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Bruno Kern<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Befreiung</strong>A. Francke


Eine Arbeitsgemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> VerlageBöhlau Verlag · Wien · Köln · WeimarVerlag Barbara Budrich · Opla<strong>de</strong>n · Torontofacultas.wuv · WienWilhelm Fink · MünchenA. Francke Verlag · Tübingen und BaselHaupt Verlag · BernVerlag Julius Klinkhardt · Bad HeilbrunnMohr Siebeck · TübingenNomos Verlagsgesellschaft · Ba<strong>de</strong>n-Ba<strong>de</strong>nErnst Reinhardt Verlag · München · BaselFerdinand Schöningh · Pa<strong><strong>de</strong>r</strong>born · München · Wien · ZürichEugen Ulmer Verlag · StuttgartUVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · MünchenVan<strong>de</strong>nhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristolvdf Hochschulverlag AG an <strong><strong>de</strong>r</strong> ETH Zürich


Bruno Kern<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>A. Francke Verlag Tübingen und Basel


Dr. theol. Bruno Kern, M. A. arbeitet als Lektor und Übersetzer theologischerLiteratur; er ist Autor einschlägiger Literatur zum Thema („Werkbuch<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>“, „<strong>Theologie</strong> im Horizont <strong>de</strong>s Marxismus“ …).Bibliografische Information <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong><strong>de</strong>r</strong> DeutschenNa tional bib liografie; <strong>de</strong>taillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.dnb.<strong>de</strong> abrufbar.© 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 TübingenDas Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong>Verwertung außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> engen Grenzen <strong>de</strong>s Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung <strong>de</strong>s Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei che -rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.Internet: http://www.francke.<strong>de</strong>E-Mail: info@francke.<strong>de</strong>Einbandgestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: Informations<strong>de</strong>sign D. Fratzke, KirchentellinsfurtDruck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebePrinted in GermanyUTB-Band-Nr.: 4027ISBN 978-3-8252-4027-1


Inhalt<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> – <strong>Befreiung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> . . . . . 7I Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die innerkirchliche Entwicklung seit <strong>de</strong>m ZweitenVatikanischen Konzil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Theologische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Politische Entwicklung in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Kirchliche Basisgemein<strong>de</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20II Selbstverständnis und Metho<strong>de</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 <strong>Theologie</strong> unter <strong>de</strong>m Primat <strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Der methodische Dreischritt: Sehen – Urteilen – Han<strong>de</strong>ln . . . 313 Die vorrangige Option für die Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Was heißt „<strong>Befreiung</strong>“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44III Sozialanalytische Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Depen<strong>de</strong>nz: eine Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Perspektive. . . . . . . . . . . . . . 542 Die „Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterentwicklung“ . . . . . . . . . . . . . . . 563 <strong>Befreiung</strong> als Gegenbegriff zur Depen<strong>de</strong>nz. . . . . . . . . . . . . . . 60IV Hermeneutische Vermittlung: Die Bibellektüre. . . . . . 661 Vom Leben zur Bibel – von <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel zum Leben . . . . . . . . . . 662 Grundlagen einer befreiungstheologischen Hermeneutik . . . 673 Ein „Überschuss an Sinn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725


V Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 Der befreien<strong>de</strong> Gott und die Götzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterdrückung . . . . 772 Jesus Christus, <strong><strong>de</strong>r</strong> Befreier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Utopie, Reich Gottes und Auferstehung <strong>de</strong>s Fleisches . . . . . . 96VI Ökotheologie <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> als Fallbeispiel<strong><strong>de</strong>r</strong> Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<strong>Befreiung</strong>stheologInnen im Kurzporträt . . . . . . . . . . . . . . 117Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1386


<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> – <strong>Befreiung</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong>… dann sind wir davon überzeugt, wir und Sie, dass die <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Befreiung</strong> nicht nur opportun ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nützlich und notwendig. Siesoll eine neue Etappe … jener theologischen Reflexion sein, die mit <strong><strong>de</strong>r</strong>apostolischen Überlieferung begann, sich mit <strong>de</strong>n großen Kirchenväternund Kirchenlehrern fortsetzte, mit <strong>de</strong>m or<strong>de</strong>ntlichen und außeror<strong>de</strong>ntlichenLehramt, und, in neuester Zeit, mit <strong>de</strong>m reichen Schatz<strong><strong>de</strong>r</strong> katholischen Soziallehre. (Papst Johannes Paul II., Brief an diebrasilianischen Bischöfe vom März 1986 [Johannes Paul II.: 280–281])Es ist ein einmaliger Vorgang innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> mehr als zweitausendjährigenGeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> christlichen Kirchen: Zum ersten Mal entstehtein grundlegen<strong><strong>de</strong>r</strong> theologischer Neuansatz, ein neues Paradigma fürdas theologische Denken insgesamt, an <strong><strong>de</strong>r</strong> Peripherie <strong><strong>de</strong>r</strong> Weltgesellschaftund an <strong><strong>de</strong>r</strong> Peripherie <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche. Die eigentlichen Subjektedieser Glaubensreflexion sind nicht in erster Linie die professionellenTheologinnen und Theologen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die gläubigen Armenund Marginalisierten, die in vielfältigen Formen <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstorganisationihr eigenes Geschick in die Hand nehmen. Ihr gesellschaftspolitischesHan<strong>de</strong>ln im Licht <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaubenstradition ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Nährbo<strong>de</strong>neines neuen theologischen Denkens. Die befreien<strong>de</strong> historische undgesellschaftliche Praxis wird hier zum theologischen Ort, zum methodischenAusgangspunkt und zum Kriterium <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong>. Die aka<strong>de</strong>mische<strong>Theologie</strong> hat <strong>de</strong>mgegenüber eine unverzichtbare, jedochdienen<strong>de</strong> Rolle. Als „organische Intellektuelle“ im Sinne AntonioGramscis nehmen die Theologinnen und Theologen an dieser gesellschaftsverän<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>nPraxis teil, tragen zu <strong><strong>de</strong>r</strong>en Selbstaufklärung beiund artikulieren dieses neue Glaubensverständnis so, dass es innerhalb<strong><strong>de</strong>r</strong> Weltkirche und Weltgesellschaft seine befreien<strong>de</strong> Wirkungentfalten kann.Die <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> hat einen universalen hermeneutischenAnspruch. Sie versteht sich we<strong><strong>de</strong>r</strong> als „Genitivtheologie“ einesbestimmten partiellen Wirklichkeitsbereiches noch als eine „kontextuelle<strong>Theologie</strong>“, die nur für einen bestimmten regionalen bzw.kulturellen Raum Geltung beanspruchen wür<strong>de</strong>. Sie will eine neue7


Perspektive <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> insgesamt sein, ein neuer Horizont, „aus<strong>de</strong>m heraus <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesamtinhalt <strong>de</strong>s Glaubens gedacht wird, mit <strong>de</strong>mZiel, die Geschichte zu verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n“ (L. Boff 1982: 186).Die <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> hat zu zentralen Themen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong>wichtige und innovative Beiträge geleistet: zur Gotteslehre, zurChristologie etc. ebenso wie zur Bibelhermeneutik. Fundamentaltheologischentschei<strong>de</strong>nd aber ist ihre Reformulierung <strong>de</strong>s Selbstverständnisses<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> insgesamt, ihre völlig neue Art, <strong>Theologie</strong> zutreiben. Sie versteht sich konsequent als <strong>Theologie</strong> unter <strong>de</strong>m Primat<strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis, das heißt, sie nimmt die Reflexion ihres praktischen Entstehungs-und Verwendungszusammenhanges in ihre methodischeReflexion auf. Sie verabschie<strong>de</strong>t sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> lange herrschen<strong>de</strong>n Vorstellung,man könne <strong>Theologie</strong> subjektlos betreiben. Sie reflektiertihren eigenen gesellschaftlichen Standort und will so die Gefahr vermei<strong>de</strong>n,unbewusst, „von hinten“ i<strong>de</strong>ologisch aufgela<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n.In vieler Hinsicht löst die <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> erst das ein, wasetwa die europäische „Politische <strong>Theologie</strong>“ als Postulat formuliertund selbst nicht konsequent genug umgesetzt hat. Das gilt zu allererstfür ihr methodisches Vorgehen, das die sozial-ökonomische Analysezum Ausgangspunkt wählt. Damit macht sie Ernst mit <strong>de</strong>m Ansprucheiner „nachi<strong>de</strong>alistischen“ <strong>Theologie</strong> und <strong><strong>de</strong>r</strong> Einsicht <strong>de</strong>s historischenMaterialismus, <strong><strong>de</strong>r</strong> alle gesellschaftlichen Sphären „in letzterInstanz“ darauf zurückbezieht, wie die Menschen als gesellschaftlicheSubjekte in Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur ihre materiellen Existenzbedingungenschaffen.Die Wirkungsgeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>stheologie ist atemberaubend.Weit über <strong>de</strong>n lateinamerikanischen Subkontinent hinaus hatsie Theologinnen und Theologen <strong><strong>de</strong>r</strong> Dritten Welt inspiriert und fürein neues Selbstbewusstsein <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaubensreflexion an <strong><strong>de</strong>r</strong> Peripheriegesorgt. Die befreiungstheologisch orientierte Ecumenical Association ofThird World Theologians (EATWOT) ist nur ein Beispiel für <strong>de</strong>n Einflussdieses neuen theologischen Denkens. In Asien und Afrika fand dielateinamerikanische <strong>Befreiung</strong>stheologie ihr Echo in vergleichbarentheologischen Aufbruchsbewegungen mit ihrem jeweils eigenen Profil.Aber auch auf weltkirchlicher Ebene wur<strong>de</strong>n zentrale Einsichten<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>stheologie rezipiert. So etwa ist die allererst in Lateinamerikaformulierte „vorrangige Option für die Armen“ als gesellschaftlicheStandortbestimmung aus <strong>de</strong>m sozialethischen Diskursnicht mehr wegzu<strong>de</strong>nken.8


Obwohl auf <strong>de</strong>m „katholischen“ Kontinent entstan<strong>de</strong>n, war die<strong>Befreiung</strong>stheologie von Anfang an mehr als ein innerkatholischesPhänomen. Protestantische <strong>Befreiung</strong>stheologen (J. Miguez-Bonino,Rubem Alves, Elsa Tamez …) haben ihr Profil entschei<strong>de</strong>nd mitgeprägt,und die Resonanz innerhalb <strong>de</strong>s weltweiten Protestantismusist beachtlich (Duchrow 2013: 173–181). Der interreligiöse Dialog hat<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>stheologie in vieler Hinsicht vergleichbare Strömungenim Islam, im Ju<strong>de</strong>ntum und im Buddhismus zutage geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t (vgl.vor allem Duchrow 2013: 182–204). Und weit über die Grenzen von<strong>Theologie</strong>, Kirche und Religionen hinaus hat die <strong>Befreiung</strong>stheologiegesellschaftspolitische Relevanz entfaltet. Sie wird von Kirche undReligion fernstehen<strong>de</strong>n Kreisen ernst genommen und rezipiert, siehat ein gesellschaftspolitisches Engagement geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t und begleitet,das von je<strong><strong>de</strong>r</strong> integralistischen Vereinnahmung und kirchlichen Bevormundungbereits in Selbstverständnis und Metho<strong>de</strong> absieht, undsich als dialogfähig mit säkularen Kräften erwiesen, die in ihrer Letztmotivationauf keinerlei religiöse Tradition zurückgreifen. Heute istdie <strong>Befreiung</strong>stheologie zum Beispiel ein wichtiger Teil jenes breitenglobalisierungskritischen Bündnisses, das sich in <strong>de</strong>n Weltsozialforenartikuliert. Die Kehrseite dieser gesellschaftspolitischen Relevanz istallerdings die erbitterte Gegnerschaft bestimmter politischer Kräfteinnerhalb und außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche gegen die <strong>Befreiung</strong>stheologieund ihre Vertreter, unter die inzwischen zahlreiche Blutzeugen um<strong>de</strong>s Reiches Gottes und seiner Werte von Gerechtigkeit und Solidaritätwillen zu zählen sind. Die Vitalität dieses theologischen Neuansatzesbewährte sich jedoch nicht zuletzt daran, dass er sich als fähigerwiesen hat, über die ursprünglichen Fragestellungen hinaus diegroßen Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen unserer planetarischen Weltgesellschaftund die alles entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Erhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> natürlichen Lebensgrundlagentheologisch zu integrieren. Das Hoffnungspotenzial<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> ist auch ein halbes Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t nachihrer Entstehung längst nicht ausgeschöpft, und aus <strong>de</strong>m Spektrum<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen theologischen Reflexion ist sie mittlerweile nichtmehr wegzu<strong>de</strong>nken.9


IVoraussetzungen1 Die innerkirchliche Entwicklung seit <strong>de</strong>m ZweitenVatikanischen Konzil„Heute ist die Kirche in beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Weise eine Kirche <strong><strong>de</strong>r</strong> Armen.“(Papst Johannes XXIII. in einer Radiobotschaft vom 11. Oktober1962)Das Pontifikat Johannes’ XXIII. und vor allem das Zweite VatikanischeKonzil stellten für die katholische Kirche weltweit eine Zäsur dar undtrugen wesentlich zu <strong>de</strong>m Klima bei, innerhalb <strong>de</strong>ssen die <strong>Theologie</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> ge<strong>de</strong>ihen konnte. Die durch <strong>de</strong>n Kalten Krieg bedingteapologetische Abwehrhaltung gegenüber <strong>de</strong>m Marxismus wich einerAtmosphäre <strong>de</strong>s Dialogs. Mit seiner programmatischen EnzyklikaMater et Magistra leitete Johannes XXIII. eine bemerkenswerte Wen<strong>de</strong>innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> katholischen Soziallehre ein. Das im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tentwickelte Naturrechts<strong>de</strong>nken wur<strong>de</strong> abgelöst durch eine eher imromanischen Sprachraum verankerte, in <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen katholischerArbeiterjugend formulierte methodische Herangehensweise angesellschaftliche Fragen, die <strong>de</strong>n methodischen Dreischritt <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>stheologievon Sehen, Urteilen und Han<strong>de</strong>ln in gewisser Weisevorwegnahm.Die Grundsätze <strong><strong>de</strong>r</strong> Soziallehre lassen sich gewöhnlich in folgen<strong>de</strong>ndrei Schritten verwirklichen: Zunächst muss man <strong>de</strong>n wahren Sachverhaltüberhaupt richtig sehen; dann muss man diesen Sachverhaltanhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten. Schließlich mussman feststellen, was man tun kann und muss, um die überliefertenNormen nach Ort und Zeit anzuwen<strong>de</strong>n. Diese drei Schritte lassensich in drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, han<strong>de</strong>ln. (Mater etMagistra, 236)Die verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te Haltung <strong>de</strong>s kirchlichen Lehramtes ermutigte in EuropaInitiativen wie etwa die Gespräche <strong><strong>de</strong>r</strong> Paulusgesellschaft zwischenhochrangigen Vertretern <strong>de</strong>s Marxismus und Theologen. Auch auf10


protestantischer Seite fand dies seine Entsprechung, etwa in <strong><strong>de</strong>r</strong> Initiative<strong>de</strong>s Weltkirchenrates Kirche und Gesellschaft.Das Zweite Vatikanische Konzil formulierte in seiner PastoralkonstitutionGaudium et spes einerseits ein grundsätzlich solidarischesWeltverhältnis und betonte an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits die relative Autonomie <strong><strong>de</strong>r</strong>Wirklichkeitsbereiche, was die Möglichkeit eröffnete, sich gesellschaftlichenStrukturen in ihrer eigenen Rationalität zuzuwen<strong>de</strong>n.Mit <strong>de</strong>m Begriff „Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit“ lieferte das Konzil ein wichtigesStichwort, das dazu ermutigte, sich <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungenzuzuwen<strong>de</strong>n, nach neuen Antworten darauf zu suchenund sie im Licht <strong><strong>de</strong>r</strong> Heilsgeschichte zu <strong>de</strong>uten. Nach <strong>de</strong>m Konzilregte dieses Stichwort eine sehr lebhafte Suchbewegung nach einer„<strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit“ an, die <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>in gewisser Weise <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n bereitete. Es blieb allerdings <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> vorbehalten, das mit „Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit“ umschriebenePostulat methodisch reflektiert einzulösen.Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche allzeit diePflicht, nach <strong>de</strong>n Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit zu forschen und sie im Licht <strong>de</strong>sEvangeliums zu <strong>de</strong>uten. (Gaudium et spes, 4)Die bis dahin gelten<strong>de</strong> ausschließlich hierarchische Auffassung <strong><strong>de</strong>r</strong>Kirche wur<strong>de</strong> zumin<strong>de</strong>st relativiert, in<strong>de</strong>m die Kirche grundsätzlichals Volk Gottes verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m gegenüber die Unterscheidungvon Klerikern und Laien sekundär ist. Vor allem aber erfuhrendie einzelnen Ortskirchen eine Aufwertung, die <strong>de</strong>n eigenständigenWeg <strong><strong>de</strong>r</strong> lateinamerikanischen Kirche in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrzehntenför<strong><strong>de</strong>r</strong>n sollte.Freu<strong>de</strong> und Hoffnung, Trauer und Angst <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen von heute,beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freu<strong>de</strong>und Hoffnung, Trauer und Angst <strong><strong>de</strong>r</strong> Jünger Christi. (Gaudium etspes, 1)Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> offiziellen Konzilsagenda spielte das Thema „Kirche <strong><strong>de</strong>r</strong> Armen“allerdings kaum eine Rolle. Es blieb einer Gruppe von Bischöfenvorbehalten, diese brennen<strong>de</strong> Frage am Rand <strong>de</strong>s Konzils miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zu erörtern. Ein prominentes Mitglied dieser Gruppe ausLateinamerika war <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzbischof von Olinda und Recife, Dom Hél<strong><strong>de</strong>r</strong>Câmara. Im sogenannten Katakombenpakt verpflichteten sich diese Bischöfeam En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Konzils feierlich, persönlich in Armut zu leben,11


auf kirchliche Privilegien zu verzichten und das pastorale Han<strong>de</strong>ln an<strong><strong>de</strong>r</strong> Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> Armen zu orientieren.Entschei<strong>de</strong>nd aber für die Entfaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>war die eigenständige Rezeption <strong>de</strong>s Konzils durch die lateinamerikanischeOrtskirche, wie sie sich vor allem in <strong>de</strong>n Schlussdokumenten<strong><strong>de</strong>r</strong> Zweiten und Dritten Generalversammlung <strong>de</strong>s lateinamerikanischenEpiskopates in Me<strong>de</strong>llín (1968) bzw. Puebla (1979) manifestierte.In diesen bei<strong>de</strong>n Dokumenten wird die Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerungsmehrheitenin Lateinamerika als Ergebnis von Strukturen<strong><strong>de</strong>r</strong> Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung beschrieben.Nicht mehr – wie bisher auch innerkirchlich üblich – die ganzheitliche„Entwicklung“ ist das positive Gegenbild zur herrschen<strong>de</strong>n Situation,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n „<strong>Befreiung</strong>“. Dies be<strong>de</strong>utet eine implizite Absage an <strong>de</strong>n„<strong>de</strong>sarallismo“, an jene Entwicklungsi<strong>de</strong>ologie also, die die wirtschaftlicheund soziale Situation als ein retardiertes Entwicklungsstadiumim Vergleich zu <strong>de</strong>n industrialisierten Zentren sah. Der methodischeDreischritt von Sehen, Urteilen und Han<strong>de</strong>ln wird bekräftigt. Die vorrangigeund solidarische Option für die Armen wird theologisch (!)begrün<strong>de</strong>t und nicht einfach als pastorale Notwendigkeit beschrieben.Die Armen sind <strong><strong>de</strong>r</strong> entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Maßstab <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachfolge Jesu. Vorallem aber wer<strong>de</strong>n sie selber in ihrem evangelisatorischen Potenzial,nicht als pastoral Betreute, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als Subjekte <strong><strong>de</strong>r</strong> Evangelisierungbeschrieben. Und schließlich wer<strong>de</strong>n die Kirchlichen Basisgemein<strong>de</strong>nals die Keimzellen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche, Quelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Evangelisierung und aktuellerHauptfaktor <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Entwicklung in ihrem Engagementbestärkt. Nach Jahrzehnten wachsen<strong>de</strong>n Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stan<strong>de</strong>s innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong>lateinamerikanischen Hierarchie fand die Fünfte Generalversammlung<strong><strong>de</strong>r</strong> Bischöfe in Aparecida (2007) wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu diesen Ursprungsimpulsenzurück.Im Glauben rufen wir aus: „Jesus Christus ist […] menschliches AntlitzGottes und göttliches Antlitz <strong>de</strong>s Menschen.“ Deshalb „ist die bevorzugteOption für die Armen im christologischen Glauben an jenenGott implizit enthalten, <strong><strong>de</strong>r</strong> für uns arm gewor<strong>de</strong>n ist, um uns durchseine Armut reich zu machen“. Diese Option hat ihren Ursprung inunserem Glauben an Jesus Christus, <strong>de</strong>n menschgewor<strong>de</strong>nen Gott,<strong><strong>de</strong>r</strong> unser Bru<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong> (vgl. Hebr 2,11–12). (Aparecida, 392)Die Parteinahme <strong><strong>de</strong>r</strong> lateinamerikanischen Kirchenhierarchie bliebnicht ohne Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>hall auf <strong><strong>de</strong>r</strong> weltkirchlichen Ebene. Sechs Jahre12


nach Me<strong>de</strong>llín griff Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Evangelii nuntiandi<strong>de</strong>n Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong> auf.Die Kirche hat, wie die Bischöfe erneut bekräftigen, die Pflicht, die<strong>Befreiung</strong> von Millionen Menschen zu verkün<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen vieleihr selbst angehören; die Pflicht zu helfen, dass diese <strong>Befreiung</strong> Wirklichkeitwird, für sie Zeugnis zu geben und mitzuwirken, damit sieganzheitlich erfolgt. Dies steht durchaus in Einklang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Evangelisierung.(Evangelii nuntiandi, 30)Mit <strong>de</strong>m Pontifikat Johannes Pauls II. und <strong><strong>de</strong>r</strong> Ernennung KardinalRatzingers zum Präfekten <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaubenskongregation setzte allerdingsauf weltkirchlicher Ebene eine Kehrtwen<strong>de</strong> ein. Das Zweite VatikanischeKonzil wur<strong>de</strong> zunehmend im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen Konzilsmin<strong><strong>de</strong>r</strong>heitinterpretiert. Die Instruktion <strong><strong>de</strong>r</strong> GlaubenskongregationÜber einige Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Theologie</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Befreiung</strong>, Libertatis Nuntius (1984)war von pauschalen Verdächtigungen und scharfer Polemik geprägt.Der Vorwurf einer undifferenzierten Übernahme marxistischer Kategorienstand dabei im Zentrum. Dieser Konfrontationsstrategie folgteeine Strategie <strong><strong>de</strong>r</strong> Vereinnahmung, die einzelne Termini aus <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Befreiung</strong>stheologie aufgriff, sie aber ihres ursprünglichen Gehaltesberaubte. Die Instruktion <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaubenskongregation Über die christlicheFreiheit und <strong>Befreiung</strong>, Libertatis conscientia (1986) sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Brief<strong>de</strong>s Papstes an die brasilianischen Bischöfe (siehe oben S. 7) könnenin diesem Sinne interpretiert wer<strong>de</strong>n. Der „Option für die Armen“setzte man etwa auf gleicher Ebene eine „Option für die Jugend“ entgegenund stufte sie damit auf eine bloße pastorale Priorität herab.Maßregelungen und Disziplinarmaßnahmen gegen einzelne Theologen(z. B. ein über Leonardo Boff verhängtes einjähriges „Bußschweigen“)sowie eine entsprechen<strong>de</strong> Personalpolitik ergänzten diese lehramtlichenOffensiven.BasislektürePrien 2007.2 Theologische VoraussetzungenKarl Rahners Transzen<strong>de</strong>ntaltheologie ist im katholischen Raumbahnbrechend und bil<strong>de</strong>t theologiegeschichtlich die Voraussetzung13

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