Die Zeitschrift für stud. iur. - Iurratio
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170<br />
Fallbearbeitung<br />
SACHVERHALT<br />
Examenskandidaten im Öffentlichen Recht: „Tabakwerbeverbot“<br />
Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M. / Akad. Rat Dr. Ferdinand Wollenschläger<br />
Der Autor Herrmann ist Inhaber der Lehrstuhls <strong>für</strong> Staats- und Vewaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Inter-<br />
nationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau, der Autor Wollenschläger Akademischer Rat am Lehrstuhl <strong>für</strong><br />
Öffentliches Recht und Staatsphilosophie (Prof. Dr. Peter M. Huber) der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität München.<br />
Das Europäische Parlament und der Rat erlassen formell ordnungsgemäß<br />
eine Richtlinie über die Herstellung und Aufmachung von Tabakerzeugnissen<br />
sowie über die Werbung <strong>für</strong> diese (Tabakrichtlinie). <strong>Die</strong> Richtlinie wurde im<br />
Amtsblatt der EU vom 31.3.2009 veröffentlicht. In der Richtlinie werden<br />
Grenzen <strong>für</strong> den zulässigen Gehalt an Nikotin, Teer und Kohlenmonoxid ge-<br />
regelt und es wird die Anbringung von Warnhinweisen und Angaben über<br />
die Gehalte an o.g. Stoffen vorgeschrieben. Zudem enthält die Richtlinie ein<br />
Verbot der Werbung <strong>für</strong> Tabakwaren in Zeitungen und <strong>Zeitschrift</strong>en sowie<br />
durch Restaurantausstattungen (Sonnenschirme, Aschenbecher etc.). Zur Be-<br />
gründung wird angeführt, ein Handeln der EU auf diesem Gebiet sei ange-<br />
zeigt, da ansonsten infolge auseinander laufender Gesetzgebung in den Mit-<br />
gliedstaaten der Binnenmarkt <strong>für</strong> Tabakerzeugnisse ebenso wie der <strong>für</strong> Zei-<br />
tungen und <strong>Zeitschrift</strong>en beeinträchtigt würde. Bereits mehrere Mitgliedstaa-<br />
ten hatten angekündigt, dass sie ihre Vorgehensweise gegen das Rauchen ver-<br />
schärfen wollten und hierzu verschiedene Maßnahmen in Betracht ziehen,<br />
u.a. Werbeverbote sowie Einfuhrverbote <strong>für</strong> Zigaretten, die bestimmte<br />
Höchstwerte an Nikotin etc. übersteigen.<br />
<strong>Die</strong> Rauchgenuss AG, ein führender deutscher Hersteller von Tabakwaren,<br />
sieht sich durch die Richtlinie in erheblichem Maße wirtschaftlich beein-<br />
trächtigt. <strong>Die</strong> Richtlinie erleichtere den Handel zwischen den Mitgliedstaaten<br />
nicht, vielmehr verhindere sie ihn praktisch vollständig. Im Übrigen dürfe die<br />
EU im Bereich des Gesundheitsschutzes überhaupt nicht tätig werden. Zu-<br />
mindest sei es ihr diesbezüglich verboten, die Rechtsvorschriften der Mit-<br />
gliedstaaten zu harmonisieren. Das Vorgehen der EU stelle insoweit eine<br />
klare Umgehung dar.<br />
Auch die BRD sieht sich in ihren Zuständigkeiten rechtswidrig beschnitten.<br />
Genauso wie die Rauchgenuss AG hält sie die EU <strong>für</strong> unzuständig; jedenfalls<br />
widerspreche aber ein Tätigwerden der Union dem Subsidiaritätsgrundsatz.<br />
Schließlich verletzten die Verbote die Eigentums-, Berufs- und Meinungsfrei-<br />
heit.<br />
<strong>Die</strong> Rauchgenuss AG und die BRD erheben deshalb am 16.6.2009 Klage beim<br />
Gerichtshof.<br />
Bearbeitervermerk:<br />
Prüfen Sie gutachterlich die Erfolgsaussichten der Klagen.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 3 + 4 / 2009<br />
LÖSUNGSHINWEISE<br />
Vorbemerkung: Ungeachtet etwaiger Übergangsfragen beruht die Lösung<br />
auf dem Vertrag von Lissabon.<br />
A. EINSCHLÄGIGER RECHTSBEHELF<br />
<strong>Die</strong> BRD und die Rauchgenuss AG begehren die Nichtigerklärung einer EU-<br />
Richtlinie. Hier<strong>für</strong> kommt die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV in Be-<br />
tracht (vgl. Art. 264 AEUV).<br />
B. ZULÄSSIGKEIT DER KLAGEN<br />
I. ZUSTÄNDIGKEIT<br />
Für Klagen der Mitgliedstaaten sowie der Unionsorgane ist grundsätzlich der<br />
EuGH zuständig (Art. 256 I 1 AEUV i.V.m. Art. 51 Satzung EuGH; dort auch<br />
zu Ausnahmen). Für sonstige Klagen ist das EuG zuständig (Art. 256 I 1<br />
AEUV i.V.m. Art. 51 Satzung EuGH e contrario).<br />
II. KLAGEBERECHTIGUNG<br />
Klageberechtigt sind die Mitgliedstaaten, die Unionsorgane sowie natürliche<br />
und juristische Personen. <strong>Die</strong> BRD ist als Mitgliedstaat klageberechtigt, die<br />
Rauchgenuss AG als juristische Person i.S.d. Art. 263 IV AEUV (unions-<br />
rechtlich-autonomer Begriff 1 ).<br />
III. BEKLAGTER<br />
<strong>Die</strong> Klage ist gegen das Unionsorgan zu richten, welches den streitgegen-<br />
ständlichen Rechtsakt erlassen hat, d.h. hier gegen EP und Rat als Unionsge-<br />
setzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, dem Mitentscheidungs-<br />
verfahren (Art. 289, 294 AEUV).<br />
IV. KLAGEGEGENSTAND<br />
Als privilegiert klageberechtigter Mitgliedstaat kann die BRD ohne Weiteres<br />
eine Richtlinie anfechten.<br />
Natürliche und juristische Personen konnten gemäß Art. 230 IV EG gegen an<br />
sie und an Dritte ergangene Entscheidungen sowie gegen Entscheidungen,<br />
1 EuGH, Rs. 135/81, Slg. 1982, 3799, Rn. 10 – Groupement des agences<br />
de voyages; W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar,<br />
2007, Art. 230 (jetzt: Art. 263 AEUV), Rn. 27.<br />
die als Verordnung ergangen sind („Schein-Verordnung“) Klage erheben.<br />
Eine Schein-Verordnung ist ein der Form nach als Verordnung erlassener<br />
Rechtsakt, der allerdings keine allgemeine Geltung (vgl. Art. 249 UA 2 S. 1<br />
EGV, jetzt Art. 288 UA 2 S. 1 AEUV) aufweist und damit seinem Inhalt nach<br />
kein normativer Akt ist. Mit der Einbeziehung von Schein-Verordnungen in<br />
Art. 230 IV EG „sollte insbesondere verhindert werden, dass die Gemein-<br />
schaftsorgane allein durch die Wahl der Form der Verordnung die Klage eines<br />
Einzelnen gegen die Entscheidung ausschließen können, die ihn unmittelbar<br />
und individuell betrifft; es sollte klargestellt werden, dass die Wahl der Form<br />
die Rechtsnatur einer Handlung nicht ändern kann“. 2 Nach der Rechtspre-<br />
chung des EuGH konnten darüber hinaus sogar „echte“ Verordnungen mit<br />
der Nichtigkeitsklage angegriffen werden, wenn sie „bestimmte natürliche<br />
oder juristische Personen individuell betreffen und damit ihnen gegenüber<br />
Entscheidungscharakter haben“. 3 <strong>Die</strong>s war dann im Rahmen der Klagebefug-<br />
nis zu prüfen.<br />
Richtlinien waren vom Wortlaut des Art. 230 IV EG aber überhaupt nicht er-<br />
fasst. Daher war umstritten, ob sie Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein<br />
können. Gegen eine solche Möglichkeit sprach der eindeutige Wortlaut. Sah<br />
man hierin kein generelles Hindernis, so stellte sich weiter die Frage, ob –<br />
analog zum eben zu Verordnungen ausgeführten – nur sog. „Scheinrichtli-<br />
nien“ oder auch „echte“ Richtlinien angreifbar sein sollten. Jedenfalls „Schein-<br />
Richtlinien“ wurden überwiegend <strong>für</strong> angreifbar gehalten mit dem Argument,<br />
dass insoweit genauso wie bei Verordnungen die Gefahr des Formmiss-<br />
brauchs bestünde (Entscheidung im Gewande einer Richtlinie) und der Ge-<br />
meinschaftsgesetzgeber nicht mittels der Formwahl über Rechtsschutzmög-<br />
lichkeiten bestimmen dürfe. 4 Ob auch „echte“ Richtlinien erfasst waren, war<br />
genauso – wie bei „echten“ Verordnungen – umstritten. <strong>Die</strong> neuere Recht-<br />
sprechung des EuG bejahte dies; argumentiert wurde analog zur Problematik<br />
bei „echten“ Verordnungen. 5<br />
Der neu gefasste Art. 263 IV AEUV sieht vor, dass natürliche und juristische<br />
Personen „gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell<br />
betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter,<br />
die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach<br />
sich ziehen“ Nichtigkeitsklage erheben können. Da der Begriff der Handlun-<br />
gen auch Richtlinien umfasst (vgl. Art. 288 AEUV), stellen Richtlinien seit In-<br />
Kraft-Treten des Vertrags von Lissabon unproblematisch einen tauglichen<br />
Klagegegenstand dar.<br />
Zwischenergebnis:<br />
<strong>Die</strong> Tabak-Richtlinie ist mithin tauglicher Klagegegenstand.<br />
2 EuGH, Verb. Rs. 789 und 790/79, Slg. 1980, 1949, Rn. 7 – Calpak u.a.<br />
3 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 – Unión de Pequeños<br />
Agricultores; ferner Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 13 f. – Extramet;<br />
Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853, Rn. 19 – Codorníu. Näher: W. Cremer, in:<br />
Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007, Art. 230, Rn. 30 ff.<br />
4 EuG, Rs. T-223/01, Slg. 2002, II-3259, Rn. 28 – Japan Tobacco Inc. u.a.;<br />
T-321/02, Slg. 2003, II-1997, Rn. 21 – Vannieuwenhuyze-Morin; Rs. T-<br />
310/03, Slg. 2006, II-36, Rn. 40 ff. – Kreuzer.<br />
5 EuG, Rs. T-135/96, Slg. 1998, II-2335, Rn. 67 f. – UEAPME; ferner verb.<br />
Rs. T-172, T-175–177/98, Slg. 2000, II-2487, Rn. 30 – Salamander; Rs. T-<br />
223/01, Slg. 2002, II-3259, Rn. 28 ff. – Japan Tobacco Inc. u.a.; Rs. T-<br />
321/02, Slg. 2003, II-1997, Rn. 21 ff. – Vannieuwenhuyze-Morin; T-<br />
310/03, Slg. 2006, II-36, Rn. 47 – Kreuzer; R. Streinz, Europarecht, 2008,<br />
Rn. 591; siehe aber auch Rs. T-99/94, Slg. 1994, II-871, Rn. 17 f. – Asocarne.<br />
I. E. str., näher: W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-<br />
Kommentar, 2007, Art. 230 (jetzt: Art. 263 AEUV), Rn. 38 ff.<br />
<strong>Iurratio</strong><br />
Ausgabe 3 + 4 / 2009<br />
V. KLAGEBEFUGNIS<br />
Fallbearbeitung<br />
Fraglich ist, ob die BRD und die Rauchgenuss AG klagebefugt sind. Insoweit<br />
ist zwischen ersterer als privilegiert (1.) und letzterer als nicht-privilegiert (2.)<br />
Klageberechtigten zu differenzieren. Sog. „privilegiert Klageberechtigte“ sind<br />
stets klagebefugt (Art. 263 II AEUV). Damit ist die Klagebefugnis der BRD<br />
ohne Weiteres zu bejahen. Für sog. „nicht-privilegiert“ Klageberechtigte muss<br />
die Klagebefugnis demgegenüber gesondert festgestellt werden. Natürliche<br />
und juristische Personen sind bei an sie gerichteten Handlungen stets klage-<br />
befugt. Im Übrigen ist eine unmittelbare (aa) und individuelle (bb) Betroffen-<br />
heit erforderlich.<br />
A) UNMITTELBARE BETROFFENHEIT<br />
<strong>Die</strong> angegriffene Maßnahme muss sich auf die Rechtsstellung des Betroffen<br />
unmittelbar auswirken, d.h. es dürfen entweder keine Vollzugsakte mehr er-<br />
forderlich sein (formelle Unmittelbarkeit) oder trotz Notwendigkeit eines<br />
Vollzugsakts keinerlei Ermessensspielräume bzgl. des „Ob“ und „Wie“ der<br />
Umsetzung bestehen (materielle Unmittelbarkeit). 6 Da Richtlinien einer Um-<br />
setzung in das nationale Recht bedürfen (vgl. Art. 288 III AEUV), kommt nur<br />
die zweite Alternative in Betracht. Bei der Umsetzung dürfte den Mitglied-<br />
staaten mithin kein Ermessensspielraum zukommen. <strong>Die</strong>s kann <strong>für</strong> die zwin-<br />
genden Vorschriften einer Richtlinie angenommen werden (str. mit Blick auf<br />
Umsetzungsbedürftigkeit). 7<br />
Hinsichtlich der Umsetzung des Werbeverbots besteht kein Spielraum <strong>für</strong> die<br />
Mitgliedstaaten. Damit ist eine unmittelbare Betroffenheit der Rauchgenuss<br />
AG zu bejahen.<br />
B) INDIVIDUELLE BETROFFENHEIT<br />
<strong>Die</strong> Rauchgenuss AG müsste aber auch individuell betroffen sein.<br />
Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Bestimmung der individuellen Betroffenheit ist die<br />
sog. „Plaumann-Formel“ des EuGH. Danach erfordert die individuelle Be-<br />
troffenheit, dass die „streitige Vorschrift … den Kläger wegen bestimmter<br />
persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen<br />
Personen heraushebenden Umstände [betrifft] und … ihn daher wie den<br />
Adressaten einer Entscheidung [individualisiert]“. 8 Wann dies der Fall ist, ha-<br />
ben der EuGH und das EuG in ihrer Rechtsprechung <strong>für</strong> den Einzelfall kon-<br />
kretisiert. 9<br />
<strong>Die</strong> bloße (nachteilige) Betroffenheit durch einen Unionsrechtsakt qua Grup-<br />
penzugehörigkeit genügt damit nicht. Demnach wäre die Rauchgenuss AG<br />
nicht klagebefugt, da sie durch die Richtlinie lediglich als Tabakwarenherstel-<br />
lerin nachteilig betroffen ist. In der Rs. Jégo-Quéré hat das EuG das der Recht-<br />
sprechung des EuGH zugrunde liegende restriktive Verständnis der individu-<br />
6 W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2007,<br />
Art. 230 (jetzt: Art. 263 AEUV), Rn. 46 ff. Siehe aber auch EuG, verb. Rs.<br />
T-172 und 175-177/98, Slg. 2000, II-2487, Rn. 54, 64 ff. – Salamander<br />
u.a.<br />
7 So auch U. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003,<br />
Art. 230 (jetzt: Art 263 AEUV), Rn. 49. Siehe demgegenüber aber auch<br />
EuG, verb. Rs. T-172 und 175-177/98, Slg. 2000, II-2487, Rn. 54, 64 ff. –<br />
Salamander u.a.; C. Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht/<br />
Staatsrecht, 2009, Rn. 225.<br />
8 EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 199 (238) – Plaumann.<br />
9 Vgl. EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 32 ff. – Jégo-Quéré.<br />
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