Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Prolog<br />
Er war völlig durchnässt, die Haare klebten an seinem Kopf,<br />
die Hose hing zerrissen herunter, die Schnürsenkel fehlten seinen<br />
Schuhen und das schlechte Gewissen gegenüber seiner Frau und den<br />
Kindern, trieb ihn zur schieren Verzweiflung, einer Verzweiflung,<br />
die ihn innerlich zerfraß. Wieder einmal, wie fast täglich stand<br />
er mit leeren Händen da und wusste nicht, wie er dies den Seinen<br />
erklären sollte. Langsam öffnete er die Tür.<br />
»Hast du was bekommen Juri?«<br />
»Nein Anna, nichts.« Als ich um zwei Uhr morgens ankam, war<br />
die Schlange schon über hundert Meter lang und um sechs Uhr<br />
morgens gabs kein Brot mehr.<br />
»Was soll ich denn nur den Kindern sagen, sie hungern seit<br />
Tagen?«<br />
»Ich weiß es nicht, aber so kann es nicht weitergehen.<br />
Irgendetwas muss geschehen, und zwar bald.«<br />
1
Boris Michailow 1916 -1945<br />
Wie ein riesiges undurchlässiges Tuch lag der Dunst über der<br />
Stadt und drückte die kohlegeschwängerten Gase der Großindustrie<br />
ins Innere der Häuser. Es schien, als sei gar nichts mehr in<br />
Ordnung, als Boris Michailow im Frühjahr 1916 in St. Petersburg<br />
in seiner Werkstatt saß, und seinen neuesten Chronometer<br />
betrachtete, den er eben fertig zusammengebaut hatte. Plötzlich<br />
zerbarst eine Fensterscheibe und ein in ein Papier eingewickelter<br />
Stein lag vor ihm. Vorsichtig griff er danach, wickelte den Stein<br />
aus und erblickte Geschriebenes. Er klemmte das Monokel vors Auge<br />
und las: Ihr solltet allesamt vor die Hunde gehen. Angst hing in<br />
der Luft und sie schien mit riesigen Tentakeln nach ihm zu<br />
greifen. Er kam sich vor wie auf einem Vulkan sitzend, in dessen<br />
Innerem es brodelt und dampft und die Eruption kurz bevorsteht.<br />
Aber noch konnte er sich retten.<br />
Seit 1914 hieß die Stadt eigentlich Petrograd, aber damit<br />
wollte sich niemand so richtig anfreunden, auch Boris nicht.<br />
Obwohl er über vierhundert Mitarbeiter beschäftigte, ließ er<br />
es sich nicht nehmen, ab und zu selbst Hand anzulegen. <strong>Die</strong><br />
Uhrenmanufaktur der Michailows war denn auch die größte im ganzen<br />
Zarenreich und wurde bereits zu seines Vaters Zeiten zur<br />
Hofmanufaktur ernannt, worin sich neben der hervorragenden<br />
Qualität, auch ihr Erfolg begründete.<br />
Nicht der Krieg allein, der im Zarenreich wütete, machte Boris<br />
Angst, sondern vor allem die politische Instabilität im eigenen<br />
Lande. In fast ganz Europa dominierte der Adel und spuckte<br />
verächtlich auf die kleinen Leute. Eine Obrigkeit, die nicht auf<br />
Grund ihres Könnens oder der Intelligenz das Sagen hatte, sondern<br />
allein ihrer Herkunft wegen. Boris machte nicht den Fehler, wie<br />
viele seiner Landsleute, die Bolschewiken, und die damit<br />
einhergehenden Unruhen, zu unterschätzen. <strong>Die</strong> dauernden Streiks,<br />
die größtenteils auf ihr Konto gingen, ließen jedoch die<br />
Unzufriedenheit der Bevölkerung klar zu Tage treten. Eine<br />
2
Unzufriedenheit, die Boris durchaus nachvollziehen konnte, war er<br />
doch einer von wenigen, die in ihrem eigenen Haus Ordnung<br />
geschaffen, und das Wohl der Arbeiter an erste Stelle stellten,<br />
was sich auch auszahlte, so glaubte er jedenfalls.<br />
Er wusste nur zu genau, wie es um das Los der Arbeiter<br />
bestellt war, und führte deshalb bereits 1910 die Fünfzigstunden-<br />
und Fünftagewoche ein, obwohl er von allen Seiten dafür belächelt<br />
wurde. Vielfach bezeichnete man ihn sogar als Verräter an der<br />
herrschenden Klasse, was ihn zum Außenseiter machte. Doch jeden,<br />
der für die Michailows arbeiten durfte, erfüllte dies mit<br />
besonderem Stolz.<br />
Da die Automation, besonders im Uhrenhandwerk, noch in den<br />
Kinderschuhen steckte, beschäftigten die Michailows praktisch<br />
ausschließlich gut ausgebildete Facharbeiter, welche an ihren<br />
Tischen mit den runden Ausschnitten und Lupen auf der Stirn, Uhr<br />
für Uhr herstellten. Jedes einzelne Teil wurde von Hand<br />
gefertigt, und so dauerte es oft Wochen, bis eine fertige Uhr die<br />
Manufaktur verlassen konnte.<br />
Boris war nie selbst politisch aktiv, aber er verfolgte die<br />
Entwicklung mit Argusaugen, vielleicht mehr, als ein<br />
eingefleischter Politiker, oder wie auch immer sich die führenden<br />
Köpfe dieser Zeit nannten. Er führte auch viele Gespräche, sowohl<br />
mit Arbeitern, wie mit angesehenen Leuten, und konnte sich<br />
deshalb durchaus ein Bild der momentanen Lage machen. Gleichwohl<br />
musste er Vorsicht walten lassen, denn die gefürchtete<br />
Geheimpolizei des Zaren hatte ihre Ohren überall. Er wusste, dass<br />
auf jeder Veranstaltung, die er besuchte, des Zaren Spitzel<br />
eingeschleust waren und es vernünftiger schien, nicht jedermann<br />
mit der schrecklichen Wahrheit zu konfrontieren. Eins jedoch sah<br />
er genau, so konnte es keinesfalls weitergehen, sonst würde<br />
Mütterchen Russland einen gewaltsamen Tod erleiden.<br />
Boris war davon überzeugt, dass die Tage des Zaren gezählt<br />
waren, mochte sich dieser auch noch so dagegen zur Wehr setzen,<br />
3
denn mit schöner Regelmäßigkeit, schlüpften die Aufmüpfigen immer<br />
öfter durch die Maschen der so gefürchteten Geheimpolizei. Auch<br />
das Zauberwort Sibirien, schien diese Leute nicht abzuschrecken,<br />
ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es wurden verschiedene<br />
Untergrundorganisationen gegründet, denen die Geheimpolizei nur<br />
schlecht beikam, und wenn sie es dennoch schaffte, entstand<br />
gleich eine neue Zelle. <strong>Die</strong> Wirren des Krieges schickten denn<br />
auch Wasser auf die Mühlen dieser Oppositionellen, die an der<br />
mittlerweile dreihundertjährigen Diktatur der Romanows, kein<br />
gutes Haar ließen. Auch sein eigenes Haus war schon<br />
verschiedentlich Ziel von Attacken, und so jede Woche, mussten<br />
auch wieder einmal ein paar Fensterscheiben ersetzt werden. Der<br />
Pöbel ging sogar so weit, gewaltsam ins Haus einzudringen, aber<br />
Boris konnte dies bisher, dank seiner vier Wachleute, verhindern.<br />
Sorgen bereiteten ihm aber auch seine über vierhundert<br />
Mitarbeiter, die er beschäftigte und ihre Familien, die dahinter<br />
standen und deren Broterwerb er begründete. Viele von ihnen<br />
verdankten ihm ihren bescheidenen Wohlstand und Boris war immer<br />
darauf bedacht, diesen zu mehren.<br />
Er hatte das von seinem Vater gegründete Unternehmen in den<br />
letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut, und es gehörte zu<br />
St.Petersburg wie eine Institution. Er unterhielt zwei Werke. Im<br />
ersten wurden Taschenuhren, im anderen Wand- und Tischuhren<br />
gefertigt. Jeder in St. Petersburg, der es sich leisten konnte,<br />
war stolz darauf, eine Michailow Uhr zu besitzen. Gerade in den<br />
letzten beiden Jahren vervielfachte sich der Absatz seiner Uhren,<br />
während die Arbeiter und Bauern unter massiver Teuerung litten.<br />
Überhaupt stieg die Nachfrage für Luxusgüter seit Beginn des<br />
Krieges.<br />
<strong>Die</strong>s alles drohte jetzt den Bach runter zu gehen und nur wegen<br />
ein paar unverbesserlicher Fanatiker, die mit ihren<br />
unrealistischen Parolen das Volk aufhetzten. Bereits bei den<br />
Unruhen 1905, schlugen einige kluge Köpfe dem Zaren vor, dringend<br />
Reformen einzuleiten, was dieser mit seiner dummen Arroganz mit<br />
schöner Regelmäßigkeit abwürgte, und er in dieser Ansicht bei<br />
vielen Speichelleckern noch Unterstützung fand.<br />
4
Sein Vater war wegen seiner Verdienste 1872 vom Zaren geadelt<br />
worden, und ein Michailow zu sein, bedeutete fortan etwas, aber<br />
wie lange noch? Boris dachte nicht daran, sich künftig sein Leben<br />
von einer Horde grenzenloser Fanatiker und Barbaren diktieren zu<br />
lassen, und er hielt auch nichts von Klassenkämpfen, da ihm dies<br />
wider die menschliche Natur ging.<br />
Auch er hatte die Thesen von Karl Marx gelesen und konnte sich<br />
mit einigen Passagen durchaus anfreunden, doch entstand bei ihm<br />
die feste Überzeugung, dass dieses Manifest, in den Händen dieser<br />
Fanatiker, mehr Schaden anrichtet, besonders, wenn es falsch<br />
ausgelegt wurde, und dass genau dies geschehen konnte, dessen war<br />
er sich sicher.<br />
So saß er nun da und überlegte, in diesem Labyrinth den<br />
Ausgang zu finden, ohne allzu viel Not und Bitterkeit in seinem<br />
Innern zu hinterlassen. Sein Vater hatte 1905 das Zeitliche<br />
gesegnet, und seither führte Boris das Unternehmen im Alleingang,<br />
denn Brüder hatte er keine, nur zwei Schwestern und Frauen wurden<br />
nicht zur Nachfolge zugelassen.<br />
Boris war jetzt sechsunddreißig. Er fing damals gleich nach<br />
der Schule im Betrieb seines Vaters an und lernte das<br />
Uhrmacherhandwerk von der Pike auf. 1902 schickte ihn sein Vater<br />
für zwei Jahre in die Schweiz, um von den dortigen Größen zu<br />
lernen, und seine Fertigkeit zu perfektionieren, und er erwog den<br />
Gedanken, genau dorthin zurückzukehren, weil er wusste, dass er<br />
den dortigen Koryphäen in keinster Weise nachstand, weder in<br />
puncto Kreativität noch Exaktheit. <strong>Die</strong> Reise war schon damals<br />
beschwerlich, und Boris wagte nicht daran zu denken, wie diese<br />
inmitten der hässlichen Kriegswirren verlaufen würde.<br />
Und da war auch noch seine Frau Olga, die so sehr in den<br />
adligen Festivitäten aufging, welche fast täglich stattfanden und<br />
nicht davon wegzulocken war, ohne dass man sie gewaltsam von<br />
diesen Wurzeln trennte, und genau dies wollte er tunlichst<br />
vermeiden. Jedes Gespräch, welches in diese Richtung lief, wurde<br />
von Olga jeweils durch einen heftigen Weinkrampf unterbrochen,<br />
sie wehrte sich, wie wenn es ihr Leben zu verteidigen galt. Doch<br />
5
Boris war sich sicher, dass er handeln musste, wenn er das<br />
Lebenswerk seines Vaters, welches mittlerweile auch sein eigenes<br />
war, retten wollte.<br />
Auf eben einem dieser Feste hatte er Olga 1908 kennengelernt.<br />
Sie war die Tochter eines Grafen, der in den <strong>Die</strong>nsten des Zaren<br />
stand, und es gereichte Boris zur Ehre, ihr den Hof machen zu<br />
dürfen, insbesondere weil sie auch noch ein anmutiges Äußeres<br />
besaß. Es stellte sich dann heraus, dass hinter der Fassade des<br />
adligen Geschlechtes nichts weiter steckte, als dauernde<br />
Geldnöte, in denen Olgas Vater zu versinken drohte und schon bald<br />
war sonnenklar, wer hier die gute Partie machen würde. <strong>Die</strong><br />
Mitgift fiel denn auch mehr als bescheiden aus und kaum<br />
erwähnenswert, als er Olga 1911 vor den Traualtar führte, denn<br />
das Haus des Grafen stand vor der Zwangsversteigerung und konnte<br />
nur mit Boris Mitteln gerettet werden. Der feine Herr kam dann<br />
auch des Öfteren bettelnd angekrochen wie ein Hund, der gerade<br />
eine Tracht Prügel bezogen hatte.<br />
1913 wurde Olga schließlich schwanger und gebar ihm anfangs<br />
1914 einen Sohn, den sie Boris nannten. Dank dem Geld von Boris,<br />
wurde der Kleine gleich in die Obhut eines Kindermädchens<br />
gebracht, damit Olga weiter ihren so wichtigen gesellschaftlichen<br />
Verpflichtungen, wie sie es nannte, nachgehen konnte. Jeden<br />
Morgen aalte sie sich in ihrem Bett wie eine göttliche Diva, bis<br />
man ihr zwischen zehn und halb elf den Tee servierte, den sie<br />
achtlos hinunterstürzte, um sich danach von einer Zofe, in ihre<br />
bereiften Kleider helfen zu lassen, Kleider, die sie sich ohne<br />
Boris gar nicht hätte leisten können. Nach dem Mittagessen,<br />
welches gegen ein Uhr eingenommen wurde, ging das Ganze dann<br />
wieder von vorne los. Auch die Finanzen des Grafen schienen sich<br />
vorerst zu erholen, um drei Jahre später wieder vor dem Abgrund<br />
zu stehen, aber trotz Zureden von Olga, konnte dieser kein<br />
zweites Mal mit Boris Hilfe rechnen.<br />
***<br />
6
Igor Kapajev war ein Mann von kleiner Statur mit üblichem<br />
Respektbalken unter der Nase, den er des Nachts immer unter einer<br />
Binde versteckte. Mit seinen stechenden Augen, konnte er seine<br />
Diskussionspartner regelrecht löchern, und sie förmlich zu<br />
Zugeständnissen zwingen. Er wuchs mit drei Schwestern wohlbehütet<br />
auf, und galt als besonders cleverer Geschäftsmann, der auch<br />
Neuerungen keineswegs ablehnend gegenüberstand. Gleich Boris<br />
hatte auch er die Firma seines Vaters übernommen, ein großes<br />
Werk, welches Lokomotiven und Eisenbahnwaggons herstellte, und<br />
deren Nachfrage nach Ausbruch des Krieges ständig stieg. <strong>Die</strong><br />
Armee des Zaren verfügte über die erstaunliche Anzahl von sechs<br />
Millionen Mann und diese mussten irgendwie an die Front gelangen.<br />
Sein Werk wurde von immer wiederkehrenden Streiks heimgesucht und<br />
die Lösung dieses Problems bestand darin, dass man die<br />
streikenden Arbeiter kurzerhand an die Front schickte, und sie<br />
damit den deutschen Kanonen zum Fraß vorwarf. Außer der<br />
zahlenmäßigen Überlegenheit hatte die russische Armee denn auch<br />
nichts vorzuweisen, was sie auch nur im Entferntesten<br />
berechtigte, in diesem fürchterlichen Krieg mitzumischen. Nur ein<br />
kleiner Bruchteil der Soldaten verfügte überhaupt über eine<br />
soldatische Ausbildung. <strong>Die</strong> Waffen, die sie benutzten, waren<br />
veraltet, litten großteils an Ladehemmungen und die Kanonen<br />
gehörten bestenfalls ins nächste Museum. Dazu kamen die<br />
Offiziere, die schon allein ihrer Herkunft wegen, seit Geburt<br />
diesen Titel trugen und vom Kriegshandwerk so viel verstanden,<br />
wie ein Bauer vom Rosenzüchten. Das Problem wurde dadurch gelöst,<br />
indem man Soldaten, welche die stumpfsinnigen Befehle<br />
missachteten, kurzerhand erschoss oder an den nächsten Galgen<br />
hängte. Wer also nicht unter feindlichen Kugeln erstickte, wurde<br />
von den eigenen Leuten beseitigt. Zu allem Übel waren es immer<br />
wieder Igors beste Arbeiter, die auf diesem Weg an die Front<br />
kamen, und so bekundete er bald einmal größte Mühe, die<br />
geforderte Produktion aufrechtzuerhalten.<br />
Seit 1913 war er Mitglied der Duma, einer grauenhaften<br />
Ansammlung arroganter Zeitgenossen, und dort dem liberalen Flügel<br />
7
zugehörig. Igor war kein Anhänger des Zaren, dessen<br />
unvorstellbare Ignoranz und Dummheit er hasste. Trotzdem fühlte<br />
er sich der herrschenden Oberschicht näher, als seinen Arbeitern.<br />
Sein bester Freund war Boris, der auch einer der Einzigen war,<br />
der ihm die Stirn bot. Aber er glaubte sich sicher, dass nichts<br />
von den nächtelangen Diskussionen, die sie pflegten, je nach<br />
außen drang. Seit dem Aufstand 1905, der so blutig<br />
niedergeschlagen wurde, hatte der Zar seine Geheimpolizei, und<br />
insbesondere sein Spitzelnetz, beträchtlich ausgebaut, sodass es<br />
sogar in der Oberschicht immer schwieriger wurde, ein offenes<br />
Wort zu wechseln.<br />
Igor teilte Boris‘ Ansicht, dass das letzte Stündchen des<br />
ungeliebten Herrschers längst geschlagen hatte, teilte aber<br />
dessen Meinung mit der drohenden Anarchie für Mütterchen Russland<br />
nicht. Für ihn war klar, die Macht im Staate würde von einer<br />
Gruppe intelligenter Köpfe übernommen, wenn denn der Zar einmal<br />
entfernt wäre und die Oberschicht ließe sich das Zepter nicht so<br />
einfach aus der Hand nehmen.<br />
Igor war der einzige Außenstehende, der von Boris‘ Plänen<br />
wusste und dieses Vorhaben, gab immer wieder Anlass zu<br />
kontroversen Diskussionen der beiden. Immerhin folgte er Boris,<br />
indem er die Fünfzigstundenwoche einführte, und staunte, dass die<br />
Streiks im gleichen Moment stark nachließen. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />
bekräftigte ihn, sich inskünftig vermehrt für Reformen<br />
einzusetzen, mit denen er aber in der Duma gegen Windmühlen<br />
kämpfte. Hinzu kam der Umstand, dass der Zar das Parlament<br />
kurzerhand aufzulösen pflegte, wenn sich dieses wiedereinmal<br />
allzu reformfreudig zeigte. In einem Punkt schien er sich mit<br />
Boris einig, der Zar musste weg, um den Fortbestand von Russland<br />
zu sichern, doch die Gefahr, die darin bestand, verschloss sich<br />
seinem geistigen Auge und den Argumenten seines Freundes. So war<br />
es denn keineswegs verwunderlich, dass Igor die Pläne von Boris<br />
ins Reich der Absurdität verwies.<br />
Am Freitag dem 19. Mai 1916 geschah dann das Unfassbare. Igor<br />
war auf dem Weg zu seinem Werk, als er hinter sich Schritte<br />
8
hörte. Er schaute sich um und sah zehn Männer, angeführt von<br />
einem Sergeanten, allesamt mit Schlagstöcken und Gewehren<br />
bewaffnet. Igor stellte sich ihnen in den Weg.<br />
»Was wollt ihr auf dem Werksgelände?«, fragte er den Anführer.<br />
»Das geht Euch einen Scheißdreck an!«, murrte der Sergeant.<br />
»Und ob mich das was angeht. Das ist mein Gelände und ihr<br />
haben hier nichts zu suchen.«<br />
»Wir suchen vier Deserteure, und die sind hier gesehen<br />
worden.«<br />
»Und wer sagt euch, dass es Deserteure sind?«<br />
»Das wissen wir.«<br />
Igor wusste, dass er vor drei Tagen vier ehemalige Arbeiter<br />
eingestellt hatte, die 1915 von der Armee eingezogen wurden,<br />
Männer, die seit Jahren für ihn arbeiteten. In der Märzoffensive<br />
1916 waren sie von ihren Offizieren, mit der Pistole im Rücken,<br />
auf den Feind gehetzt worden. Längst hatte man aufgehört, die<br />
Gefallenen und Verletzten dieser unbeschreiblich arroganten<br />
Dummheit zu zählen. Er beschloss sie nicht einfach kampflos dem<br />
Galgen preiszugeben, da sich die Stimmen mehrten, diesen Krieg,<br />
der nie gewonnen werden konnte, zu beenden.<br />
»Auf diesem Gelände sind nur mir bekannte Arbeiter und jetzt<br />
verschwindet.«<br />
Weg.«<br />
»Tut mir leid, wir müssen das Werk durchsuchen. Geht aus dem<br />
Doch Igor dachte gar nicht daran den Weg freizumachen und<br />
stellte sich demonstrativ vor den Polizisten.<br />
»Ich sage es jetzt zum letzten Mal, aus dem Weg.«<br />
Igor wusste um seine kleine Statur, und dass er damit nicht<br />
viel Eindruck schinden konnte, trat aber keinen Schritt beiseite.<br />
Noch ehe er sich's versah, schlug der Polizist ihm den Knüppel<br />
über den Schädel. Igor schrie auf, sackte zusammen und sah gerade<br />
noch, wie der Trupp in seinem Werk verschwand. Langsam rappelte<br />
er sich auf und machte sich auf den Weg zum Eingang. Sein Kopf<br />
schmerzte entsetzlich, er blutete und sein Gesicht war voll<br />
Kohlestaub. Er öffnete die Tür und lautes Geschrei drang an seine<br />
Ohren. Etwa zwanzig Männer stellten sich den Polizisten entgegen,<br />
9
doch diese fackelten nicht lange. Sie entsicherten ihre Gewehre<br />
und begannen auf die Männer zu schießen und nach kurzer Zeit<br />
lagen acht blutend am Boden. <strong>Die</strong> Restlichen wurden<br />
zusammengetrieben und abgeführt.<br />
Was Igor aber am meisten nervte, war, dass er nichts tun<br />
konnte. Ohnmächtig musste er zusehen, wie seine Männer kaltblütig<br />
erschossen wurden, und was mit den anderen passierte, konnte er<br />
sich denken. Traurig und irritiert setzte er sich in sein Büro<br />
und dachte nach. Es muss doch einen Weg geben, diesem Irrsinn<br />
Einhalt zu gebieten? <strong>Die</strong> Idee, die er in der Folge hatte, sollte<br />
sein Leben verändern.<br />
***<br />
Im Sommer 1904, kurz nach seiner Rückkehr aus der Schweiz,<br />
gebar Boris eine Idee besonderer Art. Es handelte sich eine Uhr,<br />
die man am Handgelenk tragen konnte. So ein kleines und flaches<br />
Uhrwerk zu bauen, erforderte sein ganzes Geschick, aber er war<br />
bereits damals überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Er<br />
packte die zwei Uhren in eine Schatulle, die er eigens dafür<br />
gefertigt hatte, und machte sich damit auf den Weg zum Hof.<br />
Normalerweise müsste der Zar eigentlich Zeit haben, denn außer<br />
Schwimmen und einfältige Sätze in sein Tagebuch zu schreiben, die<br />
gewöhnlich aus drei Worten bestanden, wie er aus Hofkreisen<br />
erfahren hatte, tat dieser Zar eigentlich den ganzen Tag nichts.<br />
Da er ein gern gesehener Gast am Hofe war, bereitete es ihm keine<br />
Mühe, an den Palastwachen vorbeizukommen. Mit eiligen Schritten<br />
stieg er die breite Treppe empor, als ihm die Zarin begegnete. Er<br />
verneigte sich.<br />
»Was führt Euch denn her mein lieber Boris?«, fragte die<br />
Zarin. Sie war eine hessische Prinzessin, die es an den<br />
russischen Hof schaffte und dies mit Sicherheit nicht ihrer<br />
Klugheit wegen, denn sie war noch dümmer als der Zar selbst. Ihr<br />
geistiger Horizont schaffte es gerade mal bis zu ihren<br />
Augenwimpern.<br />
10
hat?«<br />
»Ich möchte gern den Zaren sprechen, ob er vielleicht Zeit<br />
»Ich glaube das lässt sich einrichten, was habt Ihr denn<br />
Schönes?«<br />
»Ach, nur eine neue Uhr.«<br />
Jetzt war das Interesse der Zarin geweckt, denn sie liebte<br />
Schmuck über alles und Uhren gehörten zweifellos dazu. Boris<br />
öffnete die Schatulle in der sich eine Damen- und<br />
Herrenarmbanduhr befanden. <strong>Die</strong> Zarin begann zu kichern wie ein<br />
kleines Mädchen, dem man ein paar Süßigkeiten vor die Nase hielt.<br />
»Sind die schön«, kam es über ihre Lippen. »Wo trägt man denn<br />
sowas?«<br />
Wahrscheinlich um den Hals, dachte Boris, riss sich aber im<br />
letzten Moment zusammen und sagte: »Ums Handgelenk«<br />
»Ums Handgelenk?«, echote die Zarin, »darauf wäre ich nie<br />
gekommen. Ihr meint wie ein Armband?«<br />
Wie blöd ist diese Person eigentlich, dachte Boris, ließ sich<br />
aber nichts anmerken. <strong>Die</strong> Zarin nahm die kleinere der beiden<br />
Uhren heraus und hielt sie sich ans Handgelenk.<br />
»Darf ich Durchlaucht helfen«, fragte Boris.<br />
»Ja, bitte.«<br />
Boris hatte bei beiden Uhren Lederarmbänder verwendet und<br />
plötzlich fragte die Zarin. »Könnte man hier nicht Goldarmbänder<br />
montieren?<br />
»Sicher«, meinte Boris, »es sind ja auch nur Muster, die<br />
zeigen sollen, dass man eine Uhr auch am Handgelenk tragen kann.«<br />
»Ach so«, meinte die Zarin. Sie behielt die Uhr an ihrem<br />
Handgelenk, wie wenn sie bereits ihr Eigentum wäre, und bat<br />
Boris, ihr zu folgen. Nach einer weiteren Treppe standen sie vor<br />
einer großen mit Ornamenten verzierten Tür, durch die gut und<br />
gern ein ganzes Pferdefuhrwerk gepasst hätte, und die Zarin<br />
öffnete. Der Zar saß an einem kleinen Schreibtisch und schrieb<br />
wahrscheinlich etwas über seine morgendlichen Befindlichkeiten in<br />
sein ominöses Tagebuch. Er blickte auf und sagte:<br />
»Oh, Ihr mein lieber Boris. Was führt Euch zu mir?«<br />
11
Boris machte die obligate Verbeugung und näherte sich in<br />
gebückter Haltung dem Schreibtisch. <strong>Die</strong> Zarin stand daneben und<br />
besah sich die Uhr an ihrem Arm.<br />
»Ich möchte Durchlaucht eine neue Erfindung präsentieren.«<br />
»Oh, da bin ich aber gespannt, was ist es denn?«<br />
Boris öffnete die Schatulle und entnahm ihr die große Uhr. Der<br />
Zar war zwar ein kleines bisschen klüger als seine Frau, aber<br />
Boris machte sich keine Illusionen. »Das ist eine Uhr, die man am<br />
Armgelenk tragen kann.«<br />
»Und wofür soll das gut sein?«<br />
»Damit Ihr nicht immer in die Tasche greifen müsst.«<br />
»Ah«, meinte der Zar und plötzlich fing er, lauthals an zu<br />
lachen.<br />
Als er sich etwas erholt hatte, sagte er: »Also ich weiß nicht<br />
lieber Boris. Ist das nicht eher etwas für Weiber? Ich glaube<br />
nicht, dass ich so etwas tragen würde.«<br />
So verschwanden die zwei Uhren wieder in der Schatulle,<br />
vorerst jedenfalls. Er dachte nicht daran, sich einzig auf das<br />
Urteil des Zaren zu verlassen, die Zeiten würden sich schnell<br />
genug ändern.<br />
Doch erst 1914, zu Beginn des Krieges sollte seine Idee<br />
Anklang finden. Es waren vor allem die Offiziere, die den<br />
praktischen Nutzen erkannten und ihm alsdann die Bude einrannten.<br />
Boris bekundete größte Mühe, die Nachfrage zu befriedigen, denn<br />
sogar der Zar, der vor zehn Jahren das Projekt belächelte, war<br />
mittlerweile Anhänger der Armbanduhr.<br />
***<br />
Seiner Idee folgend, setzte Igor sein Vorhaben in die Tat um.<br />
Er dachte nicht einmal daran, diesen Vorfall so einfach<br />
hinzunehmen. Als Geschäftsmann verfügte er über genügend<br />
Beziehungen, um sich Waffen zu besorgen und genau dies tat er<br />
auch. Bereits zwei Tage später wurden unter der Plane eines<br />
Heuwagens, verdeckt mit Kartoffeln, fünfzig Gewehre samt Munition<br />
12
geliefert. Zwar hatte er dem Zaren einen Beschwerdebrief gesandt,<br />
doch Igor dachte nicht daran, auf eine Antwort zu warten, die<br />
sowieso nicht erfolgen würde. Einer seiner Vorarbeiter hiess Juri<br />
Antanow und genau den wollte er damit beauftragen, eine<br />
schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Während seinen<br />
Studienjahren in England schnappte er auf, dass verschiedene<br />
englische Großbetriebe so eine Art Werkschutz hatten und genau so<br />
etwas schwebte ihm nun vor. Er bat seine Sekretärin, Juri Antanow<br />
zu rufen, der drei Minuten später eintraf.<br />
»Nehmt Platz.«<br />
Juri setzte sich ihm gegenüber und eine Mischung aus Schweiß<br />
und verbrannter Kohle beleidigte Igors Nase. Der Dreck seiner<br />
Tätigkeit bedeckte ihn von Kopf bis Fuß, das Gesicht glänzte ölig<br />
und in seinem Dreitagebart hingen noch die Überreste der letzten<br />
Mahlzeit. Doch Igor fand keine Zeit für Äußerlichkeiten, dafür<br />
war das Thema zu brisant.<br />
»Ich möchte verhindern, dass das, was vor drei Tagen passiert<br />
ist, sich wiederholt.«<br />
»Und wie wollt Ihr das anstellen?«<br />
»Ganz einfach. Indem ich fünfzig Mann von euch mit Gewehren<br />
ausstatte, damit ihr jeden Eindringling in Schach halten könnt,<br />
so eine Art Werkschutz.«<br />
»Und wenn wir schießen müssen?«<br />
»Dann wird eben geschossen.«<br />
»Und wenn es die Polizei ist?«<br />
»Dann erst recht. Wer hat denn acht Leichen hinterlassen? Ich<br />
möchte nicht, dass sich das wiederholt.«<br />
»Ihr wisst aber, welchem Risiko Ihr Euch aussetzt, wenn Ihr<br />
uns mit Waffen ausstattet?«<br />
»Ja, das weiß ich, aber es ist bei weitem das kleinere Übel.<br />
<strong>Die</strong> Gewehre haltet ihr immer griffbereit an eurem Arbeitsplatz.<br />
Ich bin überzeugt, dass Ihr Eure Männer im Griff habt, ich<br />
verlasse mich auf Euch.«<br />
»Alles klar«, sagte Antanow, »und wo sind die Gewehre?«<br />
»Unten steht ein Wagen, oben sind Kartoffeln, die könnt Ihr an<br />
Eure Männer verteilen und darunter sind Gewehre und Munition.<br />
13
Sucht Euch dafür Eure besten Leute aus, Männer, zu denen Ihr<br />
vertrauen habt. Das wär's.«<br />
Igor wartete jetzt schon zwei Wochen, von einer Antwort vom<br />
Zaren war er weiter entfernt denn je. Juri bildete wie besprochen<br />
eine Gruppe von fünfzig Mann, die er genauestens instruierte, was<br />
zu tun sei. Es gab in den letzten vierzehn Tagen keine weiteren<br />
Vorfälle, doch Igor traute der Sache nicht. Es klopften dauernd<br />
Männer an, die nach Desertion rochen. Igor konnte sie gut<br />
verstehen, denn er wusste nur zu genau, von was für Idioten das<br />
Offizierskorps beherrscht wurde und gab den Männern bereitwillig<br />
Arbeit. Es verging eine weitere Woche in der nichts geschah.<br />
Dann, Igor wollte gerade nach Hause gehen, kam der gleiche<br />
Sergeant mit zwanzig Mann daher. Igor stellte sich in den<br />
Schatten des kleinen Nebeneingangs und wartete gespannt, was<br />
jetzt geschehen würde. Der Polizeitrupp stand jetzt vor dem<br />
Hauptportal, im Begriff dieses zu öffnen.<br />
Juri sah zur Tür. Er hatte mit seinen Männern ein spezielles<br />
Zeichen vereinbart und hielt es für angebracht, es zu zeigen, als<br />
er den Sergeanten erblickte. Sie hatten dies mehrere Male geübt<br />
und so war es kaum verwunderlich, dass seine Männer in der fast<br />
gleiche Sekunde mit den Gewehren im Anschlag auf die<br />
Polizeitruppe zielten.<br />
»Raus hier«, schrie Juri, »ihr habt hier nichts zu suchen.«<br />
»Ihr werdet doch nicht etwa auf die Polizei schießen?«<br />
»Wenn's denn sein muss«, sagte Juri.<br />
»Woher habt ihr die Gewehre«, fragte der Sergeant.<br />
»Das geht dich einen feuchten Dreck an. Wenn ihr in zehn<br />
Sekunden nicht verschwunden seid, eröffnen wir das Feuer.«<br />
Der Sergeant drehte sich auf dem Absatz und rief: »Das wird<br />
ein Nachspiel geben.«<br />
Igor sah die Polizisten fluchend das Gebäude verlassen, dann<br />
ging er durchs Hauptportal direkt auf Juri zu.<br />
»Hat funktioniert«, sagte er lachend.<br />
14
»Ich würde mich nicht zu früh freuen, der Typ ist gefährlich,<br />
ich kenne ihn, er heißt Pulikov. Der schießt auf alles, was sich<br />
ihm in den Weg stellt. Am liebsten hätte ich ihm eine Kugel in<br />
sein dämliches Hirn geblasen. Es wird gewaltigen Ärger geben.«<br />
Seltsamerweise blieb dieses Nachspiel aber aus, vorerst<br />
jedenfalls.<br />
***<br />
Allein oder mit Frau und Kind, er hatte ja mittlerweile auch<br />
einen zweijährigen Sohn, in die Schweiz zu reisen war eine Sache,<br />
ein ganzes Unternehmen dorthin zu verfrachten eine andere, und<br />
das auch noch mitten in einem Krieg, der kein Ende zu nehmen<br />
schien. Er würde einen halben Eisenbahnzug benötigen, um diesem<br />
großen Projekt Herr zu werden, und das Ganze müsste auch noch<br />
ziemlich unauffällig vonstattengehen, denn ganz so einfach würde<br />
ihn der Zar nicht ziehen lassen. Boris hoffte noch immer, dass<br />
endlich dieser verdammte Krieg ein Ende nahm, aber es geschah<br />
nichts dergleichen und nach der verpatzten Märzoffensive der<br />
russischen Truppen, wurde die Sache immer bedrohlicher.<br />
Es lag auch nicht am Geld, denn davon besaß Boris reichlich,<br />
und das ganze Unternehmen würde er verschleiern, indem er vorgab,<br />
im Ausland eine Niederlassung aufzubauen, aber da war eben noch<br />
Olga, die mit keinen Argumenten von hier fortzulocken war. Boris<br />
stand auf und ging in den großen Salon, wo er Olga zu finden<br />
hoffte.<br />
»Olga!«<br />
»Ja, was ist denn?« Wie immer, wenn Boris etwas von ihr<br />
wollte, stand sie da, mit den Händen in die Hüften gestützt.<br />
Ihren Rundungen war das ausschweifende Leben deutlich anzusehen.<br />
Sie sah aus wie eine große Matrjoschka, doch durchaus zeitgemäß<br />
und konnte die Herren der Schöpfung, mit ihren großen, prallen<br />
Brüsten und ihrem fetten Hintern, in eine gewisse Euphorie<br />
versetzen.<br />
»Ich muss mit dir reden.«<br />
15
»Das tust du ja gerade.« Sie schaute ihn mit ihren Mandelaugen<br />
abschätzig an und nestelte dabei an der Spange, die sie in ihren<br />
hochgesteckten Haaren trug.<br />
»Ich meine ernsthaft.«<br />
»Redest du sonst nie ernsthaft«, fauchte sie ihn an, »oder<br />
willst du wieder über die Schweiz mit mir reden, dieses<br />
proletarische und todlangweilige Land, in dem es nach<br />
übelriechenden Bauern stinkt? Und falls du es vergessen hast, die<br />
haben diesem Lenin Unterschlupf gewährt, in so ein Land gehe ich<br />
ohnehin nicht. Dorthin kannst du mich bestenfalls als Leiche<br />
transportieren.«<br />
»Möchtest du deine Zukunft lieber in der Schweiz oder in<br />
Sibirien verbringen?«<br />
»Was ist denn das nun wieder für ein Vergleich, du weißt ganz<br />
genau, dass wir Freunde des Zaren sind, und der schickt seine<br />
Vertrauten sicher nicht nach Sibirien.«<br />
»Ich rede auch nicht vom Zaren.«<br />
»Wovon dann?, verdammt noch mal.«<br />
»Von den Bolschewiken, oder hast du ernsthaft das Gefühl,<br />
denen fällt gleich etwas Neues ein, wie sie ungeliebte Leute<br />
wegsperren können?«<br />
»Hör auf mit diesen Analphabeten.«<br />
»Sie mögen Fantasten sein, aber Analphabeten sind sie bestimmt<br />
nicht, und sie sind gefährlich, besonders für Leute wie uns. Wenn<br />
du die Parolen dieses Lenin etwas ernster nehmen würdest,<br />
merktest du schnell, woher der Wind pfeift, aber du liest sie ja<br />
nicht einmal. Es wird kein Jahr mehr dauern und das Zarenreich<br />
gehört der Vergangenheit an, willst du das denn nicht sehen, bist<br />
du völlig blind? Weder die Arbeiter noch die Bauern werden sich<br />
länger bieten lassen, was mit ihnen geschieht. Deine Feste kannst<br />
du dir dann jedenfalls an den Hut stecken.«<br />
»Ich bin nicht blind, aber der Zar hat etwas zu verlieren, und<br />
seine Polizei wird das schon richten, das hat sie bisher immer<br />
getan. Um einen Umsturz anzuzetteln, dafür braucht man Geld, und<br />
genau das haben diese Leute nicht. Im Notfall ist immer noch die<br />
Armee da.«<br />
16
»Wenn du dich da mal nicht irrst? Und apropos Geld. Der Lenin<br />
wird es von den Deutschen kriegen, denn die sind an jeder<br />
Schwächung des Zaren interessiert, um den Krieg zu gewinnen.«<br />
»Das Zarenreich ist jetzt dreihundert Jahre alt und daran<br />
werden auch deine blöden Bolschewiken und diese dämlichen<br />
Deutschen nichts ändern. Und was den Krieg betrifft, das hat<br />
schon der Napoléon nicht geschafft, sie werden alle elendiglich<br />
im Morast und Schnee versinken.«<br />
»Da irrst du dich meine Liebe. Wo war denn deine Polizei, als<br />
sie uns letzte Woche alle Fensterscheiben einschlugen und ins<br />
Haus eindringen wollten?«<br />
»Das kann schon mal vorkommen, aber die Kerle wurden ja gleich<br />
anschließend verhaftet.«<br />
»Aber es hätte schlimmer kommen können, und ich verlange jetzt<br />
eine verbindliche Antwort von dir.«<br />
»<strong>Die</strong> hab ich dir schon tausendmal gegeben, und sie wird auch<br />
das tausendundeinte Mal gleich lauten. Hast du dir eigentlich<br />
einmal Gedanken darüber gemacht, was du hier alles aufgibst, das<br />
Lebenswerk deines Vaters? Soll das etwa alles vor die Hunde<br />
gehen, soll unser Sohn einmal leer ausgehen und sein Dasein bei<br />
den Armen fristen? Abgesehen davon wirst du es ohnehin nicht<br />
schaffen, mitten im Krieg in die Schweiz zu ziehen. <strong>Die</strong> Deutschen<br />
werden dich durch den Fleischwolf drehen, bevor du richtig<br />
hinschaust. Du bist Uhrmacher und kein Abenteurer, hast du das<br />
schon vergessen? Meine Antwort ist ein klares Nein und dabei<br />
bleibt es.«<br />
Und so verliefen diese Gespräche jedes Mal und nichts und<br />
niemand konnte seine Olga überzeugen.<br />
So beschloss er denn in aller Heimlichkeit, alles minutiös<br />
vorzubereiten und auf des Zaren letztes Stündchen zu warten, was<br />
schließlich auch seine Olga überzeugen würde, plötzlich<br />
herrschaftlichen Freuden beraubt.<br />
Sein ganzes Barvermögen transferierte er in diesem Frühjahr<br />
1916, immerhin über achthunderttausend Rubel, in die Schweiz.<br />
<strong>Die</strong>s war kein leichtes Unterfangen, und er betraute seine engsten<br />
17
Mitarbeiter damit, jene, die er auch mitzunehmen gedachte. Aber<br />
es hatte auch den entscheidenden Vorteil, dass diese ihre neue<br />
Heimat kennenlernten. Immer zu zweit unternahmen sie die<br />
beschwerliche Reise, bepackt mit einem Teil des Vermögens. Das<br />
Glück stand ihnen zur Seite, und sie kamen alle durch und wieder<br />
zurück.<br />
Zeitgleich begann er die umfangreichen Ländereien, welche die<br />
Familie besaß, zu veräußern, was ihm nochmals neunhunderttausend<br />
Rubel einbrachte, die er ebenfalls in der Schweiz in Sicherheit<br />
brachte. Boris wusste, dass die Reise mitten durch die von<br />
Kriegswirren gezeichneten Länder, keineswegs ungefährlich war,<br />
und hielt auch einen stolzen Betrag zurück, als mögliche<br />
Bestechungsgelder. Er ließ seine Mitarbeiter immer wieder andere<br />
Routen wählen, um schließlich die Beste zu finden. <strong>Die</strong>s war<br />
jedoch schier unmöglich, da sich die Fronten andauernd änderten.<br />
Dabei musste er nicht nur die Deutschen fürchten, sondern auch<br />
die Armee des Zaren, der ihm unter diesen Umständen keine Hilfe<br />
sein würde.<br />
18