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Perspektivwechsel Empowerment

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Frauen und Flucht<br />

– Über strukturelle (Un)Sichtbarkeiten und Alltagsrealitäten in Deutschland<br />

von Susann Thiel<br />

Laut UNHCR waren Ende 2015 weltweit 65,3 Millionen<br />

Menschen auf der Flucht – fast die Hälfte davon als<br />

junge und erwachsene Frauen 1 . Die meisten von ihnen<br />

sind so genannte Binnenvertriebene innerhalb ihres<br />

Herkunftslandes bzw. flüchten über die Grenze in benachbarte<br />

Länder. Nur wenige schaffen es überhaupt<br />

nach Europa [UNHCR 2016]. Unter denen, die 2015 in<br />

Deutschland einen Asylerstantrag gestellt haben, befinden<br />

sich rund 30 Prozent Mädchen und Frauen. 2 Sie<br />

kommen überwiegend aus den Balkanländern, aus Afghanistan,<br />

Syrien, Irak und Eritrea [BAMF 2016].<br />

„Wir waren sehr abhängig.<br />

Und dann wurde mir klar:<br />

das ist nicht das Leben,<br />

das ich leben möchte.“<br />

Die global verankerten<br />

strukturellen Machtverhältnisse,<br />

die Ursachen und<br />

Wirkungen geschlechtsspezifischer<br />

Diskriminierungen<br />

und Gewalterfahrungen sowie<br />

die besonderen Bedürfnisse<br />

und vielfältigen Lebenslagen von Frauen bleiben<br />

hinter diesen Zahlen jedoch häufig unberücksichtigt<br />

bzw. unsichtbar. Umso wichtiger ist es, die Dimension<br />

gender 3 im Kontext von Flucht und Asyl in den Fokus zu<br />

nehmen. Zusätzlich müssen andere Dominanzverhältnisse<br />

(Klasse, „Ethnizität“, Alter, etc.) dabei immer mit<br />

betrachtet werden.<br />

1 In diesem Artikel wird „die Frau“ oder „das Mädchen“ als Teil der sozial<br />

konstruierten Zweigeschlechtlichkeit verstanden. Mit dieser Verwendung<br />

besteht auch immer die Gefahr der Reproduktion der binären Kategorien.<br />

Gleichzeitig scheint es - fernab von stereotypen geschlechtlichen<br />

Zuschreibungen - wichtig, mit der „einenden“ Markierung als „Frau“ auf<br />

die ungleichen Besitz- und Machtverhältnisse sowie die strukturellen<br />

Unterschiede hinzuweisen und in dieser Analyse Forderungen im Sinne<br />

einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe zu stellen. Menschen,<br />

die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder gender-Identität<br />

als LSBTTIQ* (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender,<br />

intersexuell, queer und * = Vielfalt geschlechtlicher und sexueller<br />

Identitäten) definieren, müssen dabei immer mitgedacht und genannt<br />

werden, da sie ähnlichen Unterdrückungsmechanismen ausgesetzt sind.<br />

2 2015 haben insgesamt 441.899 Menschen einen Asylerstantrag gestellt;<br />

30,8 % davon waren weiblich. Doch die tatsächliche Zahl der Angekommenen<br />

ist weitaus größer. So wurden im EASY-System insgesamt 890.000<br />

Menschen registriert [BMI 2016]. Darunter befinden sich auch diejenigen,<br />

die in Deutschland angekommen sind, aber noch keinen Asylantrag gestellt<br />

haben.<br />

3 Die sozial konstruierte Kategorie „gender“, die mit gesellschaftlichen<br />

Zuschreibungen, Normen und Erwartungen einhergeht, wird – mittlerweile<br />

auch über den Fachdiskurs hinaus – in Abgrenzung zum biologisch<br />

determinierten Geschlecht „sex“ definiert.<br />

Elisabeth Ngari, 2014a<br />

6<br />

Fluchtursachen, Flucht und ihre spezifischen<br />

Gefahren<br />

Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihr eigenes<br />

Herkunftsland verlassen (müssen): Krieg, terroristische<br />

Anschläge, Gewalt von Terrormilizen, politische<br />

Unterdrückung und Verfolgung, Diskriminierung<br />

wegen religiöser Zugehörigkeit, Armut, existenzielle<br />

Perspektivlosigkeit und Umweltkatastrophen. 4 Insbesondere<br />

Frauen und LSBTTIQ* sind darüber hinaus<br />

geschlechts- und genderspezifischen Diskriminierungen,<br />

wie dem Ausschluss von Rechten<br />

und gesellschaftlichen Ressourcen sowie<br />

Verfolgung und sexualisierter Gewalt 5 ausgesetzt.<br />

Die weltweite, tief verankerte Unterdrückung<br />

von Frauen gehört dabei vor<br />

allem auch in Kontexten von Konflikten zur<br />

Strategie der Machtausübenden. Sie manifestiert<br />

sich in Kriegsverbrechen, so u.a.<br />

durch Boko Haram, IS-Milizen oder die Taliban, die<br />

Frauen und Kinder entführen, versklaven, verkaufen,<br />

vergewaltigen und foltern. Doch auch in Zeiten des<br />

Friedens erleben viele Mädchen und Frauen massive<br />

Gewalt. Strukturelle Verfolgung und Entwürdigung<br />

durch Staat und staatliche Akteure aufgrund des ihnen<br />

zugeschriebenen Geschlechts oder der sexuellen<br />

Orientierung, aber auch häusliche Gewalt des<br />

Patriarchats, Zwangsverheiratungen, Genitalbeschneidungen<br />

sowie Verurteilungen und lebensbedrohliche<br />

Bestrafungen wegen Ehebruchs sind Teil der Realität<br />

vieler Frauen.<br />

Politische Verfolgung, Krieg, Folter, Unterdrückung<br />

und spezifische Gewalterfahrungen stellen letztendlich<br />

für viele Frauen als politisch handelnde<br />

4 Hierbei darf die Mitverantwortung des so genannten Globalen Nordens<br />

nicht unberücksichtigt bleiben. Viele der Fluchtursachen sind Ergebnis<br />

von Sklaverei und Kolonialismus und damit einhergehender Unterdrückung<br />

und Ausbeutung des so genannten Globalen Südens, die bis heute<br />

als post- und neokoloniale Praktiken und Strukturen in der Gesellschaft<br />

fortbestehen. Auch der aktuelle Imperialismus, der sich in Kriegseinsätzen,<br />

Waffen- und Rüstungsexporten sowie in der Unterstützung autoritärer<br />

und repressiver Gewaltregime (u.a. Auslagerung des Flüchtlingsschutzes<br />

aus Europa) zeigt, darf hierbei nicht unerwähnt bleiben.<br />

5 Der Begriff sexualisierte Gewalt verdeutlicht neben der körperlichen,<br />

sexuellen und psychischen Gewalt auch immer die Machtausübung<br />

gegenüber Frauen.

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