eltern nicht kooperieren ist die Information <strong>de</strong>s Jugendamtes angezeigt. Das Abwen<strong>de</strong>n<br />

einer Gefahr für Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit eines Kin<strong>de</strong>s steht dann über <strong>de</strong>r<br />

ärztlichen Schweigepfl icht („rechtfertigen<strong>de</strong>r Notstand“ nach § 34 StGB) 5 .<br />

Die Beratungsstellen<br />

In Beratungsstellen (Erziehungs- <strong>und</strong> Familienberatungsstellen, Kin<strong>de</strong>rschutz-<br />

Zentren …) arbeiten Berater <strong>und</strong> Therapeuten mit unterschiedlichen Metho<strong>de</strong>n,<br />

meist wer<strong>de</strong>n mehrere Hilfen angeboten (Familienberatung, Einzelberatung, Kin<strong>de</strong>rtherapie<br />

…). Viele Beratungsstellen (wie die staatlichen Erziehungsberatungsstellen<br />

<strong>und</strong> einige Spezialberatungsstellen wie die Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren) verfügen<br />

über erfahrene Fachkräfte nach § 8a KJHG. Ihr Angebot richtet sich an folgen<strong>de</strong><br />

Zielgruppen:<br />

❍ an Selbstmel<strong>de</strong>r<br />

❍<br />

an Eltern mit einer Aufl age zur Beratung (unfreiwillige Klienten)<br />

5 Derzeit wird erneut über eine Einführung einer gesetzlichen Mel<strong>de</strong>pfl icht an das Jugendamt für Ärzte<br />

<strong>und</strong> Hebammen bei Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> diskutiert.<br />

105


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

❍<br />

❍<br />

106<br />

an Fremdmel<strong>de</strong>r<br />

an Helfer<br />

Selbstmel<strong>de</strong>r sind alle diejenigen, die sich mit einem eigenen familiären Problem<br />

an die Beratungsstellen wen<strong>de</strong>n. Das können Kin<strong>de</strong>r, Jugendliche o<strong>de</strong>r Eltern sein.<br />

Unfreiwillige Klienten sind Menschen, die seitens <strong>de</strong>s Jugendamtes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Familiengerichts<br />

eine Aufl age zur Beratung haben. Die Kin<strong>de</strong>r leben dann entwe<strong>de</strong>r<br />

bereits von <strong>de</strong>n Eltern getrennt, eine Rückführung erscheint aber möglich, o<strong>de</strong>r es<br />

ist eine Trennung für <strong>de</strong>n Fall einer erfolglosen Beratung vorgesehen. Der Kontakt<br />

zur Beratungsstelle erfolgt am besten über eine vom Jugendamt einberufene<br />

Hilfekonferenz, an <strong>de</strong>r die Familie, das Jugendamt <strong>und</strong> die Berater gemeinsam<br />

teilnehmen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r bereits bestehen<strong>de</strong> Verletzungen <strong>und</strong> weitere Gefährdungen<br />

ebenso thematisiert wer<strong>de</strong>n, wie Verän<strong>de</strong>rungswünsche <strong>und</strong> Kriterien für eine erfolgreiche<br />

Beratung.<br />

Ziel <strong>de</strong>r Arbeit mit diesen ersten bei<strong>de</strong>n Gruppen ist es, das Risiko einer bestehen<strong>de</strong>n<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> zu minimieren. In regelmäßigem Kontakt mit Eltern<br />

<strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn wird es darum gehen, die familialen Beziehungen zu betrachten,<br />

zu klären <strong>und</strong> zu verän<strong>de</strong>rn. Sich aus unbewussten Wünschen <strong>und</strong> Ängsten ergeben<strong>de</strong><br />

Konfl ikte können erlebt, besprochen <strong>und</strong> einer angemesseneren Lösung zugeführt<br />

wer<strong>de</strong>n 6 . Schädigen<strong>de</strong> gewaltsame, grenzenlose <strong>und</strong> distanzierte Beziehungen<br />

können positiv verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Traumatisierte Kin<strong>de</strong>r brauchen ein eigenes<br />

kin<strong>de</strong>rtherapeutisches Angebot.<br />

Fremdmel<strong>de</strong>r sind besorgte Familienangehörige, Großeltern z. B. <strong>und</strong> Nachbarn.<br />

Sie können sich mel<strong>de</strong>n, wenn sie einen Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> haben.<br />

Mit ihnen kann dann geklärt wer<strong>de</strong>n, ob <strong>de</strong>r Verdacht begrün<strong>de</strong>t ist, welche<br />

Risikofaktoren <strong>und</strong> Ressourcen bestehen, welche Hilfe <strong>de</strong>m Mel<strong>de</strong>r selbst möglich<br />

ist, welche Hilfe von außen kommen muss <strong>und</strong> wie ein Zugang zur betroffenen<br />

Familie gef<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Das Angebot zur Fachberatung nach § 8a KJHG richtet sich an professionelle Helfer<br />

(Erzieherinnen, Lehrer, Einzelfallhelfer, Betreuer …). Hier geht es darum, Risiken<br />

für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> gemeinsam abzuschätzen, die Ressourcen<br />

<strong>de</strong>r Familie zu untersuchen <strong>und</strong> Hilfen abzuwägen. Es geht dabei auch um eine<br />

Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Risikos, Gefährdungen zu unter- o<strong>de</strong>r überschätzen <strong>und</strong> das Ver-<br />

6 Einführen<strong>de</strong> Literatur dazu:<br />

H. E. Richter: Eltern, Kind <strong>und</strong> Neurose. Rowohlt Verlag, Hamburg, 1995<br />

H. Petri: Erziehungsgewalt. Fischer Verlag, Frankfurt, 1991<br />

T. Bauriedl: Leben in Beziehungen, Her<strong>de</strong>r Verlag, Freiburg, 1996


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

halten <strong>de</strong>r Eltern o<strong>de</strong>r mögliche Symptome <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r unangemessen zu interpretieren.<br />

Weiter kann überlegt wer<strong>de</strong>n, wer im Bedarfsfall wie Kontakt zur Familie<br />

aufnimmt <strong>und</strong> was geschieht, wenn die Kontaktaufnahme scheitert (s. Kapitel 9).<br />

Beratung als eine Form <strong>de</strong>r Hilfe<br />

Nicht alle Symptome von Kin<strong>de</strong>rn lassen sich auf einen gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umgang<br />

<strong>de</strong>r Eltern mit ihnen zurückführen. Kin<strong>de</strong>r sind lebendige, sich entwickeln<strong>de</strong> Wesen,<br />

Familien sind lebendige, sich entwickeln<strong>de</strong> Systeme, bei<strong>de</strong> können in Entwicklungskrisen<br />

geraten. Symptome sind so verstan<strong>de</strong>n eine Leistung, <strong>de</strong>r bestmögliche<br />

Umgang mit diesen Krisen, <strong>de</strong>r einem Kind / einer Familie zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt möglich ist. Treten solche Symptome auf, können die Kin<strong>de</strong>r<br />

z. B. in <strong>de</strong>r Schule nicht lernen, nässen sie ein, sind aggressiv o<strong>de</strong>r unruhig,<br />

sind alle Eltern darüber beschämt. Diese Beschämung wird beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich,<br />

wenn die Probleme öffentlich wer<strong>de</strong>n, wenn Lehrer o<strong>de</strong>r Erzieherinnen die Eltern<br />

auf ihre Kin<strong>de</strong>r ansprechen. Dieses Ansprechen erfor<strong>de</strong>rt daher von einem Helfer<br />

Taktgefühl. Das gilt speziell für das Ansprechen von Eltern, die ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

misshan<strong>de</strong>ln, missbrauchen o<strong>de</strong>r vernachlässigen. Diese Eltern haben beson<strong>de</strong>re<br />

Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen <strong>und</strong> Konfl ikte zu ertragen <strong>und</strong> auszuhan<strong>de</strong>ln.<br />

Genau das macht es aber auch Helfern schwierig, mit ihnen in Kontakt<br />

zu kommen.<br />

Misshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>, missbrauchen<strong>de</strong>, vernachlässigen<strong>de</strong> Eltern erleben Helfer schnell<br />

als Besserwisser, als Kontrolle o<strong>de</strong>r als Strafgericht. Die Angst vor Beschämung<br />

<strong>und</strong> Strafe ist in je<strong>de</strong>m Kontakt mit <strong>de</strong>n Eltern spürbar. Sie speist sich aus <strong>de</strong>n bisherigen<br />

Beziehungserfahrungen <strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> aus <strong>de</strong>ren Schuldgefühlen. Angst<br />

wie<strong>de</strong>rum führt zu Abwehr, die sich in Kontaktvermeidung, Verleugnung, Rechtfertigung<br />

o<strong>de</strong>r Angriffen auf <strong>de</strong>n Helfer („Angriff ist die beste Verteidigung“) ausdrücken<br />

kann. Hier entsteht oft ein unproduktiver Kreislauf zwischen Helfern <strong>und</strong><br />

Eltern: Je stärker die Helfer die Eltern konfrontieren, <strong>de</strong>sto mehr Angst produzieren<br />

sie bei <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> steigern <strong>de</strong>ren Abwehr. Diese Angst kann sich oft erst<br />

über die Erfahrung in <strong>de</strong>r Beziehung zum Helfer lockern.<br />

Eine Hilfe ängstigt Eltern auch, weil sie erfor<strong>de</strong>rt sich zu öffnen, sich eigenen<br />

Ängsten, Wünschen <strong>und</strong> Konfl ikten zu stellen <strong>und</strong> sie zur Sprache zu bringen. In<br />

vielen Familien wird gera<strong>de</strong> das nicht mehr gekonnt, Schwierigkeiten sollen eher<br />

sprachlos bewältigt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> spitzen sich in Krisen – wo Beziehungen <strong>und</strong><br />

Konfl ikte nicht gänzlich vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, wie in <strong>de</strong>r Vernachlässigung – gewaltsam<br />

<strong>und</strong> grenzüberschreitend zu.<br />

Wer hier helfen will, muss sich in erster Linie für die Familie interessieren. Es<br />

gilt, eine Atmosphäre zu schaffen, in <strong>de</strong>r relative Sicherheit entstehen kann, mit<br />

seinen Fragen <strong>und</strong> Schwierigkeiten angenommen zu wer<strong>de</strong>n. Interessieren können<br />

107


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

Helfer sich z. B. für Folgen<strong>de</strong>s: Welche Erklärungen gibt es in <strong>de</strong>r Familie für die<br />

Symptomatik? Wer erlebt welche Schwierigkeiten wie? Welche vielleicht unausgesprochenen<br />

Regeln <strong>und</strong> Überzeugungen gibt es in <strong>de</strong>r Familie? Was wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r<br />

einzelne gern beibehalten o<strong>de</strong>r än<strong>de</strong>rn wollen? Worauf ist die Familie stolz, was<br />

gelingt gut? Welche Hilfe kann ein je<strong>de</strong>r sich vorstellen? … Beschuldigungen <strong>und</strong><br />

das Androhen von Maßnahmen helfen nicht weiter. Wer sich interessiert, braucht<br />

nicht nach Tätern zu suchen, son<strong>de</strong>rn wird von familiären Beziehungen <strong>und</strong> Konfl<br />

ikten erfahren, die zu Schädigungen von Kin<strong>de</strong>rn führten. <strong>Helfen</strong> heißt dann<br />

nicht, Straftaten zu ermitteln, son<strong>de</strong>rn ein Angebot zu machen.<br />

<strong>Helfen</strong> heißt auch, auf Freiwilligkeit zu setzen, Werbung für eine Hilfe zu machen<br />

<strong>und</strong> Hoffnung zu wecken. Werbung funktioniert hierbei am besten über die eigene<br />

Person, über die Erfahrung, die Eltern mit <strong>de</strong>m Helfer machen. Daher ist es oft<br />

auch einfacher, bestehen<strong>de</strong> Beziehungen (z. B. die Erzieherin in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rtagesstätte)<br />

für <strong>de</strong>n Beginn einer Hilfe zu nutzen. Das Prinzip <strong>de</strong>r Freiwilligkeit kann<br />

<strong>und</strong> darf nur dann gebrochen wer<strong>de</strong>n, wenn Gefahr für ein Kind besteht <strong>und</strong> die<br />

Eltern nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, diese Gefahr abzuwen<strong>de</strong>n.<br />

Für Helfer kann es hilfreich sein, sich vor Augen zu halten, dass Eltern einer Hilfe<br />

immer ambivalent gegenüber stehen – auch da, wo sie diese freiwillig gesucht<br />

haben. Sie sind zur Überzeugung gelangt, sich mit ihren Wünschen <strong>und</strong> Ängsten<br />

nicht offen zeigen zu dürfen <strong>und</strong> wehren sich auch selbst gegen ihre eigenen Anteile<br />

<strong>und</strong> gegen eine Auf<strong>de</strong>ckung in einer Beratung. Es scheint so, als wollten sie<br />

ihre Probleme weiter vor sich <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren verbergen. Hinter dieser Angst steht<br />

aber bei allen Menschen auch ein emanzipatorisches Bedürfnis nach ein<strong>de</strong>utigen,<br />

angstfreien, stabilen <strong>und</strong> belastbaren Beziehungen <strong>und</strong> damit auch <strong>de</strong>r Wunsch<br />

nach Verän<strong>de</strong>rung <strong>und</strong> Hilfe 7 .<br />

Beratung im Zwangskontext<br />

Misshandlungen, Missbrauch o<strong>de</strong>r Vernachlässigung fallen in <strong>de</strong>n meisten Fällen<br />

über Symptome von Kin<strong>de</strong>rn auf <strong>und</strong> erfor<strong>de</strong>rn dann, mit <strong>de</strong>n Eltern ins Gespräch<br />

zu kommen. Von <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Ansprache wie<strong>de</strong>rum hängt viel für <strong>de</strong>n weiteren<br />

Verlauf einer Hilfe ab. Das In-Kontakt-kommen <strong>und</strong> die Arbeit mit Eltern, die erst<br />

über eine Aufl age von Jugendamt o<strong>de</strong>r Familiengericht um Beratung nachsuchen,<br />

ist für einen Berater wohl am schwierigsten. Diese Eltern verfügen oft über wenig<br />

Ressourcen, Beziehungen zu gestalten <strong>und</strong> Konfl ikte auszuhalten <strong>und</strong> auszutragen.<br />

Oft haben sie keine Worte für Gefühle <strong>und</strong> können nur schwer über sich<br />

selbst nach<strong>de</strong>nken. Eltern sind oft voller Angst, Angst vor Schuldzuweisungen<br />

7 Vgl.: T. Bauriedl: Auch ohne Couch, Psychoanalyse als Beziehungstheorie <strong>und</strong> ihre Anwendungen,<br />

Klett Verlag, Stuttgart 1994<br />

108


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

<strong>und</strong> Beschämung, vor Stigmatisierung, vor Trennung vom Kind <strong>und</strong> vor Strafe.<br />

Sie sind unsicher <strong>und</strong> misstrauisch <strong>und</strong> haben oft starke Schamgefühle. Und auch<br />

<strong>de</strong>r Helfer ist, konfrontiert mit verletzten Kin<strong>de</strong>rn, nicht frei von schwierigen Gefühlen<br />

(s. dazu Kapitel 2).<br />

Für <strong>de</strong>n Berater erschwerend kommt hinzu, dass er vom Klienten als Teil einer<br />

Zwangsmassnahme i<strong>de</strong>ntifi ziert wird. Dem Berater wird “… die Kontext<strong>de</strong>fi nition<br />

<strong>de</strong>s Klienten übergestülpt, <strong>de</strong>r diese Situation häufi g als Zwang <strong>und</strong> Erpressung<br />

erlebt <strong>und</strong> interpretiert. Aus Sicht <strong>de</strong>r Helfer wäre es angemessener von einem<br />

Schutzkontext bezogen auf das Kind <strong>und</strong> von einem Motivierungskontext bezüglich<br />

<strong>de</strong>r Eltern zu sprechen, da das Anliegen nicht darin besteht, auf die Familie<br />

Zwang <strong>und</strong> Druck auszuüben, son<strong>de</strong>rn sie zur Annahme von Hilfe zu motivieren,<br />

damit sie ihr schädigen<strong>de</strong>s Verhalten än<strong>de</strong>rt.“ 8 Das beinhaltet auch, dass<br />

<strong>de</strong>r Berater in sich die Frage offen hält, ob er eine Chance für Entwicklung sieht<br />

o<strong>de</strong>r nicht. Es empfi ehlt sich, zunächst <strong>de</strong>n Rahmen, die Kooperationen, die unterschiedlichen<br />

Erwartungen <strong>und</strong> Rollen abzuklären. Klare Zielvereinbarungen <strong>und</strong><br />

klare Erarbeitung von Indikatoren für eine Verän<strong>de</strong>rung, für Erfolg o<strong>de</strong>r Scheitern<br />

<strong>de</strong>r Beratung sind nötig.<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

Der Rahmen: Um was soll es gehen? Wer kontrolliert die Aufl age wie? Was<br />

folgt aus Erfolg o<strong>de</strong>r Misserfolg <strong>de</strong>r Beratung? Wie soll gearbeitet wer<strong>de</strong>n<br />

(Ort, Termin, Frequenz, Teilnehmer …)?<br />

Die Kooperation: Wie arbeitet <strong>de</strong>r Berater mit <strong>de</strong>m Jugendamt / <strong>de</strong>m Familiengericht<br />

zusammen? Wie transparent sind seine Berichte für die Familie?<br />

Zielvereinbarung: Wie kann das Kin<strong>de</strong>swohl gesichert wer<strong>de</strong>n? Was kann dabei<br />

helfen, diese Ziele zu erreichen?<br />

Indikatoren für Verän<strong>de</strong>rung: Die Eltern lassen sich auch innerlich auf eine Beratung<br />

ein <strong>und</strong> das Kin<strong>de</strong>swohl erscheint ausreichend gesichert / das Kin<strong>de</strong>swohl<br />

kann nicht ausreichend gesichert wer<strong>de</strong>n.<br />

All das ist immer ein Aushan<strong>de</strong>ln, das Zeit braucht. Gefährdungspotentiale <strong>und</strong><br />

Ressourcen müssen gemeinsam mit <strong>de</strong>r Familie abgeschätzt wer<strong>de</strong>n (s. auch Kapitel<br />

9). Es geht weniger darum, Eltern zu zwingen, son<strong>de</strong>rn sie über die Arbeit<br />

am Konfl ikt trotz <strong>de</strong>s Zwanges zu einer Beratung zu gewinnen. Eltern sind keine<br />

passiven Objekte, über die in einer Beratung bef<strong>und</strong>en wird, son<strong>de</strong>rn sie sind aktive<br />

Subjekte, die <strong>de</strong>n Hilfeprozess aktiv mitgestalten. Eine Zwangsberatung mag<br />

für sie zunächst eine Zumutung sein, sie beinhaltet aber immer auch ein Zutrauen<br />

<strong>und</strong> wirkt schon damit Inkompetenz- <strong>und</strong> Entwertungsgefühlen bei Eltern entgegen.<br />

Auch wenn die Eltern zunächst auf äußeren Druck hin eine Beratung wahr-<br />

8 F. Herm: Beratung unfreiwilliger Klienten, in: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. In-Beziehung-Kommen bei<br />

schwierigen Familienkonfl ikten, Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V., <strong>Berlin</strong>, 2005, 16<br />

109


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

nehmen, so kann es doch sein, dass sie im Verlauf die Gelegenheit ergreifen, über<br />

ihre Sorgen <strong>und</strong> Probleme zu sprechen. Ein von Eltern <strong>und</strong> Helfern geteiltes Verständnis,<br />

dass dies eine unangenehme Gesprächssituation ist, die aber eine Perspektive<br />

aus <strong>de</strong>n familiären Notlagen weisen kann, ist eine Gr<strong>und</strong>lage dafür, dass<br />

die Eltern sich öffnen können.<br />

Ein Berater steht hier vor einer schwierigen Aufgabe, „ …vor <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung,<br />

in unerträglichen gewaltsamen Situationen, in beziehungsgestörten Familien, die<br />

Balance zu halten zwischen Konfl ikt <strong>und</strong> Kontakt, (sich) für die Not <strong>und</strong> die Sicht<br />

<strong>de</strong>r Eltern zu interessieren, ihnen möglichst die Verantwortung für die Kin<strong>de</strong>r zu<br />

überlassen, Wi<strong>de</strong>rstand <strong>und</strong> Abwehr <strong>de</strong>r Familie zu verstehen statt zu bekämpfen,<br />

unterschiedliche Meinungen zu benennen statt Abweichler zu bekämpfen, Hilfen<br />

mit <strong>de</strong>n Eltern zu entwickeln statt sie zu oktroyieren, notwendigen Zwang zu benennen,<br />

rechtliche, diagnostische, familiendynamische Kenntnisse mit Kenntnissen<br />

<strong>de</strong>r Hilfelandschaft <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Sozialraumes zu verbin<strong>de</strong>n.“ 9<br />

Wesentlich für einen positiven Beratungsverlauf ist auch die Unterscheidung zwischen<br />

äußerer <strong>und</strong> innerer Motivation. Äußere Motivation ergibt sich aus <strong>de</strong>m<br />

Zwangskontext, innere Motivation meint die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu<br />

stellen <strong>und</strong> auf die Suche zu begeben. Diese innere Motivation mag anfangs nicht<br />

vorhan<strong>de</strong>n sein, sie kann aber über die gemeinsame Arbeit, auch über gemeinsam<br />

ausgetragene Konfl ikte, herausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Dabei gibt es einige Indikatoren<br />

für die Abschätzung von Beratungsmotivation <strong>und</strong> Prognose. Sie stehen mit <strong>de</strong>m<br />

Anfang nicht ein für allemal fest, son<strong>de</strong>rn es ist in einer Beratung zu überprüfen,<br />

ob <strong>und</strong> wie weit sie zu entwickeln o<strong>de</strong>r zu verän<strong>de</strong>rn sind:<br />

„das Ausmaß <strong>de</strong>r Verleugnung: Positiv für <strong>de</strong>n Beratungsprozess <strong>und</strong> eine Beratungsmotivation<br />

ist, wenn Klienten bereit sind über ihre Beteiligung an <strong>de</strong>r<br />

Entstehung <strong>de</strong>r Verletzungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu sprechen. Negativ ist, wenn es bei<br />

einer totalen Verleugnung bleibt, verb<strong>und</strong>en mit einer harmonisieren<strong>de</strong>n Darstellung<br />

<strong>de</strong>r Familiensituation.<br />

Der Faktor <strong>de</strong>r Verbindlichkeit <strong>und</strong> Kooperationsbereitschaft: Eine gute Prognose<br />

liegt in <strong>de</strong>r Regel bei einer Einsicht in die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Kooperation<br />

vor. … Schwierig wird die Einschätzung bei Eltern, die formal äußerst korrekt<br />

… alle Termine einhalten, aber … keine Verän<strong>de</strong>rung passiert.<br />

Die Fähigkeit, Konfl ikte <strong>und</strong> Schwierigkeiten zu thematisieren <strong>und</strong> die Bereitschaft<br />

sich auf die vereinbarten Themen einzulassen.<br />

Der Umgang mit <strong>de</strong>m Kind. Hier kommen zum Ausdruck Bindungsfähigkeit,<br />

Verlässlichkeit, Empathiefähigkeit.“ 10<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

9 G. Kohaupt: Hurry slowly! O<strong>de</strong>r: Was man nicht erfl iegen kann, muss man erhinken. Konfl ikthafter<br />

Kontakt zu Eltern bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. In: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. In-Beziehung-Kommen<br />

bei schwierigen Familienkonfl ikten, Hrsg: Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V., 2005, 31<br />

10 siehe dort<br />

110


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

Aber auch wenn alle Kontextfragen genügend geklärt sind, ist mit Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n<br />

zu rechnen. Schon für freiwillige Klienten ist es schwer, sich Hilfe zu holen <strong>und</strong><br />

sich mit sich selbst auseinan<strong>de</strong>r zu setzen, für unfreiwillige Klienten gilt das umso<br />

mehr. Schutzmechanismen in Form von Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n sollen helfen, Ängste in<br />

Schach zu halten. Dabei können die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> sehr unterschiedliche Formen<br />

<strong>und</strong> Ausmaße annehmen, mit Wi<strong>de</strong>rstand ist in je<strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Beratung zu rechnen.<br />

Beispiele für Wi<strong>de</strong>rstand können sein:<br />

❍ Zu spät kommen, Termine vergessen o<strong>de</strong>r verwechseln<br />

❍ Hartnäckig schweigen o<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n wie ein Wasserfall<br />

❍ Intellektualisieren, <strong>de</strong>n Berater in haarspalterische Diskussionen verwickeln, seine<br />

Kompetenz anzweifeln, alles an gesellschaftlichen Ursachen festmachen …<br />

❍ Anpassung an die vermeintlichen Erwartungen <strong>de</strong>s Beraters (Musterklient)<br />

❍ Ablenkung (schimpfen auf Dritte, ständiges Einbringen von Alltagsproblemen<br />

…)<br />

❍ Einen Sün<strong>de</strong>nbock fi n<strong>de</strong>n: „Ich kann nicht … weil du / er / sie …“<br />

Wi<strong>de</strong>rstand kann sich dabei auch auf einzelne Familienmitglie<strong>de</strong>r verteilen, z. B.:<br />

❍ „wichtige Termine“ verhin<strong>de</strong>rn das Erscheinen aller Familienmitglie<strong>de</strong>r<br />

❍ das Baby ist unruhig, braucht die ständige Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Eltern in <strong>de</strong>r<br />

Sitzung<br />

❍ Inszenieren von lautstarken Streitigkeiten vor <strong>de</strong>m Berater<br />

❍ Ausmachen eines Kranken/Behandlungsbedürftigen in <strong>de</strong>r Familie<br />

Wi<strong>de</strong>rstand ist legitim, er ist eine unbewusste Leistung <strong>de</strong>r Klienten, er schützt sie<br />

vor unerträglichen Gefühlen. Wi<strong>de</strong>rstand manifestiert sich meist auf <strong>de</strong>r Handlungsebene.<br />

Die sicherste Form von Wi<strong>de</strong>rstand ist die Vermeidung von Kontakt<br />

zum Berater. In <strong>de</strong>r Beratung kann es <strong>de</strong>shalb nicht darum gehen, Wi<strong>de</strong>rstand auszuschalten<br />

o<strong>de</strong>r zu brechen, son<strong>de</strong>rn mit ihm zu arbeiten, in<strong>de</strong>m man ihn erkennt,<br />

versteht <strong>und</strong> die ihm zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Ängste gemeinsam mit <strong>de</strong>n Klienten bearbeitet.<br />

Je<strong>de</strong>r gemeinsam überw<strong>und</strong>ene Wi<strong>de</strong>rstand stärkt die Beziehung <strong>und</strong> das<br />

persönliche Wachstum, weil damit bisher Unerträgliches nicht weiter fern gehalten<br />

wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn integriert wer<strong>de</strong>n kann. Beziehungsfähigkeit ist also<br />

auch ein Produkt von Arbeit am Konfl ikt.<br />

Schließlich ist vielleicht gera<strong>de</strong> bei Beratungen im Zwangskontext wichtig zu sehen,<br />

wie sehr die Helfer selbst Teil <strong>de</strong>r Arbeit sind. Ein Berater arbeitet nicht an<br />

<strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> an einem Konfl ikt, son<strong>de</strong>rn geht mit <strong>de</strong>r Familie Konfl ikte ein<br />

<strong>und</strong> arbeitet sie mit ihr durch. Hilfreich kann er dann sein, wenn er selbst spüren<br />

kann, wie es ihm in <strong>de</strong>r Familie geht, wenn er mit lei<strong>de</strong>n kann aber nicht für lei<strong>de</strong>n<br />

muss. Bildlich gesehen muss er auf „seinem eigenen Stuhl sitzen bleiben“. Wenn<br />

er Symptome <strong>und</strong> Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zunächst akzeptieren kann <strong>und</strong> sie nicht beseitigen<br />

will, kann es ihm am ehesten gelingen, seine Unabhängigkeit zu wahren <strong>und</strong><br />

111


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

Machtkämpfe zu vermei<strong>de</strong>n. Er wird dann weniger in Gefahr sein, sich allein für<br />

<strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>r Beratung verantwortlich zu fühlen <strong>und</strong> so we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r allmächtige<br />

Helfer sein müssen, ohne <strong>de</strong>n die Familie nichts ist, noch <strong>de</strong>r ohnmächtige Helfer,<br />

<strong>de</strong>r nichts bewirken kann. 11<br />

Exkurs: Wie können Fachkräfte in Kin<strong>de</strong>rtagesstätten mit Eltern über eine<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> sprechen?<br />

Es gibt bereits viele hilfreiche Fachbücher mit Fragenkatalogen <strong>und</strong> Fragetechniken<br />

für Gespräche mit Eltern 12 . Oft wer<strong>de</strong>n diese aber nicht als ausreichend<br />

empf<strong>und</strong>en, weil sie auf die konkrete eigene Situation nicht passen <strong>und</strong> es im Gespräch<br />

<strong>de</strong>r jeweils folgen<strong>de</strong> Schritt ist, <strong>de</strong>r schwer zu fi n<strong>de</strong>n ist. Meist sind es zu<strong>de</strong>m<br />

auch die im Gespräch auf bei<strong>de</strong>n Seiten auftauchen<strong>de</strong>n Gefühle, die Schwierigkeiten<br />

machen <strong>und</strong> diese wie<strong>de</strong>rum hängen ab von <strong>de</strong>r Beziehung, in <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong><br />

Gesprächspartner stehen. Aufgr<strong>und</strong> all dieser Faktoren kann auch hier keine<br />

Patentlösung angeboten wer<strong>de</strong>n, kann es auch hier keine Rezepte für solche Gespräche<br />

geben. Dennoch soll hier versucht wer<strong>de</strong>n einige Eckpunkte zu benennen,<br />

die Gespräche mit <strong>de</strong>n Eltern über ihre Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> die Beziehung zu ihren Kin<strong>de</strong>rn<br />

aussichtsreicher machen.<br />

Wie man mit Eltern spricht, was man sagt, hängt vom Kontext <strong>de</strong>r Begegnung<br />

(Kita, Schule, Klinik … / Entwicklungsgespräch / Konfrontationsgespräch …), vom<br />

fachlichen Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Helfer, von <strong>de</strong>r Haltung ab, mit <strong>de</strong>r Helfer Eltern begegnen<br />

<strong>und</strong> von <strong>de</strong>r jeweiligen Beziehung, die bei<strong>de</strong> miteinan<strong>de</strong>r haben. Es hängt<br />

auch wesentlich ab von <strong>de</strong>n Gefühlen, die auf bei<strong>de</strong>n Seiten vorhan<strong>de</strong>n sind (s.<br />

Kapitel 2).<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n liegt <strong>de</strong>r Schwerpunkt exemplarisch auf Konfrontationsgesprächen<br />

in Kin<strong>de</strong>rtagesstätten, die Hinweise hier sind aber vermutlich auf an<strong>de</strong>re Einrichtungen<br />

übertragbar. Konfrontationsgespräche haben ein konkretes Verhalten von<br />

Eltern im Fokus <strong>und</strong> unterschei<strong>de</strong>n sich damit von Entwicklungsgesprächen o<strong>de</strong>r<br />

von Gesprächen anlässlich von Verhaltensauffälligkeiten von Kin<strong>de</strong>rn.<br />

Schwierige Gespräche mit Eltern sind leichter zu führen, wenn Gespräche mit<br />

Eltern zum Alltag <strong>de</strong>r Einrichtung gehören. Viele Kin<strong>de</strong>rtagesstätten führen heute<br />

mit <strong>de</strong>n Eltern regelmäßig Entwicklungsgespräche über ihre Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> es ist<br />

dann auch leichter, mit <strong>de</strong>n Eltern in an<strong>de</strong>rem Rahmen über schwierige Dinge zu<br />

11 Dazu braucht man Wissen um Familien <strong>und</strong> die Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn, um Gesprächsführung<br />

<strong>und</strong> vor allem auch um sich selbst – also eine f<strong>und</strong>ierte Ausbildung.<br />

12 z. B.: Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer: Lehrbuch <strong>de</strong>r systemischen Therapie <strong>und</strong> Beratung,<br />

Van<strong>de</strong>nhoeck u. Ruprecht, Göttingen 2003<br />

112


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

re<strong>de</strong>n. In Einrichtungen, in <strong>de</strong>nen mit Eltern immer nur dann gesprochen wird<br />

wenn es Probleme gibt, sind auch Konfrontationsgespräche für alle Beteiligten<br />

schwieriger, weil intensiver mit Emotionen behaftet.<br />

Haltung<br />

Eltern <strong>und</strong> Erzieherinnen haben es oft schwer miteinan<strong>de</strong>r. Bei<strong>de</strong> fürchten <strong>de</strong>n<br />

jeweils an<strong>de</strong>ren als kompetenter <strong>und</strong> daher können sich Konkurrenz, Misstrauen<br />

<strong>und</strong> Angst zwischen ihnen aufbauen. So wie Erzieherinnen gefähr<strong>de</strong>t sind, Eltern<br />

gegenüber in die Kindrolle zu rutschen, so sind Eltern umgekehrt in Gefahr, die<br />

Erzieherin als eine Art Über-Mutter zu fürchten <strong>und</strong> umgekehrt. Es kann also sein,<br />

dass im Konfl iktfall immer auch die Frage, wer die besseren Eltern sind, unterschwellig<br />

mitverhan<strong>de</strong>lt wird <strong>und</strong> affektiv das Gespräch beeinfl usst. Eine Haltung<br />

<strong>de</strong>r gemeinsamen Sorge um das von bei<strong>de</strong>n betreute Kind kann hier helfen, Konkurrenz<br />

gegen zu steuern. Ebenfalls helfen kann das Bewusstsein <strong>de</strong>r Erzieherin,<br />

dass sie auf ihrem Gebiet Fachfrau ist, also ein selbstbewusstes Auftreten als kollegiale<br />

Partnerin <strong>de</strong>r Eltern, das we<strong>de</strong>r zu zurückhaltend noch zu bestimmend ist.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Gefahr liegt in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifi zierung mit <strong>de</strong>m Kind. Erzieherinnen sind<br />

täglich mit <strong>de</strong>n ihnen anvertrauten Kin<strong>de</strong>rn zusammen <strong>und</strong> daher auch schneller<br />

bereit, <strong>de</strong>ren Perspektive zu übernehmen. Das hat viele Vorteile, kann an<strong>de</strong>rerseits<br />

erschweren sich vorzustellen, wie es <strong>de</strong>n Eltern dieser Kin<strong>de</strong>r geht. Oft gibt es<br />

Vorurteile <strong>de</strong>n Eltern gegenüber, die ein Gespräch von vorn herein schwierig o<strong>de</strong>r<br />

gar aussichtslos erscheinen lassen, also die Haltung <strong>de</strong>n Eltern gegenüber beeinfl<br />

ussen. Oberfl ächliche Eindrücke können durch interessiertes Nachfragen aufgelöst<br />

wer<strong>de</strong>n: „Wenn Sie es hören wollen, sage ich Ihnen gern, wie ich das sehe,<br />

aber dann interessiert mich sehr, wie Sie das sehen…“<br />

Eine offen interessierte Haltung lässt sich wohl am ehesten über die Überzeugung<br />

erreichen, dass alle Eltern es mit ihren Kin<strong>de</strong>rn schaffen wollen, dass alle<br />

Eltern gute Eltern sein wollen. Eltern, die eigenwillige Umgangsformen mit ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn pfl egen o<strong>de</strong>r sogar zu Gewalt greifen, können es oft nicht besser. Gewalt<br />

gegen Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Familie kann – wie an an<strong>de</strong>rer Stelle in dieser Broschüre<br />

beschrieben – als Ausdruck einer familiären Konfl iktsituation <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Versuchs,<br />

Ohnmachtsgefühlen entgegen zu steuern, verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Kin<strong>de</strong>svernachlässigung<br />

ist stärker ein Ausdruck von Resignation <strong>und</strong> Überfor<strong>de</strong>rung. Gespräche<br />

mit Eltern wer<strong>de</strong>n daher immer auf <strong>de</strong>n zugr<strong>und</strong>e liegen<strong>de</strong>n Konfl ikt zielen. Eltern<br />

wollen gute Eltern sein – sie wissen aber nicht wie / können es oft nicht.<br />

Das Konfrontationsgespräch<br />

Für ein konfrontatives Gespräch mit Eltern ist eine gute Vorbereitung wichtig.<br />

Wichtige Fragen, die im Vorfeld überlegt wer<strong>de</strong>n können sind etwa: Was kann<br />

man über das Kind, seine Entwicklung, sein Verhalten insgesamt sagen (mit Stärken<br />

<strong>und</strong> Schwächen)? Welche Erfahrungen habe ich mit <strong>de</strong>n Eltern bislang? Wel-<br />

113


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

che Annahmen habe ich über die Eltern? Was kann Positives über die Eltern gesagt<br />

wer<strong>de</strong>n? Was gefällt mir an ihnen? Was genau ist Anlass zur Sorge <strong>und</strong> für die<br />

Einladung zum Gespräch? Was genau habe ich beobachtet? Welches Ziel will ich<br />

mit <strong>de</strong>m Gespräch erreichen? Insbeson<strong>de</strong>re das Klären <strong>de</strong>r Vorannahmen über die<br />

Eltern scheint wichtig, um <strong>de</strong>n Eltern nicht ängstlich o<strong>de</strong>r ängstigend zu begegnen.<br />

Ungeklärte Vorannahmen bergen immer auch die Gefahr anzunehmen, bereits<br />

alles zu wissen <strong>und</strong> blockieren damit offenes, interessiertes Nachfragen.<br />

Der nächste Schritt ist die Einladung an die Eltern. Wie benenne ich <strong>de</strong>n Anlass?<br />

Es besteht die Gefahr, sich auf Tür-<strong>und</strong>-Angel-Gespräche einzulassen in <strong>de</strong>nen ein<br />

gutes Ergebnis unmöglich zu erreichen ist. Benennen Sie also <strong>de</strong>n Anlass: „Ich<br />

wür<strong>de</strong> gern mit Ihnen über Ihr Kind sprechen. Mir ist in letzter Zeit etwas aufgefallen,<br />

das mich beschäftig <strong>und</strong> ich wür<strong>de</strong> gern wissen, ob Ihnen das auch aufgefallen<br />

ist <strong>und</strong> hören, wie Sie darüber <strong>de</strong>nken.“ Vereinbaren Sie einen Termin <strong>und</strong><br />

schaffen Sie einen schützen<strong>de</strong>n Rahmen: „Ihr Kind ist zu wichtig, als dass wir das<br />

jetzt hier zwischen Tür <strong>und</strong> Angel klären könnten. Es geht ja auch sonst nieman<strong>de</strong>n<br />

etwas an. Lassen Sie uns dazu einen baldigen Termin machen.“<br />

Das Verhalten <strong>de</strong>r Eltern im Gespräch wird nun wesentlich vom Grad ihrer Angst<br />

abhängen. Beson<strong>de</strong>rs Eltern, die unter schwierigen Bedingungen leben, erwarten<br />

von an<strong>de</strong>ren wenig Gutes <strong>und</strong> fühlen sich ten<strong>de</strong>nziell unterlegen <strong>und</strong> beschämt<br />

(ein Faktor, <strong>de</strong>r auch ihre Beziehung zu ihrem Kind prägen kann). So bringen sie<br />

möglicherweise in ein Gespräch Scham- <strong>und</strong> Schuldgefühle <strong>und</strong> eine Angst vor<br />

<strong>de</strong>m Jugendamt, <strong>de</strong>r Strafverfolgung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Herausnahme ihres Kin<strong>de</strong>s mit. Es<br />

kann daher sinnvoll sein, diese Befürchtungen offen anzusprechen <strong>und</strong> sie auch<br />

durch die Atmosphäre im Gespräch zu entkräften. Zur Gesprächsatmosphäre gehört<br />

das „Setting“ also die Frage, wer am Gespräch teilnimmt. Je weniger Personen<br />

<strong>de</strong>n Eltern gegenüber sitzen, <strong>de</strong>sto weniger wer<strong>de</strong>n diese sich beurteilt o<strong>de</strong>r<br />

bedroht fühlen. An<strong>de</strong>rerseits wird eine Erzieherin vermutlich ihrerseits weniger<br />

Angst haben, wenn sie von einer Kollegin unterstützt wird. Hier gilt es abzuwägen,<br />

vor allem aber auch zu erklären, warum noch eine Kollegin o<strong>de</strong>r die Leitung<br />

teilnimmt. Auch Mitschreiben im Gespräch kann kontrollierend <strong>und</strong> ängstigend<br />

erlebt wer<strong>de</strong>n, wenn es nicht erklärt wird. Vom Gespräch sollte ein Protokoll gefertigt<br />

wer<strong>de</strong>n, das die Eltern in Kopie erhalten.<br />

In <strong>de</strong>r Eröffnung <strong>de</strong>s Gesprächs sollen Sinn <strong>und</strong> Ziel benannt wer<strong>de</strong>n. Beschreiben<br />

Sie, was Sie beobachtet haben <strong>und</strong> vermei<strong>de</strong>n Sie Wertungen <strong>und</strong> Interpretationen.<br />

„Ich habe Sie eingela<strong>de</strong>n, weil mir aufgefallen ist, dass … <strong>und</strong> das macht<br />

mir Sorgen. Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind…“ Benennen<br />

Sie auch die für das Gespräch zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Zeit. Mehr als eine St<strong>und</strong>e<br />

ist meist nicht produktiv. „Wir haben jetzt eine St<strong>und</strong>e Zeit, uns darüber auszutauschen.<br />

Sollte die Zeit nicht reichen, können wir uns neu verabre<strong>de</strong>n.“ Die Zeit vor-<br />

114


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

ab zu vereinbaren <strong>und</strong> sie dann auch einzuhalten ist von großer Be<strong>de</strong>utung. Wird<br />

die Zeit nicht <strong>de</strong>fi niert, steigt <strong>de</strong>r Angstpegel <strong>de</strong>r Eltern, weil sie nicht wissen,<br />

wann das Gespräch zu En<strong>de</strong> ist <strong>und</strong> ob noch „heiße Themen“ kommen. Sie sind<br />

dann eventuell blockiert, von sich aus Schwierigkeiten zu benennen. Vermei<strong>de</strong>n<br />

Sie im Gespräch Worte wie Misshandlung <strong>und</strong> lassen Sie im Verlauf erkennen,<br />

dass Sie wissen, dass Erziehung schwierig sein kann, benennen Sie dabei immer<br />

wie<strong>de</strong>r auch positive Beispiele aus <strong>de</strong>r Interaktion <strong>de</strong>r Eltern mit ihrem Kind <strong>und</strong><br />

sagen Sie Positives über das Kind.<br />

Pausen im Gespräch <strong>und</strong> zwischen <strong>de</strong>n Gesprächen können hilfreich sein, das<br />

Gespräch zu über<strong>de</strong>nken <strong>und</strong> mit unangenehmen Affekten umzugehen. Zu lange<br />

Pausen allerdings können ihrerseits wie<strong>de</strong>r Angst machen. Aus einer Pause heraus<br />

führt z. B. die Frage: „Was beschäftigt Sie gera<strong>de</strong>?“<br />

Von <strong>de</strong>r Angst <strong>de</strong>r Eltern vor <strong>de</strong>m Gespräch war schon die Re<strong>de</strong>. Diese Angst kann<br />

zu <strong>de</strong>m führen, was man Wi<strong>de</strong>rstand nennt: Die Eltern kommen nicht o<strong>de</strong>r nur<br />

sehr verspätet zum Gespräch. Vereinbaren Sie einen neuen Termin, betonen Sie<br />

Ihre Sorge <strong>und</strong> werben Sie um die Teilnahme <strong>de</strong>r Eltern. Kommen die Eltern zu<br />

keinem von mehreren vereinbarten Terminen, so sprechen Sie die Schwierigkeiten<br />

an <strong>und</strong> versuchen diese zu ergrün<strong>de</strong>n <strong>und</strong> auszuräumen. Erst wenn alle Versuche<br />

scheiterten, teilen Sie <strong>de</strong>n Eltern mit, dass Sie sich an an<strong>de</strong>re Institutionen wen<strong>de</strong>n<br />

müssen, sollte ein Gespräch nicht zustan<strong>de</strong> kommen.<br />

Beispiel: Ein Kind wird „behan<strong>de</strong>lt wie ein H<strong>und</strong>“:<br />

Ich möchte versuchen, das Gespräch an einem kleinen Beispiel zu skizzieren, in<br />

<strong>de</strong>m es noch keine gravieren<strong>de</strong>n Anzeichen für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> gibt 13 :<br />

Die Erzieherinnen beobachten, wie <strong>de</strong>r neue Stiefvater von Max (drei Jahre alt)<br />

ihn in letzter Zeit beim Abholen anherrscht <strong>und</strong> sofortigen Gehorsam verlangt. Er<br />

zwingt ihn z. B. in die Jacke obwohl es draußen warm ist <strong>und</strong> wirkt sehr gereizt.<br />

Eine Erzieherin fi n<strong>de</strong>t, „er behan<strong>de</strong>lt Max wie einen H<strong>und</strong>“ <strong>und</strong> befürchtet, dahinter<br />

liege eine Erziehungshaltung <strong>de</strong>s Vaters, die <strong>de</strong>m Kind scha<strong>de</strong>n könnte. Max<br />

seinerseits freute sich anfangs über <strong>de</strong>n Kontakt zum neuen Vater <strong>und</strong> lief auf ihn<br />

zu, wenn er kam, nun aber wird er vorsichtiger <strong>und</strong> zeigt keine Freu<strong>de</strong> mehr.<br />

Der Vater erscheint zum Gespräch, die Mutter konnte sich wegen ihrer Arbeit<br />

nicht frei machen. Die Erzieherin könnte das Gespräch etwa wie folgt eröffnen:<br />

„Guten Tag, Herr B., schön, dass Sie gekommen sind <strong>und</strong> scha<strong>de</strong>, dass Ihre Partnerin<br />

nicht da sein kann. Ich habe Sie eingela<strong>de</strong>n, weil ich mir Sorgen um Sie <strong>und</strong><br />

Max mache. Sie holen Ihren Sohn oft ab <strong>und</strong> wir freuen uns, wenn Sie als Vater<br />

sich so um Max kümmern. Und Max freut sich auf Sie. Ich sehe wie er lacht, wenn<br />

13 Ich nehme bewusst kein drastisches Beispiel, weil solche Fälle in <strong>de</strong>r Praxis oft einfacher sind<br />

115


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

Sie kommen. In letzter Zeit aber ist mir einige Male aufgefallen, dass Sie sehr unbeherrscht<br />

waren mit ihm. Letzte Woche z. B. wollte er seine Jacke nicht anziehen<br />

– es war sehr warm draußen – <strong>und</strong> Sie haben ihn voller Wut in die Jacke gestopft.<br />

Schließlich weinte er. Was war <strong>de</strong>nn da los?“<br />

Einige mögliche Reaktionen <strong>de</strong>s Vaters:<br />

Positive Aufnahme: Ach, das ist mir jetzt peinlich. Ich bin donnerstags immer<br />

sehr in Eile <strong>und</strong> an diesem Tag war ich beson<strong>de</strong>rs gestresst, mein Auto ist kaputt<br />

gegangen <strong>und</strong> dann wollte Max nicht gleich mitkommen …<br />

Bagatellisieren<strong>de</strong> Abwehr: Ja <strong>und</strong>? Was soll <strong>de</strong>nn daran so schlimm sein? Deswegen<br />

haben Sie mich hier eingela<strong>de</strong>n? Das hätten Sie mir doch auch gleich sagen<br />

können! Das ist normal, das kommt in <strong>de</strong>n besten Familien vor, da müssen Sie sich<br />

keine Gedanken machen …<br />

Intellektualisieren<strong>de</strong> Abwehr: Max hat schließlich zu tun, was ich sage. Ich bin<br />

sein Vater <strong>und</strong> ich kann es nicht zulassen, wenn er nicht auf mich hört. Kin<strong>de</strong>r<br />

müssen tun, was Eltern sagen.<br />

Zum Gegenangriff übergehen: Wenn ich das schon höre! Diese Kuschelpädagogik,<br />

die hier betrieben wird, ist mir schon lange negativ aufgefallen! Neulich kam<br />

Max nach Hause – da hatten Sie hier wohl mit ihm gemalt – sein ganzes Hemd<br />

war voller Farbe <strong>und</strong> wir hatten dann die Arbeit damit. Bevor Sie mich hier zur<br />

Re<strong>de</strong> stellen, sollten Sie erst mal darüber nach<strong>de</strong>nken, was Sie hier alles falsch<br />

machen! …<br />

Wie geht es dann weiter? Je nach Reaktion <strong>de</strong>s Vaters sind mögliche Fortsetzungen:<br />

Zu 1) Hier setzt Erleichterung über diese positive Aufnahme <strong>de</strong>r Beobachtung ein.<br />

Der weitere Verlauf <strong>de</strong>s Gesprächs ist wohl klar <strong>und</strong> wird kaum weitere Schwierigkeiten<br />

bergen.<br />

Bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Möglichkeiten ist die Affektlage schwieriger. Die Erzieherin fühlt<br />

sich nun möglicherweise auch zurückgewiesen <strong>und</strong> angegriffen, was <strong>de</strong>n Fortgang<br />

erschweren kann.<br />

Zu 2) „Sie haben Recht. Die einzelne Situation für sich wäre vielleicht kein Anlass<br />

für ein solches Gespräch. Aber mir geht es nicht nur um <strong>de</strong>n letzten Donnerstag,<br />

son<strong>de</strong>rn um die Abholsituation insgesamt. Ich empfi n<strong>de</strong> Sie da sehr ungeduldig<br />

mit Max in letzter Zeit. Und Max, <strong>de</strong>r sich früher freute, wenn er Sie sah, wirkt irgendwie<br />

bedrückter …“<br />

Zu 3) „Ich glaube, Sie wollen Max ein guter Vater sein! Sie kümmern sich sehr<br />

um ihn, holen ihn hier regelmäßig ab … Und scheinbar glauben Sie auch, dass ein<br />

116


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

guter Vater ein strenger Vater ist, <strong>de</strong>r keinen Wi<strong>de</strong>rspruch zulässt. Bei Max führt das<br />

dazu, dass er Angst vor Ihnen bekommt. Wollen Sie, dass Max vor Ihnen Angst hat?“<br />

Zu 4) „Offensichtlich fühlen Sie sich angegriffen, Herr B. Das ist nicht meine Absicht.<br />

Ich mache mir Sorgen um Max <strong>und</strong> um Ihre Beziehung <strong>und</strong> darüber möchte<br />

ich mit Ihnen sprechen. Ich nehme auch gern zur Kenntnis, wenn Sie an unserer Arbeit<br />

etwas auszusetzen haben. Sie haben da jetzt einen Punkt benannt, über <strong>de</strong>n wir<br />

auch noch re<strong>de</strong>n sollten. Lassen Sie uns dazu einen an<strong>de</strong>ren Termin machen, heute<br />

soll es um Max gehen <strong>und</strong> darum, worüber wir uns hier Sorgen machen. Warum<br />

war es Ihnen gera<strong>de</strong> in dieser Situation so wichtig, dass Max seine Jacke anzieht?“<br />

Es hilft <strong>de</strong>r Erzieherin also nicht, nun ihrerseits zum Angriff überzugehen o<strong>de</strong>r<br />

sich auf abstrakte Diskussionen (z. B. über die Erziehung von Kin<strong>de</strong>rn generell)<br />

einzulassen. Meist ist es hilfreicher, die Gefühle anzusprechen. Bleiben Sie weiter<br />

bei Ihrer konkreten Sorge <strong>und</strong> Ihrer Beobachtung. Machen Sie <strong>de</strong>utlich, dass es<br />

Ihnen nicht darum geht, die Eltern zu beschämen, anzuklagen o<strong>de</strong>r zu „mel<strong>de</strong>n“,<br />

son<strong>de</strong>rn dass Sie helfen wollen. Wenn Sie gar nicht mehr weiter wissen, sagen Sie<br />

es: „Ich habe <strong>de</strong>n Eindruck, wir kommen im Moment nicht weiter. Sie fühlen sich<br />

vermutlich angegriffen <strong>und</strong> ich weiß nicht, wie wir das aufl ösen können. Vielleicht<br />

sollten wir uns bei<strong>de</strong> Zeit nehmen, mit Abstand über unsere Situation nachzu<strong>de</strong>nken<br />

<strong>und</strong> uns neu verabre<strong>de</strong>n. Was <strong>de</strong>nken Sie darüber?“<br />

Der Fortgang <strong>de</strong>s Gesprächs wird sich nun unterschei<strong>de</strong>n, je nach <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>m<br />

Verhalten <strong>de</strong>s Vaters zugr<strong>und</strong>e liegt: ein Erziehungskonzept („Kin<strong>de</strong>r müssen auf<br />

ihre Eltern hören“) o<strong>de</strong>r eine Ablehnung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, die durch ein Erziehungskonzept<br />

kaschiert wird. Wenn es sich um Ersteres han<strong>de</strong>lt, wird man darüber sprechen,<br />

wie die Abholsituation so gestaltet wer<strong>de</strong>n kann, dass bei<strong>de</strong>, Vater <strong>und</strong> Kind,<br />

damit zufrie<strong>de</strong>n sind <strong>und</strong> sich geachtet fühlen.<br />

Im zweiten Fall wird das Befi n<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s neuen Vaters im Mittelpunkt stehen. Es<br />

könnte sein, dass seinem Verhalten ein Familienkonfl ikt zugr<strong>und</strong>e liegt, bei <strong>de</strong>m<br />

er das Gefühl hat, von <strong>de</strong>r Allianz von Mutter <strong>und</strong> Kind ausgeschlossen, <strong>de</strong>potenziert<br />

zu sein. Zuhause gilt vielleicht nur, was die Mutter sagt o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vater fühlt<br />

sich Max gegenüber zurückgesetzt. Er möchte als neuer Vater eine wichtige Rolle<br />

spielen, hat aber das Gefühl, es nicht zu dürfen <strong>und</strong> nicht ernst genommen zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Erzieherin sollte allerdings nicht von Konfl ikten sprechen, son<strong>de</strong>rn<br />

die Beziehungen nach <strong>und</strong> nach erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> umschreiben: Hier scheint es ja so,<br />

als müssten Sie sich mit aller Kraft gegen Max durchsetzen. Hört Max <strong>de</strong>nn auch<br />

sonst nicht, was Sie sagen? … Wie fühlen Sie sich, wenn Max sich verweigert? …<br />

Und was sagt Max Mutter dazu?<br />

Wenn Sie das Problem ausreichend erk<strong>und</strong>et haben <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Problemsicht übereinstimmen,<br />

kann nun über Verän<strong>de</strong>rungsmöglichkeiten nachgedacht wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

117


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

evtl. die Überleitung zu einem Hilfsangebot erfolgen. Beziehen Sie die Eltern mit<br />

ein, fragen Sie, was die Eltern sich als Hilfe vorstellen können <strong>und</strong> benennen Sie<br />

eventuell verschie<strong>de</strong>ne Angebote. „Sie möchten Max ein guter Vater sein, aber es<br />

gibt offensichtlich Umstän<strong>de</strong>, die Ihnen das erschweren. Wer o<strong>de</strong>r was könnte Ihnen<br />

hier hilfreich sein? …“<br />

Vereinbaren Sie verbindlich eine Fortsetzung <strong>de</strong>s Gesprächs in absehbarer Zeit,<br />

um Verän<strong>de</strong>rungen zu besprechen <strong>und</strong> zu sehen, ob die Eltern sich Hilfe gesucht<br />

haben. Be<strong>de</strong>nken Sie dabei auch, dass es für viele Menschen nicht leicht ist, sich<br />

Hilfe zu holen. Auch wenn das Gespräch mit <strong>de</strong>r Erzieherin positiv verlaufen ist,<br />

ist es doch ein großer Schritt, sich jemand Neues, z. B. in einer Beratungsstelle, zu<br />

suchen <strong>und</strong> sich ihm gegenüber mit seinen Schwierigkeiten zu öffnen.<br />

Wenn die Eltern sich Gesprächen verweigern o<strong>de</strong>r in Gesprächen nicht zugänglich<br />

sind, wird das Hinzuziehen Dritter sinnvoll sein. Das kann je nach Fall zunächst<br />

eine eigene Supervision mit einer Kin<strong>de</strong>rschutzfachkraft sein, in <strong>de</strong>r überlegt wird,<br />

wie man die Eltern doch noch erreichen kann. Wenn das Wohl eines Kin<strong>de</strong>s gefähr<strong>de</strong>t<br />

ist <strong>und</strong> Gespräche mit <strong>de</strong>n Eltern nicht möglich sind o<strong>de</strong>r nicht zu einem<br />

positiven Ergebnis führen, informieren Sie das Jugendamt. Wenn Sie sich an das<br />

Jugendamt wen<strong>de</strong>n sollten Sie die Eltern darüber vorher informieren.<br />

Trennung als Chance<br />

„Ist nicht die schlechteste Familie immer noch besser als ein gutes Heim?“ So lautet<br />

eine <strong>de</strong>r häufi gsten Fragen, wenn das Gespräch auf Kin<strong>de</strong>swohl <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rschutz<br />

kommt. Die Antwort ist ein klares Nein. Denn es geht nicht um die falsche<br />

Alternative „Familie o<strong>de</strong>r Heim?“, son<strong>de</strong>rn um die Frage „In welchem Lebensumfeld<br />

ist das Kin<strong>de</strong>swohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s bestmöglich gesichert?“<br />

Gravieren<strong>de</strong> Fälle von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> tauchen immer wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Medien<br />

auf. Je größer das geschehene Unrecht, <strong>de</strong>sto größer das Bedürfnis nach Rache,<br />

Vergeltung o<strong>de</strong>r Strafe. Diese Logik – die wir alle ein Stück weit in uns tragen<br />

– drängt in Richtung ein<strong>de</strong>utiger, radikaler Maßnahmen <strong>und</strong> Lösungen. Ist ein<br />

Kind ernsthaft zu Scha<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gar zu To<strong>de</strong> gekommen, heißt es meist: „Wieso<br />

hat niemand etwas unternommen?“ Kritik wird aber auch häufi g laut, wenn das<br />

Jugendamt ein Kind in Obhut genommen hat: „Wieso sind hier die Elternrechte<br />

beschnitten wor<strong>de</strong>n?“ Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r einen öffentlich diskutierten Fall von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

aus eigener Anschauung kennt wird bestätigen können, dass <strong>de</strong>ssen<br />

Wirklichkeit wesentlich komplexer ist, als seine meist recht einseitige Darstellung<br />

in <strong>de</strong>n Medien.<br />

Kurz <strong>und</strong> gut: die Frage <strong>de</strong>r Trennung von Eltern <strong>und</strong> Kind ist eine moralisch <strong>und</strong><br />

i<strong>de</strong>ologisch hoch aufgela<strong>de</strong>ne. Je ein<strong>de</strong>utiger man sich dazu positioniert <strong>de</strong>sto sicherer<br />

kann man sein, Wi<strong>de</strong>rspruch hervorzurufen. Hier wird Trennung nicht als<br />

118


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

„letzte Möglichkeit“ o<strong>de</strong>r als „äußerstes Mittel“ begriffen, son<strong>de</strong>rn als notwendige<br />

<strong>und</strong> angemessene Intervention in bestimmten Fällen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes. Sie kann<br />

eine Chance für alle Beteiligten be<strong>de</strong>uten.<br />

Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Überlegungen steht eine vorübergehen<strong>de</strong> Trennung im Sinne<br />

einer Krisenintervention. Dabei sind hier lediglich einige zentrale Aspekte thematisierbar.<br />

Die langfristige Rückführung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in seine Familie ist das moralisch<br />

<strong>und</strong> rechtlich angestrebte Ziel je<strong>de</strong>r Fremdunterbringung. Nüchtern betrachtet<br />

muss jedoch festgestellt wer<strong>de</strong>n, dass die Realisierung dieses Ziels für viele <strong>de</strong>r<br />

betroffenen Kin<strong>de</strong>r eine Utopie bleibt.<br />

Die Chance für das Kind<br />

Spektakulär, d.h. medienwirksam, sind in <strong>de</strong>r Regel die Fälle, in <strong>de</strong>nen ein Kind<br />

körperlichen Scha<strong>de</strong>n nimmt. <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ist jedoch in <strong>de</strong>r Regel kein<br />

einmaliges Geschehen, son<strong>de</strong>rn Folge einer die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s gravierend<br />

behin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Umgebung. Die schleichen<strong>de</strong> Einschränkung, Behin<strong>de</strong>rung<br />

<strong>und</strong> Schädigung <strong>de</strong>r (Persönlichkeits-) Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s hat fatale Auswirkungen,<br />

die auf das gesamte Leben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ausstrahlen. Die Chance für das<br />

Kind bei einer Trennung besteht darin, in einer Umgebung aufzuwachsen, die sein<br />

Wohl <strong>und</strong> seine Entwicklung för<strong>de</strong>rt, statt sie zu behin<strong>de</strong>rn.<br />

Zwar ist die Trennung einer Familie ein dramatischer Eingriff, viele <strong>de</strong>r betroffenen<br />

Kin<strong>de</strong>r erleben sie jedoch auch als Entlastung. Daher greift das häufi g gegen<br />

eine Trennung eingesetzte Argument <strong>de</strong>r „Traumatisierung durch die Trennung“<br />

zu kurz. Denn eine Trennung schützt das Kind vor weiteren Übergriffen, sowie vor<br />

einer belasten<strong>de</strong>n bis schädigen<strong>de</strong>n familiären Dynamik.<br />

Das häufi g unproblematische Ankommen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r in einer Kriseneinrichtung<br />

ist oft Ausdruck ihrer Fehlentwicklungen im sozialen <strong>und</strong> emotionalen Bereich.<br />

Insofern ist die Arbeit mit <strong>de</strong>m Kind in <strong>de</strong>r Einrichtung in erster Linie Beziehungsarbeit<br />

im Sinne von Begegnung. Viele <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r erleben erstmals Erwachsene,<br />

die ihnen zugewandt sind, die ihnen empathisch begegnen <strong>und</strong> sie annehmen, die<br />

ihre eigenen Wünsche <strong>und</strong> Bedürfnisse verständlich artikulieren, die Grenzen setzen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Han<strong>de</strong>ln konsistent <strong>und</strong> konsequent ist. So haben sie die Chance, in<br />

einer zugewandten <strong>und</strong> nachvollziehbar strukturierten Umgebung Entwicklungs<strong>de</strong>fi<br />

zite aufzuholen. Die Beziehungsarbeit mit <strong>de</strong>m Kind ist eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Voraussetzung dafür, dass es sich selbst als Person mit Wünschen <strong>und</strong> Bedürfnissen<br />

ent<strong>de</strong>cken lernt. Und erst dann können diese auch zugelassen <strong>und</strong> artikuliert<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Zur Beziehungsarbeit gehört auch, das Kind von <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s bösen, zu reparieren<strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>s zu entlasten. Dies beinhaltet u.a., seinen Zwiespalt zwischen <strong>de</strong>r<br />

Loyalität mit <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Wohlbefi n<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Einrichtung zu kennen,<br />

zu benennen <strong>und</strong> gemeinsam mit <strong>de</strong>m Kind auszuhalten. Die Solidarisierung <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r mit ihren Eltern bis hin zu ihrer I<strong>de</strong>alisierung ist einerseits eine normale<br />

119


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

Reaktion, an<strong>de</strong>rerseits drücken sich darin auch die problematischen Beziehungen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Dynamik innerhalb <strong>de</strong>r Familie aus. Die familiäre Situation ist die einzig<br />

mögliche Wirklichkeit, die die Kin<strong>de</strong>r bis zur Trennung kannten. Wie sollten<br />

sie zwischen ihren Eltern als zentralen Bezugspersonen <strong>und</strong> ihren Eltern als ihnen<br />

Gewalt Antuen<strong>de</strong> unterschei<strong>de</strong>n können? Dies kann dazu führen, dass das Kind<br />

unbedingt wie<strong>de</strong>r bei seinen Eltern leben will (= Kin<strong>de</strong>swille), auch wenn sich<br />

die beteiligten Helfer einig sind, dass sein Wohl dort nach wie vor gefähr<strong>de</strong>t ist<br />

(= Kin<strong>de</strong>swohl). Hier ist von Seiten <strong>de</strong>r Mitarbeiterinnen <strong>de</strong>r Einrichtung ein hohes<br />

Maß an Einfühlungsvermögen <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Eltern gegenüber gefor<strong>de</strong>rt,<br />

ohne die eigene Überzeugung davon bestimmen zu lassen.<br />

Dieser Punkt einer Krisenintervention ist vielleicht <strong>de</strong>r komplizierteste, <strong>de</strong>nn<br />

Trennungssituationen im Rahmen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes rühren immer auch gesellschaftliche<br />

<strong>und</strong> i<strong>de</strong>ologische Dimensionen an. Sie lösen bei <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

Bezugspersonen häufi g einen Refl ex zum „Schutz <strong>de</strong>r Familie“ aus. Dies verlangt<br />

als Gegenpol vom <strong>Helfen</strong><strong>de</strong>n ein feines Gespür für die Unterscheidung zwischen<br />

<strong>de</strong>m was daran realistisch <strong>und</strong> was daran illusorisch ist.<br />

Die Chance für die Eltern<br />

Für die Eltern ist eine (vorübergehen<strong>de</strong>) Trennung ein <strong>de</strong>utliches Stop-Signal: „So<br />

geht es nicht weiter!“ Die Trennung eines Kin<strong>de</strong>s von seiner Familie erfolgt entwe<strong>de</strong>r<br />

mit Zustimmung <strong>de</strong>r Eltern (nach § 34 SGB VIII) o<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>ren Willen<br />

(nach § 42 SGB VIII, „Inobhutnahme“).<br />

Oft haben die Eltern eine gr<strong>und</strong>sätzliche abwehren<strong>de</strong> Haltung gegenüber <strong>de</strong>r Trennung<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Krisenunterbringung, die sich verschie<strong>de</strong>n äußert: „Mein Kind verhält<br />

sich erst so, seit es in <strong>de</strong>r Einrichtung ist.“ „Die Einrichtung kümmert sich<br />

nicht gut um das Kind.“ „Ich habe mich immer um Hilfe bemüht <strong>und</strong> keine bekommen.“<br />

„Ich tue alles für mein Kind.“ Für viele Eltern, die mit <strong>de</strong>r Trennung<br />

von ihrem Kind nicht (o<strong>de</strong>r nur begrenzt) einverstan<strong>de</strong>n sind, ist die Einrichtung<br />

in <strong>de</strong>r ihr Kind nun lebt eine min<strong>de</strong>stens latente Bedrohung. Sie erleben sich in<br />

Konkurrenz mit <strong>de</strong>n Mitarbeitern, fühlen sich insgesamt ungerecht behan<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r<br />

nicht ernst genommen. Mehr noch als unter <strong>de</strong>r Trennung selbst lei<strong>de</strong>n viele Eltern<br />

vielleicht unter <strong>de</strong>r Kränkung, in <strong>de</strong>n Augen wichtiger an<strong>de</strong>rer keine kompetenten<br />

Eltern zu sein. Folgen<strong>de</strong> Fragen kommen so in <strong>de</strong>n Fokus: Wie funktioniert<br />

die Familie, wenn das Kind nicht da ist? Welche Gefühle löst dies bei <strong>de</strong>n Eltern<br />

aus? Wie begegnen sich Eltern <strong>und</strong> Kind bei <strong>de</strong>n Besuchskontakten? Können sie<br />

Hilfestellungen in <strong>de</strong>r Begegnung mit ihrem Kind annehmen? Lassen Sie sich auf<br />

das Angebot einer Beratung ein?<br />

Die Eltern haben bei einer Trennung die Chance, sich mit Hilfe eines Beraters an<br />

ihrer Seite mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r aktuellen Situation ihrer Familie auseinan<strong>de</strong>r<br />

zu setzen <strong>und</strong> bei <strong>de</strong>n Besuchskontakten einen an<strong>de</strong>ren Kontakt zu ihren Kin<strong>de</strong>rn<br />

aufzubauen. In <strong>de</strong>r Beratung gilt es einerseits, die Eltern in ihren Sorgen <strong>und</strong><br />

Wünschen ernst zu nehmen, an<strong>de</strong>rerseits die Realität <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

120


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Trennung aufrecht zu halten. Die erste Frage lautet häufi g: Lässt sich eine<br />

gemeinsame Problem<strong>de</strong>fi nition erarbeiten? Erst dann kann <strong>de</strong>r wichtige Schritt in<br />

Richtung <strong>de</strong>r Übernahme von Verantwortung für das Geschehene <strong>und</strong> für die Zukunft<br />

gegangen wer<strong>de</strong>n. Die räumliche <strong>und</strong> personelle Trennung von Beratung <strong>de</strong>r<br />

Eltern <strong>und</strong> Unterbringung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ist hier hilfreich, ebenso wie die Regelung,<br />

die Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Krisenunterbringung nicht nach Hause zu beurlauben.<br />

Häufi g ist <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Perspektiventwicklung für die Mitarbeiter <strong>de</strong>r Einrichtung<br />

dadurch belastet, die Konfrontation zwischen Eltern <strong>und</strong> Jugendamt ausbalancieren<br />

zu müssen. Zugespitzt lautet diese Frage: „Wie hilft man jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r<br />

sich nicht helfen lassen will?“ Da das unmöglich ist, bleibt mitunter das ungute<br />

Gefühl, sich trotz hehrer I<strong>de</strong>ale, gesetzlicher Vorgaben <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Überzeugung das<br />

fachlich Richtige zu tun, über <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Eltern zum Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s hinwegzusetzen.<br />

Die Chance für das Jugendamt<br />

Am Anfang einer Krisenunterbringung gibt es in <strong>de</strong>r Regel mehr Fragen als Antworten.<br />

Lässt sich zwischen Eltern <strong>und</strong> Helfern eine gemeinsame Sichtweise <strong>de</strong>r<br />

familiären Situation herstellen? Übernehmen die Eltern die Verantwortung für das<br />

Geschehene <strong>und</strong> für die Zukunft? Was sind die Ressourcen <strong>de</strong>r Familie? Wie die<br />

familiäre Dynamik? Wie ist <strong>de</strong>r Entwicklungsstand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s? Wie sein Bedarf?<br />

Was ist die Perspektive für die Zukunft? Was ist ggf. die bestmögliche zukünftige<br />

Unterbringungsform für das Kind?<br />

Kommen die beteiligten Fachkräfte zu <strong>de</strong>r Entscheidung, dass eine Herausnahme<br />

eines Kin<strong>de</strong>s aus seiner Familie notwendig ist, erfolgt i<strong>de</strong>alerweise zunächst eine<br />

vorübergehen<strong>de</strong> Trennung mit Unterbringung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s für die kommen<strong>de</strong>n Monate<br />

in einer Kriseneinrichtung. Der Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, die Klärung <strong>de</strong>r offenen<br />

Fragen <strong>und</strong> die Entwicklung einer tragfähigen Perspektive ist ein aufwändiger<br />

Prozess, <strong>de</strong>r eine angemessene personelle Ausstattung <strong>und</strong> Qualifi kation verlangt.<br />

All diese Fragen bei garantiertem Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s gut <strong>und</strong> gründlich zu klären,<br />

ist die Chance für das Jugendamt bei einer Trennung von Eltern <strong>und</strong> Kind.<br />

Beispielsweise müssen Rahmen <strong>und</strong> Setting <strong>de</strong>r Kontakte zwischen Eltern <strong>und</strong><br />

Kind angemessen <strong>und</strong> individuell gestaltet wer<strong>de</strong>n. Je nach Indikation sind zwischen<br />

einer sozialraumorientierten <strong>und</strong> einer <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong><br />

stellen<strong>de</strong>n Unterbringung verschie<strong>de</strong>ne Mischformen möglich: Im ersten<br />

Fall ist es sinnvoll, dass das Kind in seine alte Schule geht <strong>und</strong> die Eltern in<br />

<strong>de</strong>r Einrichtung zu Besuch kommen. Im zweiten ist es aus Kin<strong>de</strong>rschutzgrün<strong>de</strong>n<br />

notwendig, <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>r Unterbringung <strong>de</strong>n Eltern nicht mitzuteilen, das Kind umzuschulen<br />

<strong>und</strong> die Kontakte als Begleiteten Umgang zu gestalten.<br />

Je<strong>de</strong> Frage im Rahmen <strong>de</strong>s Klärungsprozesses, etwa nach Gestaltung <strong>de</strong>r Kontakte<br />

zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind o<strong>de</strong>r nur nach einem momentan nicht auffi ndbaren<br />

zweiten Schuh, birgt Zündstoff. An je<strong>de</strong>r Stelle kann je<strong>de</strong>rzeit die Dynamik<br />

<strong>de</strong>s Familienkonfl iktes aufbrechen. Die Kriseneinrichtung fungiert hier ge-<br />

121


Wer hilft bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wie?<br />

wissermaßen als Puffer zwischen <strong>de</strong>n Wünschen <strong>und</strong> Bedürfnissen aller Beteiligten.<br />

Darüber hinaus kann sie die bisherigen Helfer <strong>und</strong> Bezugspersonen als wichtige<br />

Informationsquelle einbeziehen, das Kind in <strong>de</strong>r komplizierten Situation <strong>de</strong>r<br />

Trennung stützen, sowie zu medizinischen Untersuchungen <strong>und</strong> psychologischen<br />

Diagnostiken angemessen begleiten. Durch die Arbeit mit <strong>de</strong>m Kind <strong>und</strong> seiner<br />

Familie entsteht ein beziehungs- <strong>und</strong> alltagsdiagnostisch präzises Bild seines Entwicklungsstan<strong>de</strong>s,<br />

seiner Fähigkeiten <strong>und</strong> seiner Probleme sowie Symptomatiken.<br />

Dadurch kann <strong>de</strong>r Hilfebedarf exakt formuliert wer<strong>de</strong>n.<br />

Trennung als professionelle Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

Alle Fragen im Rahmen einer Trennung von Kind <strong>und</strong> Familie machen ein<strong>de</strong>utige,<br />

objektiv richtige Antworten unmöglich. Die Falllage allein stellt keine ausreichen<strong>de</strong><br />

Handlungsgr<strong>und</strong>lage dar. Den beteiligten Helfern bleibt nur, sich zu<br />

positionieren. Das heißt, alle bekannten Fakten zu erörtern, eine Einschätzung<br />

vorzunehmen <strong>und</strong> anschließend eine klare Haltung – orientiert an <strong>de</strong>n Eckpfeilern<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>swohl – zu entwickeln. Eine solche Positionierung macht<br />

die Arbeit mit einer Familie in <strong>de</strong>r Trennungssituation überhaupt erst möglich, die<br />

nur im Ausnahmefall konfl iktfrei verlaufen wird. Krisenintervention <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rschutz<br />

ist Arbeit an Beziehungen, die alle Beteiligten in ihren Sorgen, Ängsten,<br />

Motivationen, aber auch in ihrem Han<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Konsequenzen für das Kind<br />

ernst nimmt.<br />

Neben <strong>de</strong>m äußeren Rahmen ausreichen<strong>de</strong>r Räumlichkeiten, personeller Ausstattung<br />

<strong>und</strong> Qualifi kation <strong>de</strong>r (Krisen-) Einrichtung, ist einerseits Selbstrefl exion, an<strong>de</strong>rerseits<br />

die Refl exion <strong>de</strong>r Auswirkungen <strong>de</strong>r Familiendynamik auf das Team unverzichtbar.<br />

Das umschließt supervisorische Begleitung ebenso wie die enge Vernetzung<br />

aller beteiligten Helfer, um die häufi g unterschiedlich erlebten Teile <strong>de</strong>r<br />

Familie <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Dynamik in ein gemeinsames Bild <strong>de</strong>r Familie zu integrieren.<br />

Gelingt dies, kann ein dreidimensionales Bild <strong>de</strong>r Familie entstehen. Misslingt es,<br />

setzt sich <strong>de</strong>r Familienkonfl ikt zwischen <strong>de</strong>n beteiligten Helfern fort.<br />

Die komplexen Aufgaben bei einer Trennung sind keine objektivierbaren, technischen<br />

Ausführungen moralischer <strong>und</strong> rechtlicher Rahmenbedingungen; Kin<strong>de</strong>rschutz<br />

kann nur gelingen als kongeniale Mischung aus empathischem <strong>und</strong> subjektivem<br />

Engagement, fachlicher Qualität <strong>und</strong> einer ein<strong>de</strong>utigen Haltung <strong>de</strong>r Familie<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind gegenüber.<br />

122


123


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

11<br />

In <strong>de</strong>n vorigen Kapiteln dieses Handbuches wur<strong>de</strong>n bereits die Risikofaktoren, die<br />

Ursachen, Formen <strong>und</strong> Auswirkungen von Vernachlässigung <strong>und</strong> Misshandlung<br />

von Kin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Familie erörtert. Die Hervorhebung <strong>de</strong>r Familien mit Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn soll hier einige Beson<strong>de</strong>rheiten dieser Familiensituation<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>n Familien herausstellen.<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r sind in ganz beson<strong>de</strong>rem Maße darauf angewiesen,<br />

dass ihre familiäre Umgebung ihr körperliches <strong>und</strong> seelisches Wohlergehen <strong>und</strong> ihre<br />

Entwicklung sichert. Familien brauchen in dieser Phase sowohl eigene Kräfte<br />

<strong>und</strong> Fähigkeiten als auch das Wohlwollen <strong>und</strong> die Unterstützung <strong>de</strong>r Gemeinschaft.<br />

Die Sicherung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls in <strong>de</strong>r frühen Phase <strong>de</strong>r kindlichen <strong>und</strong> familiären<br />

Entwicklung gehört zu <strong>de</strong>n vordringlichen Aufgaben eines verantwortungsvollen<br />

Kin<strong>de</strong>rschutzes <strong>und</strong> ist insofern im besten Sinne <strong>de</strong>s Wortes Prävention von <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>.<br />

Fachkräfte <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Jugendhilfe unterstützen<br />

Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> kümmern sich beson<strong>de</strong>rs<br />

um die Familien, die großen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind.<br />

Der Aufbau sozialer Frühwarnsysteme <strong>und</strong> die Unterstützung von Familien durch<br />

Frühe Hilfen sollen dazu beitragen, die Risiken für die Entwicklung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

zu verringern <strong>und</strong> die Schutzfaktoren für eine ausreichen<strong>de</strong> Entwicklung zu vermehren<br />

1 .<br />

Der Handlungsdruck wächst bei <strong>de</strong>n medizinischen <strong>und</strong> psychosozialen Fachkräften<br />

in <strong>und</strong> außerhalb <strong>de</strong>r Jugendhilfe umso schneller, je mehr belasten<strong>de</strong> Lebensbedingungen<br />

in einer Familie vorherrschen <strong>und</strong> je geringer die Ressourcen in <strong>de</strong>r Familie<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Eigeninitiative eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Diesem Druck Stand zu halten,<br />

mit <strong>de</strong>n Familien in Kontakt zu kommen <strong>und</strong> ihnen rechtzeitig, angemessen <strong>und</strong><br />

verlässlich zur Seite zu stehen ist eine große fachliche <strong>und</strong> persönliche Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />

Einige Aspekte dieser Arbeit sollen im Folgen<strong>de</strong>n herausgestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

1. Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Familiensituation führen zu Beson<strong>de</strong>rheiten im<br />

Zugang zu <strong>de</strong>n Familien<br />

Die Geburt eines Kin<strong>de</strong>s wird oft als freudiges Ereignis bezeichnet. Darin steckt<br />

auch eine Erwartungshaltung <strong>de</strong>n Eltern gegenüber: Sie vor allem sollen sich freuen,<br />

das Kind freudig an- <strong>und</strong> aufnehmen <strong>und</strong> mit viel Freu<strong>de</strong> versorgen. O<strong>de</strong>r es<br />

freuen sich – aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer – beson<strong>de</strong>rs diejenigen über die<br />

Geburt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, die zum freudigen Ereignis gratulieren. Im Unterschied o<strong>de</strong>r<br />

als Ergänzung dazu ist in <strong>de</strong>r Fachliteratur zum Thema „Geburt eines Kin<strong>de</strong>s“ von<br />

einer Krise zu lesen. 2 Wie geht das zusammen? Worum geht es? Was macht die<br />

Geburt eines Kin<strong>de</strong>s beson<strong>de</strong>rs <strong>und</strong> was verän<strong>de</strong>rt sich in einer Familie?<br />

1 Aktionsprogramm <strong>de</strong>s BMFSFJ „Frühe Hilfen für Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Soziale Frühwarnsysteme“<br />

2 D. N. Stern beschreibt in seinem Buch „Die Mutterschaftskonstellation“ (Klett-Cotta, 1998), die re-<br />

124


Die Zeit um die Geburt <strong>und</strong> die Zeit nach <strong>de</strong>r Geburt eines Kin<strong>de</strong>s sind sehr intime<br />

Perio<strong>de</strong>n in Familien <strong>und</strong> mit viel Hoffnung <strong>und</strong> entsprechend positiven Erwartungen<br />

verknüpft. Viele Eltern wollen es gera<strong>de</strong> am Anfang allein schaffen.<br />

Sie müssen sich erst einmal an die neuen Situationen <strong>und</strong> Anfor<strong>de</strong>rungen gewöhnen.<br />

Gefühle von großem Glück über dieses W<strong>und</strong>er, nun ein Kind zu haben, <strong>und</strong><br />

Gefühle von Verunsicherung <strong>und</strong> Erschöpfung wechseln einan<strong>de</strong>r rasch ab. Neue<br />

Sorgen <strong>und</strong> Fragen tauchen auf, Bedürfnisse nach Unterstützung <strong>und</strong> Verständnis<br />

entstehen, aber je<strong>de</strong>r Tag ist auch an<strong>de</strong>rs.<br />

Anfangsschwierigkeiten gehören zu dieser neuen gemeinsamen Zeit <strong>und</strong> viele Eltern<br />

kommen zügig <strong>und</strong> gut darüber hinweg. Bei an<strong>de</strong>ren dauert das länger o<strong>de</strong>r<br />

ist viel schwieriger, aber sie hören nicht auf zu hoffen <strong>und</strong> leben mitunter wochenlang<br />

sehr einsam in extremen Belastungssituationen. Das kann zu schwierigen<br />

Entwicklungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung führen.<br />

Wer früh helfen will, muss sich zunächst einmal dieser beson<strong>de</strong>ren Situation bewusst<br />

sein <strong>und</strong> das Zögern von Eltern, sich Hilfe zu holen, als solches wahrnehmen<br />

<strong>und</strong> respektieren. 3<br />

2. Beson<strong>de</strong>rheiten im <strong>Erkennen</strong> einer Gefährdungslage <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Risikoabschätzung<br />

Ob <strong>und</strong> wann Eltern selber erkennen können, dass sie Unterstützung benötigen<br />

<strong>und</strong> nicht mehr aus eigenen Kräften heraus mit ihrem Kleinkind <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Bedürfnissen<br />

o<strong>de</strong>r Beson<strong>de</strong>rheiten zurechtkommen, hängt offensichtlich von sehr<br />

vielen Umstän<strong>de</strong>n ab wie:<br />

❍ <strong>de</strong>r aktuellen Familiensituation;<br />

❍ <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Bedürfnissen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s;<br />

❍ <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Klima insgesamt (wie interessiert, anerkennend, unterstützend<br />

großzügig <strong>und</strong> solidarisch verhält sich die Gemeinschaft Familien mit<br />

Kin<strong>de</strong>rn gegenüber);<br />

❍ <strong>de</strong>n eigenen Lebenserfahrungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Erfahrungen mit Hilfe;<br />

❍ <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r jeweiligen regionalen Hilfelandschaft;<br />

❍ <strong>de</strong>m Selbstwertgefühl <strong>de</strong>r Eltern;<br />

❍ <strong>de</strong>n sozialen Kompetenzen;<br />

❍<br />

<strong>de</strong>m Maß an Selbstvertrauen <strong>und</strong> Vertrauen an<strong>de</strong>ren Menschen gegenüber.<br />

präsentationale Welt <strong>de</strong>r Eltern, die sowohl die realen Interaktionen, die die Eltern mit <strong>de</strong>m Kind erleben,<br />

einschließen als auch die Phantasien, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen, <strong>und</strong> Prophezeiungen,<br />

welche die Zukunft betreffen. Er benennt Themen, die Eltern eben nur in dieser Zeit so beschäftigen<br />

<strong>und</strong> die auch entsprechen<strong>de</strong> Ängste <strong>und</strong> Unsicherheiten auslösen.<br />

3 M. Papousek thematisiert die Verunsicherungen junger Eltern heute zwischen Überfürsorglichkeit,<br />

überhöhten Selbstansprüchen bis zur Selbstaufgabe <strong>und</strong> <strong>de</strong>n sich daraus entwickeln<strong>de</strong>n Ängsten.<br />

Vgl.: Seelische Ges<strong>und</strong>heit in <strong>de</strong>r frühen Kindheit. In: Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung,<br />

Jahrgang 2, Heft 1, 2-14<br />

125


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Inwiefern Fachkräfte also Familien mit gefähr<strong>de</strong>ten Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn<br />

begegnen – <strong>und</strong> das ist ja die Voraussetzung dafür, eine Gefährdung abwen<strong>de</strong>n zu<br />

können – hängt insofern nicht nur von <strong>de</strong>n Familien selber, son<strong>de</strong>rn ebenso von<br />

<strong>de</strong>r Gemeinschaft insgesamt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Hilfesystem im Beson<strong>de</strong>ren ab.<br />

Der Zusammenarbeit <strong>und</strong> Vernetzung von medizinischen Einrichtungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe kommt dabei eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zu, <strong>de</strong>nn psychosozial belastete<br />

Eltern mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn suchen vorrangig eine Kin<strong>de</strong>rarztpraxis,<br />

manchmal eine Hebamme o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re medizinische Einrichtungen auf. Insofern<br />

beginnt die Risikoabschätzung bereits hier <strong>und</strong> gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Entwicklungen<br />

können in <strong>de</strong>n Blick genommen <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>n Eltern erstmals thematisiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Damit können dann wertvolle Brücken zu weitergehen<strong>de</strong>n ambulanten, stationären,<br />

kommunalen <strong>und</strong> therapeutischen Hilfen gebaut wer<strong>de</strong>n. Wir können davon<br />

ausgehen – <strong>und</strong> das ist <strong>de</strong>r beste Schutzfaktor –, dass alle Eltern gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

an einer ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> guten Entwicklung ihres kleinen Kin<strong>de</strong>s interessiert sind.<br />

Welche Risiken sind bekannt?<br />

In <strong>de</strong>r Fachliteratur lassen sich relativ übereinstimmend drei Blickrichtungen erkennen:<br />

❍ Risiken, die in Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r frühkindlichen Entwicklungsphase liegen<br />

(Schwangerschaft, Geburt, Temperament, Regulationsprobleme)<br />

❍ Risiken auf Seiten <strong>de</strong>r Eltern, ihrer Biographien, ihrer Ges<strong>und</strong>heit, <strong>de</strong>r psychosozialen<br />

Lage, <strong>de</strong>r Ausprägung ihrer intuitiven elterlichen Fähigkeiten<br />

❍ Risiken, die im familiären Kontext liegen (Fehlen eines Elternteils, Probleme<br />

in <strong>de</strong>r Paarbeziehung)<br />

❍<br />

Risiken, die sich daraus ergeben, dass Familien mit Kin<strong>de</strong>rn in mehrfacher<br />

Hinsicht unterversorgt sein können, in Armut <strong>und</strong> damit auch in einen großen<br />

Mangel an sozialen Bezügen <strong>und</strong> Beziehungen geraten sind.<br />

Insofern bezieht sich ein Nach<strong>de</strong>nken über Frühe Hilfen <strong>und</strong> die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

Entwicklung von Kin<strong>de</strong>rn auch immer auf die gesellschaftliche Verantwortung für<br />

die Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Familien mit Kin<strong>de</strong>rn. Dabei gefähr<strong>de</strong>t meist nicht das<br />

Auftreten eines dieser Risiken, z. B. <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rjährigkeit <strong>de</strong>r Eltern o<strong>de</strong>r die psychische<br />

Erkrankung eines Elternteils, allein schon die Entwicklung eines Kin<strong>de</strong>s.<br />

Erst die Häufung von verschie<strong>de</strong>nen belasten<strong>de</strong>n Bedingungen kann zu schwerwiegen<strong>de</strong>n<br />

Beeinträchtigungen für das Kin<strong>de</strong>swohl führen.<br />

Für die Abschätzung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Risiken wer<strong>de</strong>n inzwischen eine Reihe<br />

strukturierter Verfahren vorgeschlagen <strong>und</strong> bereits genutzt <strong>und</strong> die Diskussion darüber<br />

ist in vollem Gange. 4 Fachkräfte haben die Aufgabe, sich mit <strong>de</strong>n in ihrer<br />

Region <strong>und</strong> in ihrem Arbeitsfeld genutzten Verfahren zur Risikoabschätzung ver-<br />

4 Vgl. Kapitel 9 im vorliegen<strong>de</strong>n Handbuch<br />

126


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

traut zu machen, <strong>de</strong>ren Anwendbarkeit im eigenen Feld zu prüfen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

zu modifi zieren.<br />

Zwei Fragen sind dabei zunächst zu klären:<br />

❍ Wie kann es gelingen, mit <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> eventuell auch weiteren Fachkräften<br />

gemeinsam zu einer realistischen Einschätzung zu kommen, um darauf aufbauend<br />

Hilfe auf <strong>de</strong>n Weg zu bringen <strong>und</strong> so die bereits eingetretene o<strong>de</strong>r mögliche<br />

Gefährdung abzuwen<strong>de</strong>n?<br />

❍ Wie ist dafür ein Arbeitsrahmen zu schaffen, <strong>de</strong>r eine fachlich f<strong>und</strong>ierte Risikoabschätzung<br />

überhaupt erst ermöglicht?<br />

Die Einschätzung <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r elterlichen Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Entwicklungsbedürfnisse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s erfor<strong>de</strong>rt bei Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn beson<strong>de</strong>re Kompetenzen, Erfahrungen <strong>und</strong> Metho<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

einen zeitlichen Rahmen, <strong>de</strong>r nicht in je<strong>de</strong>m Bereich von vornherein zur Verfügung<br />

steht.<br />

Erfahrungsgemäß ist es sinnvoll, mit <strong>de</strong>n Eltern ausführlich über ihre Lebenssituation<br />

ins Gespräch zu kommen <strong>und</strong> die Eltern mit <strong>de</strong>m Kind mehrmals in verschie<strong>de</strong>nen<br />

Situationen gemeinsam zu erleben (sei es bei <strong>de</strong>r Beschäftigung <strong>de</strong>r Eltern<br />

mit ihrem Kleinkind, beim Füttern <strong>und</strong> Wickeln, beim Erzählen über ihr Kind <strong>und</strong><br />

möglicherweise auch in <strong>de</strong>r häuslichen Umgebung). Gleichzeitig sollte <strong>de</strong>r Blick<br />

geschult sein, das jeweilige Kind selbst genau zu sehen, seinen Entwicklungsstand,<br />

seine Beson<strong>de</strong>rheiten auf <strong>de</strong>m Hintergr<strong>und</strong> eines f<strong>und</strong>ierten Wissens über<br />

die Säuglingsentwicklung allgemein <strong>und</strong> die möglichen Hinweise auf frühkindliche<br />

Auffälligkeiten im Beson<strong>de</strong>ren. 5<br />

3. Beson<strong>de</strong>re Ursachen für die Misshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung von<br />

Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Familie<br />

Wie schon weiter vorn in diesem Buch ausgeführt wur<strong>de</strong>, sind die Ursachen nicht<br />

eindimensional, son<strong>de</strong>rn als kontextuelles Geschehen zu verstehen (sozio-kultureller<br />

Kontext, familiärer, individueller <strong>und</strong> <strong>de</strong>r jeweilige Krisenkontext). Wenn<br />

Eltern ihre Säuglinge schwer verletzen o<strong>de</strong>r nicht genügend <strong>und</strong> angemessen versorgen,<br />

kann das als Konfl ikt verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zu einer gefährlichen Entgleisung<br />

in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung führt.<br />

Was liegt einem so schweren Konfl ikt zugr<strong>und</strong>e?<br />

Die intuitiven elterlichen Fähigkeiten können an ihre Grenzen geraten sein<br />

o<strong>de</strong>r sie sind blockiert o<strong>de</strong>r sie sind nicht ausreichend vorhan<strong>de</strong>n. 6<br />

❍<br />

5 Vgl.: T. Ostler, U. Ziegenhain: Risikoeinschätzung bei (drohen<strong>de</strong>r) <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>: Überlegungen<br />

zu Diagnostik <strong>und</strong> Entwicklungsprognose im Frühbereich. In: Ziegenhain, Fegert (Hg): <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

<strong>und</strong> Vernachlässigung. Reinhardt Verlag, München, 2008<br />

6 M. Papousek: Das Münchener Mo<strong>de</strong>ll einer interaktionszentrierten Säuglings-Eltern-Beratung <strong>und</strong><br />

-Psychotherapie In: Kai von Klitzing (Hg): Psychotherapie in <strong>de</strong>r frühen Kindheit. Van<strong>de</strong>nhoeck &<br />

127


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

128<br />

Eltern können in <strong>de</strong>r Situation mit ihrem kleinen Kind aus unterschiedlichen<br />

Grün<strong>de</strong>n schwer überfor<strong>de</strong>rt sein.<br />

Die scheinbar unstillbaren Bedürfnisse ihres Säuglings können bei <strong>de</strong>n Eltern<br />

zu Gefühlen von Ohnmacht <strong>und</strong> Hilfl osigkeit führen, wogegen sie sich wehren<br />

o<strong>de</strong>r sich vom Kind enttäuscht abwen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> die erfor<strong>de</strong>rliche Fürsorglichkeit<br />

aufgeben.<br />

Eltern können sehr unrealistische Vorstellungen über die Fähigkeiten <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />

ihres Kleinkin<strong>de</strong>s haben <strong>und</strong> sich daher nur sehr eingeschränkt <strong>de</strong>m<br />

Kind zuwen<strong>de</strong>n.<br />

Wie aber kommt es zu diesen Entwicklungen, welche Faktoren beeinfl ussen das<br />

Zustan<strong>de</strong>kommen von Entgleisungen? In <strong>de</strong>r Fachliteratur lassen sich verschie<strong>de</strong>ne<br />

Erklärungsmo<strong>de</strong>lle fi n<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen gemeinsam ist, <strong>de</strong>n Blick auf das Zusammenwirken<br />

unterschiedlicher auslösen<strong>de</strong>r Faktoren zu lenken.<br />

Die psycho-soziale Verfassung <strong>de</strong>r Eltern<br />

„Wir hatten es gera<strong>de</strong> am Anfang sehr schwer miteinan<strong>de</strong>r …“<br />

In welche familiäre Situation ein Kind hineingeboren wird, wie sicher es von <strong>de</strong>n<br />

Eltern an- <strong>und</strong> aufgenommen wer<strong>de</strong>n kann, hat entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung für die<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung in <strong>de</strong>n ersten Lebensmonaten<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Ob eine Mutter diese Zeit allein bewältigen muss, die Eltern zu<br />

zweit sind, ob weitere Familienmitglie<strong>de</strong>r im Hintergr<strong>und</strong> sind, <strong>de</strong>ren möglicher<br />

Unterstützung sich die Eltern gewiss sein können, welche materiellen <strong>und</strong> persönlichen<br />

Bedingungen die Familie zur Verfügung hat - das alles wird die erste Zeit<br />

mit <strong>de</strong>m Kind in beson<strong>de</strong>rer Weise prägen <strong>und</strong> modifi zieren.<br />

Ein erheblicher Mangel an intellektuellen, emotionalen <strong>und</strong> lebenspraktischen Fähigkeiten<br />

sowie ein <strong>de</strong>utliches Defi zit, vorausschauend das eigene Tun zu planen<br />

<strong>und</strong> es mit <strong>de</strong>n Entwicklungsbedürfnissen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in Beziehung zu setzen,<br />

kann zu einer das Kin<strong>de</strong>swohl gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Situation führen. Dies rechtzeitig als<br />

Eltern, Angehörige <strong>und</strong> als Fachkräfte zu erkennen ist die Voraussetzung dafür,<br />

entsprechend Hilfe zu holen bzw. zur Verfügung zu stellen.<br />

Der Kin<strong>de</strong>rwunsch <strong>und</strong> die Geburt<br />

„Wenn ich das vorher gewusst hätte …“<br />

Ob ein Kind bewusst o<strong>de</strong>r unbewusst erwünscht war, wie sehr <strong>und</strong> wie lange Eltern<br />

diesen Wunsch hatten, welche Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen damit verb<strong>und</strong>en<br />

waren, welche Ängste bewältigt wer<strong>de</strong>n mussten <strong>und</strong> wie schließlich die Geburt<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s verlief <strong>und</strong> von <strong>de</strong>n Eltern jeweils erlebt wur<strong>de</strong>, das alles wirkt in<br />

Ruprecht, 1998, 88-118


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

<strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung lange nach. Wer Erfahrungen in Eltern-Kind-Gruppen<br />

hat, weiß, wie oft, gern, variantenreich <strong>und</strong> emotional Eltern von <strong>de</strong>r Zeit um die<br />

Geburt berichten. In diesen Erzählungen begegnen sich drei Kin<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r: Das<br />

„imaginäre Kind im Kopf <strong>de</strong>r Eltern“, das „Kind im Bauch“ <strong>de</strong>r Mutter, das sie<br />

spürt <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Entwicklung sie heutzutage auf Ultraschallbil<strong>de</strong>rn schon während<br />

<strong>de</strong>r Schwangerschaft ständig mitverfolgen kann, <strong>und</strong> schließlich das „reale<br />

Kind“, das nun mit ihnen lebt. 7<br />

Da kann es Übereinstimmungen, Konfl ikte <strong>und</strong> auch unvorhersehbare Enttäuschungen<br />

geben. Psychische <strong>und</strong> physische Überlastungen um die Geburt eines Kin<strong>de</strong>s<br />

prägen die Eltern-Kind-Beziehung mit <strong>und</strong> können zu schwierigen Entwicklungen<br />

führen. Projektionen elterlicher Anteile auf das Kind können bereits früh zu<br />

Beeinträchtigungen in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung, zu einem gera<strong>de</strong>zu feindseligen<br />

o<strong>de</strong>r auch unberechenbaren Umgang <strong>de</strong>r Eltern ihrem Kind gegenüber führen.<br />

Das Kind<br />

„Alle haben süße Babys – aber wir haben ein Schreimonster.“<br />

An<strong>de</strong>rerseits können auch die Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern vor Schwierigkeiten stellen.<br />

Manche Kin<strong>de</strong>r kommen mit Beson<strong>de</strong>rheiten auf die Welt, auf die sich die Eltern<br />

nicht vorbereiten konnten. Außer<strong>de</strong>m sind viele Eltern heute verunsichert <strong>und</strong><br />

trauen ihren eigenen Fähigkeiten, ein Kind sicher <strong>und</strong> ruhig bei sich aufzunehmen,<br />

kaum. Die Ursachen dafür liegen sowohl in bestimmten gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen als auch medialen Inszenierungen <strong>und</strong> sich verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Familienbeziehungen.<br />

Vorauseilen<strong>de</strong> negative Erwartungen (wird es womöglich ein<br />

Schreikind o<strong>de</strong>r hyperaktiv) <strong>und</strong> die Befürchtung, nicht zu <strong>de</strong>n guten Eltern gehören<br />

zu können, führen mitunter zu hohen Belastungen von Anfang an. 8<br />

In <strong>de</strong>r Fachliteratur zur empirischen Säuglingsforschung wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n letzten<br />

Jahren wichtige Erkenntnisse über die alltäglichen Krisen <strong>de</strong>r Entwicklung in <strong>de</strong>r<br />

frühen Kindheit zusammengefasst <strong>und</strong> im Unterschied dazu die so genannten Regulationsstörungen<br />

beschrieben. 9 Darunter wer<strong>de</strong>n Einschränkungen in <strong>de</strong>r Verhaltensregulation<br />

<strong>de</strong>s Säuglings in drei Bereichen verstan<strong>de</strong>n:<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

in <strong>de</strong>r Schlaf-Wach-Regulation;<br />

in <strong>de</strong>r Regulation <strong>de</strong>r Nahrungsaufnahme;<br />

in <strong>de</strong>r Selbstregulation <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Verhaltenszustän<strong>de</strong>.<br />

Diese anfänglichen selbstregulatorischen Schwierigkeiten wer<strong>de</strong>n durch die intuitiven<br />

Fähigkeiten <strong>de</strong>r Eltern meist aufgefangen. Wenn Babys aber eingeschränkte<br />

Fähigkeiten haben <strong>und</strong> sich eher langsam entwickeln <strong>und</strong> die Eltern ihrerseits die<br />

7 T. B. Brazelton, B. G. Cramer: Die frühe Bindung. Klett-Cotta, 1990<br />

F. Pedrina (Hg): Beziehung <strong>und</strong> Entwicklung in <strong>de</strong>r frühen Kindheit. Psychoanalytische Interventionen<br />

in interdisziplinären Kontexten. Edition diskord, 2001<br />

8 Th. Bauriedl: Wege aus <strong>de</strong>r Gewalt. Her<strong>de</strong>r, 2001, 51<br />

9 Papousek, Schieche, Wurmser (Hg): Regulationsstörungen <strong>de</strong>r frühen Kindheit. Huber Verlag, 2004<br />

129


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Schwierigkeiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s z. B. als „<strong>und</strong>ankbar <strong>und</strong> bewusst böse“ fehlinterpretieren<br />

<strong>und</strong> somit nicht mehr annehmend <strong>und</strong> unterstützend sein können, son<strong>de</strong>rn<br />

zunehmend angespannt, wütend <strong>und</strong> verzweifelt sind, dann kann das zu Entgleisungen<br />

mit schwerwiegen<strong>de</strong>n Folgen führen. 10<br />

Die Eltern-Kind-Beziehung<br />

„Ich bin (noch) keine richtige Mutter …“<br />

„Wenn das Kind doch nur schon sprechen könnte …“<br />

Die Entwicklung einer tragfähigen <strong>und</strong> stabilen Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Eltern<br />

<strong>und</strong> ihrem kleinen Kind hängt von Anfang an davon ab, ob bei<strong>de</strong> ausreichend gute<br />

Erfahrungen miteinan<strong>de</strong>r machen können (Das Kind lässt sich von uns beruhigen,<br />

es trinkt gut, es lächelt uns an). Eltern entwickeln dann ein gutes „Elternselbstwertgefühl“,<br />

das ihnen hilft, die immer wie<strong>de</strong>r neu auftauchen<strong>de</strong>n Probleme zu<br />

bewältigen. Die Kin<strong>de</strong>r erleben, dass sie Eltern haben, <strong>de</strong>nen sie sich verständlich<br />

machen können <strong>und</strong> die ihnen wie<strong>de</strong>rum verlässlich geben, was sie brauchen. 11<br />

Das ist selbst ein Entwicklungsprozess, <strong>de</strong>ssen Gelingen von vielfältigen Bedingungen<br />

abhängt. Die Chance früher Hilfen liegt darin, diesen Prozess zu för<strong>de</strong>rn.<br />

Dabei taucht immer wie<strong>de</strong>r eine beson<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rung auf:<br />

Die Entwicklung einer stabilen Eltern-Kind-Beziehung wird von <strong>de</strong>n Entwicklungsfortschritten<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s stark geprägt. Gibt es hier Schwierigkeiten, Beeinträchtigungen<br />

o<strong>de</strong>r auch nur Verzögerungen, kann das schnell zu spürbaren Belastungen<br />

<strong>de</strong>r Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind führen. An<strong>de</strong>rerseits<br />

haben Beeinträchtigungen <strong>de</strong>r elterlichen Kompetenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten einen<br />

sichtbaren Einfl uss auf die Entwicklungsfortschritte <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> das kann<br />

ebenfalls die Entwicklung einer guten Beziehung gefähr<strong>de</strong>n.<br />

Während nun aber die kindlichen Anpassungs- <strong>und</strong> Regulationsprobleme immer<br />

besser in relativ überschaubaren Zeiträumen zu untersuchen <strong>und</strong> zu beeinfl ussen<br />

sind, dauert die Klärung <strong>und</strong> Unterstützung <strong>de</strong>r Schwierigkeiten auf Seiten <strong>de</strong>r<br />

Eltern meist wesentlich länger. Die Bewältigung erheblicher Schwierigkeiten <strong>de</strong>r<br />

Eltern (schwere Persönlichkeitsstörungen, psychische Probleme, Suchtprobleme,<br />

gewaltförmige Partnerschaftsprobleme) hängt sehr von <strong>de</strong>n Möglichkeiten <strong>de</strong>r Eltern<br />

selbst ab (Lei<strong>de</strong>nsdruck, Krankheitseinsicht, Hilfeerfahrungen, familiäre <strong>und</strong><br />

außerfamiliäre Unterstützungsmöglichkeiten) <strong>und</strong> von <strong>de</strong>n zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n<br />

regionalen Hilfesystemen.<br />

10 Vgl. Ziegenhain, Fries, Bütow, Derksen: Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Juventa,<br />

2004<br />

11 M. Papousek: Die intuitive elterliche Kompetenz in <strong>de</strong>r vorsprachlichen Kommunikation als Ansatz<br />

zur Diagnostik von präverbalen Kommunikations- <strong>und</strong> Beziehungsstörungen. Kindheit <strong>und</strong> Entwicklung.<br />

Hogrefe Verlag, 1996<br />

J. Bowlby: Mütterliche Zuwendung <strong>und</strong> geistige Ges<strong>und</strong>heit. Kindler Taschenbücher, 1973<br />

D.W. Winnicott: Reifungsprozesse <strong>und</strong> för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Umwelt. Psychosozial-Verlag, 2002<br />

130


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Insofern haben es Fachkräfte mit einer Ungleichzeitigkeit zu tun, was häufi g eine<br />

Kombination verschie<strong>de</strong>ner Hilfeformen in guter Absprache notwendig macht,<br />

z. B.:<br />

❍ Elternberatung <strong>und</strong> therapeutische Unterstützung für das Kind<br />

❍ zeitweilige Betreuung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s von einer zusätzlichen verlässlichen Pfl egeperson<br />

<strong>und</strong> therapeutische Behandlung eines Elternteils<br />

❍ intensive Familienhilfe <strong>und</strong> zusätzliche intensive therapeutische Arbeit mit <strong>de</strong>n<br />

Eltern<br />

❍ Eltern-Kind-Beratung o<strong>de</strong>r Therapie <strong>und</strong> lebenspraktische Unterstützung <strong>de</strong>r<br />

Familie im Alltag<br />

❍ Mutter-Kind-Einrichtung <strong>und</strong> zusätzliche Elternberatung<br />

Einfach ist das nicht. Sowohl für <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>r die Fä<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Hand halten<br />

muss, als auch für die Familie selber, die plötzlich mit mehreren Helfern zusammentrifft,<br />

<strong>de</strong>nen es allen letztlich um das Kin<strong>de</strong>swohl geht. Überfor<strong>de</strong>rungen auf<br />

bei<strong>de</strong>n Seiten können entstehen. Die Aufgabe ist dann, das zu erkennen, anzusprechen<br />

<strong>und</strong> möglichst zu beheben.<br />

Die Partnerschaft<br />

„Ich bin selbst ohne Vater aufgewachsen <strong>und</strong> wollte nur ein Kind mit einem Vater<br />

dazu. Aber <strong>de</strong>r ist jetzt weg …“<br />

Bei <strong>de</strong>r Untersuchung <strong>de</strong>r Ursachen für Entgleisungen in <strong>de</strong>r frühen Eltern-Kind-<br />

Beziehung spielt die Partnerschaft <strong>de</strong>r Eltern insofern eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle,<br />

als dass <strong>de</strong>ren Vorhan<strong>de</strong>nsein <strong>und</strong> Qualität bzw. <strong>de</strong>ren Fehlen sowohl Schutz- als<br />

auch Risikofaktor für die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s sein können.<br />

Von <strong>de</strong>r Beziehung <strong>de</strong>r Eltern zueinan<strong>de</strong>r <strong>und</strong> zum gemeinsamen Kind hängt mit<br />

ab, wie die oben beschriebenen anfänglichen Herausfor<strong>de</strong>rungen bewältigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Eltern können sich unterstützen <strong>und</strong> entlasten, Konfl ikte gemeinsam aushalten<br />

<strong>und</strong> Probleme lösen <strong>und</strong> bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Kind mit all seiner Bedürftigkeit zur Verfügung<br />

stehen. Sie können aber auch in ihrer Partnerschaft durch die neue Situation<br />

überfor<strong>de</strong>rt sein, voreinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>m Kind fl üchten, sich gegenseitig beschuldigen<br />

o<strong>de</strong>r entwerten o<strong>de</strong>r sich gemeinsam <strong>de</strong>r zu großen Verantwortung entziehen.<br />

Eltern bekommen manchmal Angst vor ihrem Kind, sie sind plötzlich mit<br />

<strong>de</strong>n eigenen Erfahrungen aus ihrer Kindheit in einem sie überwältigen<strong>de</strong>n Maße<br />

konfrontiert <strong>und</strong> sie fangen an, diese Irritationen am Kind zu bekämpfen.<br />

Partnerschaftsgewalt führt bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn zu erheblichen Irritationen<br />

in <strong>de</strong>r Entwicklung. Ihrer existentiellen Abhängigkeit vom Schutz <strong>und</strong><br />

Fürsorgeverhalten <strong>de</strong>r Eltern wird ebenso wenig entsprochen wie ihrem Bedürfnis<br />

nach Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit. In einer gewalttätigen Familiensituation, die<br />

131


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

sich <strong>de</strong>m Kind wenn auch nicht physisch, so doch atmosphärisch vermittelt, kann<br />

ein Kleinkind auf Dauer nicht gut ge<strong>de</strong>ihen. 12<br />

Haben sich die Partner bereits vor o<strong>de</strong>r kurz nach <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s getrennt,<br />

so ist das schützen<strong>de</strong> Dach, unter <strong>de</strong>m es sich geborgen entwickeln kann, bereits<br />

kaputt. 13 Das Gr<strong>und</strong>bedürfnis <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s nach einer Beziehung zu bei<strong>de</strong>n Elternteilen<br />

kann so vorerst nicht befriedigt wer<strong>de</strong>n. Mögliche Gefährdungen für die<br />

kindliche Entwicklung können sowohl darin liegen, dass das Kind in eine Ersatzpartnerrolle<br />

rutscht mit all <strong>de</strong>n dazugehörigen Beziehungsproblemen, als auch<br />

darin, dass die Mutter, bei <strong>de</strong>r das Kind in diesem Alter meist lebt, <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

alleine eben nicht gewachsen ist o<strong>de</strong>r dass das Kind aus Enttäuschung abgelehnt<br />

o<strong>de</strong>r nicht beachtet wird. 14 Der Dritte fehlt. Im Zusammenwirken mit weiteren<br />

Risikofaktoren auf Seiten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Mutter können Ärger, Kränkung,<br />

Wut <strong>und</strong> Verzweifl ung über <strong>de</strong>n fehlen<strong>de</strong>n Dritten zu aggressiven Gefühlen<br />

<strong>und</strong> Handlungen <strong>de</strong>m Kind o<strong>de</strong>r aber auch <strong>de</strong>n Helfern gegenüber führen. Die<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung über diese fragmentierte Situation <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> über die<br />

Be<strong>de</strong>utung dieser Lebensbedingung für das Kind <strong>und</strong> die Mutter fi n<strong>de</strong>t oft nicht<br />

statt <strong>und</strong> wird mitunter auch in <strong>de</strong>n Hilfeprozessen selbst nicht entsprechend beachtet.<br />

Wir begegnen Frauen, die selbst wenig gute Erfahrungen mit verlässlichen Beziehungen<br />

machen konnten <strong>und</strong> die <strong>de</strong>mentsprechend auch sehr unsicher darin gewor<strong>de</strong>n<br />

sind. Wem kann ich trauen, woran kann ich merken, wie es jemand mit<br />

mir meint, was brauche ich um mich auszukennen? Mütter, die in <strong>de</strong>r Situation<br />

mit ihrem Säugling plötzlich doch überfor<strong>de</strong>rt sind <strong>und</strong> Auswege suchen, übertragen<br />

dann mitunter spontan <strong>und</strong> durchaus in guter Absicht an<strong>de</strong>ren Personen die<br />

Versorgung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Viele schwerwiegen<strong>de</strong> Misshandlungen von Säuglingen<br />

fi n<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r auch im Kontext solcher Not-Arrangements statt. Die Überfor<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Mutter wird nicht wirklich behoben, son<strong>de</strong>rn durch die abgewehrte<br />

Überfor<strong>de</strong>rung eines hinzugezogenen Dritten gera<strong>de</strong>zu potenziert. Der Wunsch,<br />

ein an<strong>de</strong>rer möge jetzt besser in <strong>de</strong>r Lage sein, für einige Zeit das Kind zu versorgen,<br />

scheint so dringend, dass die damit möglicherweise auftreten<strong>de</strong>n Schwierigkeiten<br />

<strong>und</strong> eigenen Ängste nicht mehr gesehen wer<strong>de</strong>n können <strong>und</strong> keine Sicherungen<br />

eingebaut wer<strong>de</strong>n. So verstehbar diese Situation zum einen auch sein<br />

sollte, so gefährlich kann sie an<strong>de</strong>rerseits für ein Kind wer<strong>de</strong>n. Das Arrangement<br />

beinhaltet aber auch die Chance, Anerkennung für die Leistungen als Mutter zu<br />

bekommen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r eigenen Überfor<strong>de</strong>rung gesehen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

12 H. Kindler, S. Lillig, H. Blüml, Th. Meysen & A. Werner (Hg.): Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

nach § 1666 BGB <strong>und</strong> Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut,<br />

2006, 29-1<br />

13 Th. Bauriedl: Wege aus <strong>de</strong>r Gewalt. Die Befreiung aus <strong>de</strong>m Netz <strong>de</strong>r Feindbil<strong>de</strong>r. Her<strong>de</strong>r spektrum,<br />

2001, 44<br />

14 vgl. ebenda<br />

132


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Das soziale Umfeld <strong>und</strong> die Erwartungen Dritter<br />

„Na du siehst ja nicht gera<strong>de</strong> wie eine glückliche Mutter mit Baby aus …“<br />

„Hättet ihr euch eben vorher überlegen sollen, jetzt ist es zu spät. Dann seht mal<br />

zu, wie ihr klar kommt.“<br />

Ähnlich wie das kleine Kind eine seinen Entwicklungsbedürfnissen angemessene<br />

Umgebung braucht, sind auch Eltern mit einem Säugling darauf angewiesen, eine<br />

entsprechen<strong>de</strong> soziale Umgebung vorzufi n<strong>de</strong>n bzw. sich erst zu schaffen. Angefangen<br />

von nahen Bezugspersonen, die sich mit ihnen freuen, die Sorgen verstehen<br />

<strong>und</strong> gegebenenfalls Unterstützung anbieten, bis hin zu medizinischen Einrichtungen<br />

<strong>und</strong> Orten, an <strong>de</strong>nen sich Familien mit Kleinkin<strong>de</strong>rn begegnen können. Eltern,<br />

die ein solches Umfeld nicht haben <strong>und</strong> eher zurückgezogen <strong>und</strong> einsam leben,<br />

können unter Umstän<strong>de</strong>n schneller an ihre Belastungsgrenzen kommen <strong>und</strong><br />

damit in eine Überfor<strong>de</strong>rungssituation. Auch unrealistische Erwartungen o<strong>de</strong>r zusätzlicher<br />

Leistungsdruck können Eltern verunsichern, die ohnehin vorhan<strong>de</strong>ne<br />

Anspannung noch erhöhen <strong>und</strong> zu unerwünschten Überreaktionen führen.<br />

Öffentlichkeit <strong>und</strong> Medien prägen in sehr gezielter Weise die Mutter/Vater-Bil<strong>de</strong>r.<br />

Die Angst, am eigenen Kind zu scheitern, wird ebenso geschürt wie die durch die<br />

Werbung beson<strong>de</strong>rs beför<strong>de</strong>rte Angst, nicht all <strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s entsprechen<br />

zu können. Was Kin<strong>de</strong>r angeblich alles brauchen <strong>und</strong> haben müssen <strong>und</strong><br />

was für ihre Entwicklung unabdingbar zu sein scheint, führt bei Eltern leicht zu<br />

Gefühlen, nie genügen zu können bzw. ganz irritiert zu sein, was nun tatsächlich<br />

wesentlich ist. Das wie<strong>de</strong>rum kann sich unter bestimmten, schon belasteten Umstän<strong>de</strong>n<br />

auf die (für die Eltern-Kind-Beziehung) notwendige Entwicklung eines<br />

guten Selbstwertgefühls als kompetente Eltern durchaus auch beeinträchtigend<br />

auswirken <strong>und</strong> zu Gefühlen von Wut, Kränkung o<strong>de</strong>r zu Versagensängsten führen.<br />

Auch hierin kann eine Quelle dafür liegen, sich resigniert <strong>und</strong> enttäuscht vom<br />

Kind abzuwen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Wut am Kind auszuagieren o<strong>de</strong>r aber sich <strong>de</strong>m vermeintlichen<br />

Willen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu unterwerfen <strong>und</strong> die Elternrolle damit aufzugeben.<br />

4. Beson<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung von Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> ihre Folgen für die Entwicklung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

Alle bereits in diesem Buch beschriebenen Formen von Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung<br />

kommen auch in Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn vor.<br />

Schwerwiegen<strong>de</strong> Formen <strong>de</strong>r Misshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung sind beson<strong>de</strong>rs:<br />

❍ Schütteln <strong>de</strong>s Babys, meist als Folge unstillbaren Schreiens o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Fütterverweigerung<br />

(Schütteltrauma mit To<strong>de</strong>sfolge bzw. häufi g mit gravieren<strong>de</strong>n<br />

Langzeitfolgen für das Kind)<br />

133


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

134<br />

Invasives Füttern o<strong>de</strong>r Füttern mit unangemessener Nahrung (Fingerabdrücke<br />

im Gesicht <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, Verbrühungen im M<strong>und</strong>, häufi ge Stoffwechselerkrankungen)<br />

Vernachlässigung <strong>de</strong>s Unfallrisikos aus Mangel an Kenntnissen <strong>und</strong> Vorstellungsvermögen<br />

(Stürze <strong>und</strong> Ertrinken)<br />

Vernachlässigung im Bereich <strong>de</strong>r Ernährung aus Mangel an Kenntnissen o<strong>de</strong>r<br />

aus unrealistischen Erwartungen (Ge<strong>de</strong>ihstörungen, Austrocknen, Verhungern)<br />

Emotionale Vernachlässigung (psychische Gr<strong>und</strong>bedürfnisse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n<br />

nicht ausreichend befriedigt, wie körperliche Nähe, Halten, Ansprache,<br />

Wertschätzung <strong>de</strong>r Entwicklungsschritte, Trösten, Ermuntern)<br />

Schlagen, Quälen <strong>und</strong> sexuelle Gewalt<br />

Münchhausen by Proxy Syndrom (Erzeugen o<strong>de</strong>r Vortäuschen von Krankheitssymptomen<br />

beim Kind)<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Forschungslage15 wird eingeschätzt, dass eine<br />

schwere frühe Vernachlässigung o<strong>de</strong>r die physische <strong>und</strong> psychische Verletzung<br />

eines Kleinkin<strong>de</strong>s zu weit reichen<strong>de</strong>n Entwicklungsbeeinträchtigungen führen<br />

können <strong>und</strong> sich später <strong>de</strong>utlich in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Entwicklungsbereichen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

zeigen:<br />

❍ in <strong>de</strong>r körperlichen <strong>und</strong> seelischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

❍ in <strong>de</strong>r sozialen <strong>und</strong> emotionalen Entwicklung<br />

❍ in <strong>de</strong>r kognitiven Entwicklung<br />

Die Fragen, wie wohl ein Kleinkind die nachlassen<strong>de</strong> Fürsorge (Vernachlässigung)<br />

in seiner ersten Beziehung erleben mag, o<strong>de</strong>r wie es einen direkten körperlichen<br />

Angriff von <strong>de</strong>n ihm nächsten Menschen (Misshandlung) erfährt, welche<br />

Gefühle <strong>und</strong> Irritationen dabei entstehen <strong>und</strong> wie sich dieses Erleben wie<strong>de</strong>rum<br />

auf die weitere Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> auf die Beziehung zwischen Kind<br />

<strong>und</strong> Eltern auswirkt, sind Fragen, die in <strong>de</strong>r Beratungsarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />

5. Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s <strong>Helfen</strong>s<br />

„Wenn ich gewusst hätte, dass es so etwas gibt, wäre ich viel früher gekommen …“<br />

„Ich weiß ja wohl am besten, was meinem Kind gut tut, die sollen sich mal um die<br />

an<strong>de</strong>ren kümmern! Man liest ja genug in <strong>de</strong>r Zeitung davon.“<br />

15 Vgl. H. Kindler, S. Lillig, H. Blüml, Th. Meysen & A. Werner (Hg): Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

nach § 1666 BGB <strong>und</strong> Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut,<br />

2006, 24-1 bis 27-5<br />

U. Ziegenhain, J.M. Fegert (Hg): <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> <strong>und</strong> Vernachlässigung. Ernst Reinhardt<br />

Verlag München, 2008. 94-108


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Wir haben es sowohl mit <strong>de</strong>m Wunsch nach Unterstützung zu tun, <strong>de</strong>r aufgr<strong>und</strong><br />

von Informationslücken, mangeln<strong>de</strong>r Öffentlichkeitsarbeit, Vorurteilen o<strong>de</strong>r<br />

Scham- <strong>und</strong> Schuldgefühlen nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n kann. An<strong>de</strong>rerseits begegnet uns<br />

auch ein massiver Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Eltern gegenüber wohlgemeinten Hilfsangeboten<br />

bei gleichzeitiger Sorge um das Kin<strong>de</strong>swohl auf Seiten <strong>de</strong>r Fachkräfte.<br />

Insofern sollte gr<strong>und</strong>sätzlich gelten:<br />

Wenn Eltern mit kleinen Kin<strong>de</strong>rn in eine Einrichtung kommen <strong>und</strong> ein Anliegen<br />

haben, sollte das in keinem Fall bagatellisiert wer<strong>de</strong>n, die Eltern sollten<br />

nicht vertröstet o<strong>de</strong>r schnell <strong>und</strong> unverbindlich weitergeschickt wer<strong>de</strong>n.<br />

Eltern berichten das sowohl von Besuchen bei Kin<strong>de</strong>rärzten, wenn sie z. B. Fütterprobleme<br />

haben, o<strong>de</strong>r auch von Beratungseinrichtungen, die sich möglicherweise<br />

auf diesem Gebiet nicht so auskennen. Auf diese Weise gehen Familien, in<br />

<strong>de</strong>nen Kleinkin<strong>de</strong>r womöglich bereits gefähr<strong>de</strong>t sind, „verloren“. Selbst wenn Beschwichtigungen<br />

als Beruhigung <strong>de</strong>r Eltern gut gemeint sind, so helfen sie <strong>de</strong>n Eltern<br />

nicht. Ihre Schuldgefühle wer<strong>de</strong>n dadurch noch verstärkt <strong>und</strong> auch die Hoffnungslosigkeit,<br />

dass es eben keine Unterstützung geben kann <strong>und</strong> sie weiter alleine<br />

mit ihren Problemen sind.<br />

Fachkräfte können hellhörig sein, wenn Eltern in Notsituationen Wünsche o<strong>de</strong>r<br />

Phantasien preisgeben, wie:<br />

❍ das Kind am liebsten wegzugeben,<br />

❍ es zu verkaufen,<br />

❍ es möge doch wie<strong>de</strong>r zurück im Bauch sein,<br />

❍ sie wollten lieber ein an<strong>de</strong>res haben.<br />

Auch solche irritieren<strong>de</strong>n Bemerkungen können von <strong>de</strong>n Eltern sehr ernst gemeint<br />

<strong>und</strong> Ausdruck großer Erschöpfung sein. Möglicherweise liegt darin sogar eine<br />

ganz bewusst gewünschte Hilfe, da Alternativen dazu nicht bekannt o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong><br />

nicht mehr vorstellbar sind.<br />

Exkurs<br />

Einige Möglichkeiten, mit Eltern über ihre Situation ins Gespräch zu kommen:<br />

Fragen, die anzukommen helfen:<br />

❍ Wie gut, dass Sie hergekommen sind <strong>und</strong> dass Sie gemerkt haben, dass es eine<br />

Schwierigkeit gibt, <strong>de</strong>nn je früher <strong>de</strong>sto schneller können wir möglicherweise<br />

gemeinsam etwas herausfi n<strong>de</strong>n <strong>und</strong> verän<strong>de</strong>rn.<br />

❍ Was sollte ich zunächst über Sie <strong>und</strong> Ihr Baby/Ihr Kind wissen? (Sind bei<strong>de</strong><br />

Eltern anwesend o<strong>de</strong>r auch noch eine an<strong>de</strong>re Bezugsperson, ist es hilfreich,<br />

immer bei<strong>de</strong> zu fragen.)<br />

❍ Womit sind Sie bisher am besten zurechtgekommen?<br />

135


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Fragen, die helfen, Schwieriges zur Sprache zu bringen:<br />

❍ Wobei könnten Sie eine Unterstützung gebrauchen bzw. was ist passiert?<br />

❍ (Hier könnten unterschiedliche Schwierigkeiten benannt wer<strong>de</strong>n; entwe<strong>de</strong>r<br />

zum Kind hin – „es macht dies o<strong>de</strong>r jenes nicht“, „ich verstehe nicht, was das<br />

Schreien be<strong>de</strong>utet“ – o<strong>de</strong>r zu einem Elternteil hin – „ich komme mit <strong>de</strong>m o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>m nicht klar“, „ich halte das o<strong>de</strong>r das nicht gut aus“, „ich habe mir dies o<strong>de</strong>r<br />

jenes ganz an<strong>de</strong>rs vorgestellt“.)<br />

Fragen, die die bisherigen Bemühungen erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die eigenen Erklärungsversuche<br />

<strong>de</strong>r Eltern ernst nehmen:<br />

❍ Was haben Sie bisher versucht? Was wollten Sie damit erreichen?<br />

❍ Wie ist Ihnen das gelungen?<br />

❍ Was ging schief?<br />

❍ Haben Sie eine I<strong>de</strong>e, warum?<br />

Fragen, die Hilfeerwartungen <strong>und</strong> Motivation sichtbar machen <strong>und</strong> erste diagnostische<br />

Eindrücke ermöglichen:<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

136<br />

Wie haben Sie uns gef<strong>und</strong>en? Haben Sie schon an<strong>de</strong>res probiert?<br />

Was wünschen Sie sich am meisten?<br />

Was befürchten Sie aber eventuell auch?<br />

Wenn Ihr Baby schon erzählen könnte, was wür<strong>de</strong> es mir über seine Eltern sagen<br />

wollen?<br />

Wer interessiert sich noch für Sie <strong>und</strong> Ihr Kind? Haben Sie Unterstützung?<br />

Darf ich Ihr Baby anschauen <strong>und</strong> ein bisschen mit ihm sprechen?<br />

Je nach Angebot <strong>und</strong> persönlichem Arbeitsrahmen könnte dann begonnen wer<strong>de</strong>n,<br />

einen Arbeitsvertrag auszuhan<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> genaue Absprachen zu treffen.<br />

Fragen, die behutsam <strong>de</strong>n ersten Kontakt been<strong>de</strong>n <strong>und</strong> weitere Schritte markieren<br />

können:<br />

❍ Wie geht es Ihnen jetzt?<br />

❍ Können wir uns für heute verabschie<strong>de</strong>n?<br />

❍ Denken Sie, es reicht, wenn wir uns in einer Woche / drei Tagen (je nach Problemlage<br />

<strong>und</strong> Arbeitsrahmen) hier wie<strong>de</strong>r treffen?<br />

❍ Wür<strong>de</strong>n Sie sich gleich mel<strong>de</strong>n, wenn Sie mich auch vor unserem nächsten<br />

Termin brauchen? Haben Sie sich gemerkt/notiert, wie Sie mich erreichen<br />

können?<br />

Wann <strong>und</strong> wo immer sich Eltern mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn mel<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> welche Fragen o<strong>de</strong>r Sorgen sie auch zunächst äußern mögen, das Anliegen<br />

ist in je<strong>de</strong>m Fall ernst zu nehmen, auch wenn auf <strong>de</strong>n ersten Blick nichts<br />

Auffälliges zu bemerken ist, die Eltern eher verhalten <strong>und</strong> unaufgeregt nachfragen.


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Dann wäre es gut, eine Anbindung an die jeweilige Institution bzw. Hilfeeinrichtung<br />

herzustellen.<br />

Mit einer, <strong>de</strong>m konkreten Anliegen <strong>de</strong>r Eltern angemessenen, Unterstützung sollte<br />

begonnen wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r wir sollten die Eltern an eine konkrete Stelle begleiten<br />

(bzw. einen persönlichen telefonischen Kontakt herstellen), die das leisten kann.<br />

Dabei muss berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, dass eine kurzfristige Intervention <strong>und</strong> eine<br />

durch sie erreichte erste gelungene Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Situation nicht unbedingt von<br />

Dauer sind. Es könnten nach kurzer Zeit wie<strong>de</strong>r ähnliche o<strong>de</strong>r auch weitere Probleme<br />

auftauchen.<br />

Erfahrungsgemäß ist es insofern hilfreich, längerfristig mit <strong>de</strong>r Familie im Kontakt<br />

zu bleiben, um <strong>de</strong>n Eltern nach einer guten entlasten<strong>de</strong>n Erfahrung die Möglichkeit<br />

zu erhalten, auch weiterhin o<strong>de</strong>r nach einiger Zeit erneut Hilfe in Anspruch<br />

zu nehmen.<br />

Ein solches Vorgehen stabilisiert das elterliche Selbstwertgefühl wie<strong>de</strong>r <strong>und</strong> trägt<br />

dazu bei, die folgenschwere Beeinträchtigung <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung abzuwen<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> auf Dauer vorzubeugen.<br />

Folgen<strong>de</strong> Fragen ergeben sich für die Fachkräfte:<br />

❍ Wie gelingt es mir, <strong>de</strong>n enormen Handlungsdruck in einen auf zügige Hilfe<br />

orientierten, solidarischen <strong>und</strong> verlässlichen Kontakt mit <strong>de</strong>r Familie umzusetzen?<br />

❍ Wie schätze ich, möglicherweise auch mit an<strong>de</strong>ren beteiligten Fachkräften gemeinsam,<br />

die Situation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Familie ein, wie verstehe ich die Familiendynamik<br />

<strong>und</strong> die entstan<strong>de</strong>ne Gefährdungssituation?<br />

❍ Welche Hilfevorstellungen haben die Eltern selber <strong>und</strong> welche Hilfen stehen<br />

im Sozialraum zur Verfügung? Wie erfi n<strong>de</strong>n wir gegebenenfalls eine beson<strong>de</strong>re,<br />

am Unterstützungsbedarf <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eltern orientierte Hilfe, mit<br />

<strong>de</strong>r wir erst einmal beginnen?<br />

❍ Welche Sicherungen sind einzubauen, falls sich die Situation trotz <strong>de</strong>r Hilfe<br />

nicht schnell genug entspannt?<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r sind aufgr<strong>und</strong> ihrer unaufschiebbaren physiologischen<br />

<strong>und</strong> seelischen Entwicklungsbedürfnisse auf <strong>de</strong>ren zuverlässige Befriedigung<br />

durch die jeweiligen Bezugspersonen existenziell angewiesen. Die Gefahr, dass<br />

eine Fehl- o<strong>de</strong>r Unterversorgung lebensbedrohliche Folgen hat, ist im Säuglingsalter<br />

beson<strong>de</strong>rs hoch.<br />

Die Eltern-Kind-Beziehung kann schwer belastet wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> auch in Form von<br />

Misshandlung o<strong>de</strong>r Vernachlässigung entgleisen. Diese Gefahr besteht auch,<br />

wenn Regulationsstörungen <strong>de</strong>s Säuglings sich in exzessivem Schreien, Fütter-<br />

o<strong>de</strong>r Schlafproblemen äußern <strong>und</strong> nicht behoben wer<strong>de</strong>n können. Familien sind in<br />

solchen Situationen auf Unterstützung <strong>und</strong> Entlastung angewiesen. Gleichzeitig<br />

haben Eltern durchaus Grün<strong>de</strong> dafür, sich nicht selbständig Hilfe zu suchen.<br />

137


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

6. Beson<strong>de</strong>rheiten jugendlicher Eltern<br />

Langjährige Erfahrungen im Kin<strong>de</strong>rschutz belegen eindrücklich, dass nicht allein<br />

das jugendliche Alter <strong>de</strong>r Eltern schon ein Risikofaktor für die Entwicklung eines<br />

Kin<strong>de</strong>s ist, son<strong>de</strong>rn viele an<strong>de</strong>re Risikokonstellationen die Eltern-Kind-Beziehung<br />

belasten. Es macht für die Risikoabschätzung <strong>und</strong> die Hilfeplanung einen Unterschied,<br />

ob die jugendliche Mutter in einer Großfamilie lebt, in <strong>de</strong>r sich an<strong>de</strong>re<br />

erwachsene Personen für Mutter <strong>und</strong> Kind mitverantwortlich fühlen <strong>und</strong> bei<strong>de</strong>r<br />

Wohl im Blick haben, o<strong>de</strong>r ob eine Jugendliche aus <strong>de</strong>m – wie auch immer beschaffenen<br />

– „Nest <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie“ gefl üchtet ist o<strong>de</strong>r geworfen wur<strong>de</strong> <strong>und</strong><br />

sich nun mit eigenem Nachwuchs allein (<strong>und</strong> vom Kin<strong>de</strong>svater womöglich auch<br />

schon wie<strong>de</strong>r verlassen) behaupten muss. 16<br />

Unterstützungswünsche <strong>de</strong>r jungen Eltern bei gleichzeitiger Hilfeabwehr stellen<br />

die Fachkräfte immer wie<strong>de</strong>r vor große Herausfor<strong>de</strong>rungen. Wie soll sich auch<br />

beispielsweise eine – durch wie<strong>de</strong>rholte Beziehungsabbrüche <strong>und</strong> Enttäuschungen<br />

in <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie misstrauisch gewor<strong>de</strong>ne – Jugendliche plötzlich vertrauensvoll<br />

auf Hilfebeziehungen einlassen können?<br />

Die weitreichen<strong>de</strong> Abhängigkeit von Jugend- <strong>und</strong> Sozialhilfe <strong>und</strong> <strong>de</strong>n neuen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

durch das zu versorgen<strong>de</strong> Kind kann im Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>n Autonomiebestrebungen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n jugendlichen Bedürfnissen nach Spontaneität, Unverbindlichkeit,<br />

Abwechslung <strong>und</strong> Opposition stehen. Kommen dann noch schwere<br />

Beeinträchtigungen in <strong>de</strong>r Persönlichkeitsentwicklung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heit hinzu<br />

(Sucht, eigene Essstörungen, Depressionen), dann kann für die Kin<strong>de</strong>r ein gefähr<strong>de</strong>ter<br />

Entwicklungsbo<strong>de</strong>n entstehen.<br />

Sowohl in unserer eigenen Praxis als auch in speziellen Forschungsprojekten mit<br />

jugendlichen Müttern wur<strong>de</strong>n vor allem folgen<strong>de</strong> Beson<strong>de</strong>rheiten im Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Eltern ihren Kin<strong>de</strong>rn gegenüber beobachtet17 :<br />

❍ wenig feinfühliges Verhalten im Umgang mit <strong>de</strong>m Säugling o<strong>de</strong>r auch extrem<br />

wechseln<strong>de</strong>s;<br />

❍ unterstimulieren<strong>de</strong>s Verhalten (zu wenig Blickkontakt, viel schweigsamer Umgang<br />

mit <strong>de</strong>m Kind, wenig Anregung <strong>und</strong> Dialog), weil das Kind scheinbar<br />

noch nichts mitbekommt <strong>und</strong> wenig kann <strong>und</strong> sowieso viel schläft; Kleinkin<strong>de</strong>r<br />

wer<strong>de</strong>n zum Teil auch sehr lange im Wagen gehalten, mit <strong>de</strong>n dazugehörigen<br />

Einschränkungen in <strong>de</strong>r Bewegungsfreiheit <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Explorationsbedürfnissen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s;<br />

16 Chr. Maihorn: Entgleisungen in <strong>de</strong>r frühen Eltern-Kind-Beziehung.<br />

In: Psychoanalytische Familientherapie Nr. 10, 6.Jg. (2005) Heft 1<br />

17 U. Ziegenhain, M. Fries, B. Bütow, B. Derksen: Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Handlungskonzepte für junge Eltern. Juventa Verlag Weinheim <strong>und</strong> München, 2006<br />

G. J. Suess, W-K. P. Pfeifer (Hg): Frühe Hilfen. Die Anwendung von Bindungs-<strong>und</strong> Kleinkindforschung<br />

in Erziehung, Beratung, Therapie <strong>und</strong> Vorbeugung. Psychosozial-Verlag, 1999<br />

138


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

❍<br />

❍<br />

überstimulieren<strong>de</strong>s Verhalten (wie z. B. lautes, langes Toben mit Kneifen <strong>und</strong><br />

Foppen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s), weil nur so die eigenen Bedürfnisse nach Kontakt <strong>und</strong><br />

Zuwendung zu befriedigen sind. Manchmal äußert sich das auch darin, dass<br />

die Kin<strong>de</strong>r zu früh hingesetzt o<strong>de</strong>r gestellt o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n eigenen geliebten Süßigkeiten<br />

gefüttert wer<strong>de</strong>n. Den jugendlichen Müttern scheint die schrittweise<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s viel zu langsam zu gehen <strong>und</strong> die nonverbale, sehr<br />

bedürftige Zeit soll irgendwie verkürzt wer<strong>de</strong>n, da sie zu viel Angst macht <strong>und</strong><br />

auch Einschränkung be<strong>de</strong>utet.<br />

Jugendliche Mütter ziehen sich manchmal emotional sehr zurück, als sei ihnen<br />

das Kind ganz gleichgültig; sie lassen es häufi g bei an<strong>de</strong>ren, nicht unbedingt<br />

nahen Personen (Fälle von schweren Misshandlungen o<strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>ihstörungen<br />

sind mitunter auch davon die Folge) o<strong>de</strong>r nehmen es überall hin mit, wie ein<br />

Anhängsel, scheinbar ohne jegliche eigene Bedürfnisse, weil sie die Zweiersituation<br />

allein zu Hause als bedrohlich o<strong>de</strong>r langweilig erleben <strong>und</strong> davor – oft<br />

unbewusst – ausweichen. Das kann sowohl Risiko- als auch Schutzfaktor für<br />

die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s sein.<br />

In <strong>de</strong>r Arbeit mit jugendlichen Eltern bekommen es Fachkräfte immer wie<strong>de</strong>r mit<br />

einer Reihe wi<strong>de</strong>rsprüchlicher Erscheinungen zu tun, die <strong>de</strong>n Entwicklungsbeson<strong>de</strong>rheiten<br />

dieser Eltern entsprechen:<br />

❍ mit <strong>de</strong>m Bedürfnis, beschützt, entlastet <strong>und</strong> umsorgt, aber auch “in Ruhe gelassen“<br />

zu wer<strong>de</strong>n;<br />

❍ mit <strong>de</strong>m Wunsch, als Mutter / Vater ernst genommen zu wer<strong>de</strong>n;<br />

❍ mit <strong>de</strong>r Erwartung, in <strong>de</strong>n eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Bemühungen wertgeschätzt<br />

zu wer<strong>de</strong>n, aber die Hilfe <strong>und</strong> die Helfer als unnötig <strong>und</strong> nur aufgezwungen<br />

<strong>und</strong> lästig zu entwerten;<br />

❍ mit <strong>de</strong>m Anspruch, das Mutter / Vater-sein-Wollen vehement zu bestätigen, <strong>und</strong><br />

gleichzeitig zu tun, als wäre alles beim Alten;<br />

❍ mit <strong>de</strong>m Zwiespalt, die alleinige Zuständigkeit für das Kind behalten zu wollen<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig gern die Verantwortung immer wie<strong>de</strong>r abzugeben.<br />

Es kann hilfreich sein, als Helferin o<strong>de</strong>r Helfer nicht nur die Sorge zu formulieren,<br />

son<strong>de</strong>rn auch diese ambivalenten Wünsche an Helfer: Ich will es allein schaffen<br />

<strong>und</strong> ich will unterstützt wer<strong>de</strong>n.<br />

Welche Fragen sollten im Gespräch mit <strong>de</strong>n jugendlichen Eltern <strong>de</strong>m Hilfeprozess<br />

vorangestellt <strong>und</strong> im Verlauf <strong>de</strong>r Hilfe von ihnen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Fachkräften beantwortet<br />

wer<strong>de</strong>n?<br />

❍ Gelingt es <strong>de</strong>r min<strong>de</strong>rjährigen Mutter bzw. <strong>de</strong>n Eltern zunächst mit entsprechen<strong>de</strong>r<br />

Unterstützung genügend gut <strong>und</strong> stabil, die ges<strong>und</strong>e Entwicklung<br />

139


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

❍<br />

❍<br />

140<br />

ihres Kin<strong>de</strong>s zu sichern <strong>und</strong> in die Elternrolle hineinzuwachsen? Nach welchen<br />

Kriterien <strong>und</strong> in welchem Zeitraum ist diese Frage zu beantworten? 18<br />

Wie lange kann die Unterstützung gewährt wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wie kann <strong>de</strong>r Ablösungsprozess<br />

von <strong>de</strong>n Helfern <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Hilfeeinrichtung gestaltet, kontrolliert<br />

<strong>und</strong> gesichert wer<strong>de</strong>n?<br />

Kann die Mutter, wenn sie auch mit Unterstützung diese eigene Entwicklung<br />

<strong>und</strong> die <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s nicht verwirklichen kann, ihre Verantwortung einer zusätzlichen<br />

Betreuungs- o<strong>de</strong>r Pfl egeperson übertragen <strong>und</strong> ihre Beziehung zum<br />

Kind entsprechend neu bestimmen <strong>und</strong> gestalten?<br />

Wenn we<strong>de</strong>r das eine noch das an<strong>de</strong>re zu erreichen ist, muss entsprechend <strong>de</strong>m<br />

KJHG eine Entscheidung zur Sicherung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohles auf <strong>de</strong>n Weg gebracht<br />

wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Schutz <strong>und</strong> die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ausreichend ermöglicht.<br />

7. Überblick über beson<strong>de</strong>re Hilfen<br />

Fragen wir Eltern danach, was sie um die Geburt ihres Kin<strong>de</strong>s als unterstützend,<br />

tröstlich <strong>und</strong> entlastend erlebt haben, dann spielen oft nahe Bezugspersonen eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Der Kin<strong>de</strong>svater, <strong>de</strong>r Partner, auch wenn er nicht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>svater<br />

ist, die eigenen Eltern o<strong>de</strong>r Geschwister, Großeltern, gute Fre<strong>und</strong>e o<strong>de</strong>r<br />

auch eine Nachbarin. Für Mütter, die diese Personen nicht zur Verfügung haben,<br />

können das auch Fachkräfte aus <strong>de</strong>n unterschiedlichen Berufsgruppen sein, wie<br />

Hebammen, Mitarbeiterinnen aus Mutter-Kind-Einrichtungen, Sozialarbeiter, Beraterinnen<br />

Freier Träger o<strong>de</strong>r Frauenärzte.<br />

Denn zunächst einmal geht es um sehr elementare Bedürfnisse <strong>de</strong>r Eltern nach:<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

materieller <strong>und</strong> sozialer Sicherheit,<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Zuspruch,<br />

Vertrauen <strong>und</strong> Zutrauen, eine gute Mutter, ein guter Vater sein zu können,<br />

Mitgefühl,<br />

gemeinsamer Vorfreu<strong>de</strong>,<br />

Hilfsbereitschaft,<br />

Entlastung,<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Trost.<br />

Insofern kann die familiäre <strong>und</strong> soziale Gemeinschaft um die Eltern bzw. die Mutter<br />

herum <strong>und</strong> auch die gesellschaftliche Umgebung insgesamt bereits früh helfen<br />

– o<strong>de</strong>r eben auch nicht.<br />

Die Sorge um ein neues Kind <strong>und</strong> damit die Frühe Hilfe im weitesten Sinne <strong>de</strong>s<br />

Wortes beginnt mit <strong>de</strong>r wohlwollen<strong>de</strong>n Aufnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in die Familie <strong>und</strong><br />

die Gemeinschaft als Ganzes. Eine Gesellschaft <strong>und</strong> ihre Bürger, die sich um das<br />

18 Vgl. in diesem Handbuch Kapitel 3 <strong>und</strong> 9


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

Wohl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r sorgen, sind insofern auch immer selber in <strong>de</strong>r Pfl icht, diese Verantwortung<br />

für die Kleinsten wahrzunehmen. 19<br />

Was sind Frühe Hilfen<br />

Frühe Hilfen sind Unterstützungssysteme mit Hilfsangeboten für Eltern ab Beginn<br />

<strong>de</strong>r Schwangerschaft bis En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s dritten Lebensjahres ihres Kin<strong>de</strong>s. Sie zielen<br />

darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kin<strong>de</strong>rn in Familie <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

frühzeitig <strong>und</strong> nachhaltig zu verbessern, in<strong>de</strong>m tragfähige Kooperationsbeziehungen<br />

mit Familien aufgebaut <strong>und</strong> Elternkompetenzen gestärkt wer<strong>de</strong>n. Neben alltagspraktischer<br />

Unterstützung wollen Frühe Hilfen insbeson<strong>de</strong>re einen Beitrag<br />

zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Erziehungs-, Beziehungs- <strong>und</strong> Bindungskompetenz von (wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n)<br />

Müttern <strong>und</strong> Vätern leisten. Frühe Hilfen umfassen vielfältige, aufeinan<strong>de</strong>r<br />

bezogene <strong>und</strong> einan<strong>de</strong>r ergänzen<strong>de</strong> bewährte (evi<strong>de</strong>nzbasierte) Angebote <strong>und</strong><br />

Maßnahmen, die Familien in jener Phase ansprechen, in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs<br />

schutzbedürftig <strong>und</strong> Eltern offen für Rat <strong>und</strong> praktische Hilfe sind. Sie richten<br />

sich z. T. an die breite Bevölkerung wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> Eltern von Kleinkin<strong>de</strong>rn,<br />

sollen vor allem jedoch <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Bedarf von Familien in belasten<strong>de</strong>n<br />

Lebenslagen gerecht wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Hilfen bereit stellen, wenn schwerwiegen<strong>de</strong><br />

Probleme von Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rn sowie Belastungen <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung<br />

erkennbar sind. Frühe Hilfen tragen somit auch dazu bei, dass Risiken für<br />

das Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s möglichst schon im Vorfeld wahrgenommen <strong>und</strong> erkannt <strong>und</strong><br />

somit Gefährdungen systematisch abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Frühe Hilfen sind dabei<br />

Bestandteil eines integrierten Kin<strong>de</strong>rschutzkonzeptes, das sowohl präventive Angebote<br />

wie auch Interventionen umfasst. Zentral für das Erreichen dieser Ziele ist<br />

eine enge Vernetzung <strong>und</strong> Kooperation insbeson<strong>de</strong>re von Akteuren <strong>und</strong> Institutionen<br />

aus <strong>de</strong>m Ges<strong>und</strong>heitssystem, <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung<br />

sowie <strong>de</strong>r Schwangerschaftsbegleitung <strong>und</strong> Schwangerschaftsberatung. 20<br />

Frühe Hilfen beziehen insbeson<strong>de</strong>re Angebote <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heitswesens, <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r-<br />

<strong>und</strong> Jugendhilfe, <strong>de</strong>r Schwangerschaftsberatung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung ein.<br />

Ambulante Angebote<br />

❍ <strong>de</strong>s öffentlichen Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitsdienstes<br />

❍ an<strong>de</strong>rer Bereiche <strong>de</strong>s Ges<strong>und</strong>heitswesens wie Schwangerschaftsvorsorge,<br />

Früherkennungsuntersuchungen, (Familien-)Hebammen, Ges<strong>und</strong>heitsför<strong>de</strong>rung,<br />

medizinische Vorsorge für Mütter <strong>und</strong> Väter<br />

❍ <strong>de</strong>r Schwangerschaftskonfl iktberatungsstellen<br />

19 E. Helmig: Alles im Griff o<strong>de</strong>r das Aufwachsen in gemeinsamer Verantwortung? Paradoxien <strong>de</strong>s Präventionsanspruchs<br />

im Bereich Früher Hilfen. (DJI/BZgA), 2008<br />

20 Vorläufi ges Arbeitspapier <strong>de</strong>s NZFH in Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m wissenschaftlichen Beirat <strong>de</strong>s<br />

NZFH (Stand: November 2008)<br />

141


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

142<br />

<strong>de</strong>r Sozialpädiatrischen Zentren <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutz-Ambulanzen<br />

<strong>de</strong>r Hebammen <strong>und</strong> Therapeuten in freier Praxis<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe (verschie<strong>de</strong>ne Formen <strong>de</strong>r Hilfen zur Erziehung)<br />

<strong>de</strong>r Beratungsstellen <strong>de</strong>r Freien Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

<strong>de</strong>r Familienzentren <strong>und</strong> Nachbarschaftsheime in unterschiedlicher kommunaler<br />

Trägerschaft<br />

Familienbildungsangebote<br />

❍ Elterntrainingsprogramme (wie z. B. „Starke Eltern – starke Kin<strong>de</strong>r“, „Das Baby<br />

verstehen“, „Opstapje“)<br />

❍ Mutter-Kind <strong>und</strong> Eltern-Kind-Gruppen<br />

Institutionen mit kommunalen <strong>und</strong> pädagogischen Angeboten<br />

❍ Kin<strong>de</strong>rtagesbetreuung in Krippen <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>rtagesstätten<br />

❍ Entlastungstagespfl ege<br />

❍ Familienzentren<br />

❍ Eltern-Kind-Zentren<br />

❍ Beratungsstellen für Frauen<br />

❍ Mehrgenerationenhäuser<br />

Stationäre Angebote<br />

Mutter-Kind-Einrichtungen bzw. Eltern-Kind-Einrichtungen, in <strong>de</strong>nen beson<strong>de</strong>rs<br />

min<strong>de</strong>rjährige <strong>und</strong> jugendliche Eltern mit ihren Kin<strong>de</strong>rn eine zeitlich begrenzte<br />

intensive Betreuung <strong>und</strong> Unterstützung erhalten<br />

Kin<strong>de</strong>rkliniken <strong>und</strong> Spezialkliniken für früh geborene Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r mit<br />

Behin<strong>de</strong>rungen, in <strong>de</strong>nen die Eltern mit aufgenommen wer<strong>de</strong>n<br />

Psychosomatische <strong>und</strong> psychiatrische Kliniken <strong>und</strong> Tageskliniken für die Erwachsenen21<br />

❍<br />

❍<br />

❍<br />

❍ Professionell betreute Wohnprojekte für Eltern mit ihren Kin<strong>de</strong>rn in beson<strong>de</strong>ren<br />

Lebenslagen<br />

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen<br />

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) ist die von <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>eszentrale für<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung (BZgA) <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI)<br />

getragene Einrichtung, die für die Evaluation <strong>und</strong> die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Frühen<br />

Hilfen <strong>und</strong> Auf- <strong>und</strong> Ausbau von Unterstützungssystemen b<strong>und</strong>esweit sorgen<br />

21 Mütter, die psychisch krank sind o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s erkrankt sind, können inzwischen<br />

in einigen psychiatrischen, psychotherapeutischen o<strong>de</strong>r psychosomatischen Kliniken gemeinsam mit<br />

ihrem Kind aufgenommen, behan<strong>de</strong>lt <strong>und</strong> betreut wer<strong>de</strong>n. In einigen Kliniken arbeitet auch die psychiatrische<br />

Station für die erwachsenen Patienten mit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rstation entsprechend <strong>de</strong>m Bedarf<br />

von Mutter <strong>und</strong> Kind zusammen.


Was brauchen Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn?<br />

will. Es wur<strong>de</strong> im Rahmen <strong>de</strong>s Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern <strong>und</strong><br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> soziale Frühwarnsysteme“ vom B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren,<br />

Frauen <strong>und</strong> Jugend (BMFSFJ) initiiert <strong>und</strong> hat seinen Sitz bei <strong>de</strong>r BZgA<br />

in Köln. Das Zentrum wird eine Wissensplattform bereitstellen <strong>und</strong> eine gezielte<br />

Öffentlichkeitsarbeit leisten. Es sorgt für einen wechselseitigen Transfer von Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Erkenntnissen aus Forschung <strong>und</strong> Praxis. Das NZFH begleitet <strong>und</strong><br />

koordiniert die von B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Län<strong>de</strong>rn gemeinsam ausgewählten Mo<strong>de</strong>llprojekte<br />

zu Frühen Hilfen, die im Rahmen <strong>de</strong>s Aktionsprogramms vom BMFSFJ in je<strong>de</strong>m<br />

B<strong>und</strong>esland geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Die zehn ausgewählten Mo<strong>de</strong>llprojekte (einige<br />

Projekte wer<strong>de</strong>n län<strong>de</strong>rübergreifend durchgeführt) <strong>de</strong>cken ein breites Spektrum<br />

ab hinsichtlich <strong>de</strong>s inhaltlichen Fokus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>llvorhaben <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Methodik <strong>de</strong>r<br />

wissenschaftlichen Begleitung.<br />

Gelingt die Unterstützung von Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn, dann<br />

hat das sowohl für die weitere Entwicklung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r als auch für die Eltern, die<br />

in dieser frühen Phase ihrer Elternschaft eine gute Erfahrung mit helfen<strong>de</strong>n Einrichtungen<br />

<strong>und</strong> Personen machen können, eine ganz beson<strong>de</strong>re, weitreichen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung.<br />

143


12<br />

Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

Die psychische Not in Familien mit Gewalt- o<strong>de</strong>r Vernachlässigungsproblemen<br />

gegenüber Kin<strong>de</strong>rn ist bekanntlich oft so groß, dass sie auch nach außen<br />

auf diejenigen Personen ausstrahlt, die mit solchen Familien professionell arbeiten,<br />

sei es als Erzieher, Ärztinnen, Polizisten, Jugendamtsvertreter, Sozialarbeiterin-nen,<br />

Juristen, Berater, Therapeutinnen. Häufi g stehen diese unter so großem<br />

Zeit-, Handlungs-, <strong>und</strong> Verantwortungsdruck, dass neben <strong>de</strong>n vielen drängen<strong>de</strong>n<br />

Fragen zum akuten Fall die an<strong>de</strong>ren wichtigen Fragen nach Auswirkungen <strong>de</strong>r<br />

Psychodynamik <strong>de</strong>r Familie auf das Helfersystem an <strong>de</strong>n Rand ihrer Aufmerksamkeit<br />

geraten o<strong>de</strong>r gar übersehen wer<strong>de</strong>n. In zweifacher Weise wäre das sehr<br />

scha<strong>de</strong>.<br />

Tatsächlich stehen mit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Fragen – nach <strong>de</strong>r Psychodynamik von Familien<br />

<strong>und</strong> nach <strong>de</strong>r potentiellen Ansteckungsgefahr <strong>de</strong>r Dynamik für Helfer – außeror<strong>de</strong>ntlich<br />

hilfreiche Instrumente zur Verfügung, um Aufschluss zu erhalten über<br />

jene Kräfte, die <strong>de</strong>n bewussten Bemühungen um Aufklärung <strong>und</strong> Lösungen oft<br />

entgegenwirken. Es sind Instrumente, mit <strong>de</strong>ren Hilfe – wie zu zeigen sein wird –<br />

zwei wesentliche Ziele in <strong>de</strong>r psychosozialen Arbeit mit Familien gleichzeitig erreicht<br />

wer<strong>de</strong>n können: Erstens ein vertieftes Verständnis für wesentliche Elemente<br />

<strong>de</strong>r familiären Konfl ikte, die uns in Gestalt szenischer Wie<strong>de</strong>rholungen unmittelbar<br />

begegnen, <strong>und</strong> zweitens Einsichten zur Selbstfürsorge, d.h. zur Aufrechterhaltung<br />

<strong>de</strong>r eigenen professionell befriedigen<strong>de</strong>n Arbeitsfähigkeit in konfl ikthaften<br />

Stresssituationen bei <strong>de</strong>r komplizierten Arbeit mit Familien.<br />

Bevor an einem Fallbeispiel dargestellt wird, was Fragen nach <strong>de</strong>r Dynamik<br />

in <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>uten, möchte ich kurz einige zentrale Begriffe wie szenische<br />

Wie<strong>de</strong>rholung, Konfl ikt, Abwehr <strong>und</strong> Spaltung, Dynamik <strong>und</strong> Teufelskreis erläutern.<br />

Diese sind zwar allgemein bekannt <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n umgangssprachlich benutzt,<br />

aber sie wer<strong>de</strong>n in ihrer Be<strong>de</strong>utung oft unterschiedlich verstan<strong>de</strong>n. Und weil so<br />

leicht Missverständnisse entstehen, erscheint es gera<strong>de</strong> in interdisziplinären Diskursen<br />

sinnvoll, immer wie<strong>de</strong>r Verständigung über die sprachliche Basis zu suchen.<br />

Gr<strong>und</strong>lage meines Verständnisses sind langjährige Praxis sowie die Erfahrung kontinuierlicher<br />

Supervisionsarbeit mit Gruppen von Paar- <strong>und</strong> Familientherapeuten<br />

<strong>und</strong> Paar- <strong>und</strong> Familienberatern in verschie<strong>de</strong>nen Einrichtungen. Theoretisch grün<strong>de</strong>n<br />

sie auf <strong>de</strong>r Psychoanalyse als Lehre von unbewussten Konfl ikten im Inneren<br />

<strong>de</strong>s Menschen <strong>und</strong> zwischen Menschen. Dazu gehört die Vorstellung vom Sinn unbewusster<br />

szenischer Wie<strong>de</strong>rholungen, die man als Kind in <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> im Sozialisationsprozess<br />

erworben hat, ohne sie in Sprache fassen zu können. Zu<strong>de</strong>m<br />

beziehe ich mich auf das unter <strong>de</strong>m Begriff Beziehungsanalyse bekannte Konzept,<br />

das die Münchener Psychoanalytikerin Thea Bauriedl seit <strong>de</strong>n 70er Jahren in Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis mit <strong>de</strong>m Ziel entwickelt hat, wesentliche psychoanalytische Ein-<br />

144


sichten auch außerhalb <strong>de</strong>r Couch für familiäre, psychosoziale <strong>und</strong> politische Berufsfel<strong>de</strong>r<br />

zugänglich zu machen. Beziehungsanalyse nach Thea Bauriedl ist ein<br />

mo<strong>de</strong>rnes, wohltuend humanes, nicht direktives Konzept <strong>de</strong>r Aufklärung zur Befreiung<br />

aus grenzverletzen<strong>de</strong>n Beziehungsmustern, wie sie beson<strong>de</strong>rs in Familien<br />

mit Gewaltstrukturen auffällig sind.<br />

Szenische Wie<strong>de</strong>rholung<br />

Mit <strong>de</strong>m Begriff ist in diesem Zusammenhang kein rational geplantes Inszenieren<br />

wie im Theater gemeint, son<strong>de</strong>rn das verwirren<strong>de</strong> Phänomen, dass Menschen<br />

unbewusst emotional <strong>und</strong> han<strong>de</strong>lnd immer wie<strong>de</strong>r in spezifi sche Situationen mit<br />

an<strong>de</strong>ren Menschen, also auch mit Helfern, geraten. Die kreative Chance zur Befreiung<br />

aus solchen Wie<strong>de</strong>rholungsmustern besteht zunächst darin, diese zu akzeptieren<br />

<strong>und</strong> auf Helferseite durch Refl exion <strong>de</strong>r eigenen Wahrnehmungen in <strong>de</strong>r<br />

Szene, durch <strong>Erkennen</strong> eigener Verwicklungen zu untersuchen mit <strong>de</strong>m Ziel, die<br />

Szenen als Ausdruck direkt von <strong>de</strong>m Paar o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Familie nicht vermittelbarer<br />

(unbewusster) Wünsche, Ängste, Konfl ikte <strong>und</strong> Abwehrmuster zu verstehen.<br />

Konfl ikt<br />

Konfl ikt be<strong>de</strong>utet hier nicht nur Streit eines Menschen mit einem o<strong>de</strong>r mehreren<br />

an<strong>de</strong>ren. Er be<strong>de</strong>utet die existentielle quälen<strong>de</strong> Erfahrung innerlich schwer<br />

aushaltbarer Zwiespältigkeiten von wi<strong>de</strong>rsprüchlichen (ambivalenten) Bedürfnissen<br />

<strong>und</strong> Gefühlen, welche die Wünsche nach Harmonie <strong>und</strong> Einheit stören.<br />

Einen klassischen Ambivalenzkonfl ikt von Eltern in Bezug auf die Frage, ob sie<br />

miteinan<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r haben wollen o<strong>de</strong>r nicht, kann man z. B. so ausdrücken: „Ich<br />

liebe Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> ich liebe sie nicht.“ Solange die Konfl ikte <strong>de</strong>m eigenen Ich unlösbar<br />

erscheinen, wer<strong>de</strong>n vielerlei Techniken (Konfl iktabwehrmechanismen)<br />

entwickelt, um sie zum Verschwin<strong>de</strong>n zu bringen. Dadurch wird eine Dynamik<br />

<strong>de</strong>r Konfl iktabwehr in Gang gebracht, in die auch Außenstehen<strong>de</strong> verwickelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Abwehr<br />

Dieser Begriff umfasst all diejenigen vielfältigen psychischen Anstrengungen,<br />

Mittel <strong>und</strong> Metho<strong>de</strong>n einzusetzen, um irgendwie, möglichst rasch <strong>und</strong> automatisch,<br />

innere Konfl ikte zum Verschwin<strong>de</strong>n zu bringen, d.h. sie aus <strong>de</strong>m Bewusstsein<br />

zu verdrängen. In <strong>de</strong>r Folge sind sie tatsächlich unbewusst, d.h. <strong>de</strong>m angestrengten<br />

Nach<strong>de</strong>nken <strong>und</strong> Erinnern nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Doch<br />

die Wirkung <strong>de</strong>r Abwehr kann nur begrenzt sein. Dadurch kehrt keine innere Ruhe<br />

ein, son<strong>de</strong>rn neue emotionale Unruhe entsteht, die verstärkte o<strong>de</strong>r immer neue Anstrengungen<br />

nötig macht.<br />

145


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

Das be<strong>de</strong>utet, Abwehr kann nicht als statisches Ereignis verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />

sie löst immer eine Kräfte zehren<strong>de</strong> Dynamik aus. Vom Bild „Teufelskreis<br />

<strong>de</strong>r Abwehr“, in <strong>de</strong>n ein Mensch geraten <strong>und</strong> nicht mehr aus eigener Kraft herauskommen<br />

kann, wird gesprochen, wenn die potentielle Gefährlichkeit <strong>de</strong>r Situation<br />

für Leib <strong>und</strong> Leben gekennzeichnet wer<strong>de</strong>n soll.<br />

Abwehrmechanismen<br />

Gemeint sind viele sehr unterschiedliche Abwehrformen, u.a. Vergessen, Verleugnen,<br />

Verkehren ins Gegenteil, Verdrängen, Spalten, I<strong>de</strong>alisieren, Projizieren, Verschieben,<br />

Somatisieren. In vielen Fällen beim Spalten, Projizieren, I<strong>de</strong>alisieren<br />

wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Menschen zur Abwehr einbezogen, ohne dass sie es wissen.<br />

Von beson<strong>de</strong>rem Interesse für unsere Frage nach <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>r Familiendynamik<br />

für Helferkreise ist die Abwehr durch Spaltung in einer Familie. Ein Paar kann<br />

sich gegenseitig für seine Abwehrzwecke benutzen. Mütter <strong>und</strong> Väter können z. B.<br />

ihre jeweils eigenen, ambivalenten Kin<strong>de</strong>rwünsche durch Spaltung so abwehren,<br />

dass je<strong>de</strong>r immer nur eine Hälfte seines Gesamtproblems energisch gegen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

vertritt, die Mutter <strong>de</strong>n einen Teil „total kin<strong>de</strong>rlieb“, <strong>de</strong>r Vater nur <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren,<br />

„total kin<strong>de</strong>rfeindlich“. Wenn ein Paar seinen Ambivalenzkonfl ikt auf diese<br />

Weise zwischen sich aufspaltet, darüber in Streit gerät <strong>und</strong> sich endlich Hilfe<br />

suchend an einen Dritten wen<strong>de</strong>t, dann la<strong>de</strong>n sie diesen Dritten (unbewusst) dazu<br />

ein, ihre spalten<strong>de</strong> Abwehrdynamik zu übernehmen.<br />

Woran ist dieser Vorgang zu erkennen? Der Dritte könnte zunächst <strong>de</strong>n Eindruck<br />

gewinnen, die Lösung <strong>de</strong>s Paarproblems läge entwe<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Elternseite. Er könnte die Überzeugung vertreten, <strong>de</strong>r Vater müsste seine<br />

Meinung än<strong>de</strong>rn, wenn er als Mann kin<strong>de</strong>rfre<strong>und</strong>liche Aspekte vermittelt. O<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Dritte könnte die Mutter bestärken, sich konsequent gegen <strong>de</strong>n Vater durchzusetzen.<br />

Die Dynamik <strong>de</strong>r Abwehr <strong>de</strong>s Ambivalenzkonfl iktes durch Spaltung hätte<br />

so <strong>de</strong>n Dritten erfasst, er wäre gleichsam von ihr angesteckt wor<strong>de</strong>n. Das geschieht<br />

umso leichter, wenn Dritte selbst einen ähnlichen Ambivalenzkonfl ikt <strong>und</strong><br />

ähnliche spalten<strong>de</strong> Abwehrmuster haben o<strong>de</strong>r aufgr<strong>und</strong> eigener Sehnsüchte han<strong>de</strong>ln.<br />

Ist das ein Fehler?<br />

Nein, hier han<strong>de</strong>lt es sich nicht um einen Fehler, <strong>de</strong>n man vermei<strong>de</strong>n könnte. In <strong>de</strong>r<br />

Verstrickung liegt vielmehr eine kreative Chance. Sie besteht darin, dass <strong>de</strong>r Dritte<br />

zunächst an seinen eigenen Gefühlen (<strong>de</strong>s Unbehagens, <strong>de</strong>r Verwirrung, <strong>de</strong>r Parteilichkeit)<br />

erkennen kann, dass <strong>und</strong> wodurch er verstrickt wur<strong>de</strong>. Er kann eine an<strong>de</strong>re<br />

Haltung gewinnen, wenn er die Ambivalenzspaltung bei sich aufl ösen <strong>und</strong> sehen<br />

kann, wie das Paar in verzweifelter Anstrengung miteinan<strong>de</strong>r, d.h. gegeneinan<strong>de</strong>r,<br />

ringt, wie es die Last seiner komplementären Anteile verteilt ohne davon<br />

loszukommen. So kann er die Abwehr im besten Sinne fragwürdig für das Paar<br />

machen.<br />

146


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

Fallbeispiel: 1<br />

Vom Jugendamt ist eine Hilfekonferenz anberaumt. Eingela<strong>de</strong>n zum Klärungsgespräch<br />

hat <strong>de</strong>r zuständige Vertreter <strong>de</strong>s Jugendamts eine Mutter, ihren Ehemann<br />

sowie eine Psychologin, die als Paar- <strong>und</strong> Familientherapeutin tätig ist.<br />

Anlass ist ein juristisch ausgetragener Streit um das alleinige Sorgerecht zwischen<br />

<strong>de</strong>r Kindsmutter <strong>und</strong> <strong>de</strong>m immer schon getrennt leben<strong>de</strong>n Kindsvater. Der gemeinsame<br />

inzwischen sechsjährige Sohn lebte bis zum zweiten Lebensjahr bei<br />

seiner Mutter, dann gab sie ihn auf eigenen Wunsch zu seinem Vater. Nach vier<br />

Jahren will die Mutter ihren Sohn wie<strong>de</strong>rhaben in ihre Familie mit Ehemann <strong>und</strong><br />

zwei jüngeren Kin<strong>de</strong>rn. Aber <strong>de</strong>r leibliche Vater will <strong>de</strong>n Jungen nicht zurückgeben.<br />

Ein Gutachter wird beauftragt. Sein Bericht veranlasst das Gericht zu Zweifeln,<br />

ob die Lebenssituation in <strong>de</strong>r mütterlichen Familie günstig für <strong>de</strong>n Jungen<br />

ist. Das Gericht schaltet das Jugendamt ein. Das Amt soll klären, ob in <strong>de</strong>r mütterlichen<br />

Familie hinlänglich gut für das Kin<strong>de</strong>swohl gesorgt wäre o<strong>de</strong>r ob Vernachlässigung<br />

<strong>und</strong> Gewalt drohen. Es gibt Indizien für chronische Erkrankungen <strong>de</strong>r<br />

Eltern, für emotionale Störungen, für starke Stimmungsschwankungen, vor allem<br />

aber für anhalten<strong>de</strong> massive gewaltsam ausgetragene Paarkonfl ikte.<br />

Ziel <strong>de</strong>s gemeinsamen Gesprächs sollen die Klärung <strong>de</strong>r kurz-, mittel- <strong>und</strong> langfristigen<br />

Risiken sein sowie die Einschätzung <strong>de</strong>r Ressourcen <strong>de</strong>s Paares (Einsichts-<br />

<strong>und</strong> Än<strong>de</strong>rungsfähigkeit) unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls. Sind<br />

die Eltern problembewusst, einsichtsfähig, beziehungsfähig o<strong>de</strong>r nicht? Wie gehen<br />

sie mit <strong>de</strong>r neuen Situation um, dass sie begutachtet wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dass dabei<br />

neue belasten<strong>de</strong> Fakten zutage kamen, die ihren Wunsch nach <strong>de</strong>m Jungen möglicherweise<br />

unerfüllbar machen? Zeigen sie sich zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls verän<strong>de</strong>rungswillig<br />

<strong>und</strong> verän<strong>de</strong>rungsfähig o<strong>de</strong>r aber nicht? Verleugnen sie bei ihnen<br />

selbst bestehen<strong>de</strong> Schwierigkeiten? Und lässt sich abschätzen, wie lange ein Verän<strong>de</strong>rungsprozess<br />

dauern wür<strong>de</strong>?<br />

Keine leichte Aufgabe.<br />

Eine dramatische Szene entwickelt sich, in <strong>de</strong>ren Verlauf die Mutter das Gespräch<br />

abbricht. Der Amtsvertreter beeindruckt die Therapeutin dadurch, wie er absolut<br />

klar <strong>und</strong> <strong>de</strong>utlich strukturiert <strong>de</strong>m Paar nacheinan<strong>de</strong>r die Fakten, die Konsequenzen<br />

sowie die verbleiben<strong>de</strong>n Möglichkeiten <strong>und</strong> die Voraussetzungen für eine<br />

Entscheidung aufzeigt. Der Mann zieht daraus für sich die Schlussfolgerung, dass<br />

er ausziehen wer<strong>de</strong>. An dieser Stelle hält die Mutter das Gespräch nicht mehr aus,<br />

sie rennt plötzlich aus <strong>de</strong>m Raum, Türen schlagend. Der Ehemann bleibt resigniert<br />

sitzen, das Gespräch konzentriert sich jetzt ganz auf ihn, auf seine Motivation <strong>und</strong><br />

Chancen zu positiven Verän<strong>de</strong>rungen. Er wirkt zugänglich, emotional erreichbar<br />

1 An dieser Stelle gilt mein beson<strong>de</strong>rer Dank <strong>de</strong>n Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen in verschie<strong>de</strong>nen Einrichtungen,<br />

die ihre fre<strong>und</strong>liche Zustimmung zu diesem Unterfangen gegeben haben, wobei aus Grün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>s Datenschutzes alle Fälle anonymisiert sind.<br />

147


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

<strong>und</strong> im Prinzip positiv motivierbar. Das wird von Amtsvertreter <strong>und</strong> Therapeutin<br />

als befriedigend erlebt. Bei<strong>de</strong> einigen sich darauf, ihm weitere Gesprächsangebote<br />

zu machen.<br />

Kontrollieren <strong>und</strong> <strong>Helfen</strong> – die unvermeidliche Ambivalenz<br />

Eine erste Annäherungen an die Dynamik <strong>de</strong>r Szene beginnt mit <strong>de</strong>n Fragen: Was<br />

ist hier los, welche Bündnisse entstehen, welche Dynamik <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Helferseite kommt in Gang?<br />

Vier Personen treten in <strong>de</strong>r Szene miteinan<strong>de</strong>r in Beziehung: zwei Paare mit<br />

höchst unterschiedlichen <strong>und</strong> in sich wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Voraussetzungen <strong>und</strong> Interessen.<br />

Auf <strong>de</strong>r einen Seite ist das professionelle Paar mit <strong>de</strong>m Vertreter <strong>de</strong>s Jugendamts,<br />

<strong>de</strong>r in seiner Person eine gr<strong>und</strong>sätzliche staatliche Ambivalenz – Kontrolle <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe – verkörpert. Durch die Hinzuziehung einer außerhalb <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong><br />

arbeiten<strong>de</strong>n Familientherapeutin hat er seine Helferseite nach innen <strong>und</strong> nach außen<br />

verstärkt. Das Angebot <strong>de</strong>r Arbeitsteilung mit ihr enthält ein Risiko für bei<strong>de</strong>,<br />

wenn Arbeitsteilung unversehens zur Arbeitsaufspaltung führt. Sie wird zuerst<br />

nur durch die Unzufrie<strong>de</strong>nheiten mit <strong>de</strong>r eigenen Arbeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren<br />

erkennbar. Zum Beispiel könnte sich <strong>de</strong>r Jugendamtsvertreter nur noch für<br />

die Kontrolle zuständig fühlen, spürend, dass er darin von <strong>de</strong>n Klienten abgelehnt,<br />

gefürchtet o<strong>de</strong>r gar gehasst wird. Gleichzeitig könnte sich die Therapeutin immer<br />

mehr persönlich von <strong>de</strong>r Kontrollfunktion <strong>de</strong>s Kollegen eingeengt fühlen <strong>und</strong> <strong>de</strong>nken,<br />

er bzw. das „böse“ Amt setze sie <strong>de</strong>rart unter Zeit- <strong>und</strong> Ergebnisdruck, dass<br />

sie ihre professionelle Arbeit, therapeutisch für Verän<strong>de</strong>rung zu sorgen, eigentlich<br />

gar nicht machen kann.<br />

Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite sehen wir ein Elternpaar, das einer Amtsvorladung – nicht<br />

freiwillig – nachkommt, diese als ungerechtfertigte Zumutung, ja als feindselige<br />

<strong>und</strong> kontrollieren<strong>de</strong> Amtshandlung verstehen kann, <strong>de</strong>r sie sich nur fügen, weil sie<br />

alles tun wollen, damit <strong>de</strong>r Wunsch <strong>de</strong>r Mutter, ihr erstes Kind zurückzubekommen,<br />

erfüllt wird. Aus welchen Motiven die Mutter das Kind will – diese Frage<br />

geht im Ringen <strong>de</strong>r Erwachsenen unter.<br />

Beginnen wir nach <strong>de</strong>r Dynamik auf Helferseite zu fragen. Dem Elternpaar gegenüber<br />

kann sie ungeachtet sehr unterschiedlicher Interessen <strong>und</strong> Herangehensweisen<br />

als sehr allmächtig erscheinen, wie zwei strenge Eltern, die alles bemerken,<br />

alle Versäumnisse vorrechnen, nichts verzeihen <strong>und</strong> die nach eigenem Ermessen<br />

geben o<strong>de</strong>r wegnehmen können.<br />

Dabei stehen Jugendamtsvertreter professionell immer unter <strong>de</strong>m Druck eines notwendigerweise<br />

ambivalenten Arbeitsauftrages, sie müssen bei<strong>de</strong>s zugleich: Kontrolle<br />

ausüben <strong>und</strong> Hilfe anbieten. Der Jugendamtsvertreter in <strong>de</strong>r Szene lässt mit<br />

seinem präzis strukturierten professionellen Vorgehen keinen Zweifel an seiner<br />

Kontrollfunktion, so dass keiner auf die I<strong>de</strong>e kommt, es gäbe bei ihm auch eine<br />

148


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

an<strong>de</strong>re Seite. Die Hilfeseite wird in <strong>de</strong>r Szene ganz durch die Therapeutin verkörpert,<br />

sie ist fre<strong>und</strong>lich zugewandt, abwartend, verständnisvoll.<br />

Das Elternpaar ist aber auch ihr gegenüber misstrauisch. Es kann die entgegenkommen<strong>de</strong><br />

Haltung, wie <strong>de</strong>r Fortgang <strong>de</strong>r Szene zeigt, nicht einfach annehmen,<br />

<strong>de</strong>nn sie löst zusätzliche Beunruhigung – vor <strong>de</strong>m Eindringen <strong>de</strong>r Gegenseite in<br />

ihr Paarbündnis – aus <strong>und</strong> setzt eine eskalieren<strong>de</strong> Abwehrdynamik in Gang. Als<br />

<strong>de</strong>r Ehemann beginnt, seine abweisen<strong>de</strong>, feindselige <strong>und</strong> vorwurfsvolle Haltung<br />

zu än<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> sich mit eigenen Vorschlägen zur Lösung – er könnte ausziehen<br />

– verän<strong>de</strong>rungswillig zu zeigen, wechselt er gewissermaßen die Fronten, wenn er<br />

anbietet, seine Frau zu verlassen. Für diese aber ist sein Vorschlag (seine Trennung<br />

anstelle <strong>de</strong>s von ihr erhofften gemeinsamen Zusammenlebens <strong>de</strong>r ganzen Familie)<br />

„das Letzte“, eine nicht aushaltbare Lösung. Jetzt kann sie nur noch wegrennen.<br />

Das Paar ist gespalten.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Szene erlebt die Therapeutin sich als außeror<strong>de</strong>ntlich angestrengt<br />

<strong>und</strong> irgendwie verwirrt. Im Rückblick wird ihr klar, warum sie die Mutter durch<br />

<strong>de</strong>ren plötzliches Wegrennen nicht nur äußerlich aus <strong>de</strong>m Blickfeld, son<strong>de</strong>rn auch<br />

innerlich, ganz aus <strong>de</strong>m Sinn verloren (abgespalten) hat. Sie ist ihr gegenüber wie<br />

abgeschnitten, verstummt, hat keine Fragen, Gefühle o<strong>de</strong>r Phantasien mehr zu<br />

dieser Frau <strong>und</strong> ihren Motiven.<br />

Die Therapeutin erlebt in Resonanz auf das spalten<strong>de</strong> Agieren <strong>de</strong>r Frau auch bei<br />

sich eine spalten<strong>de</strong> Reaktion, als wäre sie gleichsam von <strong>de</strong>ren Dynamik angesteckt.<br />

Sie konnte zwar ihre Arbeit in <strong>de</strong>r Folge ganz auf <strong>de</strong>n Ehemann, <strong>de</strong>r übrig<br />

geblieben war, konzentrieren <strong>und</strong> erfolgreich fortsetzen, doch die Beziehung zur<br />

Frau schien endgültig abgebrochen, als gäbe es keinen von ihr initiierbaren Weg<br />

mehr, um von sich aus wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Frau in Kontakt zu treten. Als ihr dies bewusst<br />

wird, löst sich ihre Verwicklung auf, sie fi n<strong>de</strong>t ihre eigenen Wünsche <strong>und</strong><br />

professionellen Möglichkeiten nach Kontakt wie<strong>de</strong>r. Ihre Verwicklung in die Dynamik<br />

<strong>de</strong>r Szene ist kein Fehler, son<strong>de</strong>rn ein Weg zum Verständnis <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>r Szene.<br />

Aus <strong>de</strong>r unbewussten Inszenierung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r eigenen Verwicklung in die Szene<br />

kann die Therapeutin schließlich Gewinn ziehen, sie kann wesentlichen Aufschluss<br />

über die große Not <strong>de</strong>r Mutter erhalten, die in ihren Beziehungen (zum ersten<br />

Sohn <strong>und</strong> zum Mann) zwischen <strong>de</strong>n ambivalenten Wünschen „Bleib da <strong>und</strong><br />

geh weg“ spaltend hin- <strong>und</strong> her gerissen ist <strong>und</strong> offenbar immer wie<strong>de</strong>r scheitert.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Sohn anwesend ist, gibt sie ihn weg, wenn er abwesend ist, will sie ihn<br />

zurückholen.<br />

Was nützen schlussendlich all diese Erwägungen zur Beantwortung <strong>de</strong>r zentralen<br />

Fragen nach <strong>de</strong>n Risiken <strong>und</strong> Chancen für das Kind <strong>und</strong> sein Wohl in <strong>de</strong>r mütterlichen<br />

Familie?<br />

149


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

Die Antwort ist wesentlich abhängig davon, ob die Frau das Prinzip <strong>de</strong>s Entwe<strong>de</strong>r<br />

weg o<strong>de</strong>r da überwin<strong>de</strong>n kann. Aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer – die Frau<br />

<strong>und</strong> ihre Umwelt lei<strong>de</strong>n, abgesehen von <strong>de</strong>r Erkrankung <strong>de</strong>s Mannes, unter <strong>de</strong>r<br />

Wirkung <strong>de</strong>s spalten<strong>de</strong>n, lebensfeindlichen <strong>und</strong> nicht aushaltbaren Prinzips <strong>de</strong>s<br />

entwe<strong>de</strong>r – o<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>s ganz o<strong>de</strong>r gar nicht, <strong>de</strong>s alles o<strong>de</strong>r nichts. Sie bräuchte zum<br />

Entwickeln menschenfre<strong>und</strong>licherer Haltungen sicherlich Hilfe von außen, doch<br />

ob sie diese auch will, ist erst noch zu klären. Zunächst sieht es so aus, dass auch<br />

für die Frau die Therapeutin total verloren ging <strong>und</strong> dass sie von sich aus nicht<br />

wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Helferseite anknüpfen kann.<br />

Zusammenfassend können einige Einsichten aus <strong>de</strong>n Überlegungen für die Praxis<br />

in interdisziplinärer Arbeit von Helfersystemen gewonnen wer<strong>de</strong>n:<br />

❍ Die Arbeitsteilung in Helfersystemen erfor<strong>de</strong>rt spezifi sche Aufmerksamkeit<br />

für die sich dort potentiell entfalten<strong>de</strong> Dynamik <strong>de</strong>r Abwehr von Konfl ikten,<br />

die durch Familien mit Gewaltproblemen beson<strong>de</strong>rs aktiviert wird.<br />

❍ Hilfreich zum <strong>Erkennen</strong> ist das Studium szenischer Wie<strong>de</strong>rholungen, <strong>de</strong>ren<br />

Strukturen auch auf Helfer ansteckend wirken können.<br />

In solchen Fällen liegt kein professioneller Fehler vor, <strong>de</strong>r vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

könnte, son<strong>de</strong>rn oft die einzige Chance, an<strong>de</strong>rs nicht erfahrbare (namenlose)<br />

psychische Störquellen zu erkennen, zu benennen <strong>und</strong> ohne Vorwurf in ihrer<br />

Be<strong>de</strong>utung für das Individuum <strong>und</strong> seine Familie zu verstehen. Solches Studium<br />

ist kein überfl üssiger zeitrauben<strong>de</strong>r Luxus, son<strong>de</strong>rn Voraussetzung für Lösungen<br />

von Problemen.<br />

❍ Helfer, die ihre partiellen Verstrickungen wahrnehmen, können die Stellen untersuchen,<br />

wo sie begannen, <strong>und</strong> dafür sorgen, dass sie ihre Verwicklung kreativ<br />

aufl ösen, um wie<strong>de</strong>r ihren eigenen Platz einzunehmen. Auf diese Weise verhin<strong>de</strong>rn<br />

sie, soweit es an ihnen liegt, die Eskalation <strong>de</strong>r Dynamik <strong>de</strong>r Abwehr.<br />

❍ Die Arbeit mit Familien mit Gewaltproblemen ist immer Arbeit an <strong>de</strong>n Strukturen<br />

grenzverletzen<strong>de</strong>r Beziehungsmuster verführerischer, erpresserischer, ausbeuterischer<br />

Art. Insofern kommt es nicht auf die Fehlersuche in Beziehungen<br />

an, son<strong>de</strong>rn auf die Suche nach <strong>de</strong>m Sinn unbefriedigen<strong>de</strong>r Situationen.<br />

❍ Hilfreich ist das Bemühen um All-Parteilichkeit.<br />

❍ Hilfreich ist <strong>de</strong>r Verzicht auf die Schuld-Unschuld-Frage.<br />

❍ Hilfreich ist <strong>de</strong>r Verzicht auf pädagogische Intervention.<br />

❍ Hilfreich ist <strong>de</strong>r Verzicht auf Wissen, was für wen richtig o<strong>de</strong>r falsch ist.<br />

❍ Hilfreich ist <strong>de</strong>r Verzicht auf erpresserische Angebote.<br />

❍ Hilfreich ist die Frage nach <strong>de</strong>m jeweils eigenen Platz.<br />

❍ Wichtig ist es, auf Ambivalenz-Spaltungs-Prozesse zu achten.<br />

❍ Wichtig ist es, Verbündungsprozesse erkennen – wer mit wem gegen wen?<br />

❍ Wichtig ist es, Spaltungsstrukturen zu erkennen.<br />

❍ Notwendig ist es, Streit in seiner Sinnfunktion zu verstehen: als Rettungsnetz<br />

vor Depression, Verzweifl ung <strong>und</strong> Verlustangst.<br />

150


Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Beziehungskonfl ikt in <strong>de</strong>r Hilfe ab?<br />

Solche Arbeit hat, wie die Erfahrung zeigt, immer auch eine wichtige Selbstschutzfunktion.<br />

Sie trägt dazu bei, die eigenen Grenzen zu achten, sich vor <strong>de</strong>m Burn-Out-<br />

Syndrom zu schützen <strong>und</strong> Zufrie<strong>de</strong>nheit in <strong>de</strong>r Arbeit zu erleben.<br />

151


13<br />

Was sind die rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen für das Han<strong>de</strong>ln von<br />

Helfern? – Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII?<br />

A. <strong>Helfen</strong> <strong>und</strong> die verschie<strong>de</strong>nen Verantwortungsebenen<br />

B. Handlungspfl ichten auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s Achten Buches Sozialgesetzbuch<br />

(SGB VIII)<br />

I. Der komplexe Auftrag <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

1. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben<br />

2. Konsequenzen für die Mittelwahl zur Erfüllung <strong>de</strong>s Schutzauftrags<br />

II. Gefährdungseinschätzung als Aufgabe <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

(§ 8a Abs. 1 SGB VIII)<br />

152<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

Gewichtige Anhaltspunkte<br />

Informationsgewinnung <strong>und</strong> Gefährdungseinschätzung (Satz 1)<br />

Mitwirkung <strong>de</strong>r Personensorgeberechtigten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

(Satz 2)<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz durch Datenschutz im Jugendamt<br />

4.<br />

III. Gefährdungseinschätzung als Aufgabe <strong>de</strong>r Leistungserbringer<br />

(§ 8a Abs. 2 SGB VIII)<br />

1. Gefährdungseinschätzung als Pfl icht gegenüber <strong>de</strong>m Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

2. Zum Inhalt <strong>de</strong>r Vereinbarung mit <strong>de</strong>m Jugendamt<br />

3. Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags in entsprechen<strong>de</strong>r Weise<br />

IV. Die einzelnen Reaktionsalternativen <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

1. Die Ausgangslagen<br />

2. Das Hilfeangebot an die Eltern (§ 8a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII)<br />

3. Die Anrufung <strong>de</strong>s Familiengerichts (§ 8a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII)<br />

4. Die Inobhutnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen (§ 8a Abs. 3 Satz 2<br />

SGB VIII)<br />

5. Die Einschaltung an<strong>de</strong>rer Institutionen (§ 8a Abs. 4 SGB VIII)<br />

V. Schärfere Prüfung <strong>de</strong>r persönlichen Eignung <strong>de</strong>s Personals in <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

(§ 72a SGB VIII)<br />

1. Personal im Jugendamt<br />

2. Personal bei freien Trägern<br />

C. Handlungspfl ichten im Zusammenhang mit einer Garantenstellung<br />

1. Garantenstellung <strong>und</strong> daraus resultieren<strong>de</strong> Handlungspfl ichten für<br />

Helferinnen <strong>und</strong> Helfer im Jugendamt<br />

2. Garantenstellung bei <strong>de</strong>r Beteiligung von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten<br />

freier Träger<br />

3. Garantenstellung <strong>de</strong>s Richters<br />

4.<br />

Kausalität <strong>und</strong> Sorgfaltspfl ichtverletzung


A. <strong>Helfen</strong> <strong>und</strong> die unterschiedlichen Verantwortungsebenen<br />

Helferinnen <strong>und</strong> Helfer – dazu gehören diejenigen, die Angestellte bei <strong>de</strong>n Jugendämtern<br />

sind, ebenso wie diejenigen bei privaten Organisationen <strong>und</strong> Diensten<br />

– arbeiten nicht im rechtsfreien Raum, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>r Basis rechtlicher Vorschriften<br />

o<strong>de</strong>r vertraglicher Vereinbarungen wie an<strong>de</strong>re Professionen – Ärzte, Polizisten,<br />

Krankenschwestern. Diese rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen schreiben Ihnen bestimmte<br />

Handlungs- o<strong>de</strong>r Unterlassungspfl ichten vor. Gera<strong>de</strong> im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r Beratung <strong>und</strong> Betreuung von Kin<strong>de</strong>rn in Gefährdungslagen <strong>und</strong> ihren Eltern<br />

übernehmen sie auch bestimmte Handlungs- <strong>und</strong> Schutzpfl ichten im Hinblick<br />

auf das betreute Kind.<br />

Die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage für die Tätigkeit in <strong>de</strong>r öffentlichen Jugendhilfe, also<br />

in <strong>de</strong>n Jugendämtern <strong>und</strong> seinen sozialen Diensten <strong>und</strong> Einrichtungen, bil<strong>de</strong>t vor<br />

allem das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe – (SGB VIII),<br />

manchmal auch – juristisch nicht ganz korrekt – als KJHG zitiert. Adressaten für<br />

die dort geregelten Aufgaben sind die öffentlichen Träger, also Kreise <strong>und</strong> Städte<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Behör<strong>de</strong>n, die Jugendämter. Helferinnen <strong>und</strong> Helfer han<strong>de</strong>ln als Angehörige<br />

dieser Behör<strong>de</strong>, sind damit in die Hierarchie eingeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Organisationsentscheidungen <strong>de</strong>r Vorgesetzten für bestimmte Aufgaben zuständig.<br />

Verletzen sie ihre Pfl ichten <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n damit Kin<strong>de</strong>r, Jugendliche o<strong>de</strong>r<br />

Eltern in ihren Rechten verletzt, dann können diese Rechtschutz gegen das Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>n Verwaltungsgerichten auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r Verwaltungsgerichtsordnung<br />

(VwGO) suchen. Dabei geht es häufi g schon um die Frage, ob die<br />

Behör<strong>de</strong> eine beantragte Leistung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Verlängerung zu Recht o<strong>de</strong>r zu Unrecht<br />

abgelehnt hat. Im Zusammenhang mit Anhaltspunkten für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

geht es aber vor allem um die Frage, welche (verwaltungsrechtlichen)<br />

Pfl ichten Helferinnen <strong>und</strong> Helfer als Bedienstete <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> im Hilfeprozess<br />

(beginnend beim Eingang einer Meldung über die Gefährdungseinschätzung, die<br />

Entscheidung für ein Hilfekonzept bis hin zur Beendigung <strong>de</strong>r Hilfe) zu beachten<br />

bzw. einzuhalten haben.<br />

Als Folge <strong>de</strong>r Verletzung einer verwaltungsrechtlichen Handlungspfl icht sind<br />

auch Ansprüche auf Scha<strong>de</strong>nsersatz gegen einzelne Helferinnen <strong>und</strong> Helfer im<br />

Zusammenhang mit immateriellen Schä<strong>de</strong>n (Schmerzensgeld) <strong>de</strong>nkbar, die etwa<br />

ein Kind wegen einer Pfl ichtverletzung erlitten hat. Für <strong>de</strong>n (materiellen <strong>und</strong> immateriellen)<br />

Scha<strong>de</strong>n haftet an Stelle <strong>de</strong>s Beamten <strong>de</strong>r Staat (Amtshaftung, Art.34<br />

GG). Bei Vorsatz o<strong>de</strong>r grober Fahrlässigkeit bleibt <strong>de</strong>r Rückgriff vorbehalten.<br />

Die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage für die Tätigkeit in <strong>de</strong>r sog. freien Jugendhilfe bil<strong>de</strong>n<br />

❍<br />

zum einen die individuellen vertraglichen Vereinbarungen <strong>de</strong>r Einrichtung<br />

bzw. <strong>de</strong>s Dienstes mit <strong>de</strong>n Eltern mit Schutzwirkungen für die Kin<strong>de</strong>r (Betreu-<br />

153


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

❍<br />

154<br />

ungs-, Therapieverträge). Solche Vereinbarungen wer<strong>de</strong>n allerdings in <strong>de</strong>r Regel<br />

nicht schriftlich, son<strong>de</strong>rn stillschweigend – die Juristen sagen konklu<strong>de</strong>nt<br />

– abgeschlossen. Dies führt im Streitfall schnell zu <strong>de</strong>r Frage, was eigentlich<br />

als Leistungsinhalt vereinbart war. Dabei geht es nicht nur um Hilfeprozesse,<br />

die bereits auf die Abwendung einer (weiteren) Gefährdung gerichtet sind, son<strong>de</strong>rn<br />

um alle Formen vereinbarter Betreuung von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />

zum an<strong>de</strong>ren generelle vertragliche Vereinbarungen <strong>de</strong>s Dienstes bzw. <strong>de</strong>r Einrichtung<br />

mit <strong>de</strong>m Jugendamt – etwa im Hinblick auf Inhalt, Qualität <strong>und</strong> Preis<br />

<strong>de</strong>r Leistungen, aber auch im Hinblick auf die Art <strong>und</strong> Weise, in <strong>de</strong>r bestimmte<br />

Schutzpfl ichten für Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Jugendliche wahrzunehmen sind.<br />

Helferinnen <strong>und</strong> Helfer, ggf. auch <strong>de</strong>ren Vorgesetzte, bei öffentlichen <strong>und</strong> freien<br />

Trägern müssen sich aber auch strafrechtlich verantworten, wenn sie gegenüber<br />

einem bestimmten Kind eine Garantenhaftung übernommen haben <strong>und</strong> die Verletzung<br />

einer daraus resultieren<strong>de</strong>n Sorgfaltspfl icht etwa zur Körperverletzung o<strong>de</strong>r<br />

gar zum Tod eines Kin<strong>de</strong>s geführt hat (sog. strafrechtliche Garantenhaftung).<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> wird auch das Interesse <strong>de</strong>r Helferinnen <strong>und</strong> Helfer verständlich,<br />

genauere Informationen über ihre Handlungspfl ichten <strong>und</strong> größere Sicherheit<br />

beim Umgang <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Bewältigung von Gefährdungslagen zu erhalten<br />

– in erster Linie, um Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n bestmöglichen Schutz zu gewähren – aber auch,<br />

um sich nicht selbst <strong>de</strong>m Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens auszusetzen.<br />

B. Handlungspfl ichten auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s Achten Buches<br />

Sozialgesetzbuch (SGB VIII)<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) hat<br />

<strong>de</strong>r Gesetzgeber mit Wirkung vom 1.10.2005 <strong>de</strong>n sog. Schutzauftrag <strong>de</strong>s Jugendamts,<br />

<strong>de</strong>r sich bereits aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ergibt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m SGB VIII als generelles<br />

Ziel zugr<strong>und</strong>e liegt (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII), strukturiert <strong>und</strong> konkretisiert.<br />

Dabei wer<strong>de</strong>n auch erstmals die Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste freier Träger,<br />

die Leistungen nach <strong>de</strong>m SGB VIII erbringen, als Adressaten <strong>de</strong>s Schutzauftrages<br />

i<strong>de</strong>ntifi ziert (Siehe dazu unten III.).<br />

Explizit angesprochen wer<strong>de</strong>n damit nicht nur Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren, <strong>de</strong>nen diese<br />

Aufgabenstellung nicht neu ist, son<strong>de</strong>rn etwa auch Tageseinrichtungen für Kin<strong>de</strong>r,<br />

Beratungsstellen o<strong>de</strong>r Dienste <strong>und</strong> Einrichtungen, die sozialpädagogische Familienhilfe<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re teilstationäre o<strong>de</strong>r stationäre Hilfen leisten <strong>und</strong> sich nicht<br />

o<strong>de</strong>r nur in seltenen Ausnahmefällen mit Gefährdungslagen <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Bewältigung<br />

befassen. Damit richten sich auch an diese Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste hohe<br />

Erwartungen.<br />

Trotz <strong>de</strong>s gemeinsamen Auftrags zum Kin<strong>de</strong>rschutz bleiben jedoch die konkreten<br />

Handlungspfl ichten von Jugendamt einerseits <strong>und</strong> Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten<br />

freier Träger jeweils spezifi sch <strong>und</strong> damit unterschiedlich. Dies scheint bei <strong>de</strong>r


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Verhandlung <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Abschluss <strong>de</strong>r Vereinbarungen nach § 8 Abs. 2 SGB VIII in<br />

<strong>de</strong>r Praxis nicht immer ausreichend beachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>n nachfolgen<strong>de</strong>n Ausführungen sollen die zentralen Botschaften <strong>de</strong>r gesetzlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen vermittelt wer<strong>de</strong>n. Für die Beantwortung spezieller Fragen<br />

wird auf die umfangreiche Fachliteratur verwiesen 1 .<br />

Die praktische Umsetzung <strong>de</strong>s in § 8a SGB VIII beschriebenen Prozesses erfor<strong>de</strong>rt<br />

nicht nur eine hohe fachliche Kompetenz in <strong>de</strong>n einzelnen Fel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Jugendhilfe,<br />

son<strong>de</strong>rn auch personelle <strong>und</strong> organisatorische Voraussetzungen in <strong>de</strong>n<br />

Ämtern sowie die Bereitschaft <strong>und</strong> Fähigkeit zur Kooperation zwischen allen beteiligten<br />

Institutionen bei gleichzeitiger Wahrung <strong>de</strong>s gr<strong>und</strong>sätzlichen Primats <strong>de</strong>r<br />

elterlichen Erziehungsverantwortung.<br />

I. Der komplexe Auftrag <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben<br />

Aufgabe <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe ist es, die Entwicklung junger Menschen zu<br />

för<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> sie zu eigenverantwortlichen <strong>und</strong> gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten<br />

zu erziehen (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).<br />

Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, das aus unterschiedlichen Grün<strong>de</strong>n nicht immer erreicht<br />

wird. Da nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG die Eltern die primäre Erziehungsverantwortung<br />

tragen, richtet sich dieser Auftrag zu allererst an sie. Sie genießen<br />

nach unserer Verfassung einen weiten – für manche zu weiten – Spielraum bei <strong>de</strong>r<br />

Bestimmung <strong>de</strong>r Inhalte <strong>und</strong> Ziele <strong>de</strong>r Erziehung. (Aber wäre wirklich etwas damit<br />

gewonnen, wenn <strong>de</strong>r Staat sich immer einmischen könnte, weil einer seiner<br />

Agenten <strong>de</strong>r Meinung ist, ein Kind sollte an<strong>de</strong>rs erzogen wer<strong>de</strong>n, als es die Eltern<br />

für richtig halten?).<br />

Die Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe verwirklicht dieses Ziel in erster Linie dadurch, dass<br />

sie die elterliche Erziehungsverantwortung stärkt, unterstützt <strong>und</strong> ergänzt. Kin<strong>de</strong>r<br />

sind aber im Ernstfall nicht einfach <strong>de</strong>r Überfor<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>m Unvermögen o<strong>de</strong>r gar<br />

<strong>de</strong>r bewussten Schädigung durch ihre Eltern ausgeliefert.<br />

Mitunter wird in <strong>de</strong>r öffentlichen Diskussion beklagt, staatliche Institutionen stellten<br />

bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r Mittel zum Kin<strong>de</strong>sschutz das Elternrecht vor das Kin<strong>de</strong>srecht.<br />

Diese Sichtweise verkennt, dass unsere Verfassung Elternrecht <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>srecht<br />

nicht als Antagonismen begreift, die gegeneinan<strong>de</strong>r gerichtet sind <strong>und</strong> zum Ausgleich<br />

gebracht wer<strong>de</strong>n müssten. Vielmehr gilt die verfassungsrechtliche Gewährleistung<br />

<strong>de</strong>s Elternrechts in erster Linie <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Elternrecht ist<br />

<strong>de</strong>shalb primär Recht im Interesse <strong>und</strong> zum Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Insoweit fi n<strong>de</strong>t die<br />

Elternverantwortung Gr<strong>und</strong> wie Grenze im Kin<strong>de</strong>swohl2 1.<br />

. Nur soweit Eltern ihre<br />

1 Siehe dazu die Hinweise am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beitrags<br />

2 Siehe dazu im Einzelnen Jestaedt, in: R. Dolzer; (Hg.), Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 (Be-<br />

155


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Befugnisse zum Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ausüben, han<strong>de</strong>ln sie im Rahmen ihrer Elternverantwortung<br />

<strong>und</strong> können sich auf <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>rechtsschutz von Art. 6 Abs. 2 Satz<br />

1 GG berufen. Auch ein weit verstan<strong>de</strong>nes Elternrecht en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>shalb da, wo Eltern<br />

das Wohl ihres Kin<strong>de</strong>s gefähr<strong>de</strong>n. Der Staat hat nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG die<br />

Aufgabe, über die Wahrnehmung <strong>de</strong>r elterlichen Erziehungsverantwortung zu wachen<br />

<strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen.<br />

Freilich ist die Umsetzung dieses Auftrags – wie zu zeigen sein wird – in <strong>de</strong>r Praxis<br />

häufi g schwierig <strong>und</strong> mit hohen Anfor<strong>de</strong>rungen verb<strong>und</strong>en. Woher weiß das Jugendamt,<br />

dass ein Kind gefähr<strong>de</strong>t ist? Welche Schutzstrategie erscheint im Einzelfall<br />

am erfolgreichsten? Welche Ressourcen sind in <strong>de</strong>r Familie vorhan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

können mobilisiert wer<strong>de</strong>n? Wie wird sich die Dynamik in <strong>de</strong>r Familie weiterentwickeln?<br />

Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite fängt das Leistungsspektrum <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

nicht erst bei <strong>de</strong>r Intervention im konkreten Gefahrenfall an, son<strong>de</strong>rn umfasst ein<br />

breites Spektrum generalpräventiver <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärpräventiver Leistungen – lange,<br />

bevor sich die Situation zuspitzt. Aber viele Eltern scheuen sich, rechtzeitig Rat<br />

<strong>und</strong> Hilfe einzuholen, gilt es doch bis heute eher als Schan<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Eingeständnis<br />

von Unvermögen <strong>de</strong>nn als Zeichen elterlicher Verantwortlichkeit, rechtzeitig Hilfe<br />

zu suchen. Lei<strong>de</strong>r ist auch nicht in allen Jugendämtern die viel beschworene K<strong>und</strong>enorientierung<br />

vorzufi n<strong>de</strong>n.<br />

2. Konsequenzen für die Mittelwahl zur Erfüllung <strong>de</strong>s Schutzauftrags<br />

Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben wird <strong>de</strong>utlich, dass die Entscheidung<br />

über die jeweils einzusetzen<strong>de</strong>n Mittel zum Schutz von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong><br />

Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl nicht im Ermessen <strong>de</strong>s Jugendamts liegt,<br />

son<strong>de</strong>rn sich an verschie<strong>de</strong>nen rechtlichen Vorgaben zu orientieren hat. Hinzu<br />

kommt dass das Jugendamt selbst gar nicht die Verfügungsbefugnis über das gesamte<br />

Spektrum von Reaktionsformen hat. Zum einen ist es auf die Kooperation<br />

mit einer Vielfalt von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten freier Träger angewiesen, zum<br />

an<strong>de</strong>ren gibt das <strong>de</strong>utsche Recht <strong>de</strong>n Jugendämtern keine Befugnis zu rechtsverbindlichen<br />

Maßnahmen gegenüber <strong>de</strong>n Eltern – sieht man einmal von <strong>de</strong>r Inobhutnahme<br />

als akuter Krisenintervention ab. Es ist also – wie auch die Einrichtungen<br />

<strong>und</strong> Dienste freier Träger – auf die Kooperation mit <strong>de</strong>n Eltern angewiesen. Diese<br />

Kooperation ist häufi g schwer herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> bedarf<br />

hoher fachlicher Kompetenzen. Sie erweist sich aber in <strong>de</strong>r Regel als nachhaltige<br />

Variante <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes. An<strong>de</strong>rerseits darf Kooperation mit <strong>de</strong>n Eltern auch<br />

nicht verabsolutiert wer<strong>de</strong>n: Maßgeblich ist daher die verantwortliche. nachvollziehbare<br />

<strong>und</strong> ggf. in Abstän<strong>de</strong>n zu wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong> Einschätzung, ob das Kin<strong>de</strong>s-<br />

156<br />

arb. 1995) Rdnr. 37 ff. <strong>und</strong> Böckenför<strong>de</strong>, Elternrecht-Recht <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s-Recht <strong>de</strong>s Staates, in: Essener<br />

Gespräche zum Thema Staat <strong>und</strong> Kirche, 1980 S. 54 ff.


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

wohl im konkreten Fall besser durch eine Fortsetzung <strong>de</strong>s Hilfeprozesses mit <strong>de</strong>n<br />

Eltern o<strong>de</strong>r die Anrufung <strong>de</strong>s Gerichts geschützt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

In diesem Fall muss das Jugendamt das Familiengericht in seinen Schutzauftrag<br />

einbeziehen. 3<br />

Bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s einzusetzen<strong>de</strong>n Mittel gilt <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>satz<br />

<strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit <strong>de</strong>r Mittel. Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang<br />

<strong>de</strong>r pauschale Verweis auf <strong>de</strong>n Vorrang von Hilfen vor staatlichen Eingriffen 4 (in<br />

die elterliche Sorge bzw. das Umgangsrecht). Er lenkt vorschnell von <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Frage ab, welches Mittel geeignet <strong>und</strong> notwendig ist, um das Kind effektiv<br />

vor einer weiteren Gefährdung zu schützen. Der Schutzauftrag <strong>de</strong>s Staates impliziert<br />

nämlich auch ein Untermaßverbot im Hinblick auf die zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

zu ergreifen<strong>de</strong>n Maßnahmen. Erst wenn sich hier verschie<strong>de</strong>ne geeignete Alternativen<br />

bieten, kommt <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>satz <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit <strong>de</strong>r Mittel – <strong>und</strong><br />

damit <strong>de</strong>r Vorrang von Hilfen vor staatlichen Eingriffen – zur Anwendung.<br />

Welche Maßnahmen im Einzelfall zur Abwehr einer Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls<br />

geboten sind, kann zu<strong>de</strong>m nicht vom fi nanziellen Aufwand, son<strong>de</strong>rn nur von <strong>de</strong>r<br />

Erreichung <strong>de</strong>s Schutzzwecks her bestimmt wer<strong>de</strong>n. Dies be<strong>de</strong>utet, dass im Einzelfall<br />

durchaus die Trennung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen von seinen Eltern<br />

<strong>und</strong> seine Unterbringung im Heim zum Schutze <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen geboten<br />

sein kann, ohne dass vorab ambulante, familienunterstützen<strong>de</strong> Hilfen „ausprobiert“<br />

wor<strong>de</strong>n sind. Der Sparkurs vieler Kommunen, aber auch tradierte Vorbehalte<br />

gegenüber <strong>de</strong>r Heimerziehung setzen dieses Gebot immer wie<strong>de</strong>r faktisch<br />

außer Kraft.<br />

II. Gefährdungseinschätzung als Aufgabe <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

(§ 8a Abs. 1 SGB VIII)<br />

1. Gewichtige Anhaltspunkte als Eingangsschwelle für die Wahrnehmung<br />

<strong>de</strong>s Schutzauftrags<br />

Will das Jugendamt seiner Aufgabe im Rahmen <strong>de</strong>s Wächteramts nachkommen,<br />

das Kin<strong>de</strong>swohl effektiv zu schützen, so bedarf es zunächst einschlägiger Informationen.<br />

Im <strong>de</strong>mokratischen Rechtsstaat gibt es aber keinen Generalverdacht gegen<br />

Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>shalb keine vorbeugen<strong>de</strong> Überwachung <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Interaktion<br />

in ihrer privaten Umgebung. Auslösen<strong>de</strong>s Moment für eine Initiative <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

wer<strong>de</strong>n daher in aller Regel Informationen Dritter (Nachbarn, Kin<strong>de</strong>rgärten<br />

usw.) sein. Diese z. T. auch anonymen Informationen wer<strong>de</strong>n aber häufi g so vage<br />

<strong>und</strong> so unspezifi sch sein, dass weitere Erkenntnisse notwendig sind, um abschätzen<br />

zu können, ob es sich um eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> han<strong>de</strong>lt. Auslösen<strong>de</strong>s Ele-<br />

3 Zu <strong>de</strong>n Implikationen dieser Kooperation siehe Mün<strong>de</strong>r, Mutke, Schone: Kin<strong>de</strong>swohl zwischen Jugendhilfe<br />

<strong>und</strong> Justiz, Professionelles Han<strong>de</strong>ln in Kin<strong>de</strong>swohlverfahren, 2000 sowie unten IV 3<br />

4 Vgl. dazu Jestaedt (o.Fn.2) Rdnr. 206<br />

157


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

ment für die Verpfl ichtung zur Einleitung <strong>de</strong>s Gefährdungsabschätzungsverfahrens<br />

sind „gewichtige Anhaltspunkte“. Damit hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber bereits eine gewisse<br />

Eingangsschwelle vorgegeben. Dabei hat er offensichtlich von <strong>de</strong>n Folgen dieser<br />

Feststellung, nämlich <strong>de</strong>r Einleitung eines aufwändigen Verfahrens her, gedacht.<br />

An<strong>de</strong>rseits steigt mit <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r Eingangshür<strong>de</strong> die Gefahr, weniger gesicherte<br />

<strong>und</strong> weniger aussagekräftige Hinweise zu übersehen5 . Nimmt man jedoch <strong>de</strong>n<br />

Verfahrensablauf <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Prozesscharakter ex ante, also vom Beginn her, sowie<br />

Sinn <strong>und</strong> Zweck <strong>de</strong>r Regelung in Blick, so spricht vieles dafür, die Eingangsschwelle<br />

nicht zu hoch anzusetzen.<br />

Gewichtige Anhaltspunkte für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> können aber auch im<br />

Rahmen bereits laufen<strong>de</strong>r Hilfeprozesse, an <strong>de</strong>nen das Jugendamt bereits beteiligt<br />

ist, gewonnen wer<strong>de</strong>n. Dabei wird (i<strong>de</strong>altypisch) zwischen zwei Ausgangslagen<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n sein:<br />

❍ Solchen Leistungen, die bereits im Kontext einer sek<strong>und</strong>ären o<strong>de</strong>r tertiären<br />

Prävention, etwa als Hilfe zur Erziehung (§ 27 ff.) eingeleitet wor<strong>de</strong>n sind<br />

<strong>und</strong> bei <strong>de</strong>nen die Gefährdungsdynamik bzw. -intensität zugenommen hat; in<br />

solchen Fällen verfügt das Jugendamt bereits über eine Vielzahl relevanter Informationen<br />

<strong>und</strong> kann schneller zu einer Entscheidung über das notwendige<br />

Schutzkonzept gelangen.<br />

❍ Solchen Leistungen, die nicht im Zusammenhang mit einer individuellen Risikolage<br />

zu sehen sind, wie z. B. die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in einer Tageseinrichtung;<br />

in diesen Fällen wird das Jugendamt zwar über Basisinformationen verfügen,<br />

die aber noch keine verlässliche Gefährdungseinschätzung zulassen.<br />

Für die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten freier<br />

Träger (siehe dazu unter III) kommen von vorneherein nur diese bei<strong>de</strong>n zuletzt<br />

genannten Alternativen in Betracht, da sie in ihrer Funktion als „Leistungserbringer“,<br />

also in Bezug auf konkrete, von ihnen (bereits) betreute Kin<strong>de</strong>r in die Wahrnehmung<br />

<strong>de</strong>s Schutzauftrags einbezogen sind.<br />

2. Informationsgewinnung <strong>und</strong> Gefährdungseinschätzung (Satz 1)<br />

Vor <strong>de</strong>r Entscheidung über die zu treffen<strong>de</strong>n Schutzmaßnahmen for<strong>de</strong>rt das Gesetz<br />

eine Gefährdungseinschätzung, falls „gewichtige Anhaltspunkte“ für eine<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> bekannt sind. Das Gesetz spricht insoweit von <strong>de</strong>r „Abschätzung<br />

<strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos“. Hinter diesem Terminus steckt in<strong>de</strong>s nicht ein<br />

einmaliger Vorgang, son<strong>de</strong>rn ein Klärungsprozess, <strong>de</strong>r – beginnend mit ersten Informationen<br />

über weitere Recherchen, das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte<br />

<strong>und</strong> die Beteiligung <strong>de</strong>r Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen – schließlich in<br />

die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfe für das Kind mün<strong>de</strong>t.<br />

5 Zu diesem Dilemma siehe Kindler, Lillig: Was ist unter „gewichtigen Anhaltspunkten“ für die Gefährdung<br />

eines Kin<strong>de</strong>s zu verstehen? IKK-Nachrichten 2006 1-2/ 2006, S. 16 ff.<br />

158


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Die gefor<strong>de</strong>rte Gefährdungseinschätzung (Risikoeinschätzung) gestaltet sich in<br />

<strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>shalb beson<strong>de</strong>rs schwierig, weil we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Maßstab (<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>)<br />

objektiv ein<strong>de</strong>utig bestimmt wird 6 noch die zu bewerten<strong>de</strong> Situation<br />

objektiv ein<strong>de</strong>utig festzustellen ist, son<strong>de</strong>rn eine jeweilige komplexe <strong>und</strong> begrenzt<br />

zugängliche Situation einzuschätzen, zu bewerten <strong>und</strong> im Hinblick auf die künftige<br />

Entwicklung zu prognostizieren ist 7 . An<strong>de</strong>rerseits hat das Ergebnis <strong>de</strong>r Einschätzung<br />

u. U. gravieren<strong>de</strong> Folgen für Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen.<br />

Schließlich steht das Jugendamt auch im Blickpunkt <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Medien: Es wird genauso geta<strong>de</strong>lt, wenn es ohne zureichen<strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong><br />

ein Kind von seinen Eltern wegnimmt, wie es geta<strong>de</strong>lt wird, wenn es Hinweisen<br />

nicht nachgeht o<strong>de</strong>r das Gefährdungsrisiko falsch einschätzt. 8 Im Hinblick auf die<br />

Komplexität <strong>de</strong>r Aufgabe wer<strong>de</strong>n die Jugendämter verpfl ichtet, das Gefährdungsrisiko<br />

im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen (§ 8a Abs. 1 Satz<br />

1 SGB VIII). Die kollegiale Beratung soll die Qualität <strong>de</strong>r Entscheidungsfi ndung<br />

verbessern, für die Entscheidung selbst bleibt die zuständige Fachkraft verantwortlich.<br />

Fachkräfte i. S. <strong>de</strong>r Vorschrift sind nur solche, zu <strong>de</strong>ren Aufgabenstellung<br />

die Gefährdungseinschätzung gehört, also solche in <strong>de</strong>n sozialen Diensten,<br />

insbeson<strong>de</strong>re im ASD.<br />

Mitwirkung <strong>de</strong>r Personensorgeberechtigten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

(Satz 2)<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz ist Teil <strong>de</strong>r elterlichen Erziehungsverantwortung. Im diesem Rahmen<br />

haben die Eltern die Pfl icht, an <strong>de</strong>r Aufklärung <strong>de</strong>r Situation mitzuwirken. Sie<br />

können nicht – wie Beschuldigte im Strafverfahren – die Aussage bzw. Mitwirkung<br />

verweigern. Es gehört vielmehr zu ihrer Erziehungsverantwortung, Gefährdungssignalen<br />

nachzugehen <strong>und</strong> ggf. fachk<strong>und</strong>ige Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />

Dies gilt nach unserem Verfassungsverständnis auch dann, wenn sie selbst das<br />

Kind in eine Gefährdungssituation gebracht haben. 9 3.<br />

Gleichzeitig bedarf es auf <strong>de</strong>r<br />

Seite <strong>de</strong>r Fachkräfte einer sachlichen, vorwurfsfreien Haltung <strong>de</strong>n Eltern gegenüber.<br />

Der damit verb<strong>und</strong>ene Balanceakt, Eltern einerseits mit bestimmten Erkenntnissen<br />

zu konfrontieren <strong>und</strong> gleichzeitig zu erwarten, dass sie weitere Aufklärung<br />

leisten <strong>und</strong> sie für eine gemeinsame Strategie zu gewinnen, ist anspruchsvoll, aber<br />

6 Vgl. dazu etwa die Defi nition <strong>de</strong>s BGH FamRZ 1956, 350. In<strong>de</strong>s sind wohl For<strong>de</strong>rungen nach einer<br />

stärkeren Konkretisierung nicht einlösbar, da damit die unterschiedlichen Fallkonstellationen nicht<br />

mehr zuverlässig erfasst wer<strong>de</strong>n könnten<br />

7 Einschätzungshilfen wie z. B. <strong>de</strong>r Stuttgarter Kin<strong>de</strong>rschutzbogen können für die zu treffen<strong>de</strong> Entscheidung<br />

hilfreich sein, diese jedoch nicht vorwegnehmen. Zur Validität dieser Hilfen siehe Kindler,<br />

Lukasczyk, Reich: ZKJ 2008, 500<br />

8 Vgl. dazu Kindler, Lillig: Der Schutzauftrag <strong>de</strong>r Jugendhilfe unter beson<strong>de</strong>rer Berücksichtigung<br />

von Gegenstand <strong>und</strong> Verfahren zur Risikoeinschätzung, in: Jordan (Hg.), <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> –<br />

Rechtliche Neuregelungen <strong>und</strong> Konsequenzen für <strong>de</strong>n Schutzauftrag <strong>de</strong>r Jugendhilfe, 2006, S. 85 ff.<br />

9 Sog. Gefährdungsabwendungsprimat <strong>de</strong>r Eltern, wie er auch <strong>de</strong>r Konstruktion <strong>de</strong>s § 1666 BGB zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt<br />

159


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

wohl gr<strong>und</strong>sätzlich ohne Alternative. Schließlich soll Kin<strong>de</strong>rschutz – wo immer<br />

möglich – in Kooperation mit <strong>de</strong>n Eltern erfolgen. Gelingt es nämlich nicht, eine<br />

vertrauensvolle Beziehung zu <strong>de</strong>n Eltern aufzubauen, so wird in aller Regel auch<br />

<strong>de</strong>r Hilfezugang zum Kind erschwert.<br />

Allerdings gibt es auch Situationen, in <strong>de</strong>nen es besser ist, auf eine Beteiligung<br />

<strong>de</strong>r Eltern zu verzichten, weil sie möglicherweise Hinweise auf ihr Verhalten unterdrücken<br />

o<strong>de</strong>r das Jugendamt täuschen wollen o<strong>de</strong>r durch ihre Beteiligung das<br />

Gefährdungsrisiko für das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jugendlichen noch vergrößert wird.<br />

Schließlich kann es im akuten Gefahrenfall auch aus Zeitgrün<strong>de</strong>n notwendig sein,<br />

die Gefährdungseinschätzung ohne die Eltern vorzunehmen. Sie sind dann ggf.<br />

zum nächstmöglichen Zeitpunkt – z. B. nach <strong>de</strong>r Inobhutnahme – einzubeziehen.<br />

Entsprechend seinem Alter <strong>und</strong> Entwicklungsstand ist auch das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Jugendliche<br />

an <strong>de</strong>r Gefährdungsabschätzung zu beteiligen. Dabei ist im Einzelfall<br />

abzuwägen zwischen <strong>de</strong>r Belastung o<strong>de</strong>r gar weiteren Gefährdung für das Kind<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m zu erwarten<strong>de</strong>n Informationsgewinn. Von <strong>de</strong>r Einbeziehung <strong>de</strong>r Eltern<br />

bzw. <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen ist <strong>de</strong>shalb abzusehen, wenn <strong>de</strong>r wirksame<br />

Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen dadurch in Frage gestellt wür<strong>de</strong>.<br />

4.<br />

160<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz durch Datenschutz im Jugendamt<br />

a) Datenschutz als fachlicher Standard<br />

Häufi g wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschutz <strong>und</strong> Datenschutz in einen strukturellen Gegensatz<br />

gebracht („Kin<strong>de</strong>rschutz vor Datenschutz“). Dabei gilt es, sich zunächst bewusst<br />

zu machen, dass Datenschutz keine bürokratische Hür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn ein zentraler<br />

fachlicher Standard aller helfen<strong>de</strong>n Berufe ist. Hilfe in persönlich belasten<strong>de</strong>n Situationen<br />

nimmt nur an, wer sich <strong>de</strong>m Helfer „anvertrauen kann“. Datenschutz,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>rschutz <strong>und</strong> damit <strong>de</strong>m verfassungsrechtlich normierten Schutzauftrag<br />

dienen will, muss aber auch wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Interessen (eines Elternteils auf<br />

informationelle Selbstbestimmung <strong>und</strong> treuhän<strong>de</strong>rischer Wahrnehmung von Kin<strong>de</strong>sinteressen)<br />

gerecht wer<strong>de</strong>n. Wie die ärztliche Schweigepfl icht, so kennt auch<br />

<strong>de</strong>r Schutz sozialer Daten Grenzen, wenn es darum geht, verschie<strong>de</strong>ne Interessen<br />

bzw. Rechtsgüter abzuwägen.<br />

b) Informationsgewinnung<br />

Wer<strong>de</strong>n Fachkräften im Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

bekannt, so sind dies mehr o<strong>de</strong>r weniger signifi kante Hinweise<br />

auf einen potentiellen Hilfebedarf. Sie dürfen daher zur Erfüllung ihrer Aufgaben<br />

im Rahmen <strong>de</strong>s Schutzauftrags (§ 8a i.V. mit § 62 Abs. 1 SGB VIII) nicht warten,<br />

bis ihnen weitere Hinweise zur Klärung <strong>de</strong>s Hilfebedarfs zugetragen wer<strong>de</strong>n.<br />

Vielmehr müssen sie als Angehörige <strong>de</strong>r Sozialverwaltung selbst initiativ wer<strong>de</strong>n<br />

(§ 20 SGB X). Daten sind auch im Prozess <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung gr<strong>und</strong>-


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

sätzlich bei <strong>de</strong>n betroffenen Personen, also <strong>de</strong>n Eltern <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

zu erheben. Bei dauerhaftem Scheitern einer Kontaktaufnahme o<strong>de</strong>r bei<br />

beson<strong>de</strong>rer Gefährdungslage – z. B. Anhaltspunkten für sexuelle Gewalt – dürfen<br />

Mitarbeiter(innen) <strong>de</strong>s Jugendamtes Daten auch bei dritten Personen (Erzieherin<br />

im Kin<strong>de</strong>rgarten, Lehrer, Nachbarn) erheben (§ 62 Abs. 3, Nr. 2, 3 SGB VIII).<br />

Dabei fi n<strong>de</strong>t das Informationsinteresse seine Grenze im Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz.<br />

Die Datenerhebung muss geeignet, erfor<strong>de</strong>rlich <strong>und</strong> angemessen sein.<br />

Damit wer<strong>de</strong>n auch einer Datenerhebung auf Vorrat Grenzen gezogen.<br />

c) Risikoabschätzung im Fachteam<br />

Für die Risikoabschätzung dürfen alle Sozialdaten, auch die einer Helferin anvertrauten<br />

Sozialdaten, an die hinzugezogenen Fachkräfte weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Im<br />

letzteren Fall ist aber zunächst zu prüfen, ob die Beratung nicht auch ebenso möglich<br />

ist, wenn die zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Informationen anonymisiert o<strong>de</strong>r pseudonymisiert<br />

wer<strong>de</strong>n (§§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V. mit § 62 Abs. 2a).<br />

III. Gefährdungseinschätzung als Aufgabe <strong>de</strong>r Leistungserbringer<br />

(§ 8a Abs. 2 SGB VIII)<br />

Gefährdungseinschätzung als Pfl icht gegenüber <strong>de</strong>m betreuten Kind<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

Anhaltspunkte für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> ergeben sich häufi g auch im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r Leistungserbringung in Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten, z. B.<br />

in Tageseinrichtungen für Kin<strong>de</strong>r, in Beratungsstellen o<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Erbringung<br />

von Hilfen zur Erziehung. Diese Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste wer<strong>de</strong>n aber überwiegend<br />

von nicht öffentlichen (privaten) Trägern betrieben. Ein effektiver Kin<strong>de</strong>sschutz<br />

kann <strong>de</strong>shalb nicht auf das Jugendamt <strong>und</strong> seine Dienste beschränkt bleiben.<br />

An<strong>de</strong>rerseits kann <strong>de</strong>r Gesetzgeber nicht ohne weiteres Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Dienste freier Träger zur Risikoeinschätzung <strong>und</strong> Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags<br />

verpfl ichten. Deshalb wird das Jugendamt zu vertraglichen Regelungen mit<br />

<strong>de</strong>n Leistungserbringern verpfl ichtet, in <strong>de</strong>nen die Erfüllung von Schutzpfl ichten<br />

durch die Leistungserbringer vereinbart wird. 10<br />

1.<br />

Diese Verpfl ichtung ist von einzelnen Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten als Zumutung<br />

empf<strong>und</strong>en wor<strong>de</strong>n, hatten sie doch die Sorge, damit Aufgaben <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

übernehmen zu müssen. Auch auf <strong>de</strong>r Seite einzelner Jugendämter gibt es die Erwartung,<br />

mit Hilfe dieser Vereinbarungen eigene Pfl ichten auf Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Dienste abzuwälzen. Deshalb ist es wichtig, sich <strong>de</strong>s Rechtsgr<strong>und</strong>s für die von <strong>de</strong>n<br />

10 Siehe dazu Bathke: Vereinbarungen als Basis für Kooperation zwischen öffentlichen <strong>und</strong> Freien Trägern<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, in: Jordan (o.Fn. 8) S. 39 ff. <strong>und</strong> Mün<strong>de</strong>r: Vereinbarung zwischen<br />

<strong>de</strong>n Trägern <strong>de</strong>r öffentlichen Jugendhilfe <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Trägern von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten nach § 8a<br />

SGB VIII, ebenda S. 51<br />

161


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten erwarteten Handlungspfl ichten zu vergewissern. Dieser<br />

ist nicht darin zu sehen, dass das Jugendamt nun mit Hilfe <strong>de</strong>r Vereinbarung<br />

etwa seine Aufgaben aus <strong>de</strong>m staatlichen (!) Wächteramt auf Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Dienste freier Träger <strong>de</strong>legiert. Vielmehr haben die Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste (im<br />

Rahmen <strong>de</strong>s sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses) bereits im Rahmen ihres mit<br />

<strong>de</strong>n Eltern zugunsten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen abgeschlossenen Betreuungsvertrages<br />

(eigene) Schutzpfl ichten übernommen. Dazu zählt nicht nur die Verpfl<br />

ichtung, zur Betreuung anvertraute Kin<strong>de</strong>r nicht zu schädigen o<strong>de</strong>r sie Gefahren<br />

auszusetzen, son<strong>de</strong>rn auch im Interesse <strong>und</strong> zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s Hinweisen<br />

auf Gefährdungen nachzugehen <strong>und</strong> diese <strong>de</strong>n Eltern mitzuteilen <strong>und</strong> sie zur Inanspruchnahme<br />

von Hilfen anzuhalten bzw. im Fall <strong>de</strong>r Weigerung die notwendigen<br />

Schritte zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s einzuleiten, insbeson<strong>de</strong>re das Jugendamt zu informieren.<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste nehmen damit nicht Aufgaben <strong>de</strong>s Jugendamtes,<br />

son<strong>de</strong>rn eigene aus <strong>de</strong>m Vertrag mit <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>m Kind gegenüber übernommenen<br />

Aufgaben wahr. Diese wer<strong>de</strong>n durch die Vorgaben in § 8a Abs. 2 nun<br />

erstmals konkretisiert.<br />

Zum Inhalt <strong>de</strong>r Vereinbarung mit <strong>de</strong>m Jugendamt<br />

So müssen sich die Träger von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten, die Leistungen nach<br />

<strong>de</strong>m SGB VIII erbringen, dazu verpfl ichten lassen, <strong>de</strong>n Schutzauftrag durch ihre<br />

Fachkräfte in eigener Verantwortung wahrzunehmen <strong>und</strong> bei <strong>de</strong>r Abschätzung <strong>de</strong>s<br />

Gefährdungsrisikos eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ hinzuzuziehen11 2.<br />

. Damit<br />

taucht <strong>de</strong>r in § 72 <strong>de</strong>fi nierte Begriff <strong>de</strong>r Fachkraft in § 8a Abs. 2 zweimal auf:<br />

❍ einmal Fachkraft als Adressat für die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags nach<br />

Maßgabe <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Jugendamt abzuschließen<strong>de</strong>n Vereinbarung; dies be<strong>de</strong>utet<br />

im Gegenschluss: Leistungserbringer, die keine Fachkräfte beschäftigen,<br />

können vom Jugendamt nicht durch Vereinbarung zur Wahrnehmung <strong>de</strong>s<br />

Schutzauftrags verpfl ichtet wer<strong>de</strong>n; unerheblich ist, ob die Fachkraft haupt-,<br />

neben- o<strong>de</strong>r ehrenamtlich tätig ist;<br />

❍ zum an<strong>de</strong>ren Fachkraft als „insoweit erfahrene Fachkraft“, die zur Unterstützung<br />

<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Einrichtung bzw. <strong>de</strong>m Dienst <strong>de</strong>s freien Trägers tätigen Fachkraft<br />

bei <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags „hinzuzuziehen“ ist. Gemeint<br />

sind damit Fachkräfte, die über spezifi sche Kompetenzen in <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung<br />

verfügen. Während <strong>de</strong>r Gesetzgeber bei <strong>de</strong>r Gefährdungseinschätzung<br />

im Jugendamt (Abs. 1) ohne weiteres davon ausgeht, dass dort solche<br />

Fachkräfte verfügbar sind, kann er dies angesichts <strong>de</strong>r unterschiedlichen<br />

Zweckbestimmung <strong>de</strong>r einzelnen Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste freier Träger<br />

nicht generell erwarten.<br />

11 Siehe dazu Kunkel ZKJ 2007, 150<br />

162


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Je nach <strong>de</strong>m Profi l <strong>de</strong>r Einrichtung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Dienstes bzw. <strong>de</strong>r Angebotsstruktur<br />

<strong>de</strong>s jeweiligen Trägers wer<strong>de</strong>n solche Fachkräfte daher entwe<strong>de</strong>r intern verfügbar<br />

sein o<strong>de</strong>r durch Vereinbarung extern hinzugezogen wer<strong>de</strong>n müssen. Eine verbindliche<br />

bzw. allgemein akzeptierte Interpretation <strong>de</strong>s Begriffs „insoweit erfahrene<br />

Fachkraft“ existiert bislang nicht. Von verschie<strong>de</strong>nen Instituten wer<strong>de</strong>n Maßnahmen<br />

<strong>de</strong>r Weiterbildung angeboten, dabei wird sich mittelfristig auch ein Anfor<strong>de</strong>rungsprofi<br />

l herausbil<strong>de</strong>n.<br />

Angestrebt wird damit eine (eigenverantwortliche) Risikoabklärung in <strong>de</strong>r Einrichtung<br />

bzw. <strong>de</strong>m Dienst unter Hinzuziehung spezifi scher Kompetenz in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit.<br />

Eine Information <strong>de</strong>s Jugendamts soll nach <strong>de</strong>r Konzeption <strong>de</strong>r<br />

Vorschrift erst dann erfolgen, wenn die Eltern nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen<br />

o<strong>de</strong>r eine bereits geleistete Hilfe nicht ausreicht. Die Hinzuziehung von Fachkräften<br />

<strong>de</strong>r sozialen Dienste <strong>de</strong>s Jugendamtes (bereits) zur Abschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos<br />

wi<strong>de</strong>rspräche <strong>de</strong>shalb Sinn <strong>und</strong> Zweck <strong>de</strong>r Vorschrift. Damit verpfl<br />

ichtet das Gesetz – gestützt auf die vertraglichen Beziehungen zwischen Eltern<br />

<strong>und</strong> Einrichtung bzw. Dienst – zu einer Risikoabklärung in eigener Verantwortung<br />

<strong>de</strong>r Einrichtung bzw. <strong>de</strong>s Dienstes (zusammen mit Eltern <strong>und</strong> Kind) <strong>und</strong> erteilt<br />

einem Mel<strong>de</strong>system eine Absage. Die Fachkräfte sind entsprechend <strong>de</strong>m Ergebnis<br />

ihrer Gefährdungsabschätzung gefor<strong>de</strong>rt, die Eltern über ihre Erkenntnisse zu<br />

informieren <strong>und</strong> sie für die Inanspruchnahme von Hilfe zu gewinnen. Erst wenn<br />

diese Versuche scheitern, wenn also Eltern nicht bereit o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Lage sind, notwendig<br />

erscheinen<strong>de</strong> Hilfen in <strong>de</strong>r Einrichtung bzw. von <strong>de</strong>m Dienst anzunehmen<br />

bzw. sich an das Jugendamt zu wen<strong>de</strong>n, wird die Einrichtung bzw. <strong>de</strong>r Dienst verpfl<br />

ichtet, das Jugendamt zu informieren.<br />

Bei <strong>de</strong>r vertraglichen Ausgestaltung <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags wird –<br />

anknüpfend an das Aufgabenprofi l <strong>de</strong>r jeweiligen Einrichtung bzw. <strong>de</strong>s Dienstes<br />

– auf das Alter <strong>de</strong>r betreuten Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>und</strong> das generelle Gefährdungsrisiko<br />

abzustellen sein. 12 Die Vereinbarungen sollten ihrem Charakter entsprechend<br />

von <strong>de</strong>n Partnern gemeinsam erarbeitet <strong>und</strong> nicht einseitig diktiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Um <strong>de</strong>n Verwaltungsaufwand zu minimieren, erscheint es auch sinnvoll, auf<br />

regionaler Ebene Rahmenvereinbarungen als Empfehlungen für die örtliche Praxis<br />

zu entwickeln.<br />

3. Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrags in entsprechen<strong>de</strong>r Weise<br />

§ 8 Abs. 2 SGB VIII verlangt vom Jugendamt, im Rahmen <strong>de</strong>r Vereinbarung sicherzustellen,<br />

dass die Fachkräfte <strong>de</strong>s Trägers <strong>de</strong>r Einrichtung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Dienstes<br />

<strong>de</strong>n Schutzauftrag „in entsprechen<strong>de</strong>r Weise“ wahrnehmen. Analog dazu bestimmt<br />

12 Siehe dazu die Beiträge zu <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Aufgabenfel<strong>de</strong>rn von Menne, S.149 ff., Beneke, S.169<br />

ff., Büttner, S.185 ff. <strong>und</strong> Deinet, S.213 ff. in Jordan (o.Fn.8)<br />

163


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

§ 61 Abs. 3, dass <strong>de</strong>r Schutz personenbezogener Daten bei <strong>de</strong>r Erhebung <strong>und</strong> Verwendung<br />

von freien Trägern „in entsprechen<strong>de</strong>r Weise“ gewährleistet wird. Im<br />

Hinblick auf <strong>de</strong>n jeweils unterschiedlichen Rechtsgr<strong>und</strong> – für das Jugendamt das<br />

Sozialrechtsverhältnis auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s SGB VIII, für <strong>de</strong>n Träger <strong>de</strong>r Einrichtung<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Dienstes die privat-rechtliche Vereinbarung mit <strong>de</strong>n Eltern – erfüllt<br />

dieser eine gegenüber <strong>de</strong>n Eltern bzw. <strong>de</strong>m Kind als geschützter Person vertraglich<br />

übernommene Verpfl ichtung, nicht eine vom Jugendamt <strong>de</strong>legierte Aufgabe.<br />

Dem trägt <strong>de</strong>r Gesetzgeber bereits durch die Vorgabe <strong>de</strong>r eigenverantwortlichen<br />

Gefährdungsabschätzung in Absatz 2 Rechnung.<br />

Die an<strong>de</strong>rsartige Aufgabenstellung hat auch Konsequenzen für die Befugnisse im<br />

Bereich <strong>de</strong>r Erhebung <strong>und</strong> Weitergabe von Daten. So kann von Leistungserbringern<br />

nicht gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>r Wahrnehmung von Anhaltspunkten für eine<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> Daten bei Dritten zur Abschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos<br />

ohne Kenntnis <strong>de</strong>r betroffenen Personen zu erheben o<strong>de</strong>r (nicht vereinbarte)<br />

Hausbesuche zu machen, wozu das Jugendamt selbst nach § 62 Abs. 3 SGB VIII<br />

befugt <strong>und</strong> ggf. auch verpfl ichtet ist. 13 Hat die Beratung im Fachteam zu <strong>de</strong>m Ergebnis<br />

geführt, dass eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> vorliegt, so ist die zuständige<br />

Fachkraft verpfl ichtet, (auch anvertraute) Informationen an das Jugendamt weiterzugeben,<br />

wenn die Eltern nicht bereit sind, notwendig erscheinen<strong>de</strong> Hilfen in Anspruch<br />

zu nehmen o<strong>de</strong>r sich selbst an das Jugendamt zu wen<strong>de</strong>n.<br />

IV. Die einzelnen Reaktionsalternativen für das Jugendamt<br />

1. Ausgangslagen<br />

Die Gefährdungsabschätzung <strong>de</strong>s Jugendamtes mün<strong>de</strong>t ein in eine Entscheidung<br />

über das im Einzelfall angezeigte Schutzkonzept. Dabei sind folgen<strong>de</strong> Konstellationen<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n:<br />

❍ Das Jugendamt hat das Verfahren nach § 8 Abs. 1 auf Gr<strong>und</strong> von Informationen<br />

Dritter über gewichtige Anhaltspunkte für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

durchgeführt (Mo<strong>de</strong>llfall von § 8a Abs. 1)<br />

❍ Das Jugendamt hat das Verfahren in einem bereits laufen<strong>de</strong>n Hilfeprozess als<br />

Leistungserbringer durchgeführt (Eskalation <strong>de</strong>r Gefährdungssituation)<br />

❍ Das Jugendamt hat das Verfahren auf Gr<strong>und</strong> einer ersten Risikoeinschätzung<br />

<strong>de</strong>r Einrichtung bzw. <strong>de</strong>s Dienstes eines freien Trägers entwe<strong>de</strong>r nach Erscheinen<br />

<strong>de</strong>r Eltern o<strong>de</strong>r auf Gr<strong>und</strong> einer Meldung <strong>de</strong>r Einrichtung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

Dienstes durchgeführt (Mo<strong>de</strong>llfall von § 8a Abs. 2 Satz 2)<br />

13 Vgl. dazu Menne, S. 149, 161 in Jordan (o.Fn.8)<br />

164


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Sortiert man dabei vorab (bei <strong>de</strong>r Variante 1) diejenigen Konstellationen aus, in<br />

<strong>de</strong>nen die Gefährdungseinschätzung zum Ergebnis „falscher Alarm“ geführt hat,<br />

so sieht das Gesetz folgen<strong>de</strong> Handlungsalternativen für das Jugendamt vor:<br />

❍ Angebot von Hilfe zur Erziehung (§ 8a Abs. 1 Satz 3)<br />

❍ Anrufung <strong>de</strong>s Familiengerichts (§ 8a Abs. 3 Satz 1)<br />

❍ Inobhutnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s (§ 8a Abs. 3 Satz 2)<br />

❍ Information an<strong>de</strong>rer Institutionen, wenn die Gefährdung nicht mit <strong>de</strong>m fachlichen<br />

Potential <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann (§ 8a<br />

Abs. 4).<br />

2. Das Hilfeangebot an die Eltern (§ 8a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII)<br />

Diese Alternative ist im Hinblick auf <strong>de</strong>n Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz jeweils<br />

zuerst zu prüfen. Ihre tatsächliche Realisierung setzt aber die Eignung <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

<strong>de</strong>r Hilfe zur Abwehr <strong>de</strong>r festgestellten Gefährdung voraus. Die Art <strong>de</strong>r<br />

anzubieten<strong>de</strong>n Hilfe wird im Gesetz nicht näher <strong>de</strong>fi niert. Je nach Art <strong>und</strong> Intensität<br />

<strong>de</strong>r Gefährdung wer<strong>de</strong>n in erster Linie Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff.<br />

<strong>und</strong> die Einglie<strong>de</strong>rungshilfe nach § 35 a in Betracht kommen. Sie sind <strong>de</strong>m Personensorgeberechtigten<br />

(§ 7 Abs. 1 Nr. 5), also in <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>n Eltern, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />

Erziehungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Nr. 6) anzubieten. Entgegen <strong>de</strong>r Formulierung<br />

besteht insoweit kein Ermessen. Im Hinblick auf die Rechtsstellung <strong>de</strong>s Personensorgeberechtigten<br />

ist die Hilfe vorrangig ihm anzubieten, bzw. <strong>de</strong>m Erziehungsberechtigten<br />

(z. B. <strong>de</strong>n Pfl egeeltern) in Absprache mit <strong>de</strong>m Personensorgeberechtigten.<br />

Denn die Leistungen, auf die die Personensorgeberechtigten Anspruch haben,<br />

können Erziehungsberechtigte nur in Anspruch nehmen, wenn sie dazu von<br />

<strong>de</strong>n Personensorgeberechtigten ermächtigt wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Sind die Fachkräfte bei <strong>de</strong>r Gefährdungsabschätzung zum Ergebnis gekommen,<br />

dass noch keine konkrete Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls vorliegt, wohl aber die<br />

(weniger strengen!) Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung<br />

vorliegen, so sollen die Eltern für die Inanspruchnahme gewonnen wer<strong>de</strong>n, diese<br />

entschei<strong>de</strong>n aber eigenverantwortlich über die Inanspruchnahme. Ist aber nach <strong>de</strong>r<br />

Gefährdungseinschätzung <strong>de</strong>s Jugendamts bereits die (höhere) Schwelle <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

erreicht, so sind die Eltern an sich verpfl ichtet, die Leistung<br />

in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich aber kann das Jugendamt die Inanspruchnahme<br />

nicht zwingend einfor<strong>de</strong>rn. Hier kann möglicherweise im Einzelfall die Autorität<br />

<strong>de</strong>s Familiengerichts zum Erfolg führen, das nunmehr bereits bei einer „möglichen<br />

Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls“ angerufen wer<strong>de</strong>n kann <strong>und</strong> dazu verpfl ichtet<br />

ist, die Eltern zur Inanspruchnahme von Hilfen anzuhalten (§ 50 f FGG).<br />

3. Die Anrufung <strong>de</strong>s Familiengerichts (§ 8a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII)<br />

Voraussetzung für die Anrufungspfl icht <strong>de</strong>s Jugendamts ist die Einschätzung, dass<br />

das Tätigwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Familiengerichts zur Abwendung <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

erfor<strong>de</strong>rlich ist. Im Rahmen <strong>de</strong>r Risikoeinschätzung muss also nicht nur eine<br />

165


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

<strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nachvollziehbar festgestellt wer<strong>de</strong>n. Hinzukommen muss<br />

die mangeln<strong>de</strong> Fähigkeit o<strong>de</strong>r Bereitschaft <strong>de</strong>r Eltern, an ihrer Abwendung mitzuwirken<br />

(Satz 1 Halbs. 2). Im Rahmen <strong>de</strong>s KICK hat <strong>de</strong>r Gesetzgeber die Anrufungsmöglichkeiten<br />

erweitert. Nunmehr hat das Jugendamt das Gericht bereits in<br />

<strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Gefährdungsabschätzung anzurufen, wenn mit Hilfe gerichtlicher<br />

Autorität eine Beteiligung <strong>de</strong>r Eltern erwartet wer<strong>de</strong>n kann (Satz 1 Halbs. 2). Voraussetzung<br />

ist jeweils, dass das Jugendamt eine Einschaltung <strong>de</strong>s Gerichts für erfor<strong>de</strong>rlich<br />

hält. Insoweit steht ihm ein Beurteilungsspielraum zu. 14<br />

Das Familiengericht hat das Jugendamt im Verfahren anzuhören (§ 49a Abs. 1 Nr.<br />

8 FGG). Das Jugendamt hat ein Beschwer<strong>de</strong>recht, wenn das Gericht bei seiner<br />

Entscheidung das Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s nach seiner Auffassung nicht hinreichend berücksichtigt<br />

hat (§ 57 Abs. 1 Nr. 9 FGG).<br />

a) Die unterschiedlichen Aufträge von Jugendamt <strong>und</strong> Familiengericht<br />

Während die Jugendämter für die Gewährung personenbezogener sozialer Dienstleistungen<br />

gegenüber <strong>de</strong>n Personensorgeberechtigten (i. d. R <strong>de</strong>n Eltern) <strong>und</strong> ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn zuständig sind, <strong>und</strong> die Hilfen selbst zu weiten Teilen in Kooperation mit<br />

freien Trägern erbracht wer<strong>de</strong>n, obliegen <strong>de</strong>n Familiengerichten Entscheidungen,<br />

die die elterliche Sorge berühren. So lange also die Eltern bereit sind, an <strong>de</strong>r Abwendung<br />

einer festgestellten Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohles mitzuwirken, sind<br />

Jugendämter nicht auf die Unterstützung durch das Familiengericht angewiesen.<br />

Bedarf es aber zur Abwehr einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> (wegen <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n<br />

Fähigkeit o<strong>de</strong>r Bereitschaft <strong>de</strong>r Eltern zur Gefahrenabwehr) einer verbindlichen<br />

Einfl ussnahme auf die elterliche Erziehungsverantwortung (§§ 1666,1666a BGB),<br />

so kann das Jugendamt sein fachlich für notwendig erachtetes Schutzkonzept nur<br />

realisieren, wenn das Familiengericht dafür die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage schafft. Das<br />

Familiengericht kontrolliert dabei nicht die Arbeit <strong>de</strong>s Jugendamtes, ebenso wenig<br />

ist es <strong>de</strong>r Büttel <strong>de</strong>s Jugendamtes, son<strong>de</strong>rn es trifft auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage seiner Ermittlungspfl<br />

icht (§ 12 FGG) eine eigenständige zukunftsgerichtete Entscheidung<br />

zum Schutz <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Dabei entschei<strong>de</strong>t das Familiengericht nicht über die zur<br />

Abwehr einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nach fachlicher Erkenntnis notwendige Hilfe,<br />

son<strong>de</strong>rn verpfl ichtet entwe<strong>de</strong>r die Eltern zu einem bestimmten Tun o<strong>de</strong>r Unterlassen<br />

o<strong>de</strong>r setzt an<strong>de</strong>re Personen (Vorm<strong>und</strong>, Pfl eger) ein, die an Stelle <strong>de</strong>r Eltern<br />

die geeigneten <strong>und</strong> notwendigen Hilfen für das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jugendlichen beim<br />

Jugendamt in Anspruch nehmen. Damit das Gericht in <strong>de</strong>r Lage ist, <strong>de</strong>n Eingriff<br />

in die elterliche Sorge auf das erfor<strong>de</strong>rliche Maß zu beschränken, bedarf es einer<br />

engen Abstimmung mit <strong>de</strong>m vom Jugendamt vorgesehenen Hilfekonzept, wie es<br />

sich regelmäßig aus <strong>de</strong>m Hilfeplan ergibt. 15<br />

14 vgl. dazu R. Wiesner SGB VIII 3.Aufl . (2006) § 8a Rn. 44<br />

15 Vgl. R. Wiesner SGB VIII § 36 Rn. 71 ff.<br />

166


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Zur Erfüllung <strong>de</strong>s Schutzauftrags haben also Jugendamt <strong>und</strong> Gericht unterschiedliche<br />

Aufträge. Damit die Aufgabenteilung zwischen Jugendamt <strong>und</strong> Familiengericht<br />

nicht zur Blocka<strong>de</strong> wird <strong>und</strong> damit <strong>de</strong>n gebotenen effektiven Kin<strong>de</strong>sschutz<br />

vereitelt – etwa, weil das Jugendamt sich scheut, das Gericht anzurufen o<strong>de</strong>r das<br />

Gericht trotz einer festgestellten Gefährdung einen Antrag <strong>de</strong>s Jugendamts ablehnt<br />

16 <strong>und</strong> die Eltern sich dadurch in ihrer unkooperativen Haltung bestätigt fühlen<br />

–, bedarf es einer Kooperation i.S. einer Verantwortungsgemeinschaft, bei <strong>de</strong>r<br />

das sozialpädagogische Potenzial <strong>de</strong>s Jugendamtes mit <strong>de</strong>r Autorität <strong>de</strong>s Familiengerichts<br />

verzahnt wird. 17 Diese Verzahnung ist im Rahmen <strong>de</strong>s Gesetzes zur Erleichterung<br />

familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls,<br />

das am 12. Juli 2008 in Kraft getreten ist, weiter ausgebaut wor<strong>de</strong>n. Durch die<br />

Einführung <strong>de</strong>r Erörterung <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> (§ 50f FGG) kann das Gericht<br />

bereits bei einer „möglichen <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>“ mit seiner Autorität<br />

auf die Eltern einwirken <strong>und</strong> sie zur Inanspruchnahme von Hilfen anhalten, die<br />

vom Jugendamt für notwendig erachtet wer<strong>de</strong>n. Ebenso hat es künftig (auch) in<br />

<strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen es von einer sorgerechtlichen Entscheidung abgesehen hat,<br />

regelmäßig nach drei Monaten zu prüfen, wie sich die Situation <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r<br />

Jugendlichen entwickelt hat – also ob etwa die Eltern mit <strong>de</strong>m Jugendamt kooperieren<br />

<strong>und</strong> das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Jugendliche die notwendigen Hilfen erhält (§ 1696<br />

Abs. 3 BGB).<br />

b) Das Spektrum familiengerichtlicher Maßnahmen<br />

Das Spektrum reicht von Ge- <strong>und</strong> Verboten an die Eltern bis zum (teilweisen) Entzug<br />

<strong>de</strong>r elterlichen Sorge. Typisch für die (bisherige) gerichtliche Praxis ist <strong>de</strong>r<br />

Entzug <strong>de</strong>s Aufenthaltsbestimmungsrechts <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Übertragung auf eine an<strong>de</strong>re<br />

Person (Vorm<strong>und</strong>, Pfl eger), <strong>de</strong>r aber in <strong>de</strong>r Regel nicht ausreicht, um etwa <strong>de</strong>n<br />

Aufenthalt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s außerhalb <strong>de</strong>s Elternhauses abzusichern. Im Rahmen <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>swohls wur<strong>de</strong> in § 1666 BGB die abstrakte Rechtsfolge „erfor<strong>de</strong>rliche Maßnahmen“<br />

durch einen Katalog von Regelbeispielen ersetzt. Im Kontext einer <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

ist vor allem das Gebot an die Eltern, öffentliche Hilfen, wie<br />

zum Beispiel Leistungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />

in Anspruch zu nehmen von Be<strong>de</strong>utung (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1).<br />

Mit <strong>de</strong>r Regelung soll <strong>de</strong>n Jugendämtern <strong>und</strong> Familiengerichten die Bandbreite<br />

möglicher Maßnahmen ver<strong>de</strong>utlicht wer<strong>de</strong>n. Da jedoch auch für die Anordnung<br />

so genannter nie<strong>de</strong>rschwelliger Hilfen die Eingriffsvoraussetzungen erfüllt sein<br />

müssen, also sowohl eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> festgestellt als auch die Fähig-<br />

16 Im (To<strong>de</strong>s)Fall von Benjamin Pascal hatte das Jugendamt insgesamt sechsmal vergeblich das zuständige<br />

Familiengericht um die Einschränkung <strong>de</strong>s elterlichen Sorgerechts ersucht (vgl. Der Spiegel 10/<br />

2006 S.50)<br />

17 Vgl. R. Wiesner ZfJ 2003,121 <strong>und</strong> FPR 2007, 6<br />

167


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

keit <strong>und</strong> Bereitschaft <strong>de</strong>r Eltern zur Gefahrenabwehr abgelehnt sein muss, hat das<br />

Gericht die Pfl icht, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass die Eltern bzw.<br />

<strong>de</strong>r Elternteil <strong>de</strong>m richterlichen Gebot tatsächlich Folge leistet. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass es nicht um eine punktuelle, formale Mitwirkung <strong>de</strong>r Eltern,<br />

son<strong>de</strong>rn um die aktive Teilnahme an einem längerfristigen Hilfeprozess geht. In<br />

<strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen die Eltern – etwa aufgr<strong>und</strong> einer psychischen Erkrankung –<br />

gar nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, die Gefährdung abzuwen<strong>de</strong>n bzw. daran mitzuwirken,<br />

dürften entsprechen<strong>de</strong> Gebote von vornherein ungeeignet sein. Richterinnen <strong>und</strong><br />

Richter wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb im Einzelfall zu entschei<strong>de</strong>n haben, ob ein Gebot nach §<br />

1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB im Einzelfall ein geeignetes Mittel zur Abwendung <strong>de</strong>r<br />

Gefährdung darstellt o<strong>de</strong>r ob nicht doch das klassische Instrumentarium <strong>de</strong>r Pfl eger-<br />

bzw. Vorm<strong>und</strong>sbestellung <strong>und</strong> die Trennung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s von seinen Eltern zu<br />

seinem Schutz notwendig sind. Je<strong>de</strong>nfalls darf es nicht aus einer falsch verstan<strong>de</strong>nen<br />

Anwendung <strong>de</strong>s Gr<strong>und</strong>satzes <strong>de</strong>r Verhältnismäßigkeit heraus zum Einsatz<br />

eines Gebots kommen, das zur Abwendung <strong>de</strong>r Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls ungeeignet<br />

ist.<br />

c) Beschleunigungsgebot<br />

Das Gericht ist künftig verpfl ichtet, unverzüglich nach <strong>de</strong>r Verfahrenseinleitung<br />

<strong>de</strong>n Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen (§ 50e FGG). Hierdurch soll<br />

vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, dass Maßnahmen verzögert wer<strong>de</strong>n, die zur Gefahrenabwehr<br />

erfor<strong>de</strong>rlich sind. Nicht selten haben sich Familiengerichte in Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

das Jugendamt ein Kind o<strong>de</strong>r einen Jugendlichen in Obhut genommen hat <strong>und</strong><br />

die Personensorgeberechtigten <strong>de</strong>r Inobhutnahme wi<strong>de</strong>rsprochen haben, mit ihrer<br />

Entscheidung Zeit gelassen. Dabei wur<strong>de</strong> übersehen, dass die als kurzfristige<br />

Krisenintervention konzipierte Inobhutnahme weiter andauert <strong>und</strong> die erfor<strong>de</strong>rlichen<br />

Hilfen zur Erziehung mangels Zustimmung <strong>de</strong>r Personsorgeberechtigten<br />

bzw. mangels einer gerichtlichen Entscheidung nach § 1666 BGB nicht gewährt<br />

wer<strong>de</strong>n können.<br />

4. Die Inobhutnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen (§ 8a Abs. 3 Satz 2<br />

SGB VIII)<br />

Besteht eine dringen<strong>de</strong> Gefahr <strong>und</strong> kann die Entscheidung <strong>de</strong>s Gerichts nicht abgewartet<br />

wer<strong>de</strong>n, so ist das Jugendamt verpfl ichtet, das Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />

in Obhut zu nehmen. Mit dieser Formulierung verweist die Vorschrift auf<br />

die Inobhutnahme, <strong>de</strong>ren Voraussetzungen <strong>und</strong> Rechtsfolgen in § 42 SGB VIII geregelt<br />

sind. Ein etwaiger Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>r Eltern (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst.<br />

b SGB III) ist dabei unbeachtlich, da Satz 2 ohnehin voraussetzt, dass das Gericht<br />

angerufen wor<strong>de</strong>n ist, seine Entscheidung aber nicht abgewartet wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Da das Gericht auch eine vorläufi ge Entscheidung treffen kann <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Regel<br />

Bereitschaftsdienste eingerichtet sind, wird eine Inobhutnahme nur in beson<strong>de</strong>rs<br />

akuten Gefährdungssituationen in Betracht kommen.<br />

168


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

5. Die Einschaltung an<strong>de</strong>rer Institutionen (§ 8a Abs. 4 SGB VIII)<br />

Effektiver Kin<strong>de</strong>sschutz kann nicht immer mit <strong>de</strong>n rechtlichen Befugnissen <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>n fachlichen Kompetenzen <strong>de</strong>r Jugendhilfe ereicht wer<strong>de</strong>n. Deshalb wird das<br />

Jugendamt in solchen Fällen verpfl ichtet, die Personensorgeberechtigten auf die<br />

Inanspruchnahme an<strong>de</strong>rer Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste (z. B. an<strong>de</strong>re Sozialleistungsträger,<br />

Einrichtungen <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heitshilfe, Polizei) hinzuweisen o<strong>de</strong>r bei<br />

Gefahr im Verzug diese Einrichtungen selbst einzuschalten. Das Jugendamt hat –<br />

außerhalb <strong>de</strong>s Bereichs <strong>de</strong>r Kapitalverbrechen nach § 138 StGB – keine Anzeigepfl<br />

icht gegenüber <strong>de</strong>n Strafverfolgungsbehör<strong>de</strong>n.<br />

V. Schärfere Prüfung <strong>de</strong>r persönlichen Eignung <strong>de</strong>s Personals in <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe (§ 72a)<br />

1. Personal im Jugendamt (Satz1 <strong>und</strong> 2)<br />

Zwar enthält das SGB VIII bereits bisher in § 72 die allgemeine Verpfl ichtung, in<br />

<strong>de</strong>n Jugendämtern hauptberufl ich nur solche Personen zu beschäftigen, die sich<br />

(auch) nach ihrer Persönlichkeit für die jeweilige Aufgabe eignen. Ausgeschlossen<br />

wer<strong>de</strong>n sollen mit <strong>de</strong>r neuen Regelung insbeson<strong>de</strong>re solche Personen, die wegen<br />

einer Straftat nach <strong>de</strong>n §§ 171, 174 bis 174c, 176 bis 181a, 182 bis 184e o<strong>de</strong>r<br />

225 StGB rechtskräftig verurteilt wor<strong>de</strong>n sind. Zu diesem Zweck wer<strong>de</strong>n die Jugendämter<br />

verpfl ichtet, sich bei <strong>de</strong>r Einstellung von hauptberufl ich tätigen Personen<br />

<strong>und</strong> in regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n ein Führungszeugnis nach § 30 Abs. 5 <strong>de</strong>s<br />

B<strong>und</strong>eszentralregistergesetzes vorlegen zu lassen. Auf diese Weise sollen insbeson<strong>de</strong>re<br />

Personen mit pädophilen Neigungen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re potentielle Sexualstraftäter<br />

aus <strong>de</strong>n Arbeitsfel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Jugendhilfe ferngehalten wer<strong>de</strong>n. Die Aussagekraft<br />

<strong>de</strong>s Führungszeugnisses ist jedoch begrenzt. Zum einen setzt die Eintragung bereits<br />

eine rechtskräftige Verurteilung voraus, zum an<strong>de</strong>ren wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Ablauf<br />

bestimmter Fristen Verurteilungen nicht mehr in das Führungszeugnis aufgenommen.<br />

Einschlägige Informationen sollte das Jugendamt – weit vor <strong>de</strong>m Zeitpunkt einer<br />

rechtskräftigen Verurteilung – auch aus <strong>de</strong>n Mitteilungen von Gerichten <strong>und</strong> Staatsanwaltschaften<br />

auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen<br />

(MiStra) erhalten können, sodass die Vorlage von Führungszeugnissen weitgehend<br />

entbehrlich wür<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r Praxis bestehen hier jedoch erhebliche Vollzugs<strong>de</strong>fi zite.<br />

2. Personal bei freien Trägern<br />

a) Anwendungsbereich<br />

Flankierend dazu sollen die Träger <strong>de</strong>r öffentlichen Jugendhilfe durch Vereinbarungen<br />

mit <strong>de</strong>n Trägern von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten auch sicherstellen, dass<br />

diese keine einschlägig vorbestraften Personen hauptberufl ich beschäftigen wer<strong>de</strong>n.<br />

Nicht erfasst von <strong>de</strong>r Regelung ist die Prüfung neben- o<strong>de</strong>r ehrenamtlich tätiger<br />

Personen. Hier wird die Praxis spezifi sche Selbstverpfl ichtungserklärungen<br />

169


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

entwickeln müssen, da auch von ihnen entsprechen<strong>de</strong> Gefahren für die Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong><br />

Jugendliche ausgehen können.<br />

b) Verfahren<br />

Welche Maßnahmen die freien Träger ergreifen müssen, um <strong>de</strong>n Schutz anvertrauter<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlicher zu gewährleisten, wird nicht näher geregelt. Freie<br />

Träger können aber nur zu solchen Handlungen bzw. Sanktionen verpfl ichtet wer<strong>de</strong>n,<br />

die arbeitsrechtlich zulässig sind.<br />

aa) In Betracht kommt auch hier die Vorlage eines Führungszeugnisses. So kann<br />

die ausgewählte Fachkraft bereits vor <strong>de</strong>r Einstellung vom freien Träger aufgefor<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n, ein Führungszeugnis nach § 30 Abs. 1 BZRG vorzulegen. Unabhängig<br />

von <strong>de</strong>n Vorgaben in § 72a SGB VIII hat <strong>de</strong>r freie Träger – wie schon bisher –<br />

ein eigenes berechtigtes, billigens- <strong>und</strong> schützenswertes Interesse daran, in seiner<br />

Arbeit mit Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen keine Personen zu beschäftigen, die z. B.<br />

wg. Verletzung <strong>de</strong>r Fürsorgepfl icht nach § 171 StGB, wegen einer Vergewaltigung<br />

o<strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r Verbreitung kin<strong>de</strong>rpornographischer Schriften verurteilt wor<strong>de</strong>n<br />

ist. Dies korrespondiert mit einer entsprechen<strong>de</strong>n Verpfl ichtung für <strong>de</strong>n Träger,<br />

das ihm diesbezüglich Mögliche zu unternehmen, um dies zu verhin<strong>de</strong>rn. Ein Mittel<br />

hierzu stellt die Überprüfung durch ein Führungszeugnis dar. Die Kosten <strong>de</strong>s<br />

ersten Führungszeugnisses sind allgemeine Bewerbungskosten <strong>und</strong> müssen <strong>de</strong>shalb<br />

von <strong>de</strong>r sich bewerben<strong>de</strong>n Fachkraft selbst getragen wer<strong>de</strong>n.<br />

Ebenso wie beim öffentlichen Träger ist die Sicherstellung <strong>de</strong>s Schutzauftrages<br />

nicht nur eine Aufgabe bei <strong>de</strong>r Einstellung son<strong>de</strong>rn muss in regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n<br />

wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rs als beim öffentlichen Träger ist allerdings die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass über die Mitarbeiter/innen <strong>de</strong>s freien Trägers Informationen<br />

auf Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra) bekannt<br />

wer<strong>de</strong>n, wesentlich geringer. Deshalb ist hier ein Fünf-Jahreszeitraum sicherlich<br />

als Höchstzeitraum anzusehen. Der freie Träger sollte im Rahmen seiner<br />

Garantenstellung überlegen, ob dies ausreicht. Wer<strong>de</strong>n darüber Vereinbarungen<br />

mit <strong>de</strong>m öffentlichen Träger geschlossen – z. B. auch im Rahmen einer Vereinbarung<br />

nach § 8a SGB VIII – sind diese dann auf je<strong>de</strong>n Fall verbindlich.<br />

In die Vereinbarung sollte eine Regelung aufgenommen wer<strong>de</strong>n, wonach bei gewichtigen<br />

Anhaltspunkten für eine Straftat <strong>de</strong>s Mitarbeiters unabhängig von <strong>de</strong>r<br />

Fünf-Jahresfrist die Vorlage eines Führungszeugnisses verlangt wird.<br />

bb) Fragerecht <strong>de</strong>s Arbeitgebers<br />

Fraglich ist, ob es angesichts <strong>de</strong>r nur beschränkten Aussagekraft von Führungszeugnissen<br />

möglich ist, etwaige in <strong>de</strong>m Führungszeugnis nicht enthaltene Informationen,<br />

welche aber für eine Eignungsprüfung nach § 72a SGB VIII relevant<br />

sind, auf an<strong>de</strong>rem Wege zu ermitteln. Zu <strong>de</strong>nken wäre z. B. daran, zumin<strong>de</strong>st die<br />

170


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Bewerber im Einstellungsverfahren auch nach solchen strafrechtlichen Entscheidungen<br />

mündlich o<strong>de</strong>r schriftlich (Verwertbarkeit als Beweismittel) zu befragen.<br />

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei <strong>de</strong>r Anbahnung <strong>de</strong>s Arbeitsverhältnisses<br />

Fragen <strong>de</strong>s Arbeitgebers zulässig, soweit ein berechtigtes, billigenswertes <strong>und</strong><br />

schützenswertes Interesse an <strong>de</strong>r Beantwortung vorliegt. Speziell nach Vorstrafen<br />

darf <strong>de</strong>r Arbeitgeber bei <strong>de</strong>r Einstellung fragen, wenn <strong>und</strong> soweit die Art <strong>de</strong>s zu<br />

besetzen<strong>de</strong>n Arbeitsplatzes dies erfor<strong>de</strong>rt. Der Schutzauftrag <strong>de</strong>s SGB VIII <strong>und</strong><br />

die Prüfung <strong>de</strong>r persönlichen Eignung nach <strong>de</strong>n §§ 72, 72a erfor<strong>de</strong>rn die Abfrage<br />

zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>r in § 72a SGB VIII genannten Straftaten <strong>und</strong> auch die Verifi zierung<br />

dieser Ergebnisse durch die Vorlage eines Führungszeugnisses.<br />

Da im Zentralregister nur rechtskräftige Verurteilungen enthalten sind (§ 4 BZRG),<br />

stellt sich <strong>de</strong>s Weiteren die Frage, ob <strong>de</strong>m Arbeitgeber ein Fragerecht hinsichtlich<br />

noch anhängiger Ermittlungsverfahren zusteht. Ein berechtigtes, billigenswertes<br />

<strong>und</strong> schützenswertes Interesse <strong>de</strong>s Arbeitgebers an <strong>de</strong>r Frage nach einem noch<br />

anhängigen Ermittlungsverfahren ist zu bejahen, soweit ein anhängiges Ermittlungsverfahren<br />

Zweifel an <strong>de</strong>r persönlichen Eignung <strong>de</strong>s Arbeitnehmers für die<br />

geschul<strong>de</strong>te Tätigkeit begrün<strong>de</strong>n kann.<br />

Hierin liegt kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung <strong>de</strong>s Art. 6 Abs. 2 EMRK.<br />

Es wäre somit hier zulässig, einen Bewerber darüber zu befragen, ob wegen <strong>de</strong>r in<br />

§ 72a SGB VIII genannten Delikte (<strong>und</strong> ggfl s. noch wegen einzelner weiterer Delikte,<br />

die ebenfalls Zweifel an <strong>de</strong>r Eignung zur Tätigkeit in <strong>de</strong>r Jugendarbeit begrün<strong>de</strong>n<br />

können) ein Ermittlungsverfahren/Strafverfahren gegen ihn anhängig ist.<br />

Sollte dann ein/e Stellenbewerber/in tatsächlich wahrheitsgemäß Auskunft über<br />

ein einschlägiges Ermittlungsverfahren geben, so han<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>r Arbeitgeber je<strong>de</strong>nfalls<br />

dann rechtmäßig, wenn er die endgültige Entscheidung über eine Einstellung<br />

bis zum Abschluss <strong>de</strong>s anhängigen Verfahrens zurückstellt. Ob dagegen die<br />

endgültige Ablehnung <strong>de</strong>s Bewerbers bereits aufgr<strong>und</strong> eines noch offenen Ermittlungsverfahrens<br />

rechtmäßig wäre, hat das BAG offen gelassen.<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>s Fünften Gesetzes zur Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>eszentralregistergesetzes,<br />

das noch vor <strong>de</strong>r Sommerpause 2009 verabschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll, wird ein<br />

sogenanntes erweitertes Führungszeugnis eingeführt, das auch sexualstrafrechtliche<br />

Verurteilungen im niedrigen Strafbereich enthält.<br />

C. Strafrechtliche Garantenhaftung<br />

1. Garantenstellung <strong>und</strong> daraus resultieren<strong>de</strong> Handlungspfl ichten für Helferinnen<br />

<strong>und</strong> Helfer im Jugendamt<br />

Die verwaltungsrechtlichen Handlungspfl ichten aus § 8a SGB VIII <strong>und</strong> im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r Gewährung <strong>und</strong> Steuerung von Hilfen haben auch eine strafrechtliche<br />

Relevanz.<br />

171


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Strafrechtlich verantwortlich kann immer nur eine einzelne (natürliche) Person,<br />

keine Behör<strong>de</strong>, kein Verein o<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re juristische Person sein. Im Zusammenhang<br />

mit Situationen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> wird Helfer(inne)n in einzelnen<br />

Fällen vorgeworfen, sie hätten durch Unterlassen gebotener Handlungen<br />

dazu beigetragen, dass Kin<strong>de</strong>r körperlich verletzt o<strong>de</strong>r getötet wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Ein solches Unterlassen ist (nur dann) strafbar, wenn<br />

❍ es zu einer Rechtsgutsverletzung gekommen ist,<br />

❍ die Person eine Pfl icht zur Abwendung einer Rechtsgutsverletzung (Garantenstellung)<br />

trifft <strong>und</strong> sie diese Pfl icht verletzt hat,<br />

❍ die Pfl ichtverletzung ursächlich für die Rechtsgutsverletzung ist (Kausalität)<br />

<strong>und</strong><br />

❍ die Person im Hinblick auf die Rechtsgutsverletzung vorsätzlich o<strong>de</strong>r fahrlässig<br />

gehan<strong>de</strong>lt hat.<br />

Mit <strong>de</strong>r Übernahme <strong>de</strong>s Schutzauftrags durch das Jugendamt zugunsten eines<br />

konkreten Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen korrespondiert eine Garantenpfl icht <strong>de</strong>r zuständigen<br />

Fachkraft zur Verhin<strong>de</strong>rung körperlicher Misshandlungen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer<br />

Rechtsverletzungen dieses Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen. Die Verpfl ichtung zur Verhin<strong>de</strong>rung<br />

von Rechtsgutsverletzungen setzt dann ein, wenn einer Fachkraft im<br />

Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte bekannt wer<strong>de</strong>n.<br />

Ihre Handlungspfl icht besteht zunächst in <strong>de</strong>r Weiterleitung <strong>de</strong>r Informationen an<br />

die zuständige Fachkraft, <strong>de</strong>ren Handlungspfl icht in <strong>de</strong>r Durchführung eines Verfahrens<br />

zur Gefährdungseinschätzung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Entwicklung eines Schutzkonzepts,<br />

wie es § 8a vorschreibt. Die fallzuständige Fachkraft ist nach strafrechtlichem<br />

Verständnis damit eine „Beschützergarantin“ mit Obhutspfl ichten für bestimmte,<br />

in ihren Aufgaben- <strong>und</strong> Tätigkeitsbereich einbezogene Rechtsgüter. Unterhalb <strong>de</strong>r<br />

Schwelle <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, die das Jugendamt zur Wahrnehmung <strong>de</strong>s<br />

Schutzauftrags verpfl ichtet, bzw. (zeitlich) vor <strong>de</strong>m Bekanntwer<strong>de</strong>n von gewichtigen<br />

Anhaltspunkten besteht für Fachkräfte im Jugendamt keine Garantenstellung<br />

aus <strong>de</strong>m Gesetz.<br />

2. Garantenstellung bei <strong>de</strong>r Beteiligung von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten<br />

freier Träger<br />

In <strong>de</strong>r Praxis sind im Hilfeprozess häufi g Fachkräfte <strong>de</strong>s Jugendamtes <strong>und</strong> solche<br />

freier Träger in verschie<strong>de</strong>nen Funktionen beteiligt. Hat die Fachkraft im Jugendamt<br />

eine Garantenstellung in Wahrnehmung <strong>de</strong>s Schutzauftrages nach § 8a<br />

begrün<strong>de</strong>t, so kann sie sich dieser Pfl ichtenstellung nicht dadurch entledigen, dass<br />

im Rahmen <strong>de</strong>s Hilfeprozesses Fachkräfte aus Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten freier<br />

Träger beteiligt wer<strong>de</strong>n bzw. die Hilfe erbringen. So behält die Fachkraft <strong>de</strong>s<br />

Jugendamts ihre Beschützergarantenstellung, wenn etwa eine sozialpädagogische<br />

Familienhilfe eingerichtet wird <strong>und</strong> diese Hilfe von einer Mitarbeiterin eines Trä-<br />

172


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

gers <strong>de</strong>r freien Jugendhilfe durchgeführt wird. Mit <strong>de</strong>r Aufgabenverteilung wan<strong>de</strong>ln<br />

sich jedoch die Garantenpfl ichten <strong>de</strong>r Fachkraft <strong>de</strong>s Jugendamtes in Auswahl-<br />

<strong>und</strong> Kontrollpfl ichten um.<br />

Mit <strong>de</strong>r konkreten Fallübernahme übernimmt die Fachkraft <strong>de</strong>s freien Trägers eine<br />

eigenständige Garantenposition aus tatsächlicher Schutzübernahme im Hinblick<br />

auf das betreute Kind. Ebenso begrün<strong>de</strong>t diese eine Garantenstellung, wenn ihr im<br />

Hinblick auf ein betreutes Kind gewichtige Anhaltspunkte für eine <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

bekannt wer<strong>de</strong>n. Daraus folgt für sie die Verpfl ichtung zur Durchführung<br />

einer Gefährdungseinschätzung nach <strong>de</strong>n Vorgaben von § 8a Abs. 2. Die<br />

Garantenpfl icht en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r Inanspruchnahme von Leistungen durch die Eltern<br />

beim Jugendamt o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Information <strong>de</strong>s Jugendamtes bei Weigerung <strong>de</strong>r Eltern,<br />

selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mit <strong>de</strong>m Bekanntwer<strong>de</strong>n neuer gewichtiger<br />

Anhaltspunkte wird eine neue Garantenstellung begrün<strong>de</strong>t.<br />

Die strafrechtliche Haftungsverteilung zwischen <strong>de</strong>n Fachkräften <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

<strong>und</strong> freien Jugendhilfe ist kein inhaltlicher Gegenstand <strong>de</strong>r Vereinbarungen nach<br />

§ 8a Abs. 2, also nicht verhandlungsfähig. Das strafrechtliche Haftungsrisiko ist<br />

allein von <strong>de</strong>n strafrechtlich relevanten tatsächlichen Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Einzelfalls<br />

abhängig <strong>und</strong> nur durch sie bestimmt <strong>und</strong> begrenzt.<br />

3. Garantenstellung <strong>de</strong>s Richters<br />

Auch <strong>de</strong>r Richter <strong>de</strong>s Familiengerichts nimmt eine Garantenstellung zugunsten<br />

<strong>de</strong>r in ihrem Wohl gefähr<strong>de</strong>ten Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen ein, <strong>de</strong>nn auch er ist zur<br />

Verwirklichung <strong>de</strong>s Schutzauftrags je nach <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Einzelfalls aus<br />

§ 1666 BGB verpfl ichtet. Das Unterlassen einer Anordnung <strong>de</strong>s Familienrichters,<br />

das gegebenenfalls eine Schädigung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s / Jugendlichen zur Folge hat, ist<br />

aber wegen <strong>de</strong>s so genannten Richterprivilegs nur strafbar, wenn <strong>de</strong>m Richter zugleich<br />

eine Rechtsbeugung (§ 339 StGB) zur Last fällt.<br />

4. Kausalität <strong>und</strong> Sorgfaltspfl ichtverletzung<br />

Aus <strong>de</strong>r Garantenposition folgt nicht automatisch auch eine Strafbarkeit wegen<br />

Verletzung <strong>de</strong>r Garantenpfl icht, wenn das betreute Kind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Jugendliche eine<br />

Rechtsgutsverletzung erfährt. Voraussetzung ist vielmehr, dass die Abwendung einer<br />

solchen Rechtsgutsverletzung tatsächlich <strong>und</strong> konkret möglich <strong>und</strong> zumutbar<br />

ist. Sie setzt darüber hinaus voraus, dass die jeweilige Rechtsgutsverletzung bzw.<br />

Gefährdung eine Folge <strong>de</strong>r konkreten Pfl ichtverletzung ist (Kausalität).<br />

Bei fahrlässiger Deliktsverwirklichung durch Unterlassen ist überdies erfor<strong>de</strong>rlich,<br />

dass mit <strong>de</strong>r Verletzung von Garantenpfl ichten zugleich eine Sorgfaltspfl ichtverletzung<br />

einhergeht. Insoweit kommt es darauf an, ob bei objektiver, genereller Erkennbarkeit<br />

<strong>de</strong>r Tatbestandsverwirklichung einschließlich <strong>de</strong>r objektiven Voraussehbar-<br />

173


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

keit <strong>de</strong>s tatbestandlichen Erfolgs <strong>de</strong>r Fachkraft die Außerachtlassung <strong>de</strong>r im Rechtsverkehr<br />

erfor<strong>de</strong>rlichen Sorgfalt zur Last fällt.<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Literatur:<br />

Zum gesamten Feld <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe:<br />

Mün<strong>de</strong>r, Wiesner (Hg.): Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilferecht, Handbuch, Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>n<br />

2007<br />

Wiesner (Hg): SGB VIII, Kommentar, 3. Aufl . München 2006<br />

Speziell zum Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>:<br />

Beulke, Swoboda: Beschützergarant Jugendamt, Zur Strafbarkeit von Mitarbeitern<br />

<strong>de</strong>s Jugendamts bei Kin<strong>de</strong>stod, Kin<strong>de</strong>smisshandlung o<strong>de</strong>r -missbrauch innerhalb<br />

<strong>de</strong>r betreuten Familie, in: Dölling/Erb (Hg.) Festschrift für Heinz Gössel<br />

zum 70. Geburtstag, Hei<strong>de</strong>lberg 2002, 73<br />

Bringewat: Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> (§ 8a SGB VIII) <strong>und</strong> strafrechtliche<br />

Garantenhaftung in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, Zeitschrift für Kindschaftsrecht<br />

<strong>und</strong> Jugendhilfe (ZKJ) 2006, 233<br />

Bringewat, Die Abschätzung <strong>de</strong>s Gefährdungsrisikos gem. § 8a Abs. 1 S.1 SGB<br />

VIII, ZKJ 2008, 297<br />

Büttner, Wiesner: Zur Umsetzung <strong>de</strong>s Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII in <strong>de</strong>r<br />

Praxis, ZKJ 2008, 292.<br />

Dettenborn: Die Beurteilung <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> als Risikoentscheidung,<br />

Familie, Partnerschaft, Recht (FPR) 2003, 293<br />

Deutscher Städtetag: Strafrechtliche Relevanz sozialarbeiterischen Han<strong>de</strong>lns –<br />

Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in <strong>de</strong>n Jugendämtern<br />

bei akut schwerwiegen<strong>de</strong>r Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls, Zentralblatt für<br />

Jugendrecht (ZfJ) 2004, 187<br />

Deutsches Institut für Jugendhilfe <strong>und</strong> Familienrecht (DIJuF) (Hg.): Verantwortlich<br />

han<strong>de</strong>ln – Schutz <strong>und</strong> Hilfe bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, Saarbrücker<br />

Memorandum, Köln 2004<br />

Deutsches Jugendinstitut (Hg.): § 8a SGB VIII – Herausfor<strong>de</strong>rungen bei <strong>de</strong>r Umsetzung,<br />

Themenheft <strong>de</strong>r IKK-Nachrichten 1-2/2006, München 2006<br />

Hil<strong>de</strong>brandt: „In <strong>de</strong>r Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren!“, ZKJ<br />

2008, 396<br />

Institut für Sozialarbeit <strong>und</strong> Sozialpädagogik e.V. (Hg.): Vernachlässigte Kin<strong>de</strong>r<br />

besser schützen, Sozialpädagogisches Han<strong>de</strong>ln bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>,<br />

München 2008<br />

Jordan (Hg.): <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, Rechtliche Neuregelungen <strong>und</strong> Konsequenzen<br />

für <strong>de</strong>n Schutzauftrag <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, Weinheim <strong>und</strong><br />

München 3. Aufl . 2008<br />

174


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Kanthak: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>,: Diagnostische Verfahren <strong>und</strong> Metho<strong>de</strong>n, ZfJ<br />

2004, 180<br />

Kindler, Heinz: Ob das wohl gut geht?, Verfahren zur Einschätzung <strong>de</strong>r Gefahr von<br />

Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung im ASD; Diskurs 2/2003, 8<br />

Kindler, Lillig, Blüml, Werner (Hg.): Handbuch <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> nach<br />

§ 1666 BGB <strong>und</strong> Allgemeiner Sozialer Dienst, München 2005, aktuelle Internetfassung<br />

unter www.dji.<strong>de</strong>/asd.<br />

Kindler, Lukasczyk, Reich: Validierung <strong>und</strong> Evaluation eines Diagnoseinstrumentes<br />

zur Gefährdungseinschätzung bei Verdacht auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

(Kin<strong>de</strong>rschutzbogen), ZKJ 2008, 500<br />

Kohaupt: Wirkungen <strong>de</strong>s Rechts auf Hilfebeziehungen im Kin<strong>de</strong>rschutz, JAmt<br />

2003, 567<br />

Kohaupt: Hurry slowly! O<strong>de</strong>r: Was man nicht erfl iegen kann, muss man erhinken<br />

– Konfl ikthafter Kontakt zu Eltern bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, JAmt 2005, 218<br />

Kunkel: Was be<strong>de</strong>utet eine Garantenstellung für Mitarbeiter in <strong>de</strong>r Jugendhilfe?,<br />

ZfSH / SGB 2001, 131<br />

Kunkel: Risikoabschätzung durch Fachkräfte außerhalb <strong>de</strong>s Jugendamtes (ZKJ)<br />

2007, 150<br />

Kunkel: 2 Jahre Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII, (ZKJ) 2008, 52<br />

Langenfeld, Wiesner: Verfassungsrechtlicher Rahmen für die öffentliche Kin<strong>de</strong>r-<br />

<strong>und</strong> Jugendhilfe bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>en <strong>und</strong> seine einfach-rechtliche Ausfüllung,<br />

in: DIJuF (Hg.): Verantwortlich han<strong>de</strong>ln – Schutz <strong>und</strong> Hilfe bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>,<br />

Köln 2004, S. 45 ff.<br />

Merchel: Der Umgang mit <strong>de</strong>r Garantenstellung <strong>de</strong>s Jugendamtes <strong>und</strong> die Regeln<br />

<strong>de</strong>r fachlichen Kunst: Verfahrensanfor<strong>de</strong>rungen <strong>und</strong> offene Fragen, ZfJ 2003,<br />

249<br />

Merchel: „Garantenstellung <strong>und</strong> Garantenpfl ichten“: Die Schutzfunktion <strong>de</strong>s Jugendamtes<br />

zwischen Strafrecht, medialer Öffentlichkeit <strong>und</strong> fachlichen Konzepten,<br />

Recht <strong>de</strong>r Jugend <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Bildungswesens 4/2005, 456<br />

Meysen, Schindler: Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>: Hilfreiches Recht<br />

beim <strong>Helfen</strong>; JAmt 2004, 449;<br />

Mün<strong>de</strong>r, Mutke, Schone: Kin<strong>de</strong>swohl zwischen Jugendhilfe <strong>und</strong> Justiz, Professionelles<br />

Han<strong>de</strong>ln in Kin<strong>de</strong>swohlverfahren, Münster 2000<br />

Mutke, Tammen: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> aus familienrechtlicher Sicht, Unsere Jugend<br />

2006, 86 <strong>und</strong> 134<br />

Offe: Metho<strong>de</strong>n zur Beurteilung <strong>de</strong>s Verdachts auf <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>, Zeitschrift<br />

für Kindschaftsrecht <strong>und</strong> Jugendhilfe (ZKJ) 2007, 236<br />

Plewig: Garantenstellung im Jugendhilfebereich – Reaktionen <strong>de</strong>r Berufsgruppen:<br />

Entwicklung von Qualitätsstandards als Reaktion auf Fahrlässigkeitsvorwürfe,<br />

Recht <strong>de</strong>r Jugend <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Bildungswesens 4/2006, 486<br />

Salgo: § 8a SGB VIII, Zeitschrift für Kindschaftsrecht <strong>und</strong> Jugendhilfe (ZKJ) 2006,<br />

531<br />

175


Was besagt <strong>de</strong>r Schutzauftrag nach § 8a KJHG?<br />

Stadt Dormagen (Hg.): Dormagener Qualitätskatalog <strong>de</strong>r Jugendhilfe, Opla<strong>de</strong>n<br />

2001<br />

Verein für Kommunalwissenschaften VfK (Hg.): Die Verantwortung <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

zur Sicherung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls. Aktuelle Beiträge zur Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

Bd. 34, <strong>Berlin</strong> 2002<br />

Verein für Kommunalwissenschaften VfK (Hg.): Kin<strong>de</strong>rschutz gemeinsam gestalten.<br />

§ 8a SGB VIII – Schutzauftrag <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe, <strong>Berlin</strong><br />

2007<br />

Wiesner: Zur gemeinsamen Verantwortung von Jugendamt <strong>und</strong> Familiengericht<br />

für die Sicherung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls, Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ)<br />

2003, 121<br />

Wiesner: Das Wächteramt <strong>de</strong>s Staates <strong>und</strong> die Garantenstellung <strong>de</strong>r Sozialarbeiterin<br />

/ <strong>de</strong>s Sozialarbeiters zur Abwehr von Gefahren für das Kin<strong>de</strong>swohl, Zentralblatt<br />

für Jugendrecht (ZfJ) 2004, 161<br />

Wiesner: Der Schutzauftrag <strong>de</strong>s Jugendamtes nach § 8a SGB VIII, Familie, Partnerschaft,<br />

Recht (FPR) 2007, 6<br />

Wiesner: Kin<strong>de</strong>rschutz aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Jugendhilfe, ZKJ 2008, 143.<br />

Ziegenhain, Fegert (Hg.): <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> <strong>und</strong> Vernachlässigung, München<br />

<strong>und</strong> Basel 2007<br />

176


177


Was sind die rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen für das Han<strong>de</strong>ln von<br />

Helfern? – Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich<br />

geregelt?<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz – Eine zentrale Aufgabe <strong>de</strong>r Jugendhilfe<br />

Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendschutz war <strong>und</strong> ist seit <strong>de</strong>m Inkrafttreten <strong>de</strong>s SGB VIII eine<br />

zentrale Aufgabe <strong>de</strong>r Jugendhilfe überhaupt. In § 1 Abs. 3 SGB VIII ist so etwas<br />

wie eine magna charta <strong>de</strong>r Jugendhilfe formuliert wor<strong>de</strong>n:<br />

❍ Vorrangig soll Jugendhilfe die individuelle <strong>und</strong> soziale Entwicklung von jungen<br />

Menschen för<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> dadurch Benachteiligungen abbauen bzw. vermei<strong>de</strong>n<br />

helfen.<br />

❍ Eltern <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Erziehungsberechtigte sollen bei <strong>de</strong>r Erziehung beraten <strong>und</strong><br />

unterstützt wer<strong>de</strong>n.<br />

❍ Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche sollen vor Gefahren für ihr Wohl geschützt wer<strong>de</strong>n.<br />

❍ Nicht zuletzt soll Jugendhilfe auch dazu beitragen, positive Lebensbedingungen<br />

für junge Menschen <strong>und</strong> ihre Familien zu schaffen sowie eine kin<strong>de</strong>r<strong>und</strong><br />

familienfre<strong>und</strong>liche Umwelt zu erhalten o<strong>de</strong>r zu schaffen.<br />

Diese in § 1 SGB VIII formulierten Leitziele stellen zwar keine konkreten Leistungsansprüche<br />

dar, sie sind aber zentrale Auslegungsrichtlinien <strong>und</strong> verpfl ichten<strong>de</strong><br />

Programmsätze für die Konkretisierung <strong>de</strong>r übrigen Jugendhilfeleistungen <strong>und</strong><br />

Aufgaben. 1<br />

Ähnliche programmatische Aussagen fi n<strong>de</strong>n sich in § 80 Abs. 2 SGB VIII für <strong>de</strong>n<br />

Bereich <strong>de</strong>r Jugendhilfeplanung. Hiernach sollen Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste <strong>de</strong>r<br />

Jugendhilfe so geplant wer<strong>de</strong>n, dass insbeson<strong>de</strong>re<br />

❍ Kontakte in <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> im sozialen Umfeld erhalten <strong>und</strong> gepfl egt wer<strong>de</strong>n<br />

können,<br />

❍ ein vielfältiges <strong>und</strong> aufeinan<strong>de</strong>r abgestimmtes Angebot von Jugendhilfeleistungen<br />

präsent ist,<br />

❍ junge Menschen <strong>und</strong> Familien in gefähr<strong>de</strong>ten Lebens- <strong>und</strong> Wohnbereichen beson<strong>de</strong>rs<br />

geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n,<br />

❍<br />

Mütter <strong>und</strong> Väter Erziehungsaufgaben mit <strong>de</strong>r Erwerbstätigkeit besser miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbin<strong>de</strong>n können.<br />

Mithilfe dieser Programmaussagen lassen sich viele gera<strong>de</strong> auch präventive Hilfemöglichkeiten<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes vor Ort entwickeln.<br />

Welche Hilfen gibt es <strong>und</strong> welche Ziele wer<strong>de</strong>n mit solchen Hilfen verfolgt?<br />

Das SGB VIII unterschei<strong>de</strong>t die <strong>de</strong>nkbaren Hilfen in zwei Gruppen: Leistungen<br />

<strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Aufgaben. Die Leistungen wer<strong>de</strong>n in unterschiedlich verbindlichen<br />

1 Siehe hierzu im Einzelnen die Kommentarliteratur von: Kunkel, Mün<strong>de</strong>r,Wiesner<br />

178


Rechtsformen als Rechtsansprüche, Soll- o<strong>de</strong>r Kann-Leistungen angeboten. Neben<br />

dieser Unterscheidung ist die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen<br />

häufi ge Praxis. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind nicht ein<strong>de</strong>utig in ihrem Inhalt<br />

vom Gesetz bestimmt, sie erhalten ihre volle rechtliche Be<strong>de</strong>utung erst durch eine<br />

entsprechen<strong>de</strong> Auslegung. Sie sind gerichtlich voll überprüfbar. Der bekannteste<br />

unbestimmte Rechtsbegriff ist in diesem Zusammenhang <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls.<br />

Klar formulierte Rechtsansprüche o<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig formulierte „Muss-Vorschriften“<br />

mit einer ebenso ein<strong>de</strong>utig formulierten Rechtsfolge, was von <strong>de</strong>r Jugendhilfe zu<br />

tun ist, schaffen für die Bereitstellung <strong>und</strong> Gewährung von Jugendhilfeleistungen<br />

eine begrüßenswerte Klarheit.<br />

Die im SGB VIII häufi g gebrauchte Sollvorschrift regelt alltagstypische Hilfesituationen<br />

<strong>und</strong> verknüpft sie mit entsprechen<strong>de</strong>n Hilfeangeboten. Wo diese Rechtsfolge<br />

ein<strong>de</strong>utig ist, kann von einem quasi-Anspruch ausgegangen wer<strong>de</strong>n. Will <strong>de</strong>r<br />

öffentliche Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe <strong>de</strong>m geltend gemachten Hilfeersuchen nicht<br />

entsprechen, muss er gegenüber <strong>de</strong>m Antragsteller <strong>und</strong> im Falle <strong>de</strong>r Klage gegenüber<br />

<strong>de</strong>m Verwaltungsgericht <strong>de</strong>n Nachweis führen, dass keine <strong>de</strong>r vom Gesetz<br />

gemeinten Standardsituationen vorliegt. Nur dann ist er nicht zu einer Leistung<br />

verpfl ichtet. Diese erhöhte Beweislast obliegt <strong>de</strong>m Leistungsträger, nicht hingegen<br />

<strong>de</strong>m Hilfesuchen<strong>de</strong>n.<br />

Am schwächsten ist die Rechtsposition zugunsten <strong>de</strong>s Leistungsberechtigten bei<br />

<strong>de</strong>n Kann-Leistungen ausgebil<strong>de</strong>t. Letztere gewähren <strong>de</strong>m Leistungsträger ein<br />

weites Handlungsermessen. Der Jugendhilfeträger prüft unter Beachtung <strong>de</strong>r<br />

Gr<strong>und</strong>sätze zum pfl ichtgemäßen Ermessensgebrauch die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Hilfeleistung.<br />

Bei all <strong>de</strong>n genannten unterschiedlichen Leistungen han<strong>de</strong>lt es sich für die öffentliche<br />

Jugendhilfe um bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Leistungsverpfl ichtungen, <strong>de</strong>ren einziger aber<br />

maßgeblicher Unterschied in ihrer stärkeren o<strong>de</strong>r schwächeren Rechtswirkung besteht.<br />

Neben <strong>de</strong>r Vielzahl <strong>de</strong>r Leistungen kennt das SGB VIII auch Aufgaben, die ob ihrer<br />

Be<strong>de</strong>utung sich einer Verfügungsbefugnis von Betroffenen entziehen. Hierzu<br />

zählen die Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII eines Kin<strong>de</strong>s ebenso wie das Tätigwer<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Jugendhilfe im Zusammenhang mit Verfahren vor <strong>de</strong>m Vorm<strong>und</strong>schafts-<br />

bzw. Familiengericht o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Jugendgericht. Die Durchführung solcher<br />

Aufgaben ist durch das Gesetz verbindlich für <strong>de</strong>n öffentlichen Träger festgelegt,<br />

lediglich ihre Ausführung kann von <strong>de</strong>m öffentlichen Träger <strong>de</strong>legiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Häufi g sind diese Interventionsmöglichkeiten an eine gerichtliche Genehmigung<br />

o<strong>de</strong>r Überprüfung geb<strong>und</strong>en. Die Durchführung selbst geschieht häufi g im Zusammenwirken<br />

mehrerer Institutionen, insbeson<strong>de</strong>re durch die Mitwirkung freier<br />

Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe.<br />

179


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

Wie wer<strong>de</strong>n die Leistungen erbracht?<br />

Gem. § 5 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten (in <strong>de</strong>r Regel sind dies die Eltern)<br />

das Recht, zwischen Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten verschie<strong>de</strong>ner Träger wählen<br />

<strong>und</strong> Wünsche hinsichtlich <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Jugendhilfeleistungen äußern zu<br />

können. Damit erhalten die personensorgeberechtigten Eltern, <strong>und</strong> sofern es sich<br />

um Leistungsansprüche <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r selbst han<strong>de</strong>lt, die Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

das Recht, aus einem pluralen Jugendhilfeangebot auswählen zu können. Für <strong>de</strong>n<br />

öffentlichen Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe be<strong>de</strong>utet dies gleichzeitig die Verpfl ichtung,<br />

eine solche Auswahl durch die För<strong>de</strong>rung verschie<strong>de</strong>ner Angebote erst möglich<br />

zu machen.<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche selbst haben gem. § 8 SGB VIII die Möglichkeit, sich<br />

entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffen<strong>de</strong>n Entscheidungen<br />

<strong>de</strong>r öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Dies betrifft auch die Möglichkeit <strong>de</strong>r<br />

Beteiligung an allen Verwaltungs- <strong>und</strong> gerichtlichen Verfahren. Darüber hinaus<br />

haben sie das Recht, sich in allen Angelegenheiten <strong>de</strong>r Erziehung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

an das Jugendamt zu wen<strong>de</strong>n. Für die Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit be<strong>de</strong>utet dies eine<br />

notwendige Überprüfung <strong>de</strong>r gesamten Öffentlichkeits- <strong>und</strong> Beratungsangebote,<br />

um Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche in die Lage zu versetzen, von diesem Hilfeangebot<br />

Gebrauch machen zu können.<br />

Bei <strong>de</strong>r Ausgestaltung <strong>de</strong>r Leistungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Aufgaben hat die Jugendhilfe<br />

die von <strong>de</strong>n Eltern bestimmte Gr<strong>und</strong>richtung <strong>de</strong>r Erziehung zu beachten.<br />

Gleiches gilt für die religiöse Erziehung.<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendliche wachsen häufi ger <strong>de</strong>nn je in unterschiedlichen sozialen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Lebenssituationen auf. Diese sind ebenso wie die unterschiedlichen<br />

Lebenslagen von Jungen <strong>und</strong> Mädchen zu berücksichtigen. Jugendhilfe soll<br />

dadurch zum Abbau von Benachteiligungen beitragen <strong>und</strong> die Gleichberechtigung<br />

von Jungen <strong>und</strong> Mädchen för<strong>de</strong>rn (§ 9 SGB VIII).<br />

Welche konkreten Leistungen kommen für <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rschutz in Betracht?<br />

Hilfemöglichkeiten stehen an verschie<strong>de</strong>nen Stellen im Gesetz <strong>und</strong> sind nicht immer<br />

sofort als Kin<strong>de</strong>rschutzleistungen zu erkennen.<br />

An erster Stelle ist hier <strong>de</strong>r Beratungsanspruch <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

in Not- <strong>und</strong> Konfl iktsituationen nach § 8 Abs. 3 SGB VIII zu nennen.<br />

In einer Not- o<strong>de</strong>r Konfl iktsituation soll sich je<strong>de</strong>s Kind o<strong>de</strong>r Jugendliche an <strong>de</strong>n<br />

öffentlichen Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe wen<strong>de</strong>n können, um auch ohne Benachrichtigung<br />

<strong>de</strong>r Eltern beraten wer<strong>de</strong>n zu können. Voraussetzung ist, dass bei einer im<br />

Normalfall gebotenen Unterrichtung <strong>de</strong>r Eltern <strong>de</strong>r Beratungszweck vereitelt wür<strong>de</strong>.<br />

Wür<strong>de</strong> eine solche Unterrichtung unterbleiben wäre dies ein Eingriff in das elterliche<br />

Sorgerecht. Gera<strong>de</strong> in Fällen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes muss einem Kind o<strong>de</strong>r<br />

180


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

Jugendlichen die Möglichkeit geboten wer<strong>de</strong>n, um Hilfe nachzusuchen <strong>und</strong> solche<br />

Hilfen auch annehmen zu können.<br />

Eine weitere Verstärkung erfährt dieser Rechtsgedanke durch die Bestimmung<br />

von § 36 SGB I, nach <strong>de</strong>r eine jugendliche Person ab <strong>de</strong>m vollen<strong>de</strong>ten<br />

fünfzehnten Lebensjahr Anträge auf Sozialleistungen stellen <strong>und</strong> solche<br />

Leistungen entgegennehmen kann. Allerdings sind in diesem Fall die<br />

gesetzlichen Vertreter hiervon zu unterrichten. Diese können ihrerseits<br />

diese Handlungsfähigkeit <strong>de</strong>r jugendlichen Person durch schriftliche Erklärung<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Leistungsträger einschränken. Immerhin erhält <strong>de</strong>r Leistungsträger<br />

aber auf diesem Wege Kenntnis von einem möglichen Notfall <strong>und</strong> kann von<br />

sich aus selbständig Ermittlungen zur Hilfeleistung anstellen.<br />

Beratung für Mütter, Väter, an<strong>de</strong>re Erziehungsberechtigte <strong>und</strong> junge Menschen<br />

zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Erziehung in <strong>de</strong>r Familie nach § 16 SGB VIII<br />

Neben <strong>de</strong>m allgemeinen Beratungsanspruch nach § 8 SGB VIII ist ein beson<strong>de</strong>rer<br />

Beratungsanspruch als Hilfe in § 16 SGB VIII formuliert wor<strong>de</strong>n. Mit dieser<br />

Sollvorschrift, die einem rechtsförmlichen Anspruch gleichkommt, verbin<strong>de</strong>n<br />

sich eine Vielzahl unterschiedlicher präventiver Angebote, die weit über die Beratung<br />

hinausgehen. Sie umfassen Angebote <strong>de</strong>r allgemeinen Familienberatung<br />

sowie <strong>de</strong>r Familienerholung bzw. <strong>de</strong>r Familienfreizeit. Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Gründungsphase<br />

von jungen Familien kommt <strong>de</strong>r Etablierung früher Hilfen eine beson<strong>de</strong>re<br />

präventive Schutzwirkung zu. Solche Hilfen sind nach <strong>de</strong>n jüngsten Erfahrungen<br />

beson<strong>de</strong>rs wirksam, wenn sie<br />

❍ aufsuchend,<br />

❍ niedrigschwellig<br />

❍ <strong>und</strong> hochgradig fl exibel sind.<br />

Von ebenso großer Be<strong>de</strong>utung ist, dass solche frühen Hilfen über die jeweiligen<br />

fachlichen Zuständigkeiten hinweg ein Netzwerk von sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsfürsorgerischen Angeboten umfassen.<br />

Beratung im Familienkonfl ikt nach § 17 SGB VIII<br />

Die Beratung nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII soll Konfl ikte <strong>und</strong> Krisen in <strong>de</strong>r<br />

Familie bewältigen helfen. Sie zielt auf die Herstellung eines partnerschaftlichen<br />

Verhältnisses zwischen <strong>de</strong>n Eltern ab <strong>und</strong> betrifft verheiratete wie unverheiratete<br />

Eltern in gleicher Weise.<br />

Über die allgemeine Konfl iktberatung hinaus sollen Eltern im Falle <strong>de</strong>r Trennung<br />

o<strong>de</strong>r Scheidung bei <strong>de</strong>r Entwicklung eines einvernehmlichen Konzeptes zur künftigen<br />

Ausübung <strong>de</strong>r elterlichen Sorge unterstützt wer<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> weil im Falle <strong>de</strong>r<br />

Trennung <strong>und</strong> Scheidung nicht mehr automatisch auch über die künftige elterliche<br />

Sorge mit entschie<strong>de</strong>n wird, ist hier eine intensive Vorbereitung <strong>de</strong>r Eltern geboten,<br />

um die Gemeinsamkeit hinsichtlich <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r positiv zu beeinfl ussen. Aus<br />

181


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

diesem Gr<strong>und</strong> besteht für das Jugendamt auch die Verpfl ichtung, die Eltern über<br />

alle verfügbaren Beratungsangebote zu informieren (§ 17 Abs. 3 SGB VIII).<br />

Beratung <strong>und</strong> Unterstützung bei <strong>de</strong>r Ausübung <strong>de</strong>r Personensorge nach<br />

§ 18 SGB VIII<br />

Eine Beratung in Trennungs- <strong>und</strong> Scheidungskonfl ikten mit <strong>de</strong>m Ziel einer für alle<br />

Beteiligten akzeptablen Sorgerechtsregelung kann nicht verhin<strong>de</strong>rn, dass bei <strong>de</strong>r<br />

nachfolgen<strong>de</strong>n Ausübung <strong>de</strong>s Sorgerechts Konfl ikte, insbeson<strong>de</strong>re bei <strong>de</strong>r Ausgestaltung<br />

<strong>de</strong>s Umgangs <strong>de</strong>r Eltern mit <strong>de</strong>m Kind, auftreten. Hier soll <strong>de</strong>r Beratungs-<br />

<strong>und</strong> Unterstützungsanspruch, <strong>de</strong>r auch Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen bei <strong>de</strong>r<br />

Ausübung ihres Umgangsrechts zusteht, helfen.<br />

In diesem Zusammenhang kommt <strong>de</strong>m betreuten Umgang als spezielle Hilfeform<br />

beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zu. Wenn Eltern die elterliche Sorge nicht o<strong>de</strong>r nicht mehr<br />

in vollem Umfange besitzen, können sie sich <strong>de</strong>nnoch auf die Verpfl ichtung <strong>und</strong><br />

das Recht zum Umgang mit <strong>de</strong>m Kind gem. § 1684 Abs. 1 berufen. Das Recht auf<br />

Umgang wird nach § 1626 Abs. 3 BGB als ein wesentlicher Bestandteil <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls<br />

angesehen <strong>und</strong> kann daher auch nur bei Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s eingeschränkt<br />

o<strong>de</strong>r ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n. Gem. § 1684 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht<br />

die Ausübung <strong>de</strong>s Umgangs von <strong>de</strong>r Mitwirkung dritter Personen abhängig<br />

machen. Gera<strong>de</strong> in Fällen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> kann <strong>de</strong>r betreute<br />

Umgang zum Ausschluss einer Gefährdung beitragen. Aufgabe <strong>de</strong>r Jugendhilfe ist<br />

es, hier spezielle Angebote zum Schutz <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu entwickeln. Dabei ist diese<br />

Rechtsverpfl ichtung im Sinne <strong>de</strong>s geringst möglichen Eingriffs als Regelleistung<br />

auszugestalten. Solche Angebote wer<strong>de</strong>n zunehmend in <strong>de</strong>r fachlichen Verantwortung<br />

von freien Trägern <strong>de</strong>r Jugendhilfe entwickelt, bedürfen aber <strong>de</strong>r materiellen<br />

Absicherung durch die öffentliche Jugendhilfe.<br />

Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r nach § 19<br />

SGB VIII<br />

Für allein sorgen<strong>de</strong> Mütter o<strong>de</strong>r Väter gibt es gem. § 19 SGB VIII einen speziellen<br />

Anspruch auf Hilfe in einer gemeinsamen Wohnform mit ihrem Kind. Voraussetzung<br />

ist, dass Mütter bzw. Väter diese Form <strong>de</strong>r Unterbringung bei <strong>de</strong>r Pfl ege <strong>und</strong><br />

Erziehung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s aufgr<strong>und</strong> ihrer Persönlichkeitsentwicklung bedürfen. Im<br />

Rahmen <strong>de</strong>s betreuten Wohnens können spezielle Hilfen entwickelt wer<strong>de</strong>n, die<br />

die Persönlichkeit von Mutter o<strong>de</strong>r Vater stärken sollen. Allerdings ist diese Hilfeleistung<br />

auf Kin<strong>de</strong>r unter sechs Jahren beschränkt.<br />

Die Hilfe nach § 19 SGB VIII stellt für die Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit eine gute Möglichkeit<br />

dar, <strong>de</strong>n personensorgeberechtigten Elternteil <strong>und</strong> das Kind gemeinsam zu<br />

betreuen. Sie ermöglicht eine begleiten<strong>de</strong> Diagnostik <strong>und</strong> im Anschluss daran begleiten<strong>de</strong><br />

Hilfen. Diese Form <strong>de</strong>r Hilfe kann umso wirkungsvoller sein, als auch<br />

<strong>de</strong>r materielle Lebensunterhalt sowie eine eventuell notwendige medizinische Hilfe<br />

gesichert wer<strong>de</strong>n können.<br />

182


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

Betreuung <strong>und</strong> Versorgung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in Notsituationen gem. § 20 SGB VIII<br />

Fälle <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>svernachlässigung geschehen häufi g im Sachzusammenhang mit<br />

einer physischen o<strong>de</strong>r psychischen Überfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Elternteils, <strong>de</strong>m die überwiegen<strong>de</strong><br />

Erziehung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zukommt. Kann <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Elternteil wegen berufsbedingter<br />

Abwesenheit die Erziehung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s nicht übernehmen, führt<br />

das u. U. sehr schnell zu einer Vernachlässigung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

sieht § 20 SGB VIII eine Betreuung <strong>und</strong> Versorgung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s vor, wenn Angebote<br />

<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in einer Tageseinrichtung o<strong>de</strong>r Tagespfl ege nicht<br />

ausreichen. Fällt ein allein erziehen<strong>de</strong>r Elternteil o<strong>de</strong>r fallen bei<strong>de</strong> Eltern aus ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zwingen<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n aus, soll das Kind im elterlichen<br />

Haushalt versorgt <strong>und</strong> betreut wer<strong>de</strong>n, um die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten.<br />

Tagesbetreuung nach §§ 22 ff. SGB VIII<br />

Die verschie<strong>de</strong>nen Formen <strong>de</strong>r Tagesbetreuung in Tageseinrichtungen nach § 22<br />

SGB VIII <strong>und</strong> in Tagespfl ege nach § 23 SGB VIII sind zwar keine direkten Hilfeformen<br />

bei <strong>de</strong>r Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls. Sie können aber im Zusammenhang<br />

mit an<strong>de</strong>ren Hilfeformen für die Kin<strong>de</strong>r eine wichtige alltägliche Schutzfunktion<br />

übernehmen.<br />

Die vorstehend genannten Hilfen erstrecken sich alle auf Situationen, in <strong>de</strong>nen<br />

eine Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s noch nicht unmittelbar eingetreten ist. Sie sind Hilfen<br />

mit einem stark präventiven Charakter. Hilfen, die bei Eintritt einer Gefährdung<br />

einsetzen, sind als Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII formuliert.<br />

Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII<br />

Hilfen zur Erziehung sind in § 27 Abs. 1 SGB VIII als Rechtsanspruch für die Personensorgeberechtigten<br />

formuliert wor<strong>de</strong>n. Dies be<strong>de</strong>utet für die Praxis <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit,<br />

dass es auf die personensorgeberechtigten Eltern ankommt, die<br />

Hilfen gegenüber <strong>de</strong>m Träger <strong>de</strong>r öffentlichen Jugendhilfe geltend zu machen. Im<br />

Falle einer Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durch die Eltern selbst ist dies nicht in je<strong>de</strong>m<br />

Falle anzunehmen. Sieht man einmal von <strong>de</strong>r Ausnahmesituation <strong>de</strong>s § 42 SGB<br />

VIII (Inobhutnahme) ab, so kann die Leistung einer Hilfe zur Erziehung nur dann<br />

erfolgen, wenn die Personensorgberechtigten mit <strong>de</strong>r Gewährung einverstan<strong>de</strong>n<br />

sind. Eine spezielle Antragstellung ist hierbei nicht erfor<strong>de</strong>rlich. Wird die Annahme<br />

einer angebotenen Hilfe verweigert, kann eine Entscheidung <strong>de</strong>s Familiengerichts<br />

nach § 1666 BGB herbeigeführt wer<strong>de</strong>n. Die Hilfen nach § 27 SGB VIII<br />

umfassen pädagogische <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene therapeutische Leistungen. Sie<br />

können ambulant o<strong>de</strong>r stationär sein. Die in Betracht kommen<strong>de</strong>n Hilfen müssen<br />

für die Entwicklung eines Kin<strong>de</strong>s geeignet <strong>und</strong> notwendig sein. Die Leistungen<br />

richten sich auch – <strong>und</strong> häufi g vor allem – an die Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen, obwohl<br />

sie selbst nicht leistungsberechtigt sind. Hilfen zur Erziehung sollen sich<br />

183


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

auch <strong>und</strong> gera<strong>de</strong> an die Personensorgeberechtigten wen<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>ren Erziehungsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Erziehungsfähigkeit zu stärken. Auch die therapeutischen Hilfen<br />

haben sich an diesem Gr<strong>und</strong>muster auszurichten. Die Inhalte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkbaren Hilfen<br />

beschränken sich dabei keineswegs auf die in §§ 28 ff. SGB VIII genannten<br />

Hilfen. Durch <strong>de</strong>n Begriff „insbeson<strong>de</strong>re“ in § 27 Abs. 2 SGB VIII wird hervorgehoben,<br />

dass die genannten Hilfen nicht erschöpfend sind, vielmehr können <strong>und</strong><br />

sollen bei Bedarf neue Hilfeformen entwickelt wer<strong>de</strong>n. Art <strong>und</strong> Umfang richten<br />

sich nach <strong>de</strong>m erzieherischen Bedarf im Einzelfall. Hier bestehen für neue Formen<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes enorme Entwicklungsmöglichkeiten:<br />

Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII<br />

Erziehungsberatung ist als beraten<strong>de</strong> <strong>und</strong> auch als therapeutische Hilfe zu verstehen,<br />

die sich auf die Probleme von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen konzentriert <strong>und</strong><br />

Klärung <strong>und</strong> Entlastung anbietet. Sie ist in hohem Maße personenbezogen, ihre Inanspruchnahme<br />

erfolgt freiwillig <strong>und</strong> möglichst auch niedrigschwellig. Aus <strong>de</strong>n<br />

einzelnen Verläufen <strong>de</strong>r Erziehungsberatung können im weiteren Fortgang unterschiedliche<br />

Hilfen zur Erziehung erwachsen, wenn eine entsprechen<strong>de</strong> Vertrauensbasis<br />

zwischen <strong>de</strong>r leistungsberechtigten Person, <strong>de</strong>m Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Erziehungsberatungsstelle hergestellt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII<br />

Sie ist eine auf längere Zeit angelegte Hilfe in Familien <strong>und</strong> soll durch ihr Wirken<br />

in <strong>de</strong>r Familie eine intensive Betreuungs- <strong>und</strong> Begleitungswirkung entfalten. Es<br />

hängt daher in hohem Maße von <strong>de</strong>r Familie ab, ob sie bereit <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />

die intensive Wirkung einer sozialpädagogischen Familienhilfe bei <strong>de</strong>r Ausgangslage<br />

einer festgestellten <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> anzunehmen. Die Hilfe setzt auf<br />

die Reorganisierbarkeit <strong>und</strong> Stabilisierungsmöglichkeit <strong>de</strong>s familiären Bezugs-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationssystems. Wichtig für die Beurteilung <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>r<br />

Sozialpädagogischen Familienhilfe ist die Wie<strong>de</strong>rherstellbarkeit <strong>de</strong>r Erziehungsfunktion<br />

<strong>de</strong>r Familie.<br />

Neben <strong>de</strong>r Sozialpädagogischen Familienhilfe können für die einzelnen Familienmitglie<strong>de</strong>r<br />

zusätzliche an<strong>de</strong>re Hilfen zur Erziehung, insbeson<strong>de</strong>re therapeutische<br />

Angebote nach § 28 SGB VIII in Betracht kommen. Entschei<strong>de</strong>nd ist auch hier,<br />

<strong>de</strong>n Zusammenhang <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Leistungen nach <strong>de</strong>r Lebens- <strong>und</strong> Problemsituation<br />

<strong>de</strong>r betroffenen Familie auszurichten.<br />

Unterbringung eines Kin<strong>de</strong>s bei einer Pfl egeperson nach § 33 SGB VIII<br />

Sie stellt in Fällen <strong>de</strong>r unmittelbaren Gefährdung neben <strong>de</strong>r Unterbringung in einer<br />

Institution eine an<strong>de</strong>re Möglichkeit <strong>de</strong>r Fremdunterbringung dar. Die Ziele <strong>de</strong>r<br />

Unterbringung eines Kin<strong>de</strong>s in einer Pfl egestelle sind:<br />

❍ Vermeidung institutionalisierter Fremdunterbringung <strong>und</strong> statt <strong>de</strong>ssen<br />

❍ die Bereitstellung einer familienbezogenen Hilfeform.<br />

184


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

In <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit hat die Bereitstellung von Pfl egestellen gera<strong>de</strong><br />

für die kurzfristige Aufnahme von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn Be<strong>de</strong>utung<br />

erlangt. Sie sichert die Alltäglichkeit familialen Lebens <strong>und</strong> versucht ein persönliches<br />

<strong>und</strong> damit für das Kind prägen<strong>de</strong>s individuelles Lebensverhältnis zu garantieren.<br />

An<strong>de</strong>rerseits kann die strukturelle Schwäche <strong>de</strong>r mangelhaften rechtlichen<br />

Absicherung <strong>de</strong>s Pfl egeverhältnisses nicht übersehen wer<strong>de</strong>n. Ein Pfl egeverhältnis<br />

bleibt von bei<strong>de</strong>n Seiten aufkündbar <strong>und</strong> garantiert darum nicht in je<strong>de</strong>m Fall die<br />

an sich gewünschte personale Stabilität.<br />

Die Akzeptanz <strong>de</strong>r Unterbringung in einer Pfl egestelle wird von <strong>de</strong>n Sorgeberechtigten<br />

nicht in je<strong>de</strong>m Fall so aufgenommen wie die Unterbringung in einer quasi<br />

neutraleren institutionellen Fremdunterbringung. Hier bieten die Kin<strong>de</strong>rschutz-<br />

Zentren mit angeschlossenen Kin<strong>de</strong>rwohngruppen eine wichtige Alternative.<br />

Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung o<strong>de</strong>r in einer sonstigen betreuten<br />

Wohnform nach § 34 SGB VIII<br />

Diese Hilfeart kommt dann in Betracht, wenn eine familiäre Hilfeform nicht indiziert<br />

ist bzw. es sich bei <strong>de</strong>n betroffenen Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r Jugendlichen um solche<br />

han<strong>de</strong>lt, für die diese Hilfe am ehesten in Betracht kommt. Hierbei kommt<br />

es im Einzelfall sicher auch entschei<strong>de</strong>nd auf <strong>de</strong>n bek<strong>und</strong>eten Willen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlichen selbst an. Eine Hilfe nach § 34 SGB VIII kommt insbeson<strong>de</strong>re<br />

für solche Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Jugendliche in Betracht, <strong>de</strong>nen eine neue familiäre enge<br />

Bindung wegen traumatisch erlebter Familiensituationen nicht zugemutet wer<strong>de</strong>n<br />

kann. Hier kann eine institutionalisierte Erziehung in Form eines Kin<strong>de</strong>r- o<strong>de</strong>r Jugendheimes<br />

o<strong>de</strong>r einer Wohngruppe <strong>de</strong>n nötigen Abstand schaffen. Gleichzeitig<br />

kann <strong>und</strong> soll aber in dieser eher neutralen Situation <strong>de</strong>r Versuch unternommen<br />

wer<strong>de</strong>n, die Verbindungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r Jugendlichen zu seiner bisherigen Familie<br />

wie<strong>de</strong>r neu aufzubauen.<br />

Wie sollen die Leistungen erbracht wer<strong>de</strong>n?<br />

Die Erfahrungen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit lehren, dass die Gefährdung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>swohls<br />

immer einen komplexen Vorgang darstellt, <strong>de</strong>r einer Vielzahl unterschiedlicher<br />

Hilfen <strong>und</strong> Vorgehensweisen bedarf. Daher ist es erfor<strong>de</strong>rlich, <strong>de</strong>n Prozess<br />

<strong>de</strong>r Hilfegewährung genauer zu strukturieren. § 36 SGB VIII bietet hierfür eine<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Hilfestellung an. Die in dieser Vorschrift gefor<strong>de</strong>rte Hilfeplanung<br />

eröffnet die Möglichkeit, die in § 1 <strong>und</strong> § 80 SGB VIII formulierten Leitsätze in<br />

einen unmittelbaren praktischen Bezug zu <strong>de</strong>n einzelnen erfor<strong>de</strong>rlichen Hilfen zu<br />

setzen. Die Formulierung als Soll-Vorschrift bin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n öffentlichen Träger in seinem<br />

Entscheidungsermessen so, dass dieses gerichtlich überprüft wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Dies betrifft insbeson<strong>de</strong>re die Entscheidung über die ausgewählte Hilfeart. Fehlen<strong>de</strong><br />

Abstimmungsprozesse zwischen <strong>de</strong>n in Frage kommen<strong>de</strong>n Fachpersonen<br />

sowie mit <strong>de</strong>n Betroffenen sind selbst in Normalfällen so entscheidungserheblich,<br />

185


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

dass sie Einfl uss auf Art <strong>und</strong> Ausmaß <strong>de</strong>r Hilfeleistung besitzen. § 36 SGB VIII<br />

leistet somit einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Beitrag zur Qualitätssicherung.<br />

Eine Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII hat insbeson<strong>de</strong>re zu berücksichtigen:<br />

❍ Die gr<strong>und</strong>sätzliche Beachtung <strong>de</strong>s Elternwillens nach § 9 SGB VIII.<br />

❍ Die Beteiligung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Jugendlichen entsprechend ihrem Entwicklungsstand<br />

nach § 8 SGB VIII.<br />

❍ Das Wunsch- <strong>und</strong> Wahlrecht <strong>de</strong>r Leistungsberechtigten nach § 5 SGB VIII.<br />

❍ Eine umfassen<strong>de</strong> Beratung <strong>de</strong>r Personensorgeberechtigten <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlichen vor <strong>de</strong>r Inanspruchnahme <strong>de</strong>r Leistung über die möglichen<br />

Folgen für die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s.<br />

❍ Die Möglichkeit <strong>de</strong>r Adoption <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s vor <strong>und</strong> während einer langfristig<br />

angelegten Hilfe zur Erziehung.<br />

❍ Das Zusammenwirken mehrer Fachkräfte bei voraussichtlich länger dauern<strong>de</strong>r<br />

Hilfegewährung.<br />

❍ Die Ausgestaltung <strong>de</strong>r Hilfe <strong>und</strong> Leistungserbringung auf <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>lage eines<br />

Hilfeplans.<br />

Der Hilfeplan stellt die zwischen <strong>de</strong>n betroffenen Personen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n beteiligten Institutionen<br />

erzielte Übereinkunft dar, welche Hilfe in welcher Form für wie lange<br />

<strong>und</strong> durch wen geleistet wer<strong>de</strong>n soll.<br />

Der Hilfeplan soll folgen<strong>de</strong> Bestandteile aufweisen:<br />

❍ Er enthält eine Feststellung <strong>de</strong>s erzieherischen Bedarfs. Er zeigt zugleich auch<br />

eine Zielbestimmung auf, was mit <strong>de</strong>n vorgesehenen Hilfen erreicht wer<strong>de</strong>n<br />

kann <strong>und</strong> soll. Hauptziel ist die Verbesserung <strong>de</strong>r Lebensbedingungen in <strong>de</strong>r<br />

Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlichen vertretbaren Zeitraums o<strong>de</strong>r die Entwicklung einer von <strong>de</strong>r<br />

Herkunftsfamilie unabhängigen Lebensperspektive.<br />

❍ Der Hilfeplan enthält eine Aussage über die Hilfeart, die als die geeignete angesehen<br />

wird.<br />

❍ Der Hilfeplan legt die einzelnen Leistungsschritte fest.<br />

❍ Der Hilfeplan wird von mehreren Fachkräften zusammen mit <strong>de</strong>n Personensorgeberechtigten<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kind o<strong>de</strong>r Jugendlichen aufgestellt. Nur wenn die<br />

Hilfe auf Dauer von <strong>de</strong>n Betroffenen aus Einsicht wirklich gewünscht <strong>und</strong> angenommen<br />

wird, kann sie erfolgreich sein. Es kann durchaus sein, dass eine<br />

solche Akzeptanz sich erst im Verlauf <strong>de</strong>r Entscheidungsfi ndung o<strong>de</strong>r gar erst<br />

<strong>de</strong>r Hilfegewährung einstellt. In je<strong>de</strong>m Fall geht es darum, die Einsicht in die<br />

Notwendigkeit solcher Hilfen zu erzeugen. Dies kann auch mit Hilfe richterlicher<br />

Weisungen gem. § 1666 BGB geschehen.<br />

Die Hilfeplanung soll auch sicherstellen, dass regelmäßig überprüft wird, ob die<br />

gewählte Hilfeart immer noch geeignet <strong>und</strong> notwendig ist. Auch hier kommt es<br />

auf die notwendige Übereinkunft <strong>de</strong>r Betroffenen an. Der Erfolg einer solchen re-<br />

186


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

gelmäßigen Überprüfung kann aber nur gewährleistet sein, wenn die Problemanalysen<br />

<strong>und</strong> die darauf aufbauen<strong>de</strong>n Prognosen möglichst genau festgehalten wer<strong>de</strong>n.<br />

Bei unterschiedlicher Problemeinschätzung zu Beginn einer Hilfegewährung<br />

ist die genaue Dokumentation dieses Vorgangs um so wichtiger, als er bei einer<br />

späteren Auswertung Rückschlüsse auf die fachliche Begrün<strong>de</strong>theit <strong>de</strong>r getroffenen<br />

Entscheidungen zulässt. Die Zeitabschnitte <strong>de</strong>r Überprüfung richten sich<br />

nach <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>rnissen <strong>de</strong>s Einzelfalls. In <strong>de</strong>r Regel ist min<strong>de</strong>stens eine halbjährige<br />

Überprüfung angebracht.<br />

Die Vorgehensweise nach § 36 SGB VIII wird durch § 37 SGB VIII ergänzt. Wenn<br />

eine Hilfe nach §§ 32 bis 34 SGB VIII (Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpfl<br />

ege, Heimerziehung o<strong>de</strong>r sonstigen betreuten Wohnform) vorgesehen war <strong>und</strong><br />

durchgeführt wird, soll in <strong>de</strong>r gleichen Zeit intensiv an <strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Situation<br />

in <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie gearbeitet wer<strong>de</strong>n, um für das Kind eine Rückkehroption<br />

zu wahren.<br />

Gemeinsame Sorge nach Trennung / Scheidung<br />

Kin<strong>de</strong>r sind in einer Vielzahl <strong>de</strong>r Fälle von Trennung / Scheidung ihrer Eltern betroffen.<br />

Sie betreffen auch zunehmend solche Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren Eltern nie verheiratet<br />

waren, die aber für ihr Kind die gemeinsame elterliche Sorge beantragt <strong>und</strong> erhalten<br />

haben.<br />

In allen Fällen von Trennung <strong>und</strong> Scheidung haben es die Eltern in <strong>de</strong>r Hand, über<br />

die Beibehaltung <strong>und</strong> Fortdauer <strong>de</strong>s gemeinsamen Sorgerechts selbst zu entschei<strong>de</strong>n.<br />

Nicht mehr <strong>de</strong>r rechtliche Akt <strong>de</strong>r Ehescheidung ist künftig von zentraler Be<strong>de</strong>utung<br />

für ein Kind, son<strong>de</strong>rn vielmehr die Aufhebung <strong>de</strong>r familialen Lebensgemeinschaft.<br />

Je<strong>de</strong>r Elternteil kann in einem solchen Fall die Übertragung <strong>de</strong>r elterlichen<br />

Sorge o<strong>de</strong>r Teile davon auf sich beantragen (§ 1671 Abs. 1 BGB). Stimmt <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

Elternteil zu, ist <strong>de</strong>m Antrag stattzugeben, es sei <strong>de</strong>nn, das Kind ist älter als<br />

vierzehn Jahre <strong>und</strong> wi<strong>de</strong>rspricht einem solchen Antrag. Stimmt <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Elternteil<br />

nicht zu, so darf das Familiengericht <strong>de</strong>m Antrag nur entsprechen, soweit<br />

zu erwarten ist, dass die Aufhebung <strong>de</strong>r gemeinsamen elterlichen Sorge <strong>und</strong> die<br />

Übertragung auf <strong>de</strong>n Antragsteller <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s am besten entspricht.<br />

Verfahren vor <strong>de</strong>n Familiengerichten<br />

Welche wichtigen Verfahrensvorschriften sind unter <strong>de</strong>r Maßgabe <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutzes<br />

von Be<strong>de</strong>utung?<br />

❍ Amtsermittlungsprinzip<br />

❍ Anhörung <strong>und</strong> Beteiligung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

❍ Verfahrenspfl eger für das Kind<br />

187


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

❍<br />

188<br />

Keine zwangsweise Vollstreckung von Entscheidungen gegen Kin<strong>de</strong>r im Sinne<br />

<strong>de</strong>s unmittelbaren Zwangs.<br />

Die Verfahren vor <strong>de</strong>n Familiengerichten richten sich nach <strong>de</strong>n Vorschriften <strong>de</strong>s<br />

Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit (FGG). Im Unterschied zu an<strong>de</strong>ren<br />

Verfahren <strong>de</strong>r Zivilgerichtsbarkeit hat das Gericht gem. § 12 FGG von Amts wegen<br />

die zur Feststellung <strong>de</strong>r Tatsachen erfor<strong>de</strong>rlichen Ermittlungen zu betreiben<br />

<strong>und</strong> die geeigneten Beweise zu führen. Das Familiengericht muss selbst tätig wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Sachverhalt ermitteln. Dabei hat es sich auf die Hilfe <strong>und</strong> <strong>de</strong>n fachlichen<br />

Rat <strong>de</strong>s Jugendamtes zu stützten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> bestimmt § 49a Abs. 1<br />

FGG, dass in allen das Sorgerecht betreffen<strong>de</strong>n Verfahren das Jugendamt vor einer<br />

Entscheidung gehört wer<strong>de</strong>n muss. Damit kommt <strong>de</strong>m Jugendamt eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Mitsprache in solchen Verfahren zu.<br />

Zum Schutz <strong>und</strong> zur Vertretung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>sinteressen sieht § 50 FGG die Einrichtung<br />

einer Verfahrenspfl egschaft vor. Gera<strong>de</strong> in Fällen <strong>de</strong>r <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>,<br />

<strong>de</strong>r Wegnahme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s von einer Pfl egeperson nach § 1632 Abs. 4 BGB<br />

o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Ehegatten <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Elternteils o<strong>de</strong>r von einem sonstigen Umgangsberechtigten<br />

nach § 1685 BGB wird in <strong>de</strong>r Regel ein Verfahrenspfl eger notwendig<br />

sein, weil hier eine Interessenkollission <strong>de</strong>r Sorgerechtsinhaber nicht ausgeschlossen<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Lei<strong>de</strong>r hat das Instrument <strong>de</strong>r Verfahrenspfl egschaft in<br />

<strong>de</strong>r Entscheidungspraxis <strong>de</strong>r Familiengerichte noch nicht die breite Verwendung<br />

gef<strong>und</strong>en, die <strong>de</strong>r Gesetzgeber sich eigentlich erhofft hat. Hier besteht noch Nachholbedarf.<br />

Verfahrenspfl eger können solche Personen sein, die auf Gr<strong>und</strong> ihrer fachlichen<br />

Kenntnisse <strong>und</strong> ihrer persönlichen Akzeptanz am ehesten für das Kind sprechen<br />

können. Rechtliche Kenntnisse sind hierbei sicherlich von Vorteil, aber nicht unbedingt<br />

zentrale Voraussetzung für die Ausübung dieser Tätigkeit.<br />

In <strong>de</strong>n Sorgerechtsverfahren schreibt § 50b FGG eine persönliche Anhörung <strong>de</strong>s<br />

Kin<strong>de</strong>s durch das Gericht vor, wenn die Neigungen, Bindungen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wille<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s für die Entscheidung von Be<strong>de</strong>utung sind o<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r unmittelbare<br />

Eindruck für eine Sachverhaltsfeststellung für das Gericht von Be<strong>de</strong>utung ist. In<br />

Verfahren, die die Personensorge betreffen, sind Kin<strong>de</strong>r ab <strong>de</strong>m vollen<strong>de</strong>ten vierzehnten<br />

Lebensjahr stets persönlich anzuhören.<br />

Richten sich die vorstehen<strong>de</strong>n Verfahrensvorschriften noch an <strong>de</strong>m klassischen<br />

Bild <strong>de</strong>r Sachverhaltsermittlung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r anschließen<strong>de</strong>n Entscheidungsfi ndung<br />

aus, so versucht § 52 FGG neue Wege, ein Verfahren <strong>und</strong> eine Entscheidung möglichst<br />

zu vermei<strong>de</strong>n. So früh wie möglich <strong>und</strong> in je<strong>de</strong>r Lage <strong>de</strong>s Verfahrens soll<br />

auf ein Einvernehmen <strong>de</strong>r Beteiligten zur Streitschlichtung hingewirkt wer<strong>de</strong>n.<br />

Hierbei sollen insbeson<strong>de</strong>re die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Beratungsstellen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Beratungsdienste<br />

<strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>r Jugendhilfe herausgestellt wer<strong>de</strong>n. Ziel dieser frühzeitigen<br />

Einschaltung von Beratungsangeboten ist <strong>de</strong>r Wunsch nach einvernehmlichen<br />

Konzepten zwischen allen Beteiligten unter professioneller Hilfestellung.


Wie sind die Hilfeangebote <strong>de</strong>s Jugendamtes gesetzlich geregelt?<br />

Für die in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzarbeit tätigen Dienste öffentlicher <strong>und</strong> freier Träger be<strong>de</strong>utet<br />

dies eine Neuorientierung <strong>de</strong>r eigenen Arbeit. Beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung erhält<br />

diese Verfahrensvorschrift auch für die Leistungsvorschrift nach § 18 SGB VIII,<br />

wonach Eltern <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>r einen materiellen Leistungsanspruch auf Beratung <strong>und</strong><br />

Unterstützung in Fragen <strong>de</strong>s Sorge- <strong>und</strong> Umgangsrechts haben.<br />

Das Gericht kann ein Verfahren auch aussetzen, um <strong>de</strong>n Beteiligten Zeit für eine<br />

außergerichtliche Beratung <strong>und</strong> Entscheidungsfi ndung zu ermöglichen.<br />

189


190


Anhang<br />

191


Literaturhinweise<br />

14<br />

Das Verzeichnis beinhaltet eine Auswahl von Titeln zu kin<strong>de</strong>rschutzrelevanten<br />

Themen. Für speziellere <strong>und</strong> weiterführen<strong>de</strong> Literatur verweisen wir auf die Mediendatenbank<br />

IzKK <strong>de</strong>r DJI-Bibliothek unter <strong>de</strong>m Link<br />

http://bib.dji.<strong>de</strong>/scripts/cwisapi.dll?Service=ikknet&CWDURLParms=IKKNET,<br />

3,800<br />

<strong>und</strong> auf die Seite <strong>de</strong>s Nationalen Zentrums für Frühe Hilfen,<br />

http://www.fruehehilfen.<strong>de</strong><br />

1. Kin<strong>de</strong>smisshandlung / Vernachlässigung / Sexuelle Misshandlung<br />

Amann, G., Wipplinger, R. (Hg.): Sexueller Missbrauch. Überblick zu Forschung,<br />

Beratung <strong>und</strong> Therapie. Ein Handbuch. Tübingen: dgvt, 2005<br />

Bei<strong>de</strong>rwie<strong>de</strong>n, J., Windaus, E., Wolff R.: Jenseits <strong>de</strong>r Gewalt – Hilfen für misshan<strong>de</strong>lte<br />

Kin<strong>de</strong>r (2. Aufl .). Basel <strong>und</strong> Frankfurt/M: Stroemfeld/Roter Stern, 1990<br />

Benz, U. (Hg.): Gewalt gegen Kin<strong>de</strong>r. Traumatisierung durch Therapie? <strong>Berlin</strong>:<br />

Metropol Verlag, 2004<br />

Cierpka, M. (Hg.): Möglichkeiten <strong>de</strong>r Gewaltprävention. Göttingen: Van<strong>de</strong>nhoeck<br />

& Ruprecht, 2005<br />

Deegener, G., Körner, W. (Hg.): Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> Vernachlässigung. Ein<br />

Handbuch. Göttingen u.a.: Hogrefe Verlag, 2005<br />

Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Sexueller Missbrauch von Kin<strong>de</strong>rn. Dokumentation<br />

<strong>de</strong>r Nationalen Nachfolgekonferenz „Kommerzielle sexuelle Ausbeutung<br />

von Kin<strong>de</strong>rn“. Opla<strong>de</strong>n: Leske u. Budrich, 2002<br />

Deutscher Kin<strong>de</strong>rschutzb<strong>und</strong> Lan<strong>de</strong>sverband Nordrhein-Westfalen e.V., Institut<br />

für soziale Arbeit e.V., Ministerium für Frauen, Jugend, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Nordrhein-Westfalen: Kin<strong>de</strong>svernachlässigung. <strong>Erkennen</strong><br />

– Beurteilen – Han<strong>de</strong>ln. Münster <strong>und</strong> Wuppertal: Eigenverlag, 2000<br />

E<strong>de</strong>r, R.: Ich helfe dir, dich selbst zu schützen. Kin<strong>de</strong>r stark machen gegen sexuelle<br />

Übergriffe. Freiburg i.B.: Verlag Her<strong>de</strong>r, 2002<br />

Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P.: Sexueller Missbrauch, Misshandlung,<br />

Vernachlässigung. <strong>Erkennen</strong> <strong>und</strong> Therapie psychischer <strong>und</strong> psychosomatischer<br />

Folgen früher Traumatisierungen. Stuttgart: Schattauer Verlagsgesellschaft,<br />

2000 (2. Aufl age)<br />

Fegert, J.M. (Hg.): Begutachtung sexuell missbrauchter Kin<strong>de</strong>r. Fachliche Standards<br />

im juristischen Verfahren. Neuwiedt u. Kriftel: Hermann Luchterhand<br />

Verlag, 2001<br />

Helfer, M.E., Kempe, R.S., Krugman, R.D.: Das misshan<strong>de</strong>lte Kind. Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp Verlag, 2002<br />

Kindler, H., Drechsel, A. (2003): Partnerschaftsgewalt <strong>und</strong> Kin<strong>de</strong>swohl – Forschungsstand<br />

<strong>und</strong> Folgerungen für die Praxis. Das Jugendamt, 76, 217-222<br />

Klein, M. (2003): Kin<strong>de</strong>r drogenabhängiger Eltern. Fakten, Hintergrün<strong>de</strong>, Perspektiven.<br />

Report Psychologie, 28, 358-371<br />

192


Kloiber, A.: Sexueller Missbrauch an Jungen. Hei<strong>de</strong>lberg u. Kröning: Asanger Verlag,<br />

2002<br />

Körner, W., Lenz, A. (Hg.): Sexueller Missbrauch. Band 1. Göttingen u.a.: Hogrefe<br />

Verlag, 2004<br />

Petri, H.: Erziehungsgewalt. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1991<br />

Schone, R., Gintzel, U., Jordan, E., Kalkscheuer, M., Mün<strong>de</strong>r, J.: Kin<strong>de</strong>r in Not.<br />

Vernachlässigung im frühen Kin<strong>de</strong>salter <strong>und</strong> Perspektiven sozialer Arbeit. Münster:<br />

Votum, 1997<br />

Weber-Hornig, M., Kohaupt, G. (2003): Partnerschaftsgewalt in <strong>de</strong>r Familie – Das<br />

Drama <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s <strong>und</strong> Folgerungen für die Hilfe. Familie, Partnerschaft, Recht,<br />

9,315-320.<br />

Zenz, W.M., Bächer, K., Blum-Maurice, R. (Hg.): Die vergessenen Kin<strong>de</strong>r. Vernachlässigung,<br />

Armut <strong>und</strong> Unterversorgung in Deutschland. Köln: PapyRossa<br />

Verlag, 2002<br />

Ziegenhain, U., Fegert, J.M.: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> <strong>und</strong> Vernachlässigung. München,<br />

Basel: Ernst Reinhardt Verlag, 2007<br />

2. Entwicklung / Familiendynamik / Familientherapie<br />

Amendt, G.: Scheidungsväter. Wie Männer die Trennung von ihren Kin<strong>de</strong>rn erleben.<br />

Bremen: Campus Verlag, 2006<br />

Bauriedl, T.: Wege aus <strong>de</strong>r Gewalt, Analyse von Beziehungen, Freiburg, Her<strong>de</strong>r, 1992<br />

Bien, W., Hartl, A., Teubner, M. (Hg.): Stieffamilien in Deutschland. Eltern <strong>und</strong><br />

Kin<strong>de</strong>r zwischen Normalität <strong>und</strong> Konfl ikt. Opla<strong>de</strong>n: Leske <strong>und</strong> Budrich, 2002<br />

Blandow, J.: Pfl egekin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> ihre Familien. Geschichte, Situation <strong>und</strong> Perspektiven<br />

<strong>de</strong>s Pfl egekin<strong>de</strong>rwesens. Weinheim <strong>und</strong> München: Juventa Verlag, 2004<br />

B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (Hg.): Arme Familien gut beraten.<br />

Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung für Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Eltern. Fürth: B<strong>und</strong>eskonferenz für<br />

Erziehungsberatung e.V., 2004<br />

Cohen, Y.: Das mißhan<strong>de</strong>lte Kind. Ein psychoanalytisches Konzept zur integrierten<br />

Behandlung von Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Jugendlichen. Frankfurt a. M.: Bran<strong>de</strong>s & Apsel<br />

Verlag, 2004<br />

Conen, M.L. (Hg.): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfi n<strong>de</strong>n. Aufsuchen<strong>de</strong> Familientherapie.<br />

Hei<strong>de</strong>lberg: Carl-Auer, 2002<br />

Figdor, H.: Kin<strong>de</strong>r aus geschie<strong>de</strong>nen Ehen: Zwischen Trauma <strong>und</strong> Hoffnung: Wie<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Eltern die Trennung erleben. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2004<br />

Kaplan, L.: Abschied von <strong>de</strong>r Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz. Stuttgart:<br />

Klett Verlag, 1991<br />

Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum <strong>Berlin</strong> e.V.: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>. In-Beziehung-Kommen<br />

bei schwierigen Familienkonfl ikten, Eigenverlag, 2005<br />

Kovács, H., Kaltenthaler, B.: Hilfe bei ADS <strong>und</strong> ADHS. Bindlach: Gondrom Verlag,<br />

2006<br />

193


Literaturhinweise<br />

Mattejat, F., Lisofsky, B.: Nicht von schlechten Eltern. Kin<strong>de</strong>r psychisch Kranker.<br />

Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2004 (4.Aufl age)<br />

Maywald, J., Schön, B., Gottwald, B. (Hg.): Familien haben Zukunft. Reinbek bei<br />

Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2000<br />

Minuchin, P., Colapinto, J., Minuchin, S.: Verstrickt im sozialen Netz. Neue Lösungswege<br />

für Multiproblem-Familien. Hei<strong>de</strong>lberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, 2000<br />

Müller, W., Scheuermann, U. (Hrsg.): Praxis Krisenintervention – Ein Handbuch<br />

für helfen<strong>de</strong> Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pfl ege- <strong>und</strong> Rettungskräfte,<br />

Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 2004<br />

Rauchfl eisch, U.: Menschen in psychosozialer Not. Beratung, Betreuung, Psychotherapie,<br />

Van<strong>de</strong>nhoeck, 1996<br />

Richter, H.E.: Eltern, Kind <strong>und</strong> Neurose. Psychoanalyse <strong>de</strong>r kindlichen Rolle.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2003<br />

Rufo, M.: Geschwisterliebe – Geschwisterhass. Die prägendste Beziehung unserer<br />

Kindheit. München, Piper Verlag, 2004<br />

Sohni, H.: Geschwisterbeziehungen in Familien, Gruppen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Familientherapie.<br />

Göttingen, Van<strong>de</strong>nhoeck & Ruprecht, 2004<br />

Unverzagt, G.: Patchwork. Familienform mit Zukunft. München, Deutscher Taschenbuch<br />

Verlag, 2002<br />

3. Sozialpädagogisches Fallverstehen<br />

A<strong>de</strong>r, S., Schrapper, C.: Sozialpädagogische Diagnostik als fallverstehen<strong>de</strong> Analyse<br />

<strong>und</strong> Verständigung. In: Fegert, J.M., Schrapper, C. (Hg.). Handbuch Jugendhilfe<br />

– Jugendpsychiatrie. Interdisziplinäre Kooperationen. Weinheim: Juventa, 2004,<br />

S. 85-99.<br />

A<strong>de</strong>r, S., Schrapper, C., Thiesmeier, M. (Hg.): Sozialpädagogisches Fallverstehen <strong>und</strong><br />

sozialpädagogische Diagnostik in Forschung <strong>und</strong> Praxis. Münster: Votum, 2001<br />

B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (Hg.): Fremdheit in Beratung <strong>und</strong><br />

Therapie. Erziehungsberatung <strong>und</strong> Migration. Fürth: B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung<br />

e.V., 2000<br />

B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (Hg.): Online-Beratung. Hilfe im<br />

Internet für Jugendliche <strong>und</strong> Eltern. Fürth: B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung<br />

e.V., 2003<br />

Harnach-Beck, V.: Psychosoziale Diagnostik in <strong>de</strong>r Jugendhilfe. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />

Metho<strong>de</strong>n für Hilfeplan, Bericht <strong>und</strong> Stellungnahme (4. Aufl .). Weinheim: Juventa,<br />

2003<br />

Maywald, J.: Zwischen Trauma <strong>und</strong> Chance. Trennung von Kin<strong>de</strong>rn im Familienkonfl<br />

ikt. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 1997<br />

Schrapper, Ch. (Hg.): Sozialpädagogische Diagnostik <strong>und</strong> Fallverstehen in <strong>de</strong>r Jugendhilfe.<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen, Konzepte, Perspektiven. Weinheim <strong>und</strong> München:<br />

Juventa Verlag, 2004<br />

194


Literaturhinweise<br />

Stadt Dormagen (Hg.): Dormagener Qualitätskatalog <strong>de</strong>r Jugendhilfe. Ein Mo<strong>de</strong>ll<br />

kooperativer Qualitätsentwicklung. Opla<strong>de</strong>n: Leske + Budrich. 2001<br />

4. Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII<br />

Albrecht, H. J. (2004): Sozialarbeit <strong>und</strong> Strafrecht: Strafbarkeitsrisiken in <strong>de</strong>r Arbeit<br />

mit Problemfamilien. In: Deutsches Institut für Jugendhilfe <strong>und</strong> Familienrecht<br />

e.V. (Hg.). Verantwortlich han<strong>de</strong>ln – Schutz <strong>und</strong> Hilfe bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>.<br />

Saarbrücker Memorandum. Köln: B<strong>und</strong>esanzeiger Verlag, 183-228.<br />

Institut für Soziale Arbeit e.V. (ISA) (Hg.) (2006): Der Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong><br />

– Arbeitshilfe zur Kooperation zwischen Jugendamt <strong>und</strong> Trägern<br />

<strong>de</strong>r freien Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe. Münster (zugänglich unter www.kin<strong>de</strong>sschutz.com/Arbeitshilfe/<br />

arbeitshilfe%20kin<strong>de</strong>sschutz.pdf)<br />

Gerber, Christine: <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong> – Von <strong>de</strong>r Checkliste zur persönlichen<br />

Risikoabschätzung. Vortrag Fachkongress Hamburg 16.-17.02.2006, „Die Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren“,<br />

2006<br />

Meysen, T.: Kooperation beim Schutzauftrag: Datenschutz <strong>und</strong> strafrechtliche Verantwortung<br />

alles rechtens? Deutsches Institut für Jugendhilfe <strong>und</strong> Familienrecht,<br />

Hei<strong>de</strong>lberg, 2006<br />

Meysen, T., Schindler, G. (2004): Schutzauftrag bei <strong>Kin<strong>de</strong>swohlgefährdung</strong>: Hilfreiches<br />

Recht beim <strong>Helfen</strong>. Das Jugendamt, 77: 449-466.<br />

Mörsberger, T., Restemeier J. (Hg.): <strong>Helfen</strong> mit Risiko. Zur Pfl ichtenstellung <strong>de</strong>s<br />

Jugendamtes bei Kin<strong>de</strong>svernachlässigung. Dokumentation eines Strafverfahrens<br />

gegen eine Sozialarbeiterin in Osnabrück. Neuwied: Luchterhand, 1997<br />

Mün<strong>de</strong>r, J.: Untersuchung zu <strong>de</strong>n Vereinbarungen zwischen <strong>de</strong>n Jugendämtern <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>n Trägern von Einrichtungen <strong>und</strong> Diensten nach § 8a Abs. 2 SGB VIII, <strong>Berlin</strong>,<br />

BMFSFJ, 2007<br />

Wiesner, R., Schindler, G., Schmid, H.: Das neue Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilferecht.<br />

Einführung, Texte, Materialien, B<strong>und</strong>esanzeiger Verlag, 2006<br />

5. Frühe Hilfen – Familien mit Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>de</strong>rn<br />

Aly, M.: Mein Kind im ersten Lebensalter. Frühgeboren, entwicklungsverzögert,<br />

behin<strong>de</strong>rt? O<strong>de</strong>r einfach an<strong>de</strong>rs? Antworten für Eltern. <strong>Berlin</strong> u.a.: Springer Verlag,<br />

2002 (2. Aufl age)<br />

Bowlby, J.: Frühe Bindung <strong>und</strong> kindliche Entwicklung. München: Ernst Reinhardt,<br />

2001<br />

Brazelton, T.B., Greenspan, S.I.: Die sieben Gr<strong>und</strong>bedürfnisse von Kin<strong>de</strong>rn. Was je<strong>de</strong>s<br />

Kind braucht, um ges<strong>und</strong> aufzuwachsen, gut zu lernen <strong>und</strong> glücklich zu sein.<br />

Weinheim: Beltz, 2002<br />

Brisch, K.H.: Bindungsstörungen. Von <strong>de</strong>r Bindungstheorie zur Therapie. Stutt-gart:<br />

Klett-Cotta, 1999<br />

195


Literaturhinweise<br />

Dornes, M.: Der kompetente Säugling: Die präverbale Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen.<br />

Frankfurt/Main: Fischer, 1996<br />

Dornes, M.: Die emotionale Welt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag,<br />

2000<br />

Erickson, M.F. / Egeland, B.: Die Stärkung <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Bindung. Frühe Hilfen<br />

für die Arbeit mit Eltern von <strong>de</strong>r Schwangerschaft bis zum zweiten Lebensjahr<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durch das STEEP-Programm. Stuttgart: Klett-Cotta, 2006<br />

Fegert, J.M., Ziegenhain U. (Hg.): Hilfen für Alleinerziehen<strong>de</strong>. Die Lebenssituation<br />

von Einelternfamilien in Deutschland. Weinheim: Beltz, 2003.<br />

Fraiberg, S.: Die magischen Jahre <strong>de</strong>r Persönlichkeitsentwicklung <strong>de</strong>s Vorschulkin<strong>de</strong>s,<br />

Campe Paperback, 1996<br />

Grossmann, K., Grossmann, K.E.: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta, 2004<br />

Kaplan., L.: Die zweite Geburt. Die ersten Lebensjahre <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, Pieper Verlag,<br />

1993<br />

Largo, R.: Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Piper<br />

Verlag, 2000<br />

Papousek, M., Schieche, M., Wurmser, H.: Regulationsstörungen <strong>de</strong>r frühen Kindheit.<br />

Frühe Risiken <strong>und</strong> Hilfen im Entwicklungskontext <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehungen.<br />

Bern: Huber, 2004<br />

Spitz, R.: Vom Säugling zum Kleinkind, Klett Verlag, Stuttgart, 1976<br />

Verein für Kommunalwissenschaften (Hg.): It Takes Two to Tango. Konzepte <strong>und</strong><br />

Mo<strong>de</strong>lle zur Früherkennung von Entwicklungsgefährdungen bei Säuglingen <strong>und</strong><br />

Kleinkin<strong>de</strong>rn. <strong>Berlin</strong>: Eigenverlag, 2004<br />

Ziegenhain, U., Fries, M., Bütow, B., Derksen, B.: Entwicklungspsychologische<br />

Beratung für junge Eltern. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Handlungskonzepte für die Jugendhilfe.<br />

Weinheim <strong>und</strong> München: Juventa, 2.Aufl ., 2006<br />

196


Literaturhinweise<br />

Eine Auswahl hilfreicher Internetadressen<br />

B<strong>und</strong>eskonferenz für Erziehungsberatung:<br />

www.bke.<strong>de</strong><br />

B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend:<br />

www.bmfsfj.<strong>de</strong><br />

Das Familienhandbuch <strong>de</strong>s Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP):<br />

www.familienhandbuch.<strong>de</strong><br />

Deutsches Jugendinstitut:<br />

www.dji.<strong>de</strong><br />

Die Deutsche Gesellschaft gegen Kin<strong>de</strong>smisshandlung <strong>und</strong> -vernachlässigung<br />

(DGgKV) e.V.:<br />

www.dggkv.<strong>de</strong><br />

Die Deutsche Liga für das Kind:<br />

www.liga-kind.<strong>de</strong><br />

Die Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren:<br />

www.kin<strong>de</strong>rschutz-zentren.org<br />

Familienwegweiser <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend:<br />

www.familienwegweiser.<strong>de</strong><br />

Nationales Zentrum Frühe Hilfen:<br />

www.fruehehilfen.<strong>de</strong><br />

197


Autorinnen <strong>und</strong> Autoren<br />

15 Dr. Ute Benz<br />

analytische Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendlichen-Psychotherapeutin seit 1980 in freier Praxis,<br />

psychoanalytische Paar- <strong>und</strong> Familientherapeutin, Supervisorin, Dozentin,<br />

Lehrbeauftragte an <strong>de</strong>r TU <strong>Berlin</strong>, 1. Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>Berlin</strong>er Arbeitskreises für<br />

Beziehungsanalyse (BAB), zahlreiche Publikationen zu historisch-politisch-psychologischen<br />

Problemen.<br />

(Kapitel 12).<br />

Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle<br />

Ärztlicher Direktor <strong>de</strong>r Psychosomatischen Klinik Gengenbach. Wissenschaftliche<br />

<strong>und</strong> klinische Schwerpunkte: Langzeitfolgen frühkindlicher Stresserfahrungen,<br />

psychosomatische Schmerztherapie, somatoforme Störungen, Fibromyalgie,<br />

chronisch craniomandibuläre Dysfunktion, psychosoziale Faktoren in <strong>de</strong>r Entstehung<br />

<strong>und</strong> Verarbeitung von Schilddrüsenerkrankungen <strong>und</strong> Diabetes mellitus sowie<br />

schulenübergreifen<strong>de</strong> Psychotherapieforschung.<br />

(Kapitel 8).<br />

Dr. Jochen Hardt<br />

Diplom-Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an <strong>de</strong>r Abt. Medizinische Psychologie<br />

<strong>und</strong> Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Mainz. Forschungsschwerpunkte:<br />

Langzeitfolgen von Kindheitsbelastungen, Eltern-Kind-Beziehung,<br />

Prävention, Fragebogenkonstruktion, Lebensqualität, Forschungsmetho<strong>de</strong>n.<br />

(Kapitel 8).<br />

Prof. Dr. jur. Hubertus Lauer<br />

Professor für Familien- <strong>und</strong> Jugendrecht an <strong>de</strong>r Fachhochschule Lüneburg <strong>und</strong> Vizepräsi<strong>de</strong>nt<br />

<strong>de</strong>s Deutschen Kin<strong>de</strong>rschutzb<strong>und</strong>es e.V. (DKSB).<br />

(Kapitel 13, Aufgaben <strong>de</strong>s Jugendamtes).<br />

Prof. Dr. med. Ute Thyen<br />

Oberärztin <strong>und</strong> stellvertreten<strong>de</strong> Klinikdirektorin <strong>de</strong>r Klinik für Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendmedizin,<br />

Universität zu Lübeck, Leiterin <strong>de</strong>s Sozialpädiatrischen Zentrums.<br />

Seit 1995 auch Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kuratoriums <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrums Lübeck<br />

als Vertreterin <strong>de</strong>r Klinik für Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendmedizin in diesem Gremium <strong>und</strong><br />

seit Oktober 2005 Vorstandsmitglied <strong>de</strong>r Deutschen Liga für das Kind e.V. <strong>Berlin</strong>.<br />

Seit 2008 ist sie auch die Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wissenschaftlichen Beirates <strong>de</strong>s Nationalen<br />

Zentrums Frühe Hilfen für das BMFSFJ, vertreten durch das Deutsche Jugendinstitut<br />

(DJI) <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>eszentrale für ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung (BZgA).<br />

(Kapitel 7).<br />

198


Prof. Dr. jur, Dr. rer. soc. h.c., Reinhard Wiesner<br />

Leiter <strong>de</strong>s Referats Rechtsfragen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe im B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend, <strong>Berlin</strong>,<br />

Honorarprofessor an <strong>de</strong>r Freien Universität <strong>Berlin</strong> – Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />

<strong>und</strong> Psychologie.<br />

Herausgeber eines Kommentars zum SGB VIII – Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilfe – (3.<br />

Aufl . 2006) <strong>und</strong> Mitherausgeber <strong>de</strong>s Handbuchs Mün<strong>de</strong>r/Wiesner Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilferecht<br />

(2007) sowie <strong>de</strong>r Zeitschrift für Kindschaftsrecht <strong>und</strong> Jugendhilfe<br />

(ZKJ). Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Fachkonferenz „Gr<strong>und</strong>satz- <strong>und</strong> Strukturfragen“ <strong>de</strong>s<br />

Deutschen Instituts für Jugendhilfe <strong>und</strong> Familienrecht. Zahlreiche Publikationen<br />

zum Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendhilferecht <strong>und</strong> zum Kindschaftsrecht.<br />

(Kapitels 13, Schutzauftrag).<br />

Autorinnen <strong>und</strong> Autoren <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrums <strong>Berlin</strong> e.V.<br />

Thorsten Bloedhorn<br />

Diplom-Psychologe, Mitarbeiter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rwohngruppe<br />

(Trennung als Chance in Kapitel 10).<br />

Peter Ellesat<br />

Diplom-Pädagoge, analytischer Kin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Jugendlichenpsychotherapeut <strong>und</strong><br />

psychoanalytischer Paar- <strong>und</strong> Familientherapeut. Tätigkeitsschwerpunkte im Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentrum:<br />

Familienberatung, Fachberatung.<br />

(Kapitel 2, 10, Teile von Kapitel 6, Überarbeitung von Kapitel 4 <strong>und</strong> 5).<br />

Friedrich Herm<br />

Diplom-Psychologe, Familienberater<br />

(Fallbeispiel in Kapitel 6).<br />

Elisabeth-Charlotte Knoller<br />

Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv).<br />

Tätigkeitsschwerpunkte: Familienberatung, Fortbildung.<br />

(Kapitel 9).<br />

Georg Kohaupt<br />

Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut. Tätigkeitsschwerpunkte:<br />

Familienberatung, Fortbildung. Im Vorstand von Die Kin<strong>de</strong>rschutz-Zentren.<br />

(Kapitel 1).<br />

199


Autorinnen <strong>und</strong> Autoren<br />

Dr. Christine Maihorn<br />

Dr. phil., Diplomphilosophin, psychoanalytische Paar- <strong>und</strong> Familienberaterin.<br />

Tätigkeitsschwerpunkte: Familienberatung, Fortbildung<br />

(Kapitel 11, Überarbeitung von Kapitel 4 <strong>und</strong> 5).<br />

Dr. Elke Nowotny<br />

Dr. paed., Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Tätigkeitsschwerpunkte:<br />

Familienberatung, Fortbildung, Fachberatung.<br />

(Kapitel 3, Teile von Kapitel 6).<br />

Bildnachweis<br />

Milton Keynes, New York (The Open University Press) 1978, Plate 3: Bild 1<br />

Der Polizeipräsi<strong>de</strong>nt in <strong>Berlin</strong> (West): Bild 2<br />

Hull, D.: The Medical Diagnosis, in: Carter, J. (Ed.): The Maltreated Child.<br />

London (Priory Press) 1973: Bild 3<br />

Titelseite: Skulpturen Ute Benz, Originalfotographie Holger Petsch<br />

200


201


Notizen<br />

202


Notizen<br />

203


Notizen<br />

204


Notizen<br />

205


Notizen<br />

206


Notizen<br />

207


Geför<strong>de</strong>rt von:<br />

ISBN 978-3-00-026625-6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!