8 Theorien als Strukturen I - Moodle 2
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Wege der Wissenschaft<br />
Einfiihrung in die Wissenschaftstheorie
Alan R Chalmers<br />
Wege der<br />
Wissenschaft<br />
Einftihrung in die<br />
Wissenschaftstheorie<br />
Herausgegeben und iibersetzt von<br />
Niels Bergemann<br />
und Christine Altstotter-Gleich<br />
Sechste, verbesserte Auflage<br />
Sprin ger
Herausgeber und Ubersetzer<br />
Dr. med. Dr. rer pol. Dipl.-Psych. Niels Bergemann<br />
Klinik fiir AUgemeine Psychiatric<br />
Zcntrum fiir Psychosozialc Mcdizin<br />
Univcrsitatsklinikum Heidelberg<br />
Vo6-Stra6e 4<br />
69115 Heidelberg<br />
niels.bergemann@med.uni-heidelberg.de<br />
Dr phil. Christine Altstotter-GIeich<br />
Universitat Koblenz-Landau, Campus Landau<br />
Fachbereich Psychologie<br />
Im Fort 7<br />
76829 Landau i. d. Pfalz<br />
altst@uni-landau.de<br />
Titel der englischen Originalausgabe:<br />
A. F. Chalmers, What is This Tiling Called Science?<br />
© University of Queensland Press, St. Lucia, Queensland, 1999<br />
First published 1976, reprinted 1978, 1979 and 1981. Second edition 1982.<br />
Third edition 1999<br />
Mit 3 Abbildungen<br />
ISBN-10 3-540-49490-1 Springer Berlin Heidelberg New York<br />
lSBN-13 978-3-540-49490-4 Springer Berlin Heidelberg New York<br />
ISBN 3-540-67477-2 5. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1986,1989,1994,1999,2001, 2007<br />
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berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne<br />
der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung <strong>als</strong> frei zu betrachten waren und daher von<br />
jedermannbenutztwerden diirften.<br />
Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vockler GbR, Leipzig<br />
Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg<br />
SPIN 11935353 42/3100YL -543210 Gedruckt auf saurefreiem Papier
„ Like all young men I set out to be a genius,<br />
but mercifully laughter intervened. "<br />
Clea Lawrence Durrell
Inhalt<br />
Vorwort der Herausgeber XI<br />
Vorwort zur ersten Auflage XIII<br />
Vorwort zur zweiten Auflage XV<br />
Vorwort zur dritten Auflage XVII<br />
Einleitung 1<br />
1. Wissenschaft <strong>als</strong> Erkenntnisform, die auf erfahrbaren<br />
Tatsachen beruht 5<br />
1.1 Eine weitverbreitete Auffassung von Wissenschaft 5<br />
1.2 Sehen heiBt Glauben 7<br />
1.3 Visuelle Erfahrungen werden nicht durch das Bild<br />
auf der Retina bestimmt 8<br />
1.4 Beobachtbare Tatsachen <strong>als</strong> Aussagen 12<br />
1.5 Warum sollten Tatsachen der Theorie vorausgehen? 14<br />
1.6 Die Fehlbarkeit von Beobachtungsaussagen 15<br />
2. Beobachtung <strong>als</strong> Intervention 19<br />
2.1 Beobachtung: passiv und privat oder offentlich und aktiv? 19<br />
2.2 Galilei und die Monde des Jupiters 21<br />
2.3 Beobachtbare Tatsachen: objektiv, aber fehlbar 23<br />
3. Das Experiment 25<br />
3.1 Nicht einfach Tatsachen, sondem r^/^va^^e Tatsachen 25<br />
3.2 Das Erzielen experimenteller Ergebnisse und ihre Aktualisierung 26<br />
3.3 Veranderung der experimentellen Basis von Wissenschaft:<br />
historische Beispiele 28<br />
3.4 Das Experiment <strong>als</strong> angemessene Basis fur die Wissenschaft 33
VIII<br />
4. Der Induktivismus 35<br />
4.1 Die Ableitung von <strong>Theorien</strong> aus Tatsachen 35<br />
4.2 Deduktives SchlieBen 35<br />
4.3 Konnen wissenschaftliche Gesetze aus Tatsachen abgeleitet<br />
werden? 37<br />
4.4 Was konstituiert ein gutes indukives Argument? 39<br />
4.5 Weitere Probleme des induktiven SchlieBens 41<br />
4.6 Der Reiz des Induktivismus 44<br />
5. Der F<strong>als</strong>ifikationismus 51<br />
5.1 Einleitung 51<br />
5.2 Ein logisches Argument zur Unterstiitzung des<br />
F<strong>als</strong>ifikationismus 52<br />
5.3 F<strong>als</strong>ifizierbarkeit <strong>als</strong> Kriterium fur gute <strong>Theorien</strong> 53<br />
5.4 F<strong>als</strong>ifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Prazision 56<br />
5.5 F<strong>als</strong>ifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt 59<br />
6. Der raffinierte F<strong>als</strong>ifikationismus, neuartige Vorhersagen und<br />
der Fortschritt der Wissenschaft 63<br />
6.1 Relativer und absoluter F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsgrad 63<br />
6.2 Die Erhohung der F<strong>als</strong>ifizierbarkeit und Ad-hoc-<br />
Modifikationen 64<br />
6.3 Bewahrung im F<strong>als</strong>ifikationismus 67<br />
6.4 Kuhnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen 68<br />
6.5 Ein Vergleich induktivistischer und f<strong>als</strong>ifikationistischer<br />
Sichtweise von Bewahrung 70<br />
6.6 Die Vorteile des F<strong>als</strong>ifikationismus gegentiber dem<br />
Induktivismus 71<br />
7. Die Grenzen des F<strong>als</strong>ifikationismus 73<br />
7.1 Probleme der Logik 73<br />
7.2 Die Unzulanglichkeit des F<strong>als</strong>ifikationismus vor dem<br />
Hintergrund historischer Beispiele 76<br />
7.3 Die kopernikanische Revolution 78<br />
7.4 Die Unangemessenheit des f<strong>als</strong>ifikationistischen<br />
Abgrenzungskriteriums und Poppers Antwort 84
8. <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> I: Kuhns Paradigmen 87<br />
8.1 <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> 87<br />
8.2 Thomas Kuhn 89<br />
8.3 Paradigmen und Normalwissenschaft 90<br />
8.4 Krise und Revolution 94<br />
8.5 Die Funktion von Normalwissenschaft und Revolutionen 97<br />
8.6 Die Verdienste des kuhnschen Beitrags zur Wissenschaftstheorie 99<br />
8.7 Kuhns Ambivalenz beztiglich des Fortschritts durch<br />
Revolutionen 101<br />
8.8 Objektives Wissen 102<br />
9. <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> II: Forschungsprogramme 107<br />
9.1 ImreLakatos 107<br />
9.2 Die lakatosschen Forschungsprogramme 107<br />
9.3 Methodologie innerhalb eines Programms und die<br />
Vergleichbarkeit von Programmen 111<br />
9.4 Neuartige Vorhersagen 113<br />
9.5 Die Uberprtifting einer Methodologie an der Geschichte 115<br />
9.6 Probleme mit der lakatosschen Methodologie 118<br />
10. Feyerabends anarchistische Wissenschaftstheorie 121<br />
10.1 Standortbestimmung 121<br />
10.2 Feyerabends Argumentation wider den Methodenzwang 122<br />
10.3 Feyerabends Eintreten ftir Freiheit 126<br />
10.4 Kritik an Feyerabends Individualismus 127<br />
11. Methodologische Wechsel 131<br />
11.1 Wider eine universelle Methode 131<br />
11.2 Der Einsatz von Teleskopen statt der Beobachtung mit<br />
bloBem Auge: ein Wechsel von MaBstaben 132<br />
11.3 Der sukzessive Wechsel von <strong>Theorien</strong>, Methoden und<br />
Standards 136<br />
11.4 Intermezzo 138<br />
12. Der Ansatz von Bayes 141<br />
12.1 Einleitende Bemerkungen 141<br />
12.2 Das bayessche Theorem 142<br />
12.3 Subjektiver Bayesianismus 144<br />
12.4 Anwendungsmoglichkeiten der bayesschen Formel 146<br />
12.5 Kritik am subjektiven Bayesianismus 150<br />
IX
13. Der Neue Experimentalismus 155<br />
13.1 Einmhmng 155<br />
13.2 Zur Eigenstandigkeit von Experimenten 156<br />
13.3 Deborah Mayo zum strengen experimentellen Uberprtifen 159<br />
13.4 Das Lernen aus Fehlern und das Auslosen von Revolutionen 162<br />
13.5 Perspektiven des Neuen Experimentalismus 164<br />
13.6 Anhang: Ein gliickliches Aufeinandertreffen von Theorie<br />
und Experiment 167<br />
14. Warum sollte die Welt Gesetzen folgen? 171<br />
14.1 Einleitung 171<br />
14.2 Gesetze <strong>als</strong> RegelmaBigkeiten 172<br />
14.3 Gesetze <strong>als</strong> Charakterisierungen von Potenzial oder<br />
Dispositionen 174<br />
14.4 Thermodynamische Gesetze und Erklarungsansatze 177<br />
15. Realismus und Anti-Realismus 181<br />
15.1 Einleitung 181<br />
15.2 Globaler Anti-Realismus: Sprache, Wahrheit und Realitat 182<br />
15.3 Anti-Realismus 185<br />
15.4 Einige Standardeinwande und die Antworten des Anti-<br />
Realismus 186<br />
15.5 Wissenschaftlicher Realismus und Realismus der<br />
Vermutungen 189<br />
15.6 Idealisierung 192<br />
15.7 Nichtreprasentativer Realismus oder struktureller Realismus 194<br />
16. Epilog 197<br />
Literaturverzeichnis 203<br />
Deutschsprachige Bibliographic 211<br />
Personenverzeichnis 235<br />
Sachregister 239
Vorwort der Herausgeber<br />
Der vorliegende Band von Alan F. Chalmers erscheint nun bereits in der sechsten<br />
deutschsprachigen Auflage und ist mittlerweile zu einem Standard-Lehrbuch an<br />
vielen Hochschulen und Universitaten auch im deutschen Sprachraum avanciert.<br />
Erfreulicherweise wird es auch bereits in der Oberstufe mancher Gymnasien eingesetzt.<br />
Chalmers fuhrt klar verstandlich und ohne spezielle Vorkenntnisse vorauszusetzen<br />
anhand vieler Beispiele in die Grundlagen der Wissenschaftstheorie ein und<br />
leitet zu neueren Ansatzen und zur aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion<br />
hin. In den ersten Kapiteln werden so die klassischen Ansatze der Wissenschaftstheorie<br />
im Uberblick dargestellt; die Ansatze von Karl Popper, Imre Lakatos,<br />
Thomas Kuhn und Paul Feyerabend werden vorgestellt, miteinander verglichen<br />
und ihre Grenzen werden diskutiert. Die letzten, erst in der funften deutschsprachigen<br />
Auflage (dritte englischsprachige Auflage) hinzugekommenen Kapitel,<br />
widmet Chalmers den aktuellen Diskussionen zu der Bedeutung des Experiments<br />
und dem „Neuen Experimentalismus", dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz<br />
von Bayes, dem Wesen naturwissenschaftlicher Gesetze sowie der „Realismus<br />
versus Anti-Realismus-Debatte".<br />
Eine Fortsetzung des Bandes im Hinblick auf die aktuelle wissenschaftstheoretische<br />
Debatte, die schlagworthaft unter dem Motto „universelle, ahistorische<br />
MaBstabe und Methoden versus skeptischem Relativismus" zusammengefasst werden<br />
kann, und eine Auseinandersetzung mit wissenschaftssoziologischen Ansatzen<br />
finden sich in Chalmers' Buch „Grenzen der Wissenschafl" (1999), das ebenfalls<br />
im Springer-Verlag erschienen ist.<br />
FUr die jetzt vorliegende sechste Auflage wurde der Text durchgesehen und -<br />
wo erforderlich - wurden Korrekturen vorgenommen. Dabei wurden auch einige<br />
der Ungereimtheiten, die auf die zuruckliegende Rechtschreibreform zurtickgehen,<br />
gemaB den Empfehlungen des Rats fiir die deutsche Rechtschreibung korrigiert.<br />
Die bereits fiir die erste deutschsprachige Ausgabe erarbeitete ,,Deutschsprachige<br />
Bibliographie zur Wissenschaftstheorie'' wurde fur die vorliegende sechste Auflage<br />
tiberarbeitet, aktualisiert und nochm<strong>als</strong> deutlich erweitert. Sie stellte zunachst<br />
eine - gewiss subjektive - Auswahl dar, die die Herausgeber fiir eine erste Orien-
XII<br />
tierung bei der Beschaftigung mit der Thematik <strong>als</strong> niitzlich erachteten; mittlerweile<br />
gibt sie einen LFberblick iiber die deutschsprachige wissenschaftstheoretische<br />
Literatur. Sie soil einerseits dem Umstand Rechnung tragen, dass Chalmers<br />
sich weitestgehend auf Literatur des anglo-amerikanischen Sprachraums bezieht<br />
und Entwicklungen im deutschsprachigen Raum weniger beriicksichtigt, und<br />
andererseits einen Leitfaden fur die eingehende Beschaftigung mit dem Gegenstand<br />
bieten. Weiterhin wurde flir die deutschsprachige Ausgabe ein Sachregister<br />
erstellt, das die praktische Handhabung des Buches verbessem soil. Sofern es den<br />
Herausgebem <strong>als</strong> hilfreich, sinnvoll oder gar notwendig erschien, wurde die<br />
deutschsprachige Ausgabe um einige wenige Anmerkungen erweitert.<br />
Dem Springer-Verlag ist ftir das Ermoglichen der nunmehr sechsten Auflage<br />
sehr zu danken. Herrn Professor Dr. Jochen Prtimper, Fachhochschule fur Technik<br />
und Wirtschaft Berlin, sei an dieser Stelle nochm<strong>als</strong> fur die Mitherausgabe und die<br />
Beteiligung an der Textbearbeitung der ersten vier Auflagen, die auf der zweiten<br />
englischsprachigen Ausgabe beruhten, gedankt. Herrn Dr. Albrecht Schultz schulden<br />
die Herausgeber Dank ftir wertvolle Kommentare bei der LFbertragung physikalischer<br />
und physikgeschichtlicher Sachverhalte. Besonderer Dank jedoch gilt<br />
der Leserschaft des Buches fur die anhaltende positive Resonanz, die es auch in<br />
der deutschsprachigen Ausgabe erhalten hat. Diese Resonanz auf Chalmers' Einfiihrungswerk<br />
wird von den Herausgebem hoffiiungsvoll in der Weise interpretiert,<br />
dass die Beschaftigung mit den Grundlagen der Wissenschaftstheorie zu<br />
einem selbstverstandlichen, wenn nicht sogar unverzichtbaren Bestandteil der<br />
Ausbildung in jeder fachwissenschaftlichen Disziplin geworden ist.<br />
Im September 2006,<br />
Niels Bergemann, Christine Altstotter-Gleich,<br />
Heidelberg Landau/Pfalz
Vorwort zur ersten Auflage<br />
Das Ziel dieses Buches ist es, eine leicht verstandliche, klare und elementare Einfuhrung<br />
in die neueren Betrachtungen uber das Wesen der Wissenschaft zu geben.<br />
Wahrend meiner Lehrtatigkeit sowohl fixr Studenten der unteren Semester <strong>als</strong> auch<br />
fiir Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche, die einen Einblick in die<br />
neueren Entwicklungen der Wissenschaftstheorie gewinnen wollten, wurde mir<br />
immer klarer, dass es kein einziges Buch, und nicht einmal eine kleine Auswahl<br />
von Btichern gibt, die Anfangem hatten empfohlen werden konnen. Die einzigen<br />
Quellen, die uber die neuere Diskussion verfugbar sind, sind die Originaltexte.<br />
Viele dieser Quellen sind jedoch fiir den Anfanger zu schwierig, und es sind vor<br />
allem zu viele, <strong>als</strong> dass sie ohne weiteres einer groBeren Anzahl von Studenten<br />
zuganglich gemacht werden konnten. Ftir all diejenigen, die sich mit der Wissenschaftsphilosophie<br />
intensiver auseinandersetzen mochten, kann dieses Buch<br />
naturlich kein Ersatz fiir die Originalquellen sein; aber dennoch hoffe ich, dass es<br />
einen brauchbaren und guten Einstieg bietet, den es anderweitig nicht gibt.<br />
Mein Vorsatz, die Diskussion moglichst einfach zu gestalten, scheint sich fiir<br />
etwa zwei Drittel des Buches tatsachlich erfiillt zu haben. Zu dem Zeitpunkt, <strong>als</strong><br />
ich dieses Stadium erreicht hatte und mich daran machen wollte, die neueren Betrachtungen<br />
zu kritisieren, entdeckte ich zu meiner Uberraschung, dass ich erstens<br />
mit diesen Betrachtungen weit weniger tibereinstimmte <strong>als</strong> ich vermutet hatte und<br />
dass zweitens aus meiner Kritik eine in sich schltissige Alternative hervorging.<br />
Diese Alternative wird im letzten Kapitel dieses Buches in groben Zugen dargestellt.<br />
Es ware fiir mich ein erfi'eulicher Gedanke, wenn die zweite Halfte dieses<br />
Buches nicht nur Zusammenfassungen bekannter Betrachtungen iiber das Wesen<br />
der Wissenschaft liefern wiirde, sondern ein wenig dartiber hinausginge.<br />
Mein Interesse fiir die Geschichte und die Philosophic der Wissenschaft<br />
wurde in London geweckt, in einem Klima, das von Karl Popper beherrscht<br />
wurde. Aus dem Inhalt des vorliegenden Buches geht deutlich hervor, was ich<br />
ihm, seinen Aufsatzen, Vorlesungen und Seminaren, aber auch dem leider viel zu<br />
filih gestorbenen Imre Lakatos zu verdanken habe. Die Form der ersten Halfte<br />
dieses Buches ist zu einem groBen Teil an dem brillanten Artikel von Lakatos iiber<br />
die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme angelehnt. Ein be-
XIV<br />
merkenswertes Merkmal der popperschen Schule war der Nachdruck, der darauf<br />
gelegt wurde, sich das Problem, an dem man interessiert war, auch wirklich bewusst<br />
zu machen und die Betrachtungen iiber dieses Problem in einer einfachen<br />
und allgemeinverstandlichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Obwohl ich in<br />
dieser Hinsicht dem Vorbild von Popper und Lakatos viel verdanke, gehen etwaige<br />
Fahigkeiten, die ich entwickelt habe, um mich selber klar und deutlich auszudrticken,<br />
im Wesentlichen auf meine Zusammenarbeit mit Professor Heinz Post<br />
zuruck, der mich wahrend meiner Zeit am Chelsea College betreute, wo ich an der<br />
Fakultat fur Geschichte und Wissenschaftsphilosophie an meiner Dissertation<br />
arbeitete. Dabei werde ich jedoch einfach das fatale Geftihl nicht los, dass er sein<br />
Exemplar dieses Buches mit der Bitte an mich zuriickschicken wird, die Stellen,<br />
die er nicht versteht, noch einmal neu zu schreiben. Von den Kolleginnen und<br />
Kollegen in London, dam<strong>als</strong> zumeist noch Studenten, denen ich zu besonderem<br />
Dank verpflichtet bin, ist es vor allem Noretta Koertge, nun an der Universitat von<br />
Indiana, die mir immens geholfen hat.<br />
Ich bezeichnete oben die poppersche Schule <strong>als</strong> eine Schule, aber erst nachdem<br />
ich von London nach Sydney gegangen war, wurde mir vollends bewusst,<br />
wie stark ich einer Schule verbunden war. Zu meiner Oberraschung entdeckte ich,<br />
dass es dort Philosophen gab, die von Wittgenstein, Quine oder Marx beeinflusst<br />
und die der Meinung waren, dass Popper in vielen Punkten einfach Unrecht hatte;<br />
einige waren sogar der Uberzeugung, dass die von ihm vertretenen Auffassungen<br />
regelrecht gefahrlich seien. Ich glaube, dass ich aus dieser Erfahrung viel gelemt<br />
habe. Lines der Dinge, die ich gelernt habe, war, dass Popper, wie im letzten Teil<br />
dieses Buches naher erlautert werden soil, in der Tat in einigen entscheidenden<br />
Punkten Unrecht hat. Dies andert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Ansatz<br />
von Popper unendlich viel besser ist <strong>als</strong> die Ansatze, denen man sich in den meisten<br />
philosophischen Fakultaten, die ich kennengelernt habe, bedient.<br />
Viel verdanke ich meinen Freunden in Sydney, die mich aus meinem Schlummer<br />
aufweckten. Damit will ich jedoch nicht andeuten, dass ich ihren Ansatzen<br />
eher zustimme <strong>als</strong> denen von Popper. Aber das wissen sie besser. Da mir allerdings<br />
keine Zeit bleibt, mich mit dem obskuren Unsinn von der Inkommensurabilitat<br />
unterschiedlicher Konzepte zu beschaftigen (an dieser Stelle werden die<br />
Anhanger von Popper die Ohren spitzen), lieB mich - da ich gezwungen war, die<br />
Standpunkte meiner Kollegen und Kontrahenten in Sydney zu rezipieren und mich<br />
mit ihnen auseinanderzusetzen - die Starken ihrer Argumente und die Schwachen<br />
meiner eigenen Sichtweise verstehen lernen. Ich hoffe, dass niemand der Meinung<br />
ist, dass ich ihn ungebtihrend behandele, wenn ich an dieser Stelle nur besonders<br />
Jean Curthoys und Wal Suchting hervorhebe.<br />
Ich schlieBe mit einem herzlichen GruB an die Freunde, die keine Notiz von<br />
diesem Buch nehmen, es nicht lesen werden, und die mich ertragen mussten, wahrend<br />
ich dieses Buch geschrieben habe.<br />
Alan Chalmers<br />
Sydney, 1976
Vorwort zur zweiten Auflage<br />
Gemessen an den Reaktionen auf die erste Auflage dieses Buches, scheinen die<br />
ersten acht Kapitel die Erwartungen an eine „leichtverstandliche, klare und elementare<br />
Einfiihning in die neueren Betrachtungen uber das Wesen der Wissenschaft"<br />
recht gut zu erfullen. Im Allgemeinen schien jedoch auch Ubereinstimmung<br />
dartiber zu bestehen, dass dies fiir die letzten vier Kapitel nicht zutrifft.<br />
Folglich habe ich in dieser uberarbeiteten und erweiterten Auflage Kapitel eins bis<br />
acht nahezu unverandert gelassen und die letzten vier Kapitel durch sechs vollig<br />
neue ersetzt. Da eines der Probleme darin bestand, dass die letzten Kapitel der<br />
ersten Auflage nicht leicht zu verstehen waren, habe ich mich nun bemliht, die<br />
neuen Kapitel moglichst einfach zu gestalten, obschon ich befiirchte, dass mir dies<br />
bei dem recht anspruchsvollen Stoff der letzten beiden Kapitel nicht immer gegltickt<br />
ist. Auch wenn ich mich darum bemtiht habe, den Stoff moglichst einfach<br />
darzustellen, hoffe ich trotzdem, dass dadurch die Diskussion nicht weniger<br />
kontrovers ausgefallen ist.<br />
Ein anderes Problem bestand darin, dass der letzte Teil der ersten Auflage<br />
ausreichende Pragnanz vermissen lieB. Obwohl ich davon iiberzeugt bin, dass ich<br />
mit dem groBten Teil, den ich vorbrachte, auf der richtigen Spur war, ist es mir,<br />
wie mir meine Kritiker deutlich gemacht haben, gewiss nicht gelungen, eine in<br />
sich schliissige und gut begrundete Position darzustellen. Dieser Umstand kann<br />
jedoch nicht ausschlieBlich Luis Althusser angelastet werden, dessen Auffassungen<br />
zu der Zeit, <strong>als</strong> ich dieses Buch geschrieben hatte, sehr stark in Mode waren<br />
und dessen Einfluss in gewissem Umfange in dieser neuen Auflage noch immer<br />
deutlich wird. Ich habe daraus gelernt und werde mich davor hiiten, mich in<br />
Zukunft noch einmal zur unpassenden Zeit so sehr von dem letzten Schrei der<br />
Pariser Mode beeinflussen zu lassen.<br />
Meine Freunde Terry Blake und Denise Russell haben mich davon iiberzeugt,<br />
dass an den Schriften von Paul Feyerabend wesentlich mehr dran ist, <strong>als</strong> ich anfanglich<br />
bereit war, anzuerkennen. Ich habe ihm darum in dieser neuen Auflage<br />
mehr Aufmerksamkeit geschenkt und mich darum bemtiht, die Spreu vom Weizen<br />
zu trennen, den Anti-Methodismus vom Dadaismus. Auch fiihlte ich mich dazu<br />
verpflichtet, eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was wirklich wichtig
XVI<br />
ist, und dem „obskuren Unsinn von der Inkommensurabilitat unterschiedlicher<br />
Konzepte".<br />
Bei der Uberarbeitung dieses Buches verdanke ich sehr viel der Kritik meiner<br />
Kollegen, Rezensenten und Korrespondenten. Ich will gar nicht erst versuchen, sie<br />
alle namentlich zu erwahnen; ich weiB mich dessen schuldig und bedanke mich<br />
bei alien!<br />
Alan Chalmers,<br />
Sydney, 1981
Vorwort zur dritten Auflage<br />
Die vorliegende Neuauflage stellt eine vollige Uberarbeitung der vorangegangenen<br />
Auflage dar. Von dem bisherigen Text ist kaum etwas unverandert geblieben,<br />
einige Kapitel wurden vollstandig ersetzt und neue Kapitel kamen hinzu. Aus zwei<br />
Grtinden wurden diese Veranderungen notwendig. Erstens haben die zwanzig<br />
Jahre Lehrerfahrung im Bereich der Wissenschaftsphilosophie, die seit der ersten<br />
Auflage dieses Buches vergangen sind, dazu gefuhrt, dass ich einiges dazugelemt<br />
habe. Zweitens sind in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren einige wichtige<br />
Entwicklungen in der Wissenschaftsphilosophie zu verzeichnen, die in jedem<br />
Einfiihrungstext berucksichtigt werden sollten.<br />
Eine zurzeit recht einflussreiche wissenschaftsphilosophische Schule bezieht<br />
sich zum Beispiel auf den bayesschen Wahrscheinlichkeits-Begriff. Ein zweiter<br />
Trend, der „Neue Experimentalismus'\ legt den Schwerpunkt auf die Natur des<br />
Experiments und dessen RoUe in der Wissenschaft. In den Kapiteln 12 bzw. 13<br />
werden diese Ansatze beschrieben und einer Bewertung unterzogen. Jiingere Arbeiten,<br />
wie zum Beispiel die von Nancy Cartwright, werfen Fragen zur Natur von<br />
Gesetzen und deren Rolle in den Wissenschaften auf, sodass auch zu diesem<br />
Thema ein Kapitel in die neue Auflage aufgenommen wurde. Das Gleiche gilt fur<br />
ein Kapitel, das zum Ziel hat, die Debatte zwischen Realismus und „Anti-Realismus"<br />
zu beleuchten.<br />
Ohne vorgeben zu wollen, die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, die<br />
dem Titel dieses Buches zugrundeliegt, habe ich mich bemiiht, dem Leser eine<br />
anschauliche Einfuhrung in den aktuellen Stand wissenschaftstheoretischer Positionen<br />
zu geben. Fiir diejenigen, die die dargestellten Inhalte vertiefen wollen, finden<br />
sich am Ende jedes Kapitels Empfehlungen fiir weiterfiihrende Literatur.<br />
Ich will gar nicht erst versuchen, all die Kollegen und Studierenden hier anzufiihren,<br />
von denen ich Anregungen zur Verbesserung dieses Buches erhalten<br />
habe. Profitiert habe ich besonders von einem intemationalen Symposium mit dem<br />
Thema „What Is This Thing Called Science? Twenty Years On", das im Juni 1997<br />
in Sydney stattfand. Ich mochte den Sponsoren dieses Symposiums, dem British<br />
Council, der University of Queensland Press, der Open University Press, der<br />
Hackett Publishing Company und dem Uitgeverij Boom danken sowie den KoUe-
XVIII<br />
gen und Freunden, die mich bei diesem Vorhaben unterstiitzt haben. Die Veranstaltung<br />
hat viel dazu beigetragen, mich aufzubauen und mich zu motivieren, die<br />
Aufgabe in Angriff zu nehmen, dieses Buch zu uberarbeiten. Ein GroBteil der<br />
Arbeit erfolgte wahrend eines Research Fellowship am Dibner Institute for the<br />
History of Science and Technology (MIT). Auch hierfiir mochte ich meinen Dank<br />
aussprechen. Ein untersttitzenderes und der konzentrierten Arbeit zutraglicheres<br />
Umfeld konnte ich mir nicht wtinschen. Hasok Chang danke ich fur die sorgfaltige<br />
Lekture des Manuskripts und seine hilfreichen Anmerkungen.<br />
Alan Chalmers,<br />
Cambridge, Mass., 1998
Einleitung<br />
Wissenschaft genieBt hohes Ansehen. Offensichtlich ist es eine weit verbreitete<br />
Annahme, dass es mit der Wissenschaft und ihren Methoden etwas Besonderes auf<br />
sich habe. Die Bezeichnung einer Aussage, eines Gedankengangs oder eines Forschungsvorhabens<br />
<strong>als</strong> „wissenschaftlich" wird in einer Art und Weise vorgenommen,<br />
die einen Verdienst oder eine spezielle Art der Zuverlassigkeit impliziert.<br />
Aber was ist das Besondere an Wissenschaft? Was ist diese „wissenschaftliche<br />
Methode", die angeblich zu so besonders verdienstvollen oder zuverlassigen Ergebnissen<br />
ftihrt? Dieses Buch stellt einen Versuch dar, derartige Fragen zu<br />
beleuchten und zu beantworten.<br />
Eine Vielzahl von Indizien aus dem Alltagsleben sprechen dafur, dass Wissenschaft,<br />
trotz einiger Emiichterung wegen der ihr zugeschriebenen Konsequenzen,<br />
wie Atombomben und Umweltverschmutzung, hoch geachtet wird. In der<br />
Werbung wird haufig geltend gemacht, dass wissenschaftlich erwiesen sei, dass<br />
ein bestimmtes Produkt weiBer, leistungsfahiger, sexuell ansprechender oder in<br />
anderer Art und Weise einem Konkurrenzprodukt iiberlegen sei. Dies soil nahe<br />
legen, dass solche Aussagen besonders begriindet, eventuell sogar nicht anzweifelbar<br />
sind. Eine kurzlich erschienene Zeitungsanzeige, die fur die Glaubensgemeinschaft<br />
Christian Science warb, war uberschrieben mit „Die Wissenschaft<br />
spricht und sagt, dass die Bibel erwiesenermaBen wahr ist" und ftihrt im Weiteren<br />
an, dass „dies heutzutage selbst Wissenschaftler glauben". Hier haben wir einen<br />
direkten Ruckgriff auf die Autoritat von Wissenschaft und Wissenschaftlern. Was<br />
ist die Grundlage ftir eine solche Autoritat? Die hohe Achtung von Wissenschaft<br />
bleibt jedoch nicht beschrankt auf den Alltag oder die Massenmedien. Sie besteht<br />
nattirlich auch in der akademischen Welt selbst. Viele Gegenstandsbereiche werden<br />
von ihren Vertretem heute <strong>als</strong> Wissenschaften bezeichnet, vielleicht im Bemiihen<br />
darum, nahe zu legen, dass die eingesetzten Methoden genauso ftmdiert<br />
und potenziell finchtbar sind, wie zum Beispiel diejenigen traditioneller Wissenschaften<br />
wie Physik oder Biologic. Ftir poUtische und Sozialwissenschaften ist<br />
dies heute allgemein akzeptiert. Viele Marxisten bestehen darauf, dass der Historische<br />
Materialismus eine Wissenschaft ist. Daruber hinaus erscheinen in universitaren<br />
Vorlesungsverzeichnissen Bibliothekswissenschaften, Verwaltungswissen-
schaften, Sprechwissenschaften, Forstwissenschaften, Molkerei-, Fleisch- und<br />
Tierwissenschaften usw.^ So wird auch die Debatte uber den Status einer „Wissenschaft<br />
der Schopfung" noch immer gefuhrt. In diesem Kontext ist es notig zu<br />
erwahnen, dass Anhanger beider Seiten der Debatte annehmen, dass es so etwas<br />
wie eine spezielle Kategorie „Wissenschaft" gibt. Wortiber sie sich uneinig sind,<br />
ist, ob eine „Wissenschaft der Schopfung" <strong>als</strong> eine solche Wissenschaft begriffen<br />
werden kann.<br />
Viele Vertreter der sogenannten Sozial- oder Humanwissenschaften verfolgen<br />
eine Argumentation, die in aller Kurze etwa folgendermaBen lautet: „Der ohne<br />
Zweifel vorhandene Erfolg der Physik, der iiber die letzten 300 Jahre beobachtet<br />
werden kann, muss der Anwendung einer spezifischen Methode, der wissenschaftlichen<br />
Methode, zugeschrieben werden. WoUen die Sozial- bzw. Humanwissenschaften<br />
vergleichbare Erfolge erreichen, kann dies nur gelingen, indem diese<br />
Methode zunachst verstanden und formuHert und dann auf die Sozial- und<br />
Humanwissenschaften angewendet wird". Diese Argumentation wirft zwei grundsatzliche<br />
Fragen auf: „Was ist diese wissenschaftliche Methode, der der Erfolg der<br />
Physik zugeschrieben wird?" und „Ist es legitim, diese Methode auf andere Bereiche<br />
<strong>als</strong> der Physik zu tibertragen?"<br />
All dies macht deutlich, dass sowohl Fragen, die die Besonderheit wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis im Gegensatz zu anderen Arten der Erkenntnis betreffen,<br />
<strong>als</strong> auch die exakte Identifikation der wissenschaftlichen Methode <strong>als</strong> auBerordentlich<br />
wichtig und konsequenzenreich angesehen werden. Wie wir jedoch noch<br />
sehen werden, ist es alles andere <strong>als</strong> einfach, diese Fragen zu beantworten. Im<br />
Allgemeinen wird intuitiv angenommen, das Besondere an Wissenschaft sei, dass<br />
sie eher auf Tatsachen <strong>als</strong> auf personlichen Meinungen basiert. Wahrend personliche<br />
Meinungen iiber die relative Bedeutung der Novellen Charles Dickens'<br />
gegenuber denen von D. H. Lawrence recht unterschiedlich ausfallen mogen, gibt<br />
es derlei Unterschiede uber die jeweiligen Vorzuge der galileischen gegeniiber der<br />
einsteinschen Relativitatstheorie nicht. Tatsachen bedingen die Uberlegenheit der<br />
einsteinschen Erkenntnisse iiber vorangegangene Ansatze zur Relativitat, und<br />
jeder, der dies nicht anerkennt, int.<br />
Wie wir sehen werden, kann die Idee, dass das spezifische Merkmal wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis seine Fundierung auf Tatsachen sei, wenn uberhaupt, nur<br />
bedingt und in sehr vorsichtiger Art und Weise bestatigt werden. Wir werden auf<br />
begriindete Zweifel daran stoBen, dass Tatsachen, die auf der Grundlage von<br />
Wahrnehmung und Experimenten gewonnen werden, so offensichtlich und gesichert<br />
sind, wie traditionell angenommen. Wir werden ebenso feststellen, dass<br />
einiges dafiir spricht, dass wissenschaftliche Erkenntnis durch Tatsachen weder<br />
schliissig belegt noch schliissig verworfen werden kann, selbst wenn die Verfligbarkeit<br />
solcher Tatsachen vorausgesetzt werden kann. Einige der Argumente, die<br />
einen solchen Skeptizismus unterstiitzen, basieren auf der Analyse der Natur von<br />
Beobachtung sowie der Natur logischen Argumentierens und seiner Moglichkeiten.<br />
Andere beziehen sich auf die Geschichte der Wissenschaft und der gegenwartigen<br />
wissenschaftlichen Praxis. Neuere Entwicklungen von <strong>Theorien</strong> uber Wis-<br />
Diese Liste verdanke ich C. Trusedell, zitiert nach J. R. Ravetz (1971, S. 387f).
senschaft und wissenschaftliche Methoden schenken den historischen Aspekten<br />
zunehmend Aufmerksamkeit. Fur viele Wissenschaftsphilosophen ist eines der<br />
erstaunlichsten Ergebnisse dieser Strategic, dass die gemeinhin <strong>als</strong> besonders<br />
charakteristisch fur wesentliche Fortschritte angesehenen Entwicklungen in der<br />
Wissenschaftsgeschichte - seien es nun die Innovationen Galileis, Newtons,<br />
Darwins oder Einsteins - sich nicht so darstellen, wie sie es nach den ublichen<br />
wissenschaftsphilosophischen Ansatzen sollten.<br />
Eine Reaktion auf die Feststellung, dass wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> weder<br />
f<strong>als</strong>ifiziert noch verifiziert werden konnen und dass die Rekonstruktionen von<br />
Philosophen wenig Ahnlichkeit mit der aktuellen Realitat von Wissenschaft<br />
haben, besteht darin, die Idee voUig aufzugeben, Wissenschaft sei eine rationale<br />
Aktivitat, die nach spezifischen Methoden vorgeht. Dies ist der Reaktion Feyerabends<br />
(1983^) ahnlich, die ihn veranlasste, ein Buch mit dem Titel ,,Wider den<br />
Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie" zu verfassen.<br />
Entsprechend der extremen Sichtweise vor allem der spaten Werke Feyerabends,<br />
verftigt Wissenschaft nicht uber spezifische Merkmale, die sie anderen Arten von<br />
Erkenntnis, wie Mythen oder Voodoo, uberlegen macht. Eine hohe Achtung gegenuber<br />
der Wissenschaft sieht er <strong>als</strong> moderne Religion, die eine ahnliche Rolle<br />
spielt wie das filihe Christentum in Europa. Er bemerkt, dass die Wahl zwischen<br />
wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong> reduziert werden kann auf Entscheidungen, die von<br />
individuellen Werten und Bedtirfiiissen determiniert sind.<br />
Feyerabends Skeptizismus gegentiber Versuchen, Wissenschaft zu rationalisieren,<br />
wird von neueren Autoren geteilt, die aus einer soziologischen oder sogenannten<br />
„postmodernen" Perspektive heraus argumentieren.<br />
Diese Art von Antwort auf die Schwierigkeiten der traditionellen Ansatze zur<br />
Wissenschaft und wissenschaftlichen Methode wird in diesem Buch nicht geteilt.<br />
Es wird vielmehr der Versuch untemommen, das anzunehmen, was an den Kritikpunkten<br />
Feyerabends und vieler anderer gultig ist. Daruber hinaus sollen die Besonderheiten<br />
und spezifischen Merkmale von Wissenschaft in einer Art und Weise<br />
beschrieben werden, dass diesen Kritikpunkten begegnet werden kann.
Wissenschaft <strong>als</strong> Erkenntnisform,<br />
die auf erfahrbaren Tatsachen beruht<br />
1.1 Eine weitverbreitete Auffassung von Wissenschaft<br />
In der Einleitung wurde gesagt, dass eine populare Konzeption der spezifischen<br />
Merkmale von Wissenschaft in dem Slogan „Wissenschaft wird aus Tatsachen<br />
gewonnen" zusammengefasst werden kann. In den ersten vier Kapitebi dieses<br />
Buches wird diese Behauptung einer kritischen Pnifting unterzogen. Wir werden<br />
sehen, dass vieles, was dieser Slogan impliziert, nicht gerechtfertigt ist. Dennoch<br />
werden wir feststellen, dass dieser Slogan nicht vollig verfehlt ist, und es soil der<br />
Versuch untemommen werden, eine belegbare Version zu ft)miulieren.<br />
Wenn behauptet wird, dass Wissenschaft etwas Besonderes ist, weil sie auf<br />
Tatsachen basiert, so wird angenommen, dass Tatsachen Vermutungen uber die<br />
Welt darstellen, die uber einen sorgfaltigen und vorurteilsfi*eien Einsatz der Sinne<br />
direkt belegt werden konnen. Wissenschaft soil auf dem basieren, was wir sehen,<br />
horen und bertihren konnen und nicht auf personlichen Meinungen und spekulativen<br />
Vermutungen. Wenn die Beobachtung der Welt sorgfaltig und vorurteilsfrei<br />
vorgenommen wird, dann werden die solcherart festgestellten Tatsachen eine<br />
sichere und objektive Grundlage von Wissenschaft bilden. Wenn dartiber hinaus<br />
die Schlussfolgerungen angemessen sind, die uns von diesen Tatsachen zu Gesetzen<br />
und <strong>Theorien</strong> fuhren, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, dann<br />
kann das resultierende Wissen selbst <strong>als</strong> gut belegt und objektiv angesehen werden.<br />
Diese Aussagen sind das Gerust einer bekannten Sichtweise, die in einer<br />
Vielzahl von Publikationen uber Wissenschaft wiedergegeben wird. „Wissenschaft<br />
ist eine auf Tatsachen aufgebaute Struktur", schreibt Davies (1968, S. 8) in<br />
seinem Buch „0n the Scientific Method". Anthony (1948, S. 145) fiihrt hierzu<br />
Folgendes aus:<br />
Es waren weniger seine Beobachtungen und Experimente, die<br />
Galilei mit der Tradition brechen lieBen, <strong>als</strong> vielmehr seine Einstellung<br />
ihnen gegentiber. Er behandelte die Ergebnisse seiner Beobachtungen<br />
und Experimente <strong>als</strong> Tatsachen, die unabhangig von
einem vorgefassten Weltbild waren ... Die Tatsachen lieBen sich<br />
nicht unbedingt in ein anerkanntes System des Universums einordnen,<br />
aber Galilei war der Meinung, dass es von entscheidender<br />
Wichtigkeit sei, die Tatsachen hinzunehmen, um dann aus ihnen<br />
eine geeignete Theorie aufbauen zu konnen.<br />
Anthony gibt hier nicht nur eine klare Beschreibung der Sichtweise, dass wissenschaftliche<br />
Erkenntnis auf Tatsachen basiert, die durch Beobachtungen und Experimente<br />
belegt sind, sondern stellt auch einen historischen Bezug her. Er steht<br />
damit keineswegs allein. Es wird allgemein <strong>als</strong> historische Tatsache betrachtet,<br />
dass die moderne Wissenschaft im friihen 17. Jahrhundert entstanden ist, <strong>als</strong> die<br />
Strategic zum ersten Mai eingesetzt wurde, Beobachtungstatsachen <strong>als</strong> emstzunehmende<br />
Basis fiir die Wissenschaft zu betrachten. Diejenigen, die diese Sichtweise<br />
einnehmen und weiterentwickeln, meinen, dass beobachtbare Tatsachen vor<br />
dem 17. Jahrhundert keine ernstzunehmende Basis von Erkenntnis gebildet hatten.<br />
Vielmehr basiere Wissen hauptsachlich auf Autoritaten, besonders auf der des<br />
Aristoteles und der Bibel. Erst <strong>als</strong> diese Autoritaten, durch Pioniere der neuen<br />
Wissenschaft wie zum Beispiel Galilei, durch die Bezugnahme auf die Erfahrung<br />
in Frage gestellt wurden, war moderne Wissenschaft moglich. Die folgenden Ausfuhrungen<br />
zu der haufig wiedergegebenen Geschichte von Galilei und dem schiefen<br />
Turm von Pisa fasst diese Idee treffend zusammen (Rowbotham, 1918, S. 27-<br />
29):<br />
Galileis erste Kraftprobe mit den Universitatsprofessoren betraf<br />
seine Forschungen liber die Bewegungsgesetze, wie sie mit fallenden<br />
Korpem illustriert wurden. Es war ein allgemein akzeptiertes<br />
Axiom von Aristoteles, dass die Geschwindigkeit fallender Korper<br />
von ihrem jeweiligen Gewicht abhangig ist: somit wiirde ein zwei<br />
Pftxnd schwerer Stein doppelt so schnell fallen wie ein Stein, der ein<br />
Pftind wiegt, und so weiter. Es schien niemand die Richtigkeit dieser<br />
Regel infrage zu stellen, bis Galilei sie leugnete. Er erklarte, dass<br />
das Gewicht bei dieser Frage keine Rolle spiele, und dass ... zwei<br />
Korper mit unterschiedlichem Gewicht ... zur selben Zeit auf dem<br />
Boden auftreffen wiirden. Als Galileis AuBerungen durch die Professoren<br />
verspottet wurden, entschloss er sich zu einem offentlichen<br />
Experiment. Er lud die gesamte Universitat ein, um Zeuge seines<br />
Experimentes zu werden, das er auf dem schiefen Turm von Pisa<br />
durchzuftihren plante. Am Morgen des festgelegten Tages stieg<br />
Galilei in Anwesenheit der versammelten Universitat und der Burger<br />
von Pisa zur Spitze des Turms auf Er trug zwei Kugeln bei sich,<br />
die eine wog hundert, die andere ein Pftind. Er balancierte die Kugeln<br />
vorsichtig auf der Kante der Brtistung und stieB sie gleichzeitig<br />
hinunter; alle konnten beobachten, wie sie gleichmaBig fielen und<br />
im nachsten Augenblick mit einem lauten Au^rall gleichzeitig auf<br />
dem Boden aufschlugen. Die alte Tradition war f<strong>als</strong>ch, und die mo-
deme Wissenschaft, in der Person des jungen Entdeckers, hat ihre<br />
Position verteidigt.<br />
Zwei wissenschaftstheoretische Schulen haben das, was hier <strong>als</strong> eine gelaufige<br />
Sichtweise von Wissenschaft bezeichnet wurde, namlich, dass Wissen durch Tatsachen<br />
gewonnen wird, versucht zu formalisieren: die Empiristen und die Positivisten.<br />
Die britischen Empiristen des 17. und 18. Jahrhunderts, im Speziellen John<br />
Locke, George Berkeley und David Hume, vertraten den Standpunkt, dass<br />
Erkenntnis von Ideen hergeleitet sein soil, die wiederum auf der Sinneswahrnehmung<br />
beruhen. Die Positivisten hatten eine etwas weitere und weniger psychologisch<br />
orientierte Vorstellung uber die Rolle der Sinne, teilten jedoch die Annahmen<br />
der Empiristen, dass Erkenntnis auf erfahrbaren Tatsachen beruhen soil. Die<br />
logischen Positivisten, eine philosophische Schule, die in den 20er-Jahren des 20.<br />
Jahrhunderts in Wien gegrundet wurde, bezogen sich auf den von Auguste Comte<br />
eingefiihrten Begriff des Positivismus und versuchten ihn zu formalisieren.<br />
Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie der logischen Form der Beziehung<br />
zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den Tatsachen. Empiristen und Positivisten<br />
teilen die Sichtweise, dass wissenschaftliche Erkenntnis aus Tatsachen<br />
gewonnen sein soil, die auf Beobachtung beruhen.<br />
Zwei Aspekte konnen beztiglich der Behauptung, Wissenschaft basiere auf<br />
Tatsachen, unterschieden werden. Der erste betrifft die Natur dieser „Tatsachen"<br />
und die Frage, wie Wissenschaftler Zugang zu ihnen bekommen, der zweite die<br />
Frage, wie die Gesetze und <strong>Theorien</strong>, die unser Wissen konstituieren, aus diesen<br />
Tatsachen gewonnen werden konnen. Wir werden auf diese beiden Aspekte nacheinander<br />
eingehen. Dieses und die nachsten zwei Kapitel sind der Diskussion der<br />
Natur von Tatsachen gewidmet, auf denen Wissenschaft basieren soil; Kapitel 4<br />
setzt sich mit der Frage auseinander, wie wissenschaftliche Erkenntnis daraus<br />
gewonnen werden kann.<br />
Drei Komponenten des Stellenwertes von Tatsachen fur die Wissenschaft<br />
konnen unterschieden werden.<br />
b) Tatsachen sind den Beobachtem durch sorgfaltige und<br />
unvoreingenommene Beobachtung direkt zuganglich.<br />
c) Tatsachen gehen der Theorie voraus und sind von ihr<br />
unabhangig.<br />
d) Tatsachen konstituieren eine stabile und verlassliche Basis<br />
fur wissenschaftliche Erkenntnis.<br />
Wie wir sehen werden, ist jede dieser Aussagen mit Schwierigkeiten verbunden<br />
und kann allenfalls bedingt akzeptiert werden.<br />
1.2 Sehen heifit Glauben<br />
Zum einen, weil wir in der wissenschaftlichen Praxis unseren Gesichtssinn am<br />
meisten einsetzen miissen, zum anderen aus Grtinden der Bequemlichkeit, soil die<br />
Diskussion der Beobachtung auf diesen Bereich beschrankt werden. In den meis-
ten Fallen ist es unschwer zu erkennen, dass sich die angefuhrten Argumente auch<br />
auf die Wahmehmung durch andere Sinnesorgane tibertragen lassen. Eine einfache<br />
und allgemeinverstandliche Beschreibung konnte folgendermaBen aussehen:<br />
Fur das Sehen sind die wichtigsten Telle des menschlichen Auges Linse und<br />
Retina, wobei Letztere eine Art Leinwand darstellt, auf die Bilder von Gegenstanden<br />
projiziert werden, die sich auBerhalb des Auges befmden. Lichtstrahlen, die<br />
von einem betrachteten Gegenstand reflektiert werden, gehen von dem Gegenstand<br />
iiber das dazwischen liegende Medium zur Linse. Diese Strahlen werden<br />
durch die Linse derart gebrochen, dass sie in einem Brennpunkt auf der Retina<br />
gebundelt werden und so ein Bild des betrachteten Gegenstandes entsteht. Soweit<br />
ahnelt die Funktionsweise des Auges weitgehend der eines Photoapparates. Ein<br />
groBer Unterschied liegt jedoch in der Art und Weise, wie das endgultige Bild<br />
tatsachlich entsteht. Es laufen Augennerven von der Retina zur Gehimrinde. Sie<br />
leiten die Informationen liber den Lichteinfall auf unterschiedlichen Bereichen der<br />
Retina weiter. Die Aufzeichnung dieser Informationen durch das menschliche<br />
Gehim ist im Grunde das, was wir unter „Sehen" verstehen. Man konnte dieser<br />
einfachen Darstellung nattirlich noch viele Details hinzufugen, aber die hier gegebene<br />
Darstellung fasst den allgemeinen Grundgedanken hinreichend zusammen.<br />
Die vorangegangene kurze Darstellung der optischen Wahmehmung weist<br />
nachdriicklich auf zwei Punkte hin, die flir den Empiristen von besonderer Bedeutung<br />
sind. Erstens, dass fiir einen menschlichen Beobachter einige Eigenschaften<br />
der AuBenwelt mehr oder minder direkt zuganglich sind, insofern diese Eigenschaften<br />
beim Sehen durch das Gehirn aufgezeichnet werden. Zweitens, dass zwei<br />
normale Beobachter, die denselben Gegenstand oder denselben Vorgang von derselben<br />
Stelle aus betrachten, dasselbe „sehen". Das Auge eines jeden Beobachters<br />
wird durch eine identische Kombination von Lichtstrahlen getroffen, durch ihre<br />
Augenlinsen gebundelt und auf die Retina projiziert, wobei die gleichen Bilder<br />
entstehen. Die gleichen Informationen werden dann liber die Augennerven zu dem<br />
Gehim eines jeden Beobachters weitergeleitet, mit dem Ergebnis, dass zwei Beobachter<br />
dasselbe sehen. In den folgenden Abschnitten werden wu* sehen, warum<br />
diese Art der Darstellung irreflihrend ist.<br />
1.3 Visuelle Erfahrungen werden nicht durch das Bild auf der Retina<br />
bestimmt<br />
Etwas verklirzt wird angenommen, dass sich uns die auBere Welt direkt liber die<br />
Sinnesorgane erschlieBt. Alles was wir tun mlissen, ist, der vor uns liegenden Welt<br />
gegenliberzutreten und „aufzuzeichnen", was es dort zu sehen gibt. Ich kann feststellen,<br />
dass auf meinem Schreibtisch eine Lampe steht oder dass mein Stifl gelb<br />
ist, indem ich registriere, was vor meinen Augen liegt. Wie wir sehen, kann eine<br />
solche Sichtweise durch das Wissen uber die Funktionsweise des Auges gestutzt<br />
werden. Wenn das alles ware, ware das Gesehene allein determiniert durch die<br />
Natur dessen, worauf wir blicken, und Beobachter wlirden alle die gleiche visuelle<br />
Erfahmng machen, wenn sie dasselbe beobachten. Allerdings gibt es eine Reihe<br />
von Belegen, dass dem nicht so ist.
Zwei normale Beobachter, die dasselbe Objekt von derselben Stelle aus,<br />
unter denselben auBeren Umstanden betrachten, miissen nicht unbedingt den gleichen<br />
visuellen Eindruck bekommen, obwohl die Bilder auf ihrer jeweiligen Retina<br />
vermutlich identisch sind. In einem entscheidenden Sinne „sehen" die beiden<br />
Beobachter nicht zwangslaufig das Gleiche. Hanson (1958) formulierte dies so:<br />
„Beim Sehen geht es urn mehr <strong>als</strong> lediglich um das, was einem ins Auge springt".<br />
Einige einfache Beispiele sollen diesen Punkt verdeutlichen.<br />
Die meisten von uns sehen, wenn sie zum ersten Mai die Figur in Abbildung<br />
1 betrachten, die Zeichnung einer Treppe, von der man die Oberflachen der Stufen<br />
sieht. Dies ist jedoch nicht die einzige Moglichkeit, wie sie betrachtet werden<br />
kann. Ohne groBe Muhe kann sie auch <strong>als</strong> eine Treppe gesehen werden, von der<br />
man die Unterseite der Stufen sieht. Wenn man einige Zeit das Bild betrachtet,<br />
bemerkt man im Allgemeinen, dass das Bild regelmaBig ungewollt „umkippt".<br />
Mai sieht man die Treppe von unten, mal sieht man sie von oben. Und dennoch<br />
scheint die Annahme berechtigt zu sein, dass das Bild auf der Retina sich nicht<br />
verandert, da es sich ja nach wie vor um dasselbe Objekt handelt, das der Beobachter<br />
sieht. Ob man die Abbildung <strong>als</strong> die Oberflache oder <strong>als</strong> die Unterseite<br />
einer Treppe sieht, scheint von etwas anderem abzuhangen <strong>als</strong> von dem Bild auf<br />
der Retina. Es zweifelt wohl niemand von uns daran, dass in Abbildung 1 auf<br />
u*gendeine Art eine Treppe dargestellt ist. Experimente haben jedoch gezeigt, dass<br />
es bei einigen afrikanischen Stammen, in deren Kultur es nicht iiblich ist, dreidimensionale<br />
Gegenstande durch zweidimensionale, perspektivische Zeichnungen<br />
darzustellen, Abbildung 1 nicht <strong>als</strong> Treppe gesehen wird, sondem <strong>als</strong> zweidimensionales<br />
Linienmuster.<br />
Abbildung 1
10<br />
Wir mtissen <strong>als</strong>o annehmen, dass die Art der Bilder, die auf der Retina entstehen,<br />
relativ kultumnabhangig ist. Es zeigt sich wiedemm, dass die wahrgenommenen<br />
Eindrticke, die der Beobachter beim Sehen hat, nicht einzig und allein<br />
durch das Bild auf der Retina bestimmt werden. Auf diesem Punkt wies Hanson<br />
(1958) hin und belegte ihn mit einer Reihe weiterer uberzeugender Beispiele.<br />
Ein anderes Beispiel liefert ein Bilderratsel fiir Kinder, bei dem es darauf ankommt,<br />
die Zeichnung eines menschlichen Gesichts in dem Laubwerk eines Baumes<br />
zu entdecken. Zunachst ist der subjektive Eindruck, den eine Person gewinnt,<br />
wenn sie die Zeichnung betrachtet, der, dass es sich um einen Baum mit Stamm,<br />
Blattem und Asten handelt. Dies andert sich jedoch, sobald die Person das<br />
menschliche Gesicht entdeckt hat. Was zunachst fur Laubwerk und Telle der<br />
Zweige gehalten wurde, wird nun <strong>als</strong> menschliches Gesicht gesehen. Wiederum<br />
sieht man vor und nach der Auflosung des Bilderratsels denselben Gegenstand,<br />
und vermutlich verandert sich in dem Moment, in dem die Auflosung gefunden<br />
und das Bild entdeckt wird, auch nicht das Bild auf der Retina des Beobachters.<br />
Wenn das Bild zu einem spateren Zeitpunkt noch einmal betrachtet wird, dann<br />
kann ein Beobachter, der das Bilderratsel schon einmal gelost hat, das Gesicht<br />
mtihelos wieder erkennen. In diesem Beispiel ist einmal mehr das, was ein Beobachter<br />
sieht, durch sein Wissen und seine Erfahrung beeinflusst.<br />
Was, so konnte man fragen, haben diese angefiihrten Beispiele mit Wissenschaft<br />
zu tun? Will man diese Frage beantworten, so fallt es nicht schwer, Beispiele<br />
aus der wissenschaftlichen Praxis zu finden, die genau diesen Punkt veranschaulichen.<br />
Diese Beispiele machen deutlich, dass das, was Beobachter sehen,<br />
die subjektiven Wahrnehmungen, die sie machen, wenn sie einen Gegenstand oder<br />
einen Vorgang betrachten, nicht einzig und allein durch die Bilder auf der Retina<br />
bestimmt wird, sondern auch von der Erfahrung, dem Wissen und den Erwartungen<br />
des Betrachters abhangig ist. Zentral ist die unbestreitbare Tatsache, dass man<br />
im Bereich der Wissenschaft lemen muss, ein kompetenter Beobachter zu sein.<br />
Jeder, der gelernt hat, durch ein Mikroskop zu sehen, muss von dieser Tatsache<br />
nicht Uberzeugt werden. Wenn ein Anfanger durch ein Mikroskop auf ein vom<br />
Fachmann angefertigtes Praparat blickt, ist es selten, dass er die tatsachliche Zellstruktur<br />
erkennen kann, auch wenn der Fachmann diese Probleme nicht hat, wenn<br />
er durch eben dieses Mikroskop auf dasselbe Praparat blickt. In diesem Zusammenhang<br />
ist es wichtig festzustellen, dass Wissenschaftler keine groBen Schwierigkeiten<br />
hatten, unter angemessenen Umstanden eine Zellteilung zu beobachten,<br />
nachdem sie wussten, was sie beobachten sollten. Vor dieser Entdeckung blieben<br />
solche Zellteilungen unbeobachtet, obwohl wir heute wissen, dass sie in vielen der<br />
untersuchten Proben der Beobachtung zuganglich gewesen sind. In dem folgenden<br />
Abschnitt beschreibt Polanyi (1973, S. 101) die Veranderungen in den Beobachtungserfahrungen<br />
eines Medizinstudenten, wenn ihm beigebracht wird, wie er<br />
anhand eines Rontgenbildes eine Diagnose stellen kann:<br />
Man stelle sich einen Medizinstudenten vor, der eine Vorlesung<br />
besucht uber die Diagnose von Lungenkrankheiten mithilfe von<br />
Rontgenstrahlen. Er beobachtet in einem abgedunkelten Raum<br />
schattenhafte Spuren auf einem fluoreszierenden Schirm, der sich
vor der Brust eines Patienten befmdet, und hort die Erlauterungen<br />
des Radiologen gegeniiber seinen Assistenten, der sie in der Fachterminologie<br />
uber die wichtigsten Besonderheiten dieser Schatten<br />
informiert. Zunachst ist der Student vollig verwirrt. Er sieht namlich<br />
in dem Rontgenbild eines Brustkorbes bloB die Schatten des Herzens<br />
und der Rippen, mit einigen schemenhaften Flecken dazwischen.<br />
Es scheint so, <strong>als</strong> ob die Experten iiber die selbst ersonnenen<br />
Fiktionen ihrer eigenen Phantasie fabulieren wurden; unser Student<br />
ist nicht in der Lage etwas von dem zu entdecken, wortiber sie sprechen.<br />
Wenn er nun noch einige Wochen langer zuhort und dabei<br />
aufmerksam immer wieder neue Bilder von anderen Fallen betrachtet,<br />
dann wird bei ihm ein immer besseres Verstandnis fiir die Vorgange<br />
entstehen, die ihm zunachst unklar erschienen. Er wird allmahlich<br />
die Rippen bei seinen Betrachtungen auBer Acht lassen und<br />
beginnen, nur noch die Lunge zu sehen. Und endlich, wenn er intelligent<br />
genug ist, wird sich ihm ein Panorama an viel sagenden Einzelheiten<br />
enthtillen; physiologische Variationen und pathologische<br />
Veranderungen, Narben, chronische Infektionen und Zeichen emsthafter<br />
Krankheit. Er hat eine neue Welt betreten. Er sieht nach wie<br />
vor nur einen Bruchteil dessen, was die Experten sehen konnen,<br />
aber die Bilder ergeben nun sehr wohl einen Sinn und ebenso die<br />
meisten Bemerkungen, die gemacht werden.<br />
Bei identischen Gegebenheiten hat der erfahrene und geschulte Beobachter nicht<br />
die gleichen Wahrnehmungsfahigkeiten wie der Novize. Das passt nicht zu einem<br />
allzu wortlichen Verstandnis der Behauptung, dass Wahmehmungen auf einfachem<br />
Weg iiber die Sinne vermittelt werden.<br />
Eine gangige Reaktion auf die oben gemachten Aussagen tiber Beobachtung,<br />
die mit den herangezogenen Beispielen belegt wurden, ist die, dass die Beobachter,<br />
die denselben Vorgang von derselben Stelle aus betrachten, zwar genau dasselbe<br />
sehen, jedoch das Gesehene unterschiedlich interpretieren. Hier sind allerdings<br />
Zweifel angebracht. Was die Wahrnehmung betrifft, so hat der Beobachter<br />
einen direkten und unmittelbaren Zugang nur zu den von ihm selbst tatsachlich<br />
gemachten Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind nicht ein fur alle Mai vorgegeben<br />
und unveranderlich, sondem sie variieren mit dem Wissen und den vorangegangenen<br />
Erfahrungen des Beobachters. Lediglich das Bild auf der Retina des<br />
Beobachters ist eindeutig festgelegt. Wenn von der Annahme ausgegangen wird,<br />
dass in unserer Wahrnehmung etwas eindeutig gegeben ist, das auf unterschiedliche<br />
Weise interpretiert werden kann, dann wird ohne echte Beweisflihrung und<br />
ungeachtet vieler Gegenbeweise unterstellt, dass einzig und allein die Bilder<br />
unserer Retina unsere Wahrnehmungserfahrung determinieren. Die Analogic zu<br />
einem Photoapparat wird schlichtweg zu weit gefuhrt.<br />
Nach dieser Klarung soil deutlich herausgestellt werden, welcher Anspruch<br />
in diesem Abschnitt nicht erhoben werden soil, um damit die hier vertretene Position<br />
eindeutig zu umreiBen. Erstens soil sicher nicht behauptet werden, dass die<br />
physischen Ursachen fur die Bilder auf unserer Retina tiberhaupt nichts mit dem<br />
11
12<br />
zu tun haben, was wir sehen. Wir konnen nicht so einfach das sehen, was wir<br />
wollen. Zwar sind die Bilder auf unserer Retina zum Teil die Ursache fiir das, was<br />
wir sehen, jedoch wird ein anderer, sehr wesentlicher Teil durch den inneren Zustand<br />
unseres Gemtits oder Verstandes verursacht, der wiedemm deutlich von<br />
unserer kulturbedingten Erziehung, unserem Wissen, unseren Erwartungen etc.<br />
abhangt, und der nicht nur von den physikalischen Eigenschaften unserer Augen<br />
Oder des beobachteten Vorgangs bestimmt wird. Zweitens bleibt das, was wir<br />
sehen, unter vielen wechselnden Bedingungen und in den verschiedensten Situationen<br />
so gut wie unverandert. Die Abhangigkeit unseres Sehens von unserem<br />
Gemiits- oder Geisteszustand ist nicht so empfmdlich, dass Kommunikation und<br />
Wissenschaft dadurch unmoglich gemacht werden. Drittens sehen in den samtlich<br />
hier angeflihrten Beispielen alle Beobachter gewissermaBen das Gleiche. In diesem<br />
Buch wird die Position vertreten, dass unabhangig vom Beobachter nur eine,<br />
einzigartige, physische Welt existiert. Wenn folglich eine Anzahl von Beobachtern<br />
eine Photographic, den Teil eines Gerates, den Objekttrager eines Mikroskops<br />
oder was auch immer betrachten, dann werden sie gewissermaBen alle mit derselben<br />
Sache konfrontiert. Sie betrachten dieselbe Sache; und sie werden demnach<br />
auch dieselbe Sache „sehen". Hieraus darf man jedoch nicht schlieBen, dass sie die<br />
gleichen Wahmehmungserfahrungen machen. In einer entscheidenden Hinsicht<br />
sehen sie eben nicht dieselbe Sache, und genau darauf basieren die angefuhrten<br />
Zweifel an der Sichtweise, dass Tatsachen dem Beobachter unproblematisch und<br />
direkt iiber die Sinne vermittelt werden. Inwieweit dies auch wissenschaflliche<br />
Tatsachen betrifft, muss noch festgestellt werden.<br />
1.4 Beobachtbare Tatsachen <strong>als</strong> Aussagen<br />
Im normalen Sprachgebrauch ist die Bedeutung des Begriffs der „Tatsache"<br />
mehrdeutig. Er kann sich auf eine Aussage beziehen, die auf die Tatsachen verweist<br />
oder er bezieht sich auf die Gegebenheiten selbst. Zum Beispiel ist es eine<br />
Tatsache, dass sich auf dem Mond Krater und Berge befinden. Hier kann die Tatsache<br />
<strong>als</strong> etwas verstanden werden, was sich auf die Krater und Berge selbst bezieht.<br />
Alternativ dazu kann die Aussage „Es gibt Krater und Berge auf dem<br />
Mond" die Tatsache darstellen. Wenn behauptet wird, dass Wissenschaft auf Tatsachen<br />
basiert bzw. aus ihnen gewonnen wird, ist fraglos die zuletzt genannte<br />
Interpretation angemessen. Wissen liber die Oberflache des Mondes basiert nicht<br />
auf Kratern und Bergen, sondem auf getroffenen Aussagen iiber Krater und Berge.<br />
Genauso wie Tatsachen, verstanden <strong>als</strong> Aussagen, getrennt werden miissen<br />
vom Zustand dessen, worauf sich die Aussagen beziehen, ist es selbstverstandlich<br />
notwendig, Aussagen iiber Tatsachen von den Wahrnehmungen zu trennen, die<br />
dazu gefuhrt haben, dass solche Aussagen <strong>als</strong> Tatsachen akzeptiert wurden. Dies<br />
war zum Beispiel ohne Frage der Fall, <strong>als</strong> Darwin seine beriihmte Reise auf der<br />
Beagle untemahm. Er entdeckte viele neue Pflanzen- und Tierarten und erlebte so<br />
eine Vielzahl neuer Wahmehmungserfahrungen. Er hatte jedoch keinerlei Beitrag<br />
zur Wissenschaft geleistet, wenn er es einfach dabei belassen hatte. Sein wissenschaftlicher<br />
Beitrag zur Biologic bestand vielmehr darin, dass er Aussagen formu-
lierte, die diese Entdeckungen beschrieben und sie dadurch anderen Wissenschaftlern<br />
zuganglich machte. In dem Umfang, in dem die Reise auf der Beagle<br />
neue Tatsachen hervorbrachte, aus denen eine Evolutionstheorie hervorgehen<br />
konnte, waren es Aussagen, die Tatsachen konstituierten. Diejenigen, die annehmen<br />
wollen, dass Wissen aus Tatsachen erwachst, miissen sich auf Aussagen<br />
beziehen und nicht auf Wahmehmungen oder Objekte wie Krater und Berge.<br />
Nach dieser Klarung wollen wir zu den Aussagen a) bis c) iiber die Natur von<br />
Tatsachen zuriickkehren, mit denen der erste Abschnitt dieses Kapitels abgeschlossen<br />
hat. Sie werden ausgesprochen problematisch. Angenommen, dass Tatsachen,<br />
die eine geeignete Basis ftir Wissenschaft darstellen, in der Form von<br />
Aussagen vorliegen miissen, erscheint die Annahme, dass Tatsachen direkt mittels<br />
der Sinne gewonnen werden, recht missverstandlich. Selbst wenn wir die in den<br />
vorangegangenen Abschnitten beleuchteten Schwierigkeiten beiseite lassen und<br />
annehmen, dass Wahrnehmungen direkt durch den Akt des Sehens vermittelt werden,<br />
kann mit Sicherheit nicht gesagt werden, dass Aussagen, die beobachtbare<br />
Zustande beschreiben (sie sollen Beobachtungsaussagen genannt werden), dem<br />
Beobachter durch die Sinne vermittelt werden. Es ist absurd anzunehmen, dass<br />
Aussagen (iber Tatsachen das Gehim uber die Sinne erreichen.<br />
Bevor ein Beobachter eine Beobachtungsaussage formulieren und ihr zustimmen<br />
kann, muss er im Besitz des entsprechenden konzeptuellen Rahmens sein<br />
und wissen, wie er angemessen angewendet werden kann. Dieser Sachverhalt wird<br />
klar, wenn wir betrachten, wie ein Kind lernt, die Welt zu beschreiben, das heiBt,<br />
sachliche Aussagen zu machen. Man denke zum Beispiel an ein Kind, das von<br />
seinen Eltem beigebracht bekommt, einen Apfel zu erkennen und zu beschreiben.<br />
Sie zeigen dem Kind einen Apfel, deuten auf ihn und sagen „Apfel". Nachahmend<br />
lernt das Kind bald, den Begriff „Apfel" zu wiederholen. Hat es diese spezielle<br />
Fahigkeit einmal erworben, wird das Kind vielleicht wenige Tage spater den Tennisball<br />
seiner Geschwister bemerken, auf ihn deuten und „Apfel" sagen. In diesem<br />
Moment werden Eltem eingreifen und erklaren, dass ein Ball kein Apfel ist, indem<br />
sie zum Beispiel demonstrieren, dass man nicht hineinbeiBen kann, wie in einen<br />
Apfel. Andere Fehleinschatzungen des Kindes, wie zum Beispiel die Identifikation<br />
eines Schokoladenapfels <strong>als</strong> Apfel bedlirfen etwas elaborierterer Erklarungen<br />
seitens der Eltem. Mit der Zeit kann ein Kind erfolgreich einen Apfel benennen,<br />
wenn er vorhanden ist und hat eine Menge uber Apfel gelemt. Aus dieser Warte<br />
ist es f<strong>als</strong>ch anzunehmen, dass wu- Tatsachen Uber Apfel erst beobachten mussen,<br />
um Wissen liber diese Tatsachen zu erlangen, weil geeignete Tatsachen, formuliert<br />
<strong>als</strong> Aussagen, eine Menge an Wissen iiber Apfel voraussetzt.<br />
Wir wollen von unserer Betrachtung iiber Kinder zu einigen Beispielen<br />
kommen, die for unser Verstandnis von Wissenschaft relevant sind. Stellen wir<br />
uns einen erfahrenen Botaniker vor, der von einer Person wie mir, die kaum Wissen<br />
uber Botanik hat, auf eine Fahrt in den australischen Busch begleitet wird, bei<br />
der beobachtbare Tatsachen iiber die dortige Flora gesammelt werden sollen.<br />
Ohne Zweifel wird der Botaniker wesentlich mehr und wesentlich vielschichtigere<br />
Fakten sammebi, <strong>als</strong> ich beobachten und formulieren kann. Der Gmnd steht auBer<br />
Frage: Der Botaniker verfugt uber elaboriertere konzeptuelle Schemata <strong>als</strong> ich,<br />
weil er iiber mehr botanisches Wissen verfiigt. Wissen iiber Botanik ist eine Vor-<br />
13
14<br />
aussetzung fiir die Formuliemng von Beobachtungsaussagen, die ihre sachliche<br />
Basis bilden.<br />
Die Aufzeichnung beobachtbarer Tatsachen bedarf mehr, <strong>als</strong> die Wahmehmung<br />
eines Stimulus in Form von Lichtstrahlen, die auf das Auge treffen. Es<br />
bedarf des geeigneten konzeptuellen Schemas und des Wissen, wie dies angewendet<br />
wird. In diesem Sinne konnen die Aussagen a) und b) im wortlichen Sinne<br />
nicht akzeptiert werden. Aussagen uber Tatsachen sind nicht direkt durch Sinnesreize<br />
determiniert, und Beobachtungsaussagen setzen Wissen voraus, sodass es<br />
nicht moglich ist, erst die Tatsachen festzustellen und dann daraus Wissen abzuleiten.<br />
1.5 Warum soUten Tatsachen der Theorie vorausgehen?<br />
Unser Ausgangspunkt war eine extreme Interpretation der Aussage, dass Wissenschaft<br />
auf Tatsachen beruht. Damit sollte impHziert werden, dass Tatsachen vor<br />
dem Erreichen wissenschaftlicher Erkenntnis durch sie erwiesen sein mtissen.<br />
Zuerst sollen die Tatsachen belegt werden, dann kann eine Theorie entwickeh<br />
werden, die ihnen entspricht. Sowohl die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung in<br />
gewissem Umfang von unserem vorhandenen Wissen, davon, wie wir auf die<br />
Situation vorbereitet sind und unseren Erwartungen abhangt, <strong>als</strong> auch die Tatsache,<br />
dass Beobachtungsaussagen einen geeigneten konzeptuellen Rahmen voraussetzen,<br />
zeigen, dass dieser Forderung auf keinen Fall nachgekommen werden<br />
kann. Bei genauerer Betrachtung ist es sogar eine ziemlich abwegige Idee, so<br />
abwegig, dass sich wohl kein Wissenschaftsphilosoph finden wtirde, der bereit<br />
ware, sie zu verteidigen. Wie konnen wir bedeutsame Tatsachen uber die Welt<br />
durch Beobachtung belegen, wenn wir keinerlei Vorstellung davon haben, nach<br />
welcher Art von Wissen wir suchen oder welche Probleme wir losen wollen? Um<br />
Beobachtungen vornehmen zu konnen, die einen bedeutsamen Beitrag zur Botanik<br />
leisten, benotigen wir eine Menge Wissen iiber Botanik. Dartiber hinaus ist die<br />
Idee, die Angemessenheit wissenschaftlicher Erkenntnis durch beobachtbare Tatsachen<br />
zu tiberpriifen, im Rahmen einer guten Wissenschaft sinnlos, wenn die<br />
relevanten Tatsachen der Erkenntnis, die sie belegen sollen, immer vorangehen<br />
mussen. Unsere Suche nach relevanten Tatsachen muss von unserem momentanen<br />
Wissensstand geleitet sein, das uns zum Beispiel sagt, dass die Messung der<br />
Ozonkonzentration an verschiedenen Orten der Atmosphare relevante Tatsachen<br />
liefert, wahrend die Messung der Haarlange Jugendlicher in Sydney dies nicht tut.<br />
Die Forderung, dass die Sammlung von Tatsachen vor der Formuliemng von<br />
Gesetzen und <strong>Theorien</strong>, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, stehen<br />
muss, muss daher fallen gelassen werden. Wir wollen stattdessen sehen, was von<br />
dem Gedanken, Wissenschaft basiere auf Tatsachen, gerettet werden kann.<br />
Entsprechend dieser modifizierten Herangehensweise kann zugestanden werden,<br />
dass die Formuliemng von Beobachtungsaussagen wissenschaftliche Erkenntnis<br />
voraussetzt und dass in der Wissenschaft die Suche nach relevanten beobachtbaren<br />
Tatsachen von diesem Wissen geleitet wird. Keines dieser Zugestandnisse<br />
unterminiert notwendigerweise die Annahme, Erkenntnis habe in der
Beobachtung eine sachliche Basis. Wenden wir uns zunachst dem Punkt zu, dass<br />
die Formuliemng von Beobachtungsaussagen das Wissen uber einen geeigneten<br />
konzeptuellen Rahmen voraussetzt. Hier sei angemerkt, dass die Verfiigbarkeit<br />
eines solchen Rahmens davon unterschieden werden muss, ob die Beobachtungsaussagen<br />
richtig Oder f<strong>als</strong>ch sind. Ein Blick in mein Physikbuch fordert zum Beispiel<br />
zwei Beobachtungsaussagen zutage: „Die kristalline Struktur von Diamanten<br />
weist eine Inversions-Raumsymmetrie auf und „In einem Kristall des Zinksulfids<br />
gibt es vier Molekule pro Elementarzelle". Ein gewisser Umfang von Wissen uber<br />
die Struktur von Kristallen und wie sie charakterisiert werden konnen ist notig, um<br />
solche Aussagen formuHeren und verstehen zu konnen. Aber auch, wenn man<br />
dieses Wissen nicht hat, ist es mogHch, ahnliche Aussagen mit denselben Begriffen<br />
zu formuHeren, Aussagen wie „Die kristalHne Struktur von Diamanten weist<br />
keine Inversionssymmetrie auf oder „In einem Kristall des Diamanten gibt es<br />
vier Atome pro Elementarzelle". All diese Aussagen Beobachtungsaussagen in<br />
dem Sinne, dass dann, wenn die geeigneten Beobachtungstechniken beherrscht<br />
werden, durch Beobachtung uberprtift werden kann, ob sie richtig oder f<strong>als</strong>ch sind.<br />
Ist dies geschehen, werden lediglich die Satze aus meinem Physikbuch bestatigt,<br />
wahrend die alternativen Formulierungen zurtickgewiesen werden. Das illustriert<br />
den Punkt, dass die Tatsache, dass Wissen notwendig ist, um bedeutsame Beobachtungsaussagen<br />
vorzunehmen, die Frage offen lasst, welche der so formulierten<br />
Aussagen auf Beobachtungen basieren und welche nicht. Folglich wird die Forderung,<br />
Wissen solle auf Tatsachen basieren, die durch Beobachtungen bestatigt<br />
sind, nicht dadurch infrage gestellt, dass anerkannt wird, dass die Formulierung<br />
von Aussagen, die solche Tatsachen beschreiben, theorieabhangig ist. Ein Problem<br />
entsteht erst, wenn an der Forderung festgehalten wird, die fiir Wissen relevanten<br />
Tatsachen mtissten dem Erwerb von Wissen vorausgehen.<br />
Die Forderung, Wissenschaft solle auf Tatsachen basieren, die durch Beobachtung<br />
gewonnen wurden, muss <strong>als</strong>o nicht angezweifelt werden, wenn anerkannt<br />
wird, dass die Suche nach und die Formulierung von solchen Tatsachen theorieabhangig<br />
ist. Wenn der Wahrheitsgehalt von Beobachtungsaussagen auf direktem<br />
Weg uber Beobachtung festgestellt werden kann, dann scheint es so, <strong>als</strong> konnten<br />
Beobachtungsaussagen eine bedeutsame, auf Tatsachen beruhende Basis fur wissenschaftliche<br />
Erkenntnis bilden - unabhangig davon, auf welchem Weg solche<br />
Beobachtungsaussagen formuliert wurden.<br />
1.6 Die Fehlbarkeit von Beobachtungsaussagen<br />
Auf der Suche nach einer Charakterisierung der Beobachtungsgrundlage von<br />
Wissenschaft haben wir einige Fortschritte gemacht. Alle Probleme sind jedoch<br />
nicht behoben. Im vorangegangenen Abschnitt hat unsere Analyse vorausgesetzt,<br />
dass der Wahrheitsgehalt einer Beobachtungsaussage auf unproblematische Art<br />
und Weise durch Beobachtungen belegt werden kann. Wir haben jedoch auch<br />
gesehen, wie Probleme dadurch entstehen konnen, dass verschiedene Beobachter<br />
nicht notwendigerweise die gleiche Wahrnehmung haben, wenn sie dasselbe<br />
sehen, was zu unterschiedlichen Auffassungen dariiber fuhren kann, was der be-<br />
15
16<br />
obachtbare Zustand eines Sachverhalts ist. Die Bedeutsamkeit dieses Arguments<br />
fiir die Wissenschaft machen gut dokumentierte Fallbeispiele aus der Wissenschaftsgeschichte<br />
deutlich, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung daruber, ob<br />
die Effekte der sogenannten N-Strahlen beobachtbar sind oder nicht (vgl. Nye,<br />
1980) Oder die Auseinandersetzungen zwischen Astronomen aus Sydney und<br />
Cambridge daruber, was in den frUhen Jahren der Erforschung von Radiowellen<br />
beobachtbare Tatsachen waren (vgl. Edge & Mulkay, 1976). Bisher haben wir<br />
wenig dazu gesagt, wie auf dem Hintergrund solcher Probleme eine sichere Beobachtungsgrundlage<br />
fiir Wissenschaft gefimden werden kann. Weitere Schwierigkeiten<br />
beziiglich der Zuverlassigkeit der Beobachtungsgrundlage von Wissenschaft<br />
entstehen daraus, dass auf der Grundlage vorausgesetzten Wissens Beobachtungsaussagen<br />
<strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch beurteilt werden konnen. An einigen Beispielen soil<br />
dies illustriert werden.<br />
Unter den vier Elementen, aus denen alle terrestrischen Objekte bestehen<br />
sollten, befand sich nach Aristoteles auch das Feuer. Die Annahme, Feuer sei eine<br />
spezifische Substanz, wenn auch eine sehr leichte, hielt sich hunderte von Jahren,<br />
und erst die modeme Chemie stellte diese Annahme griindlich infrage. Diejenigen,<br />
die mit dieser Grundannahme arbeiteten, meinten, dass sie Feuer direkt beobachten,<br />
wenn sie Flammen in die Luft steigen sahen, sodass far sie die Beobachtungsaussage<br />
„Das Feuer steigt auf haufig auf direkter Beobachtung basierte. Heute<br />
weisen wir solche Beobachtungsaussagen zuriick. Tatsache ist, dass dann, wenn<br />
das Wissen, das die Kategorien zur Beschreibung von Beobachtungen liefert,<br />
fehlerhaft ist, die Beobachtungsaussagen, die auf solchem Wissen basieren, ebenfalls<br />
fehlerhaft sind.<br />
Ein zweites Beispiel betrifft die im 16. und 17. Jahrhundert anerkannte Erkenntnis,<br />
dass sich die Erde bewegt, indem sie sich um ihre eigene Achse dreht<br />
und die Sonne dabei umkreist. Von den Entwicklungen, die diese Erkenntnis<br />
moglich machten, kann gesagt werden, dass die Aussage „Die Erde bewegt sich<br />
nicht" eine Tatsache darstellte, die durch Beobachtungen belegt wurde. SchlieBlich<br />
konnen wir die Bewegung der Erde nicht sptiren oder sehen, und wenn wir in<br />
die Luft springen, bewegt sich die Erde nicht unter unseren FtiBen weiter. Auf der<br />
Grundlage einer modernen Sichtweise wissen wir, dass die Beobachtungsaussage<br />
trotz dieser Phanomene f<strong>als</strong>ch ist. Wir kennen den Begriff der Tragheit und wissen,<br />
dass sich an der Tatsache, dass wir uns durch die Drehung der Erde in einer<br />
Geschwindigkeit von 100 Metern pro Sekunde in horizontaler Richtung vorwarts<br />
bewegen, nichts verandert, indem wir in die Luft springen. Um Geschwindigkeit<br />
zu verandern, bedarf es einer Krafteinwirkung, und in unserem Beispiel gibt es<br />
keine horizontal wirkenden Krafte. Wir behalten die horizontale Geschwindigkeit,<br />
die wir mit der Erde teilen, bei und landen, wo wir abgesprungen sind. Die Aussage<br />
„Die Erde bewegt sich nicht" wird nicht in der Art und Weise durch Beobachtungen<br />
belegt, wie man fi-tiher angenommen hatte. Aber um dies wirklich zu verstehen,<br />
brauchen wir Wissen uber die Tragheit, eine Innovation des 17. Jahrhunderts.<br />
Wir haben hier ein Beispiel dafiir, wie die Beurteilung des Wahrheitsgehalts<br />
einer Beobachtungsaussage von dem Hintergrundwissen abhangt, auf dessen<br />
Grundlage diese Beurteilung vorgenommen wurde. Es scheint, <strong>als</strong> hatte die wissenschaftliche<br />
Revolution nicht nur eine fortschrittliche Veranderung der wissen-
schaftlichen Theorie mit sich gebracht, sondern auch eine Veranderung dessen,<br />
was <strong>als</strong> beobachtbare Tatsache angesehen wird.<br />
Der zuletzt genannte Punkt soil anhand eines dritten Beispiels illustriert werden.<br />
Es betrifft die GroBe der Planeten Mars und Venus, wie sie im Verlauf eines<br />
Jahres von der Erde aus wahrgenommen werden kann. Es ist eine Konsequenz der<br />
kopemikanischen Vermutung, dass sich die Erde in einer Umlaufbahn um die<br />
Sonne dreht, die auBerhalb derjenigen der Venus und innerhalb der des Mars liegt,<br />
dass sich die angenommene GroBe von Venus und Mars im Verlauf eines Jahres<br />
erheblich verandert. Das liegt daran, dass die Erde in relativer Nahe zu den jeweiligen<br />
Planeten liegt, wenn sie sich auf derselben Seite der Sonne befmden. Ist die<br />
Erde jedoch auf der anderen Seite der Sonne <strong>als</strong> diese Planeten, wirkt die Entfernung<br />
deutlich groBer. Betrachtet man diesen Sachverhalt quantitativ, wie das in<br />
Kopernikus' eigener Version dieser Theorie moglich ist, ist dieser Effekt mit einer<br />
vorhergesagten Veranderung des wahrgenommenen Durchmessers um einen<br />
Faktor von etwa acht beim Mars und einem Faktor von etwa sechs bei der Venus<br />
messbar. Betrachtet man die Planeten jedoch mit bloBem Auge, kann bezuglich<br />
der GroBe der Venus keine Veranderung festgestellt werden, wahrend die Veranderung<br />
der GroBe des Mars etwa den Faktor zwei aufweist. So wurde die Beobachtungsaussage<br />
„Die GroBe der Venus verandert sich im Jahres verlauf nicht" klar<br />
bestatigt und sogar im Vorwort zu Kopernikus' ..Revolution der Himmlischen<br />
Sphdrert' <strong>als</strong> eine Tatsache erwahnt, die „durch Erfahrungen aller Zeitalter"<br />
(Duncan, 1976, S. 22) bestatigt wurde. Osiander, der Autor dieses Vorwortes, war<br />
so beeindruckt von dem Auseinanderklaffen der Konsequenzen aus der Theorie<br />
Kopernikus' und den „beobachtbaren Tatsachen", dass er dies zum Anlass nahm,<br />
anzufuhren, dass die Theorie von Kopernikus nicht wortlich genommen werden<br />
sollte. Wir wissen heute, dass Beobachtungen der PlanetengroBe mit bloBem Auge<br />
fehlerbehaftet sind, und dass das Auge kein geeignetes Werkzeug zur Messung der<br />
GroBe kleiner Lichtquellen auf dunklem Hintergrund ist. Aber es bedurfte Galilei,<br />
dies herauszustellen und zu zeigen, dass der vorhergesagte GroBenunterschied<br />
deutlich wahrgenommen werden kann, wenn Venus und Mars durch ein Teleskop<br />
betrachtet werden. Hier haben wir ein gutes Beispiel daftir, wie die Korrektur von<br />
Fehleinschatzungen beobachtbarer Tatsachen durch verbessertes Wissen und<br />
geeignetere Technologien moglich ist. Fiir sich selbst gesehen ist dieses Beispiel<br />
nicht weiter bemerkenswert und wenig mysteries. Aber es zeigt, dass jede Sichtweise<br />
der Aussage, dass wissenschaftliche Erkenntnis auf beobachtbaren Tatsachen<br />
beruht, beinhaltet, dass sowohl die Tatsachen <strong>als</strong> auch das Wissen fehlbar<br />
und Gegenstand von Korrekturen sein konnen und dass eine gegenseitige Abhangigkeit<br />
von wissenschaftlicher Erkenntnis und den Tatsachen, auf denen sie beruht,<br />
besteht.<br />
Die intuitive Annahme, die mit der These „Wissenschaft basiert auf Tatsachen"<br />
in Worte gefasst wurde, bezieht sich darauf, dass Wissenschaft zum Teil<br />
deswegen einen besonderen Status hat, weil sie auf einer sicheren Basis grundet:<br />
verlasslichen Tatsachen, die durch Beobachtung belegt sind. Einige Erwagungen<br />
dieses Kapitels stellen eine Herausforderung fiir diese Sichtweise dar. Eine<br />
Schwierigkeit bezieht sich auf den Umfang, in dem Wahmehmung durch das<br />
Hintergrundwissen und die Erwartungen von Beobachtem beeinflusst wird, sodass<br />
17
das, was fiir den einen eine beobachtbare Tatsache ist, fiir andere nicht zwangslaufig<br />
so sein muss. Eine zweite Schwierigkeit bezieht sich auf den Umfang, in dem<br />
Beurteilungen des Wahrheitsgehalts von Beobachtungsaussagen davon abhangen,<br />
was bereits gewusst bzw. zumindest angenommen wird, sodass beobachtbare<br />
Tatsachen ebenso fehlerbehaftet sein konnen wie die Vorannahmen, die ihnen zugrundeliegen.<br />
Beide Schwierigkeiten legen nahe, dass die Beobacbtungsgrundlage<br />
von Wissenschaft nicht so klar und sicher ist, wie gemeinhin angenommen. Im<br />
nachsten Kapitel soil versucht werden, diese Befiirchtungen etwas abzuschwachen,<br />
indem die Natur von Beobachtungen, wie sie in der Wissenschaft vorgenommen<br />
werden, etwas differenzierter betrachtet werden soil, <strong>als</strong> dies bisher geschehen<br />
ist.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Zur klassischen Diskussion der empiristischen Ansatze siehe Locke (1913). Zur<br />
Position des Logischen Positivismus siehe Ayer (1940). Hanfling (1981) bietet<br />
eine allgemeine Einflihrung in den Logischen Positivismus, inklusive seines Beitrags<br />
zur Beobacbtungsgrundlage von Wissenschaft. Eine auf der Auseinandersetzung<br />
mit der Wahrnehmung basierende kritische Darstellung mit dieser Position<br />
leistet Hanson (1958, Kap. 1). Nutzliche Diskussionen des gesamten Themengebiets<br />
fmden sich bei Brown (1977) und Barnes, Bloor & Henry (1996, Kap. 1-3).
Beobachtung <strong>als</strong> Intervention<br />
2.1 Beobachtung: passiv und privat oder offentlich und aktiv?<br />
Eine Reihe von Philosophen sehen Beobachtung <strong>als</strong> etwas Passives und Privates.<br />
Passiv insofem, <strong>als</strong> wir zum Beispiel beim Sehen lediglich unsere Augen offtien,<br />
sie auf etwas richten, die Informationen auf uns einstromen lassen und das registrieren,<br />
was zu sehen ist. Wahmehmung wird <strong>als</strong> etwas verstanden, das Tatsachen,<br />
wie zum Beispiel „Vor mir liegt eine rote Tomate", direkt validiert. SchlieBt man<br />
sich einer solchen Sichtweise an, ist das Belegen beobachtbarer Tatsachen eine<br />
personliche Angelegenheit. Sie liegt vollstandig beim Individuum, das durch den<br />
Akt der Wahmehmung auf das achtet, was ihm prasentiert wird. Da zwei Beobachter<br />
keinen Zugang zu den Wahmehmungen des jeweils anderen haben, besteht<br />
keine Moglichkeit, uber die Validitat der angenommenen Tatsachen in den Dialog<br />
zu treten.<br />
Dieses Verstandnis von Wahrnehmung oder Beobachtung, <strong>als</strong> etwas Passives<br />
und Privates, ist inadaquat und stellt keinen angemessenen Zugang zur Beobachtung<br />
dar - nicht im Alltag und erst recht nicht in der Wissenschaft. Alltagsbeobachtung<br />
ist weit davon entfemt, passiv zu sein. Es werden eine Reihe von Verhaltensweisen<br />
ausgefuhrt, viele davon automatisch und vielleicht sogar unbewusst,<br />
um die Validitat von Beobachtungen zu belegen. Beim Akt des Sehens werden<br />
Objekte registriert, indem wir unseren Kopf drehen, um vermutete Veranderungen<br />
des beobachteten Szenarios zu iiberprufen. Wenn wir uns nicht sicher sind, ob das,<br />
was wu- durch ein Fenster sehen, etwas auBerhalb des Fensters ist oder eine Reflexion<br />
auf der Scheibe, konnen wir unseren Kopf bewegen, um festzustellen, ob dies<br />
einen Einfluss auf die Richtung, in der das Objekt gesehen wird, hat. Allgemein<br />
gilt, dass immer dann, wenn an der Validitat einer Beobachtung gezweifelt wird,<br />
eine Reihe von Verhaltensweisen ausgefuhrt werden, um diese Zweifel auszuraumen.<br />
Haben wir zum Beispiel Anlass zur Vermutung, dass die im zuvor genannten<br />
Beispiel angesprochene Tomate eher eine gut gemachte optische Tauschung darstellt<br />
<strong>als</strong> eine reale Tomate, konnen wir sie beruhren, ihren Geschmack Uberprtifen<br />
oder sie auseinanderschneiden.
20<br />
Mit diesen elementaren Beobachtungen wurde nur die Oberflache dessen bertihrt,<br />
was Psychologen zu den Verhaltensweisen aussagen, die von Individuen im<br />
Verlauf des Prozesses der Wahmehmung an den Tag gelegt werden. Noch wichtiger<br />
ist es, diesen Punkt auf die Rolle der Beobachtung im Rahmen von Wissenschaft<br />
zu beziehen. Ein Beispiel, das dies gut illustriert, stammt aus den Anfangen<br />
des Einsatzes von Mikroskopen. Zumindest am Anfang bestand zwischen Forschern,<br />
wie zum Beispiel Robert Hooke oder Henry Powers, die Mikroskope einsetzten,<br />
um kleine Fliegen oder Ameisen zu beobachten, haufig Uneinigkeit tiber<br />
die beobachtbaren Tatsachen. Hooke flihrte einige dieser Uneinigkeiten auf unterschiedliche<br />
Beleuchtung zuruck. Er wies darauf hin, dass das Auge einer Fliege<br />
unter der einen Bedingung wie ein Gitter erscheint, das voller Locher ist (die mit<br />
der Bedingung Ubereinstimmte, die Powers zu eben dieser Aussage veranlasste),<br />
wahrend es unter anderen Lichtverhaltnissen mit Kegeln oder Pyramiden bedeckt<br />
erscheint. Im Weiteren entwickelte Hooke einige praktische Interventionen, um<br />
dieses Problem zu losen. Er bemiihte sich darum, irrefuhrende Informationen, die<br />
auf Blendung und komplizierte Reflexionen zuriickzufiihren waren, dadurch zu<br />
eliminieren, dass er die Proben einheitlich beleuchtete. Dazu arbeitete er mit Kerzenlicht,<br />
das durch eine Salzlosung diffus gemacht wurde. Ebenso beleuchtete er<br />
seine Proben aus unterschiedlichen Richtungen, um festzustellen, welche Merkmale<br />
unter verschiedenen Bedingungen invariant blieben. Um sie bewegungslos<br />
zu halten und sie nicht zu verletzen, bedurften einige der Insekten einer Betaubung<br />
durch Brandy.<br />
Hookes Buch Micrographia (1665) enthalt eine Vielzahl von Beschreibungen<br />
und Zeichnungen, die aus seinen Versuchen und Beobachtungen resultieren. Diese<br />
sind offentlich und nicht privat. Sie konnen gepruft, kritisiert und durch andere<br />
erweitert werden. Wenn das Auge einer Fliege bei einer bestimmten Beleuchtung<br />
voller Locher erscheint, kann dies nicht durch die individuelle Wahmehmung<br />
allein belegt werden. Hooke zeigte, was getan werden kann, um die Authentizitat<br />
solcher Erscheinungen zu tiberprlifen, und die Strategien, die er empfiehlt, konnen<br />
von jedem, der dies tun mochte und iiber die entsprechenden Moglichkeiten verfiigt,<br />
nachvollzogen werden. Die so gewonnenen Tatsachen tiber die Struktur des<br />
Auges einer Fliege resultieren aus einem Prozess, der beides ist, aktiv und offentlich.<br />
Die Moglichkeit, aktives Eingreifen heranzuziehen, um die Angemessenheit<br />
von Aussagen, die <strong>als</strong> beobachtbare Tatsachen angesehen werden, zu uberpriifen,<br />
hat zur Folge, dass die subjektiven Aspekte von Wahrnehmung kein unlosbares<br />
Problem flir die Wissenschaft darstellen mtissen. Im vorangegangenen Kapitel<br />
wurde die Art und Weise diskutiert, in der Wahrnehmungen desselben Szenarios<br />
sich je nach Hintergrund, Kultur und Erwartung von Beobachtem unterscheiden.<br />
Problemen, die auf diese Tatsache zuriickgefuhrt werden konnen, kann durch<br />
geeignetes aktives Eingreifen begegnet werden. Es ist nicht neu, dass die Wahrnehmungsaussagen<br />
von Individuen aus einer Reihe von Griinden nicht zuverlassig<br />
sein konnen. Die spezifische Herausforderung in der Wissenschaft ist es, beobachtbare<br />
Situationen so zu arrangieren, dass solche Unzuverlassigkeiten minimiert,<br />
wenn nicht sogar eliminiert wird. Ein oder zwei Beispiele sollen dies illustrieren.
Die Mondtauschung ist ein allgemein bekanntes Phanomen. Steht der Mond<br />
hoch am Himmel, erscheint er kleiner, <strong>als</strong> wenn er nahe am Horizont liegt. Das ist<br />
eine Tauschung. Wahrend der wenigen Stunden, die notig sind, um die Positionen<br />
zu erreichen, mit denen dieser GroBenunterschied einhergeht, verandert der Mond<br />
weder seine GroBe noch seine Entfemung zur Erde. Wir mtissen uns jedoch nicht<br />
auf subjektive Einschatzungen der GroBe des Mondes verlassen. Man kann zum<br />
Beispiel ein mit quer gespannten Drahten ausgertxstetes Femrohr so installieren,<br />
dass seine Ausrichtung auf einer Skala abgelesen werden kann. Der dem Mond<br />
zum Zeitpunkt der Messung gegentiberliegende Winkel kann durch Ausrichten der<br />
Drahte auf die Seiten des Mondes bestimmt werden, und so kann die Differenz<br />
durch Ablesen der entsprechenden Skalenwerte ermittelt werden. Diese Messung<br />
lasst sich einmal ausfuhren, wenn der Mond hoch am Himmel steht, und ein<br />
zweites Mai, wenn er sich am Horizont befmdet. Die Tatsache, dass die GroBe des<br />
Mondes sich nicht verandert hat, wird dadurch bestatigt, dass zwischen den abgelesenen<br />
Werten keine bedeutsamen Unterschiede bestehen.<br />
2.2 Galilei und die Monde des Jupiters<br />
In diesem Abschnitt soil die Bedeutung der im letzten Kapitel diskutierten Sachverhalte<br />
an einem historischen Beispiel illustriert werden. Gegen Ende des Jahres<br />
1609 konstruierte Galilei ein leistungsstarkes Teleskop und benutzte es, um den<br />
Himmel zu beobachten. Viele der neuartigen Beobachtungen, die er in den folgenden<br />
drei Monaten machte, waren umstritten und sehr relevant fiir die astronomische<br />
Debatte iiber die Gultigkeit der kopernikanischen Theorie, deren eifriger<br />
Verfechter Galilei wurde. Er behauptete zum Beispiel, vier Monde des Jupiters<br />
gesehen zu haben. Er hatte jedoch Schwierigkeiten damit, andere von der Giiltigkeit<br />
dieser Behauptung zu uberzeugen. Der Grund war Folgender: Die kopemikanische<br />
Theorie beinhaltete die umstrittene Aussage, dass sich die Erde einmal im<br />
Laufe eines Tages um ihre eigene Achse drehe und einmal im Laufe eines Jahres<br />
die Sonne umkreise. Die gangige Ansicht, die Kopemikus in der ersten Halfte des<br />
vorherigen Jahrhunderts angriff, war jedoch, dass sich die Erde nicht bewege und<br />
dass die Planeten und die Sonne um sie kreisten. Eines der vielen, keineswegs<br />
trivialen Argumente gegen die Erdbewegung bestand darin, dass sie den Mond<br />
hinter sich lieBe, wenn sie - wie Kopernikus behauptete - die Sonne umkreiste. In<br />
dem Moment, wo festgestellt wird, dass der Jupiter Monde hat, wird dieses Argument<br />
widerlegt, weil sogar die Gegner von Kopemikus anerkannten, dass sich der<br />
Jupiter bewegt. Er ftihrt <strong>als</strong>o seine Monde mit sich und zeigt damit genau das<br />
Phanomen, von dem die Gegner Kopernikus' behaupteten, dass es in Bezug auf<br />
die Erde unmoglich sei.<br />
Den Nachweis zu liefern, ob Galileis teleskopische Beobachtungen der Jupitermonde<br />
Gtiltigkeit besaBen, war eine Frage der Zeit. Nach zwei Jahren hatte<br />
Galilei, trotz des anfanglichen Skeptizismus und der Unfahigkeit einiger Zeitgenossen,<br />
die Monde durch das Teleskop zu erkennen, seine Gegenspieler tiberzeugt.<br />
Wir wollen einen Blick darauf werfen, wie er dies erreichte - wie er es<br />
moglich machte, seine Beobachtungen der Jupitermonde zu „objektivieren".<br />
21
22<br />
Galilei brachte an einem Teleskop eine Skala, deren Flache sich senkrecht<br />
zur Teleskopachse befand, so an, dass sie am Teleskop entlang auf- und abgeschoben<br />
werden konnte. Wenn man mit einem Auge durch das Teleskop sah,<br />
konnte man mit dem anderen Auge die Skala sehen, was durch eine kleine Lampe,<br />
die sie erhellte, erleichtert wurde. Wenn nun das Teleskop auf den Jupiter gerichtet<br />
war, wurde die Skala so lange am Teleskop entlang geschoben, bis das durch<br />
das Teleskop mit einem Auge betrachtete Bild vom Jupiter zwischen den zentralen<br />
Markierungen der Skala lag, die mit dem anderen Auge betrachtet wurde. Hatte<br />
man dies erreicht, konnte man die Positionen der durch das Teleskop betrachteten<br />
Satelliten auf der Skala ablesen. Der abgelesene Abstand der Satelliten vom Jupiter<br />
betrug ein Vielfaches seines Durchmessers. Der Durchmesser des Jupiters war<br />
eine zweckmaBige Einheit, denn <strong>als</strong> MaBstab berucksichtigte er automatisch die<br />
Tatsache, dass sein augenscheinlicher Durchmesser, wie man ihn von der Erde aus<br />
sah, sich in dem MaBe anderte, wie der Planet sich der Erde naherte und von ihr<br />
entfemte.<br />
Mit dem oben beschriebenen Verfahren war Galilei in der Lage, taglich Protokoll<br />
uber die vier „Stemchen", die den Jupiter begleiteten, zu fiihren. Er konnte<br />
nachweisen, dass die Daten im Einklang mit der Annahme standen, dass es sich<br />
bei den Stemchen tatsachlich um Satelliten handelte, die in konstanten Zeitraumen<br />
den Jupiter umkreisten. Die Annahme wurde nicht nur durch quantitative Messungen<br />
bestatigt, sondem auch durch qualitativ verbesserte Beobachtungen, die zeigten,<br />
dass die Satelliten von Zeit zu Zeit aus dem Blickfeld verschwanden, wenn sie<br />
sich gerade vor oder hinter dem Mutterplaneten befanden oder sich in seinen<br />
Schatten hineinbewegten.<br />
Galilei hatte gute Argumente fur die Richtigkeit seiner Beobachtungen der<br />
Jupitermonde, obwohl sie dem bloBen Auge nicht zuganglich waren. Er entkraftete<br />
die Unterstellung, dass sie lediglich eine vom Teleskop produzierte Tauschung<br />
seien, indem er darauf hinwies, dass auf der Grundlage dieser Annahme<br />
nicht erklart werden kann, warum die Satelliten immer nur in der Nahe des Jupiters<br />
zu sehen seien. Galilei konnte ebenfalls auf die Bestandigkeit und Wiederholbarkeit<br />
seiner Messungen sowie auf ihre Kompatibilitat mit der Annahme, dass die<br />
Satelliten Jupiter in einem konstanten Zeitraum umkreisen, verweisen. Galileis<br />
quantitative Daten wurden von unabhangigen Beobachtem des Collegio Romano<br />
und des Papstlichen Gerichtshofes in Rom verifiziert, die Gegner der kopernikanischen<br />
Theorie waren. Dariiber hinaus war es Galilei moglich, weitere Positionen<br />
der Satelliten und das Auftreten von Wandlungen und Eklipsen vorherzusagen, die<br />
von ihm selbst und auch von unabhangigen Beobachtern bestatigt wurden (Drake,<br />
1978, S. 175ff,236ff.).<br />
Die Richtigkeit der mit dem Teleskop ermoglichten Entdeckungen wurde<br />
bald von kompetenten Beobachtem unter Galileis Zeitgenossen, sogar von seinen<br />
ursprtinglichen Gegnern, akzeptiert. Zwar gelang es nicht alien Beobachtern, die<br />
Satelliten zu erkennen, doch dieser Tatsache kommt m. E. ebenso wenig Bedeutung<br />
zu, wie dem sicherlich nicht ungewohnlichen Unvermogen Thurbers (1933,<br />
S. 10Iff), die <strong>Strukturen</strong> einer Pflanzenzelle durch ein Mikroskop zu erkennen.<br />
Die Uberzeugungskraft von Galileis Argumenten fur die Richtigkeit seiner teleskopischen<br />
Beobachtungen der Jupitermonde liegt in einer Reihe praktischer und
objektiver Uberprufungen, denen seine Behauptungen standhalten konnten. Auch<br />
wenn seine Argumente nicht vollig stimmig waren, so waren sie unvergleichlich<br />
uberzeugender <strong>als</strong> das Gegenargument, seine Entdeckungen seien durch das Teleskop<br />
hervorgerufene Tauschungen oder Artefakte.<br />
2.3 Beobachtbare Tatsachen: objektiv, aber fehlbar<br />
Ein Versuch, eine angemessene Version dessen, was eine beobachtbare Tatsache<br />
ausmacht, vor der Kritik zu retten, die in der Uberschrift nahe gelegt wird, konnte<br />
etwa folgendermaBen aussehen: Eine Beobachtungsaussage konstituiert dann eine<br />
Tatsache, die es wert ist, <strong>als</strong> Grundlage der Wissenschaft angesehen zu werden,<br />
wenn sie mittels der Sinne direkt tiberprtift werden kann und einer solchen LFberprufung<br />
standhalt. „Direkt" soil dabei so verstanden werden, dass die infrage<br />
stehenden Beobachtungsaussagen so geartet sein sollen, dass ihre Giiltigkeit mithilfe<br />
von Routineprozeduren tiberpriift werden kann, die keiner subjektiven Urteile<br />
aufseiten der Beobachter bediirfen. Die Betonung auf Priifverfahren, macht<br />
den aktiven und offentlichen Charakter der Rechtfertigung von Beobachtungsaussagen<br />
deutlich. Auf diese Art und Weise ist es moglich, die Idee, dass Tatsachen<br />
ohne Probleme durch Beobachtungen belegbar seien, zu umreiBen. Kaum jemand<br />
wird seine Zeit darauf verwenden, anzuzweifeln, dass Dinge wie das Ablesen von<br />
Messinstrumenten, von geringfugigen Fehlern abgesehen, mit hoher Sicherheit<br />
moglich ist.<br />
Das im vorangegangenen Abschnitt propagierte Verstandnis von Tatsachen<br />
hat jedoch seinen Preis. Er besteht darin, dass beobachtbare Tatsachen in gewissem<br />
Umfang fehlbar sind und widerlegt werden konnen. Qualifiziert sich eine<br />
Aussage <strong>als</strong> beobachtbare Tatsache, weil sie alle bisherigen Tests erfolgreich<br />
bestanden hat, bedeutet dies nicht, dass sie neuen Arten von Uberpriifungen, die<br />
aufgrund von theoretischen oder technologischen Fortschritten moglich werden,<br />
ebenso standhalt. Zwei bedeutende Beispiele von Beobachtungsaussagen, die aus<br />
guten Grunden <strong>als</strong> Tatsachen akzeptiert wurden, im Licht solcher Fortschritte<br />
jedoch zurtickgewiesen werden mussten, haben wir bereits kennen gelernt: „Die<br />
Erde bewegt sich nicht" und „Die GroBe von Mars und Venus verandert sich im<br />
Laufe eines Jahres nicht".<br />
Entsprechend der hier vertretenen Sichtweise sind Beobachtungen, die geeignet<br />
sind, eine Basis fur die Wissenschaft zu liefem, sowohl objektiv <strong>als</strong> auch fehlbar.<br />
Sie sind objektiv, <strong>als</strong> sie mittels nachvollziehbarer Prozeduren offentlich<br />
uberpruft werden, und sie sind insofern fehlbar, <strong>als</strong> sie durch neuere Testverfahren,<br />
die wissenschaftliche und technologische Fortschritte moglich machen, infrage<br />
gestellt werden konnen. Dieser Punkt kann durch ein anderes Beispiel aus<br />
dem Werk Galileis illustriert werden. In seinem ..Dialog uber die beiden hauptsachlichsten<br />
Weltsysteme'' beschreibt Galilei (1982, S.378) eine objektive Methode,<br />
den Durchmesser der Sterne zu messen:<br />
Ich lieB vor irgendeinem Stem eine Schnur herabhangen, ich benutzte<br />
zu diesem Zweck die Wega in der Leier, welche zwischen<br />
23
24<br />
Nord und Nordost aufgeht. Indem ich mich nun der zwischen mir<br />
und dem Stem befmdlichen Schnur bald naherte, bald mich von ihr<br />
entfemte, fand ich die Stelle, von der aus die Breite der Schnur mir<br />
gerade den Stem verdeckt. Danach maB ich die Entfernung des Auges<br />
von der Schnur, welche gleich einer der beiden den Sehwinkel<br />
einschlieBenden Seiten ist, wahrend die Breite der Schnur, die ihm<br />
gegeniiberliegende Seite bildet; dieser Sehwinkel ist dann ahnlich<br />
Oder vielmehr gleich dem Winkel, der auf dem Durchmesser des<br />
Sterns in der Fixstemsphare steht. Aus dem Verhaltnis der Breite<br />
der Schnur zu der Entfemung zwischen Schnur und Auge fand ich<br />
... unmittelbar die GroBe des Winkels ...<br />
Heute weiB man, dass Galileis Ergebnisse f<strong>als</strong>ch waren. Die augenscheinliche<br />
GroBe eines Stems ist abhangig von Effekten der Atmosphare und atmospharischen<br />
Interferenzen und hat keinerlei Beziehung zu der physikalischen GroBe des<br />
Sterns. Galileis Messung der SternengroBe basierte auf impliziten Annahmen, die<br />
heute zurtickgewiesen werden mussen. Aber diese Zuriickweisung hat nichts mit<br />
den subjektiven Aspekten der Wahmehmung zu tun. Galileis Beobachtungen<br />
waren objektiv in dem Sinn, <strong>als</strong> sie Routineprozeduren beinhalteten, die, wenn<br />
man sie heute wiederholte, zu den gleichen Resultaten fuhren wiirden, wie sie<br />
auch Galilei fand. Im folgenden Kapitel werden wir Gelegenheit haben, den Gedanken<br />
zu vertiefen, dass das Fehlen einer unfehlbaren Beobachtungsgrundlage<br />
nicht nur auf der Subjektivitat von Wahrnehmung beruht.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Zu der klassischen Diskussion, dass Aussagen, die einer Oberprtifung standhalten,<br />
die empirische Basis von Wissenschaft bilden, siehe Popper (1994, Kap. 5). Aktive<br />
Prozesse der Wahrnehmung werden in der zweiten Halfte des Buchs von<br />
Hacking (1996), bei Popper (1984, S. 341-361) und in Chalmers (1999, Kap. 4)<br />
behandelt. Ebenfalls sehr lesenswert ist Shapere (1982).
Das Experiment<br />
3.1 Nicht einfach Tatsachen, sondern relevante Tatsachen<br />
Um der Argumentation willen soil in diesem Kapitel angenommen werden, dass<br />
Tatsachen durch den sorgfaltigen Gebrauch der Sinne belegt werden konnen.<br />
Trotz aller Gegenargumente gibt es, wie bereits angemerkt wurde, eine Reihe fur<br />
die Wissenschaft relevante Situationen, in denen diese Annahme sicher gerechtfertigt<br />
ist. Das Ticken eines Geigerzahlers zu zahlen oder den Zeiger einer Skala<br />
abzulesen, sind unproblematische Beispiele. Lost das Vorhandensein solcher Beispiele<br />
unser Problem einer auf Tatsachen beruhenden Wissenschaft? Liefem die<br />
Aussagen, von denen wir annehmen, dass sie durch Beobachtung belegt werden,<br />
die Tatsachen, aus denen wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden kann? In<br />
diesem Kapitel werden wir sehen, dass die definitive Antwort auf diese Fragen<br />
„nein" lautet.<br />
Bin Punkt, der angefiihrt werden soil, ist, dass wir in der Wissenschaft nicht<br />
irgendwelche Tatsachen benotigen, sondern relevante. Der groBte Teil der Tatsachen,<br />
die durch Beobachtung belegt werden konnen, wie zum Beispiel die Anzahl<br />
der Bticher in meinem Btiro oder die Farbe vom Auto meines Nachbam, sind flir<br />
die Wissenschaft vollig irrelevant, und es ware fur Wissenschaftler die reinste<br />
Zeitverschwendung, sie zu sammeln. Welche Tatsachen fur eine Wissenschaftsdisziplin<br />
relevant sind und welche nicht, hangt ab vom derzeitigen Entwicklungsstand<br />
dieser Wissenschaft. Die Wissenschaft stellt die Fragen, und ideale Beobachtung<br />
kann Antworten liefem. Dies ist Teil einer Antwort auf die Frage, was<br />
eine relevante Tatsache fur die Wissenschaft ist.<br />
Es gibt jedoch ein weitaus wichtigeres Argument, das ich mit einer kleinen<br />
Geschichte einleiten mochte. Als ich jung war, waren mein Bruder und ich uneins<br />
daruber, wie erklart werden kann, warum das Gras zwischen den Kuhfladen hoher<br />
wuchs <strong>als</strong> auf jeder anderen Stelle einer Wiese, eine Tatsache, die wir sicher nicht<br />
<strong>als</strong> Erste bemerkt hatten. Mein Bruder war der Memung, dass dies auf den diingenden<br />
Effekt der Kuhfladen zuruckzufuhren sei, wahrend ich annahm, dass sie<br />
einen Effekt wie Mulch hatten, wobei der Fladen die Feuchtigkeit unter sich einschlieBe<br />
und so Verdunstung verhindert werde. Heute habe ich den starken Ver-
26<br />
dacht, dass keiner von uns vollig Recht hatte und dass die Haupterklarung darin zu<br />
fmden ist, dass Kuhe schlicht nicht geneigt sind, das Gras, das um ihren eigenen<br />
Fladen herum wachst, zu fressen. Vermutlich spielen alle drei Erklamngen eine<br />
Rolle, aber es ist nicht moglich, die relative GroBe der Effekte durch Beobachtungen<br />
zu bestimmen, wie sie mein Bruder und ich vorgenommen batten. Irgend eine<br />
Art von Intervention ware notig, wie zum Beispiel das Entfemen der Kuhe von<br />
einer Weide fiir eine Saison, um zu sehen, ob dies das vermehrte Langenwachstum<br />
des Grases zwischen den Kuhfladen reduziert oder gar eliminiert, oder indem der<br />
Fladen zermahlen wird, um den „Mulch"-Effekt auszuschlieBen, den „Dunge"-<br />
Effekt aber beizubehalten und so weiter.<br />
Die hier dargestellte Situation ist typisch. In der uns umgebenden Welt fmden<br />
viele Prozesse statt, die sich auf hochst komplizierte Weise gegenseitig tiberlagem<br />
und miteinander interagieren. Ein fallendes Blatt ist der Schwerkraft, dem Luftwiderstand<br />
sowie dem Wind ausgesetzt und wird wahrend des Falls in gewissem<br />
Umfang einem Faulnisprozess unterliegen. Es ist nicht moglich diese unterschiedlichen<br />
Prozesse dadurch zu begreifen, dass man typische, naturlich auftretende<br />
Ereignisse sorgfaltig beobachtet. Die Beobachtungen von fallenden Blattem wird<br />
nicht Galileis Fallgesetz hervorbringen. Die hierin enthaltene Lektion ist einfach:<br />
Um Tatsachen zu erhalten, die fur die Identifikation und Spezifikation der in der<br />
Natur wirkenden Prozesse relevant sind, ist es allgemein notwendig, direkt zu<br />
intervenieren, zu versuchen, den jeweils zu untersuchenden Prozess zu isolieren<br />
und die Effekte der anderen zu eliminieren. Kurz, es ist notwendig, Experimente<br />
durchzufuhren.<br />
Es hat eine Weile gedauert, bis dieser Punkt erreicht wurde, aber es sollte<br />
deutlich gemacht werden, dass Tatsachen dann, wenn sie die Basis von Wissenschaft<br />
bilden, eher auf der Grundlage von Experimenten gewonnen werden sollen,<br />
<strong>als</strong> durch irgendwelche beobachtbaren Tatsachen. So offensichtlich dies erscheinen<br />
mag, erst in den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftsphilosophen die<br />
Natur des Experiments und seine Rolle in den Wissenschaften einer naheren Betrachtung<br />
unterzogen. Tatsachlich ist es ein Thema, dem in der vorangegangenen<br />
Ausgabe dieses Buches wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wie wir im Rest<br />
dieses Kapitels sehen werden, erscheinen die Aspekte, die wir bisher diskutiert<br />
haben, in einem etwas anderen Licht, wenn wir unsere Aufmerksamkeit eher auf<br />
das Experiment <strong>als</strong> Basis von Wissenschaft richten, <strong>als</strong> auf die reine Beobachtung.<br />
3.2 Das Erzielen experimenteller Ergebnisse und ihre Aktualisierung<br />
Experimentelle Ergebnisse sind in keiner Weise einfach zu erzielen. Wie jeder<br />
Experimentator und sogar jeder Student weiB, ist es nicht einfach, ein Experiment<br />
durchzufuhren. Es kann Monate oder sogar Jahre dauem, bis ein bedeutsames<br />
neues Experiment erfolgreich ausgefuhrt werden kann. Die kurze Darstellung<br />
eines Experiments, das ich selbst in den 1960er Jahren <strong>als</strong> experimentell arbeitender<br />
Physiker vorgenommen hatte, soil dies illustrieren. Es ist nicht wichtig, ob der<br />
Leser den Details dieser Geschichte folgen kann. Ich mochte nur eine Ahnung von
der Komplexitat und den praktischen Schwierigkeiten vermitteln, die mit der Produktion<br />
experimenteller Resultate verbunden sind.<br />
Ziel meines Experimentes war es, Elektronen mit niedriger Energie von Moleklilen<br />
abzulosen und herauszufinden, wie viel Energie sie wahrend dieses<br />
Prozesses verlieren. Auf diesem Weg wollte ich Informationen txber die Energieniveaus<br />
der Molekiile erhalten. Um dies zu ermoglichen, war es notwendig, Elektronen<br />
zu produzieren, die sich alle mit derselben Geschwindigkeit bewegten und<br />
folglich dieselbe Energie batten. Damit ich die gewUnschte Information erhalten<br />
konnte, mussten die Elektronen mit einem Zielmolekul kollidieren, bevor sie auf<br />
den Detektor trafen, und die Geschwindigkeit beziehungsweise die Energie der<br />
Elektronen musste mit einem dafur konstruierten Detektor gemessen werden.<br />
Jeder dieser Schritte stellte eine experimentelle Herausforderung dar. Der Geschwindigkeitsfilter<br />
bestand aus zwei leitenden Platten, die zu konzentrischen<br />
Zylindern gekriimmt waren und auf unterschiedlichem Potenzial lagen. Elektronen,<br />
die zwischen den beiden Platten eintraten, konnten nur dann den zylindrischen<br />
Kanal verlassen, wenn ihre Geschwindigkeit auf die Potenzialdifferenz der<br />
Platten abgestimmt war. Anderenfalls wurden sie zu den leitenden Platten gelenkt.<br />
Um sicherzustellen, dass die Elektronen nur mit einem Molekiil kollidierten, war<br />
es notig, ein Hochvakuum herzustellen und das Target-Gas unter geringstem<br />
Druck einzubringen. Dazu musste die verfugbare Vakuumtechnologie an ihre<br />
Grenzen getrieben werden. Die Geschwindigkeit der abgelosten Elektronen<br />
musste mittels zylinderformig angeordneter Elektronen gemessen werden, ahnlich<br />
denen, die eingesetzt wurden, um den monoenergetischen Strahl zu produzieren.<br />
Die Intensitat der abgelosten Elektronen einer bestimmten Geschwindigkeit<br />
konnte dadurch gemessen werden, dass der Potenzialunterschied zwischen den<br />
Platten genau auf den Wert gesetzt wurde, der es lediglich Elektronen mit der<br />
betreffenden Geschwindigkeit ermoglichte, den Zylinder zu passieren und am<br />
anderen Ende des Analysegerates herauszukommen. Diese Elektronen zu erfassen,<br />
erforderte die Messung sehr kleiner Strome, was ebenfalls an die Grenzen der<br />
gegebenen technischen Moglichkeiten stieB.<br />
Das war in groben Ztigen die Idee, aber jeder Schritt brachte eine Menge<br />
praktischer Probleme mit sich, die jedem vertraut sind, der in diesem Bereich<br />
arbeitet. Es war sehr schwer, die Apparatur von unerwiinschten Gasen zu befreien,<br />
die aus den verschiedenen Metallen, aus denen das Gerat hergestellt war, entwichen.<br />
Molekiile dieser Gase, die durch den Elektronenstrahl ionisiert wurden,<br />
konnten sich auf den Elektroden festsetzen und die elektrischen Potenziale verandem.<br />
Unsere amerikanischen Konkurrenten fanden heraus, dass eine Vergoldung<br />
der Platten dazu beitrug, die Probleme zu minimieren. Wir selbst fanden heraus,<br />
dass eine Bedampfung mit einer carbonhaltigen Schicht, genannt „aquadag", hilfreich<br />
war; nicht so wirkungsvoll wie die Vergoldung, unserem Budget jedoch<br />
angemessener. Meine Geduld - und mein Stipendium - waren erschopft, bevor<br />
das Experiment bedeutsame Resultate erbringen konnte. Ich verstehe, warum auch<br />
einige andere Forscher scheiterten, bevor wesentliche Ergebnisse gewonnen werden<br />
konnten. Heute, dreiBig Jahre spater, ist die Niederenergie-Elektronenspektroskopie<br />
eine Standardtechnologie.<br />
27
28<br />
Die Details meiner Bemlihungen und die meiner erfolgreicheren Nachfolger<br />
sind unwichtig. Was angefiihrt wurde, sollte genugen, um einen unbestreitbaren<br />
Punkt zu illustrieren. Wenn experimentelle Ergebnisse die Tatsachen darstellen,<br />
die Basis von Wissenschaft sind, erschlieBen sie sich sicher nicht einfach uber die<br />
Sinne. Sie miissen erarbeitet werden, und ihre Bestatigung beinhaltet erhebliches<br />
Know-how und praktizierten Versuch und Irrtum sowie das Ausreizen vorhandener<br />
Technologien.<br />
Auch die Beurteilung der Angemessenheit experimenteller Ergebnisse ist<br />
nicht einfach. Experimente sind nur dann angemessen und so interpretierbar, <strong>als</strong><br />
wtirden sie das anzeigen oder messen, was intendiert wurde, wenn das experimentelle<br />
Setting entsprechend ist und StorgroBen eliminiert wurden. Das wiederum<br />
setzt voraus, dass bekannt ist, welches die moglichen StorgroBen sind und<br />
wie sie eliminiert werden konnen. Jede Wissensliicke beziiglich dieser Faktoren<br />
kann zu inadaquaten experimentellen Messungen und zu fehlerhaften Interpretationen<br />
fiihren. In diesem Sinne gibt es einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen<br />
experimentellen Tatsachen und Theorie. Experimentelle Tatsachen konnen<br />
f<strong>als</strong>ch sein, wenn das zugrundeliegende Wissen unzureichend oder fehlerhaft ist.<br />
Eine Konsequenz dieser generellen, aber in gewisser Weise banalen Merkmale<br />
des Experiments besteht darin, dass experimentelle Resultate fehlbar sind<br />
und aus einfachen rationalen Grtinden aktualisiert oder ersetzt werden konnen.<br />
Experimentelle Ergebnisse konnen aufgrund von technologischem Fortschritt veraltet<br />
sein, sie konnen aufgrund von Wissenszuwachsen (in deren Licht der experimentelle<br />
Aufbau <strong>als</strong> ungeeignet erscheint) zurtickgewiesen werden und sie konnen<br />
aufgrund von Veranderungen im theoretischen Verstandnis <strong>als</strong> irrelevant erachtet<br />
werden. Diese Aspekte und ihre Bedeutung sollen im nachsten Abschnitt durch<br />
historische Beispiele illustriert werden.<br />
3.3 Veranderung der experimentellen Basis von Wissenschaft: historische<br />
Beispiele<br />
Den Leuchterscheinungen in Entladungsrohren wurde im letzten Viertel des 19.<br />
Jahrhunderts groBes wissenschaftliches Interesse entgegengebracht. Wenn zwischen<br />
Metallplatten, die an den Enden einer geschlossenen Glasrohre angebracht<br />
sind, eine hohe Spannung angelegt wird, treten elektrische Entladungen auf, die<br />
verschiedenartiges Leuchten innerhalb der Rohre verursachen. Wenn der Gasdruck<br />
innerhalb der Rohre nicht zu groB ist, entstehen Leuchtfaden, die die negativ<br />
geladene Platte (die Kathode) mit der positiv geladenen Platte (der Anode) verbinden.<br />
Dieses Phanomen wurde <strong>als</strong> Kathodenstrahlen bekannt und war Gegenstand<br />
bemerkenswerten Interesses der damaligen Wissenschaftler. Der deutsche<br />
Physiker Heinrich Hertz fiihrte in den friihen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts<br />
eine Reihe von Experimenten durch, um etwas liber ihre Natur zu erfahren. Als<br />
ein Resultat dieser Experimente schloss Hertz, dass diese Kathodenstrahlen keine<br />
Strome geladener Teilchen seien. Zum Teil kam er zu diesem Schluss, weil die<br />
Strahlen nicht durch ein senkrecht zur Bewegungsrichtung angelegtes elektrisches<br />
Feld abgelenkt wurden, wie es bei geladenen Teilchen erwartet wurde. Wir beurteilen<br />
Hertz' Schlussfolgerung heute <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch und seine Experimente <strong>als</strong> unzu-
langlich. Bevor das Jahrhundert zu Ende ging, hatte James Thomson Experimente<br />
durchgefiihrt, die iiberzeugend belegten, dass Kathodenstrahlen genauso durch<br />
elektrische und magnetische Felder abgelenkt werden, wie es fiir Strome geladener<br />
Partikel der Fall ist, und es gelang ihm, das Verhaltnis von elektrischer Ladung<br />
zur Masse der Partikel zu messen.<br />
Es waren der Einsatz einer verbesserten Technologie und ein besseres Verstandnis<br />
der Situation, die es Thomson ermoglichte, Hertz' experimentelle Ergebnisse<br />
zu verwerfen. Die Elektronen, die die Kathodenstrahlen bilden, konnen die<br />
Gasmolekiile der Rohre ionisieren, das heiBt, ein oder zwei ihrer Elektronen ablosen,<br />
sodass sie positive Ladung aufweisen. Diese lonen konnen sich auf den Metallplatten<br />
der Apparatur ansammebi und in der Situation des besagten Experiments<br />
zusatzliche kleine elektrische Felder erzeugen. Wahrscheinlich waren es<br />
solche Felder, die es Hertz verwehrten, die Ablenkungen zu erhalten, die Thomson<br />
sowohl herstellen <strong>als</strong> auch messen konnte. Dies gelang Thomson im Wesentlichen<br />
deshalb, well er von einer verbesserten Vakuumtechnik profitierte, die es ihm<br />
ermoglichte, mehr Gasmolekiile aus der Rohre zu saugen. Er setzte seine Apparatur<br />
einer langeren Erhitzung aus, um Riickstandsgase von den verschiedenen<br />
Oberflachen der Rohre zu entfemen. Er lieB die Vakuumpumpe iiber mehrere<br />
Tage laufen, um so viel wie moglich von dem rtickstandigen Gas abzusaugen.<br />
Aufgrund des verbesserten Vakuums und mittels einer geeigneteren Elektrodenanordnung,<br />
gelang es Thomson, die Ablenkungen festzustellen, von denen Hertz behauptete,<br />
dass sie nicht existieren wtirden. LieB Thomson den Druck innerhalb<br />
seiner Apparatur so hoch steigen, wie es bei Hertz der Fall gewesen war, konnte er<br />
dagegen keine Ablenkungen feststellen. Es muss jedoch an dieser Stelle betont<br />
werden, dass es Hertz keineswegs zur Last gelegt werden kann, zu f<strong>als</strong>chen<br />
Schlussfolgerungen gelangt zu sein. Auf der Grundlage seines Verstandnisses der<br />
Situation und bezogen auf das Wissen, das ihm zur Verfugung stand, hatte er gute<br />
Griinde anzunehmen, dass die Druckverhaltnisse innerhalb seiner Apparatur niedrig<br />
genug waren und mit dem experimentellen Aufbau alles seine Ordnung hatte.<br />
Lediglich im Licht darauf folgender theoretischer und technischer Fortschritte<br />
erweisen sich seine Resultate <strong>als</strong> nicht haltbar. Die Moral ist freilich: Wer kann<br />
wissen, welche experimentellen Ergebnisse sich aufgrund von vor uns liegenden<br />
Fortschritten <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erweisen werden?<br />
Dass Hertz weit davon entfemt war, ein wenig versierter Experimentator zu<br />
sein, sondem zu den Besten seiner Zeit gehorte, zeigte sich darin, dass es ihm<br />
nach zwei Jahren brillanter experimenteller Arbeit 1888 <strong>als</strong> Erstem gelang, Radiowellen<br />
zu erzeugen. AuBer dass sie ein neuartiges Phanomen darstellten, das<br />
experimentell erforscht und weiterentwickelt wurde, hatten die von Hertz gefundenen<br />
Wellen bedeutende wissenschaftliche Konsequenzen, da sie Maxwells<br />
Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts formulierte elektromagnetische Theorie<br />
bestatigten, aus der (obwohl dies Maxwell selbst nicht realisierte) sich die Existenz<br />
solcher Wellen ableiten lasst. Die meisten Aspekte der hertzschen Resultate<br />
hatten Bestand und sind noch heute von Bedeutung. Dennoch mussen einige seiner<br />
Resultate ersetzt und ihre Interpretation zuriickgewiesen werden. Beides sind<br />
Beispiele dafur, dass experimentelle Ergebnisse stets Gegenstand von Revisionen<br />
und Verbesserungen sind.<br />
29
30<br />
Hertz konnte mithilfe seiner Apparatur stehende Wellen erzeugen und iiber<br />
deren Wellenlange die Geschwindigkeit der erzeugten Radiowellen messen. Seine<br />
Ergebnisse lieBen darauf schlieBen, dass sich Radiowellen groBerer Wellenlange<br />
in der Luft schneller <strong>als</strong> in Drahten und schneller <strong>als</strong> Licht ausbreiteten, wahrend<br />
Maxwells Theorie vorhersagte, dass sie sich sowohl in der Luft <strong>als</strong> auch in den<br />
Drahten der hertzschen Apparatur mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten miissten.<br />
Die Resultate waren aus Grtinden, die Hertz bereits vermutete, nicht stimmig. Die<br />
Radiowellen, die von den Wanden von Hertz' Labor reflektiert wurden, wirkten<br />
sich storend auf die Messungen aus. Hertz selbst auBerte sich folgendermaBen zu<br />
den problematischen Ergebnissen (1894, S. 15):<br />
Vielleicht fi'agt der Leser, warum ich nicht selbst versucht habe,<br />
durch Wiederholung der Versuche die Zweifel zu beseitigen. Ich<br />
habe die Versuche wohl wiederholt, aber ich habe dabei nur geftinden,<br />
was auch zu vermuten steht, dass die einfache Wiederholung<br />
unter ahnlichen Verhaltnissen die Zweifel nicht zu erheben, sondern<br />
eher zu vermehren imstande ist. Die sichere Entscheidung steht bei<br />
Versuchen, welche unter giinstigeren Verhaltnissen ausgefiihrt werden.<br />
Giinstigere Verhaltnisse bedeuten hier groBere Raume. Solche<br />
waren mir bisher nicht zur Hand. Ich betone nochm<strong>als</strong>, dassdie Ungunst<br />
der Raume nicht durch Sorgfalt der Beobachtung kompensiert<br />
werden kann. Wenn sich die langen Wellen nicht entwickeln konnen,<br />
konnen sie auch nicht beobachtet werden.<br />
Hertz' experimentelle Resultate waren f<strong>als</strong>ch, well der experimentelle Aufbau der<br />
gegebenen Fragestellung nicht entsprach. Die untersuchten Wellenlangen mussten,<br />
gemessen an den AusmaBen des Labors, klein sein, um unerwiinschte Interferenzen<br />
reflektierender Wellen auszuschlieBen. Als sich dieser Gedanke durchsetzte,<br />
wurden innerhalb weniger Jahre Experimente „unter besseren Bedingungen"<br />
durchgeftihrt, die Geschwindigkeiten entsprechend der theoretisch abgeleiteten<br />
Vorhersagen ergaben.<br />
Ein Aspekt, der hier angeflihrt werden muss, ist, dass experimentelle Ergebnisse<br />
nicht nur adaquat im Sinne einer korrekten Aufzeichnung dessen, was vorgeftmden<br />
wird, sein miissen, sondern auch angemessen und bedeutsam. Typischerweise<br />
werden sie entwickelt, um einige wichtige Fragen zu beantworten. Urteile<br />
daruber, was eine wichtige Frage ist und inwieweit ein spezifischer experimenteller<br />
Aufbau einen angemessenen Weg darstellt, diese Frage zu beantworten, werden<br />
in groBem Umfang davon abhangen, wie die praktischen und theoretischen<br />
Gegebenheiten gesehen werden. Die Existenz konkurrierender <strong>Theorien</strong> zum<br />
Elektromagnetismus und die Tatsache, dass Maxwell Radiowellen vorhersagte,<br />
die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, machten Hertz' Versuche, die<br />
Geschwindigkeit von Wellen zu messen, besonders bedeutsam. Die Einsicht in das<br />
Reflexionsverhalten von Wellen fiihrt dagegen dazu, dass sein experimenteller<br />
Aufl^au <strong>als</strong> unangemessen beurteilt wurde. Diese speziellen Ergebnisse wurden<br />
zuruckgewiesen und aus Grunden, die aus Sicht der Physik klar und wenig mysterios<br />
sind, schon bald ersetzt.
Ebenso wie diese Episode aus Hertz' Forschung und seine Reflexionen illustriert,<br />
dass Experimente angemessen und bedeutsam sein miissen und experimentelle<br />
Resultate ersetzt oder zurtickgewiesen werden miissen, wenn sie es nicht<br />
sind, macht sie deutlich, dass die Zuruckweisung seiner Geschwindigkeitsmessungen<br />
nicht das Geringste mit den Problemen menschlicher Wahrnehmung zu tun<br />
hat. Es gibt keinen Grund anzuzweifeln, dass Hertz seine Apparaturen sehr sorgfaltig<br />
beobachtete, wahrend er Entfernungen vermaB, das Vorhandensein oder<br />
Nichtvorhandensein von Funken in den Spalten seiner Detektoren notierte oder<br />
das, was er von seinen Instrumenten ablas, aufzeichnete. Seine Resuhate sind in<br />
dem Sinne objektiv, <strong>als</strong> jeder, der seine Vorgehensweise wiederholen wurde, zu<br />
ahnlichen Ergebnissen kame. Die Probleme mit den experimentellen Ergebnissen<br />
von Hertz gehen weder auf unzulangliche Beobachtung noch auf mangelnde Reproduzierbarkeit<br />
zuruck, sondem auf die Unangemessenheit des experimentellen<br />
Aufbaus. Wie Hertz deutlich macht, ersetzt sorgfaltige Beobachtung nicht den<br />
Wunsch nach „gro6eren Raumen". Auch wenn wir zugestehen, dass Hertz mittels<br />
sorgfaltiger Beobachtung sichere Tatsachen erhalten konnte, konnen wir erkennen,<br />
dass das allein nicht ausreichte, um experimentelle Ergebnisse zu erlangen, die der<br />
gegebenen wissenschaftlichen Fragestellung entsprachen.<br />
Die obigen Ausfuhrungen konnen <strong>als</strong> Illustrationen dafur gesehen werden,<br />
wie theorieabhangig die Akzeptanz experimenteller Ergebnisse ist, und wie darauf<br />
bezogene Urteile sich in dem Umfang verandem konnen, in dem sich unser wissenschaftliches<br />
Verstandnis weiterentwickelt. Auf einer etwas allgemeineren Ebene<br />
kann das daran illustriert werden, wie sich die Bedeutung der hertzschen Radiowellen<br />
seit ihrer Entdeckung verandert hat. Zur damaligen Zeit war eine der<br />
verschiedenen konkurrierenden <strong>Theorien</strong> zum Elektromagnetismus die von James<br />
Clerk Maxwell, der die Schlusselideen Michael Faradays weiterentwickelt hatte<br />
und elektrische und magnetische Zustande <strong>als</strong> mechanische Zustande eines alles<br />
durchdringenden Athers verstand. Diese Theorie sagte - anders <strong>als</strong> ihre Gegenspieler,<br />
die annahmen, dass elektrische Strome, Ladungen und Magnete auf Distanz<br />
aufeinander einwirken, ohne einen Ather mit einzubeziehen - voraus, dass<br />
Radiowellen mit der Geschwindigkeit des Lichts moglich sind. Diese Entwicklung<br />
der Physik gibt Hertz' Resultaten bleibende theoretische Bedeutung. Konsequenterweise<br />
konnten Hertz und seine Zeitgenossen die Produktion von Radiowellen<br />
unter anderem <strong>als</strong> Belegfur die Existenz eines Athers heranziehen. Zwanzig Jahre<br />
spater verzichtete man im Lichte der Relativitatstheorie Einsteins auf die Annahme<br />
eines Athers. Hertz' Resultate werden immer noch <strong>als</strong> Bestatigung der<br />
Theorie Maxwells angesehen, aber nur in einer revidierten Form, die auf die Annahme<br />
eines Athers verzichtet und elektrische und magnetische Felder <strong>als</strong> eigenstandige<br />
Entitaten behandelt.<br />
Ein weiteres Beispiel, die Messung von Molekulargewichten im 19. Jahrhundert,<br />
beschreibt ebenfalls die Abhangigkeit der Relevanz und Interpretation experimenteller<br />
Ergebnisse von ihrem jeweiligen theoretischen Kontext. Im Lichte der<br />
atomistischen Theorie chemischer Verbindungen schrieben Chemiker der zweiten<br />
Halfte des 19. Jahrhunderts der Messung von Molekulargewichten natiirlich vorkommender<br />
Elemente und Verbmdungen fundamentale Bedeutung zu. Das gait<br />
vor allem fur diejenigen, die Prouts Hypothese favorisierten, nach der das Wasser-<br />
31
32<br />
stoffatom ein Basiselement sei, aus dem andere Atome aufgebaut sind, was<br />
erwarten lieB, dass relativ zum Wasserstoff gemessene Molekulargewichte ganzzahlig<br />
sind. Die sorgfaltigen Messungen der Molekulargewichte durch fuhrende<br />
Chemiker des 19. Jahrhunderts wurde aus Sicht der theoretischen Chemie weitgehend<br />
irrelevant, <strong>als</strong> festgestellt wurde, dass natiirlich vorkommende Elemente aus<br />
einer Mischung von Isotopen bestehen, deren Proportionen keinerlei theoretische<br />
Bedeutung haben. Der Chemiker Soddy (zit. nach Lakatos, 1974, S. 136) kommentierte<br />
dies folgendermaBen:<br />
Das Schicksal, das das Lebenswerk jener glanzenden Versammlung<br />
von Chemikern des 19. Jahrhunderts Uberholt hat - ein Werk, das<br />
die Zeitgenossen mit Recht <strong>als</strong> den Gipfel praziser wissenschaftlicher<br />
Messung verehrten - ist sicher der Tragodie verwandt, wenn<br />
es sie auch nicht transzendiert. Ihre in barter Arbeit gewonnenen<br />
Ergebnisse erscheinen uns, zumindest im gegenwartigen Augenblick,<br />
ebenso uninteressant und unwichtig wie die Bestimmung des<br />
Durchschnittsgewichts einer Sammlung von Flaschen, einige voll,<br />
einige mehr oder weniger leer.<br />
Auch in diesem Fall wurden alte Versuchsergebnisse <strong>als</strong> irrelevant zurixckgewiesen,<br />
und zwar nicht aufgrund von problematischen Eigenschaften der menschlichen<br />
Wahmehmung. Das Werk dieser Chemiker wurde von den Zeitgenossen <strong>als</strong><br />
der „Gipfel praziser wissenschaftlicher Messung" verehrt, und es gibt keinen<br />
Anlass, die Angemessenheit der Beobachtungen und Messungen dieser Wissenschaftler<br />
anzuzweifeln, noch ihre Objektivitat. Zweifellos wurden heutige Chemiker<br />
zu den gleichen Ergebnissen kommen, wenn sie die Experimente wiederholen<br />
wurden. Dass sie angemessen durchgefiihrt werden, ist eine notwendige, aber<br />
keine hinreichende Bedingung flir die Tauglichkeit experimenteller Ergebnisse.<br />
Sie mtissen auch relevant und bedeutsam sein.<br />
Die Punkte, die ich mit der Hilfe von Beispielen aufgefuhrt habe, konnen in<br />
einer Art und Weise zusammengefasst werden, die aus Sicht der alltaglichen Praxis<br />
von Physikem und Chemikern unumstritten ist. Die Menge experimenteller<br />
Resultate, die <strong>als</strong> adaquate Basis fiir Wissenschaft angesehen wird, wird standig<br />
auf den neuesten Stand gebracht. Aus einer Reihe einfacher Grunde werden veraltete<br />
experimentelle Ergebnisse <strong>als</strong> inadaquat zuriickgewiesen und durch angemessenere<br />
ersetzt. Sie konnen zuriickgewiesen werden, weil sie unangemessene<br />
VorsichtsmaBnahmen gegen mogliche Storquellen enthielten, weil die Messung<br />
auf insensitiven oder unmodemen Methoden basierte, weil erkannt wurde, dass<br />
das Experiment das gegebene Problem nicht losen konnte oder weil die Frage, die<br />
es beantworten sollte, irrelevant wurde. Obwohl diese Beobachtungen <strong>als</strong> nachvollziehbare<br />
Beschreibungen alltaglicher wissenschaftlicher Tatigkeit gesehen<br />
werden konnen, haben sie doch ernstzunehmende Implikationen fiir die orthodoxe<br />
Wissenschaftsphilosophie, weil sie die weit verbreitete Annahme, Wissenschaft<br />
ruhe auf sicherem Fundament, infi-age stellen. Was jedoch entscheidender ist: der<br />
Grund, warum dies so ist, hat mit der Problematik menschlicher Wahmehmung<br />
nichts zu tun.
3.4 Das Experiment <strong>als</strong> angemessene Basis fiir die Wissenschaft<br />
Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels waren der kritischen Prtifiing der<br />
Vorstellung gewidmet, experimentelle Resultate seien einfach gegeben und von<br />
absoluter Sicherheit. Es wurde dargelegt, dass sie theorieabhangig und in gewisser<br />
Hinsicht fehlbar und revidierbar sind. Das stellt eine ernstzunehmende Herausforderung<br />
der Idee dar, wissenschaftliche Erkenntnis besitze einen besonderen<br />
Status, weil sie in besonders anspruchsvoller und uberzeugender Weise auf Erfahrung<br />
beruhe. Nimmt man an, die experimentelle Basis von Wissenschaft sei so<br />
fehlbar und revidierbar wie angeflihrt wurde, muss das auf ihr basierende Wissen<br />
ebenso fehlbar und revidierbar sein. Die Verwirrung kann noch gesteigert werden,<br />
wenn man auf die drohende Zirkularitat hinweist, mit der wissenschaftliche <strong>Theorien</strong><br />
angeblich durch Experimente gewonnen werden. Wenn <strong>Theorien</strong> herangezogen<br />
werden, um die Angemessenheit von experimentellen Ergebnissen zu beurteilen,<br />
diese experimentellen Ergebnisse jedoch gleichzeitig zum Beleg dieser<br />
<strong>Theorien</strong> herangezogen werden, scheinen wir in einem Teufelskreis gefangen. Es<br />
scheint ziemlich wahrscheinlich, dass Wissenschaft nicht in der Lage ist, Ressourcen<br />
bereitzustellen, die es ermoglichen, den Disput zwischen Vertretem konkurrierender<br />
<strong>Theorien</strong> beizulegen, indem sie sich auf experimentelle Resultate<br />
bezieht. Wahrend sich die eine Gruppe auf ihre Theorie bezieht, um bestimmte<br />
experimentelle Ergebnisse zu rechtfertigen, wiirde die andere Gruppe zur Rechtfertigung<br />
differierender Ergebnisse auf ihre rivalisierende Theorie zuriickgreifen.<br />
Dieser Abschnitt soil Anlass geben, solch extremen Schlussfolgerungen zu widerstehen.<br />
Es muss die Moglichkeit eingeraumt werden, dass das Verhaltnis zwischen<br />
Theorie und Experiment einen Zirkelschluss beinhaltet. Das kann anhand folgender<br />
Geschichte aus meiner Zeit <strong>als</strong> Lehrer illustriert werden. Meine Schuler sollten<br />
ein Experiment durchfuhren. Ziel war es, den Ausschlag einer stromdurchflossenen<br />
Spule zu messen, die zwischen den Polen eines hufeisenformigen Magneten<br />
so angebracht war, dass sie um eine Achse rotieren konnte, die senkrecht zur Verbindungslinie<br />
der beiden Magnetpole lag. Die Spule war Teil eines Stromkreises,<br />
der eine Batterie zur Stromerzeugung enthielt, ein Amperemeter zur Messung der<br />
Stromstarke und einen variablen Widerstand zum Einregulieren der Stromstarke.<br />
Es sollte in Abhangigkeit von verschiedenen Stromwerten, die vom Amperemeter<br />
angezeigt wurden, die Drehung des Magneten gemessen werden. Das Experiment<br />
wurde fur die Schiller <strong>als</strong> erfolgreich angesehen, wenn sie beim Auftragen der<br />
Spulendrehung gegen die Stromstarke eine saubere Gerade erhielten, was die<br />
Proportionalitat der beiden GroBen deutlich machte. Ich erinnere mich, durch<br />
dieses Experiment etwas in Verwurung geraten zu sein, obwohl ich diese Verwirrung,<br />
vielleicht in weiser Voraussicht, nicht meinen Schiilem zeigte. Meine Verwirrung<br />
war in dem Umstand begrtindet, dass ich wusste, was sich innerhalb des<br />
Amperemeters befand, namlich eine Spule, die so zwischen den Polen eines Magneten<br />
angebracht war, dass sie durch einen Strom, der sie durchfloss, abgelenkt<br />
wurde, wodurch sich ein Zeiger auf der sichtbaren und gleichmaBig kalibrierten<br />
Skala des Amperemeters bewegte. In diesem Experiment wird <strong>als</strong>o schon die<br />
Proportionalitat von Drehung und Stromstarke vorausgesetzt, indem der Aus-<br />
33
34<br />
schlag des Amperemeters <strong>als</strong> MaB fiir die Stromstarke herangezogen wird. Was<br />
durch das Experiment untermauert werden sollte, wurde bereits vorausgesetzt, und<br />
darin lag in der Tat ein Zirkelschluss.<br />
Das Beispiel illustriert, wie Zirkularitat von Argumenten entstehen kann.<br />
Dasselbe Beispiel zeigt jedoch auch, dass dies nicht notwendigerweise so sein<br />
muss. In dem oben beschriebenen Experiment hatte man eine Strommessung vornehmen<br />
konnen - und man hatte sie vomehmen miissen -, die nicht auf der Drehung<br />
einer Spule im Magnetfeld beruhte. Bei alien Experimenten wird das Zutreffen<br />
irgendwelcher <strong>Theorien</strong> vorausgesetzt, die es ermoglichen sollen, die Angemessenheit<br />
des experimentellen Aufbaus zu beurteilen, und es wird davon ausgegangen,<br />
dass die Instrumente das anzeigen, was sie anzeigen sollen. Die vorausgese.tzten<br />
<strong>Theorien</strong> dtirfen jedoch mit der zu liberprtifenden Theorie nicht identisch<br />
sein, und es erscheint vemtinftig, dass eine Vorbedingung fiir einen guten experimentellen<br />
Aufbau gerade darin liegen muss.<br />
Eine andere Perspektive auf die „Theorieabhangigkeit von Experimenten" ist<br />
Folgende: wie stark auch immer ein Experiment von <strong>Theorien</strong> geleitet ist, spricht<br />
einiges dafur, dass die Resultate von Experimenten nicht von <strong>Theorien</strong> determiniert<br />
sind, sondem durch die realen Gegebenheiten. Ist die experimentelle Apparatur<br />
einmal aufgestellt, der Stromkreis aufgebaut, der Schalter geschlossen - dann<br />
wird ein Signal auf dem Bildschirm erscheinen oder nicht, wird ein Strahl abgelenkt<br />
oder nicht, wird die Anzeige eines Amperemeters ansteigen oder nicht. Wir<br />
konnen es nicht erzwingen, dass die Ergebnisse den <strong>Theorien</strong> entsprechen. Es lag<br />
an der Beschaffenheit der physikalischen Welt, dass in dem von Hertz durchgefiihrten<br />
Experiment keine Ablenkungen der Kathodenstrahlen auftraten, wahrend<br />
dies bei dem durch Thomson modifizierten Experiment der Fall war. Es waren die<br />
Unterschiede in den experimentellen Aufbauten der beiden Physiker, die zu den<br />
differierenden Ergebnissen fuhrten, nicht die Unterschiede der von ihnen zugrundegelegten<br />
<strong>Theorien</strong>. Weil experimentelle Ergebnisse durch die realen Gegebenheiten<br />
starker determiniert sind <strong>als</strong> durch theoretische Sichtweisen, konnen <strong>Theorien</strong><br />
anhand der Realitat uberprtift werden. Das bedeutet nicht, dass giiltige Resultate<br />
leicht zu erhalten waren und unfehlbar sind, noch, dass ihre Gtiltigkeit einfach<br />
gegeben ist. Aber es macht deutlich, dass der Versuch, die Angemessenheit wissenschaftlicher<br />
<strong>Theorien</strong> mithilfe von Experimenten zu tiberpriifen, ein sinnvoUes<br />
Unterfangen ist. Mehr noch, die Geschichte der Wissenschaft liefert uns Beispiele,<br />
in denen dieser Herausforderung erfolgreich begegnet wurde.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Die zweite Halfte des Buchs von Hacking (1996) ist ein erster Schritt in Richtung<br />
des neuen Interesses von Wissenschaftsphilosophen an Experimenten. Andere<br />
Ausfiihrungen zu diesem Thema fmden sich bei Franklin (1986, 1990), Galison<br />
(1987) und Mayo (1996), allerdings wird die Tragweite dieser detaillierten Darstellungen<br />
erst im Licht des Kapitels 13 zum „Neuen Experimentalismus" deutlich<br />
werden. Ausfiihrlicher noch werden die aufgeworfenen Aspekte in Chalmers<br />
(1984)diskutiert.
Der Induktivismus<br />
4.1 Die Ableitung von <strong>Theorien</strong> aus Tatsachen<br />
In den ersten Kapiteln dieses Buches haben wir uns mit der Annahme auseinandergesetzt,<br />
dass das Charakteristische an wissenschaftlicher Erkenntnis darin liegt,<br />
dass sie aus Tatsachen gewonnen wird. Wir haben uns ausftihrlich mit der Natur<br />
der mittels Beobachtung und Experiment gewonnenen Tatsachen beschaftigt, die<br />
<strong>als</strong> Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis angesehen werden konnen. Wir haben<br />
auch gesehen, dass diese Tatsachen nicht so einfach und sicher gegeben sind,<br />
wie dies allgemein vorausgesetzt wird. Jetzt werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen,<br />
wie wissenschaftHche Erkenntnis aus solchen Tatsachen abgeleitet<br />
werden kann.<br />
„Wissenschaft leitet sich aus Tatsachen ab" konnte dergestalt interpretiert<br />
werden, dass wissenschaftHche Erkenntnis so aufgebaut ist, dass zunachst Tatsachen<br />
festgestellt werden und dann ein theoretisches Gebaude errichtet wird, das<br />
diesen Tatsachen entspricht. Wir haben diese Sichtweise in Kapitel 1 diskutiert<br />
und <strong>als</strong> wenig plausibel verworfen. Das Problem, mit dem wir uns hier auseinandersetzen<br />
wollen, setzt voraus, dass „abgeleitet" weniger in einem zeitlichen <strong>als</strong> in<br />
einem logischen Sinn verstanden wird. Unabhangig davon, was zuerst da ist, die<br />
Tatsachen oder die Theorie, geht es um die Frage, in welchem Umfang sich eine<br />
Theorie durch Tatsachen belegen lasst. Der hochste Anspruch ware, dass sich eine<br />
Theorie logisch aus Tatsachen ableiten lasse. Das bedeutet, dass die Theorie eine<br />
Konsequenz der gegebenen Tatsachen ist. Dieser Anspruch kann nicht aufrechterhalten<br />
werden. Um dies zu erkennen, miissen wir uns mit einigen grundlegenden<br />
Aspekten der Logik beschaftigen.<br />
4.2 Deduktives SchlieBen<br />
Die Logik beschaftigt sich mit der Deduktion von Aussagen aus anderen vorliegenden<br />
Aussagen bzw. mit der Frage, was woraus folgt. Es wird hier nicht der<br />
Versuch untemommen, eine ausflihrliche Darstellung und Bewertung der Logik
36<br />
vorzunehmen. Es sollen vielmehr einige der wichtigsten Eigenschaften, die fiir<br />
unsere Analyse der Wissenschaft von Bedeutung sind, durch einfache Beispiele<br />
veranschaulicht werden.<br />
Hier ein Beispiel eines logischen Arguments, das absolut stimmig oder, um<br />
einen von Logikem verwendeten Terminus technicus heranzuziehen, absolut valide<br />
ist.<br />
Beispiel 1:<br />
1. Alle Biicher uber Wissenschaftstheorie sind langv^eilig.<br />
2. Dies ist ein Buch uber Wissenschaftstheorie.<br />
3. Dieses Buch ist langweilig.<br />
In diesem Beispiel sind (1) und (2) die Voraussetzungen und (3) die Schlussfolgerung.<br />
Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass die Voraussetzungen (1) und (2)<br />
wahr sind, dann muss auch (3) zwangslaufig wahr sein. Wenn feststeht, dass (1)<br />
und (2) wahr sind, dann ist es nicht moglich, dass (3) f<strong>als</strong>ch ist. Der Fall, dass (1)<br />
und (2) wahr sind und (3) f<strong>als</strong>ch ist, wiirde einen Widerspruch darstellen. Dies ist<br />
das entscheidende Merkmal einer logisch gultigen Deduktion. Wenn die Voraussetzungen<br />
einer logisch gultigen Deduktion wahr sind, dann muss auch die<br />
Schlussfolgerung wahr sein.<br />
Eine geringfugige Abanderung des oben erwahnten Beispiels liefert uns den<br />
Fall einer Deduktion, die nicht giiltig ist:<br />
Beispiel 2 \<br />
1. Viele Bticher uber Wissenschaftstheorie sind langweilig.<br />
2. Dies ist ein Buch uber Wissenschaftstheorie.<br />
3. Dieses Buch ist langweilig.<br />
In diesem Beispiel ft)lgt (3) nicht notwendigerweise aus (1) und (2). Es ist moglich,<br />
dass (1) und (2) wahr sind und (3) dennoch f<strong>als</strong>ch ist. Selbst wenn (1) und (2)<br />
wahr sind, dann kann dieses Buch dennoch zu der Minderheit der Bucher liber<br />
Wissenschaftstheorie gehoren, welche nicht langweilig sind. Wenn man behauptet,<br />
(1) und (2) seien wahr und (3) f<strong>als</strong>ch, so ist dies kein Widerspruch. Die<br />
Schlussfolgerung ist nicht gultig.<br />
Inzwischen mag der Leser vielleicht Langeweile empfinden. Empfmdungen<br />
dieser Art haben sicherlich einen Bezug zu der Wahrheit der Behauptungen (1)<br />
und (3) der beiden Beispiele. An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass<br />
Logik und Deduktion nicht allein die Wahrheit von Aussagen der Art, wie wir sie<br />
in unseren Beispielen kennen gelemt haben, begrunden konnen. Das Einzige, was
Logik in diesem Zusammenhang leisten kann, ist die Aussage: wenn die Voraussetzungen<br />
wahr sind, dann muss die Schlussfolgerung wahr sein. Die Frage jedoch,<br />
ob die Voraussetzungen wahr sind oder nicht, kann nicht nach logischen<br />
Gesichtspunkten beantwortet werden. Eine Behauptung kann eine vollkommen<br />
logische Deduktion sein, selbst wenn sie eine Voraussetzung beinhaltet, die in<br />
Wirklichkeit f<strong>als</strong>ch ist. Auch dies sei an einem Beispiel verdeutlicht:<br />
Beispiel 3\<br />
1. Alle Katzen haben funf Beine.<br />
2. Kater Karlo ist meine Katze.<br />
3. Kater Karlo hat funf Beine.<br />
Dies ist eine vollkommen gultige Deduktion. Gesetzt den Fall, (1) und (2) sind<br />
wahr, dann muss (3) ebenfalls wahr sein. In diesem Beispiel ist es jedoch so, dass<br />
(1) und (3) f<strong>als</strong>ch sind, was jedoch den Tatbestand nicht beeintrachtigt, dass die<br />
Schlussfolgerung selbst valide ist.<br />
Das macht deutlich, dass Logik alleine keine Quelle neuer Wahrheiten ist.<br />
Die Wahrheit einer sachlichen Aussage, die die Pramisse eines Arguments darstellt,<br />
kann mithilfe der Logik nicht belegt werden. Logik kann lediglich offenbaren,<br />
was aus den Aussagen, die bereits vorliegen, folgt bzw. in gewissem Sinn<br />
bereits in ihnen enthalten ist. Im Gegensatz zu dieser Einschrankung steht die<br />
groBe Bedeutung der Logik, im Besonderen ihr „wahrheitserhaltender" Charakter.<br />
Konnen wir sicher sein, dass unsere Pramissen wahr sind, so konnen wir sicher<br />
sein, dass alles, was wir daraus logisch ableiten, ebenso wahr ist.<br />
4.3 Konnen wissenschaftliche Gesetze aus Tatsachen abgeleitet werden?<br />
Nach dieser Diskussion der Natur der Logik kann leicht gezeigt werden, dass wissenschaftliche<br />
Erkenntnis nicht aus Tatsachen abgeleitet werden kann, wenn „abgeleitet"<br />
<strong>als</strong> „logisch geschlossen" interpretiert wird.<br />
Es gentigen einige einfache Beispiele wissenschaftlicher Erkenntnis, um diesen<br />
Punkt zu illustrieren. Wir wollen einige einfache wissenschaftliche Gesetze<br />
wie „Metall dehnt sich aus, wenn es erhitzt wird" oder „Saure lasst Lackmus rot<br />
werden" betrachten. Dies sind Beispiele, die Wissenschaftsphilosophen <strong>als</strong> allgemeine<br />
Aussagen bezeichnen. Sie beziehen sich auf alle Ereignisse einer bestimmten<br />
Art, alle Falle, in denen Metalle erhitzt wurden und alle Falle, in denen Lackmus<br />
in eine Saure eingetaucht wurde. Wissenschaftliche Erkenntnis bezieht sich<br />
immer auf solche allgemeinen Aussagen. Die Situation verandert sich jedoch<br />
drastisch, wenn es um Beobachtungsaussagen geht, die die Tatsachen fur die Evidenz<br />
allgemeiner wissenschaftlicher Gesetze liefern. Solche beobachtbare Tatsachen<br />
oder experimentelle Resultate sind spezifische Behauptungen uber bestimmte<br />
37
38<br />
Zustande, die eine zeitliche Dimension enthalten. Sie sind das, was Philosophen<br />
<strong>als</strong> sogenannte Einzelaussagen bezeichnen. Es sind Aussagen wie „Die Lange des<br />
Kupferstuckes vergroBerte sich, <strong>als</strong> es erhitzt wurde" oder „Das Lackmuspapier<br />
wurde rot, <strong>als</strong> es in einen Becher mit Hydrochloridsaure getaucht wurde". Nehmen<br />
wir an, wir hatten eine groBe Menge solcher Tatsachen <strong>als</strong> Basis zur Verfugung,<br />
auf deren Grundlage wir hoffen, zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen.<br />
Welche Arten von Argumenten konnen wir aus solchen Tatsachen - <strong>als</strong> Pramissen<br />
- ableiten, um die angestrebten wissenschaftlichen Gesetze zu erhalten? Im Falle<br />
unseres Beispiels zur Ausdehnung von Metallen kann das Argument folgendermaBen<br />
schematisiert werden:<br />
Pramissen:<br />
1. Metall Xi dehnte sich aus, <strong>als</strong> es zum Zeitpunkt ti erhitzt wurde.<br />
2. Metall X2 dehnte sich aus, <strong>als</strong> es zum Zeitpunkt t2 erhitzt wurde.<br />
3. Metall X3 dehnte sich aus, <strong>als</strong> es zum Zeitpunkt t^ erhitzt wurde.<br />
Konklusion:<br />
Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden.<br />
Das ist jedoch kein logisch valides Argument. Es trifft nicht zu, dass dann, wenn<br />
die Aussagen, die die Pramissen darstellen, wahr sind, auch die Konklusion wahr<br />
sein muss. Unabhangig davon, wie viele Beobachtungen sich ausdehnender Metalle<br />
wir vorliegen haben, wie groB auch immer <strong>als</strong>o das A^ in unserem Beispiel<br />
sein mag, es gibt keine logische Garantie, dass es nicht bestimmte Metalle gibt,<br />
die sich unter bestimmten Bedingungen zusammenziehen, wenn sie erhitzt werden.<br />
Es besteht kein Widerspruch, wenn sowohl gesagt wird, dass alle uns bekannten<br />
Beispiele, in denen Metalle erhitzt wurden, zu einer Ausdehnung fiihrten<br />
<strong>als</strong> auch, dass die Aussage „Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden"<br />
f<strong>als</strong>ch ist.<br />
Dieser Punkt kann mit einem etwas grausamen Beispiel veranschaulicht werden,<br />
das Bertrand Russell zugeschrieben wird. Es bezieht sich auf einen Truthahn,<br />
der an seinem ersten Morgen auf der Truthahnfarm feststellte, dass er um neun<br />
Uhr morgens gefiittert wurde. Nachdem sich diese Erfahrung wahrend mehrerer<br />
Wochen wiederholt hatte, fuhlte sich der Truthahn sicher, den Schluss zu ziehen<br />
„Ich werde jeden Morgen um neun Uhr gefuttert". Leider stellt sich dieser Schluss<br />
auf eindeutige Art und Weise <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch heraus, <strong>als</strong> der Truthahn an Weihnachten<br />
statt gefuttert zu werden, den H<strong>als</strong> durchgeschnitten bekam. Das Argument des<br />
Truthahns fuhrte ihn von einer Reihe richtiger Beobachtungen zu einem f<strong>als</strong>chen<br />
Schluss, was die Ungiiltigkeit des Arguments aus der Sichtweise der Logik deutlich<br />
macht.<br />
Argumente, wie sie am Beispiel der Ausdehnung von Metall veranschaulicht<br />
wurden, die auf einer endlichen Anzahl von Beobachtungen beruhend zu allgemeinen<br />
SchlUssen ftihren, werden, in Abgrenzung zu logischen, deduktiven Argumenten,<br />
induktive Argumente genannt. Ein Charakteristikum induktiver Argumente,<br />
das sie von deduktiven Argumenten unterscheidet, liegt darin, dass sie Uber
das hinausgehen, was in den Pramissen enthalten ist, indem sie von Aussagen iiber<br />
einige Ereignisse zu Aussagen iiber alle Ereignisse ubergehen. Allgemeine wissenschaftliche<br />
Gesetze gehen immer iiber die endliche Menge der vorhandenen,<br />
sie unterstiitzenden Beobachtungen hinaus und konnen daher niem<strong>als</strong> in dem Sinn<br />
bewiesen werden, dass sie sich logisch aus dem Evidenten ableiten lassen.<br />
4.4 Was konstituiert ein gutes induktives Argument?<br />
Wir haben gesehen, dass dann, wenn wissenschaftliche Erkenntnis <strong>als</strong> etwas angesehen<br />
wird, das aus Tatsachen gewonnen wird, dieses „gewonnen" eher in induktivem<br />
<strong>als</strong> in deduktivem Sinne verstanden werden muss. Aber was ist das Charakteristische<br />
eines guten induktiven Arguments? Die Frage ist von fundamentaler<br />
Bedeutung, weil klar ist, dass nicht alle Generalisierungen beobachtbarer Tatsachen<br />
berechtigt sind. Manche werden wir <strong>als</strong> iiberhastet oder <strong>als</strong> auf ungeniigenden<br />
Belegen basierend betrachten, wie das zum Beispiel der Fall ware, wenn wir<br />
der Gesamtheit einer ethnischen Gruppe Merkmale zuschrieben, die auf der Basis<br />
einiger weniger unerfreulicher Begegnungen mit Nachbam gewonnen wurden.<br />
Unter welchen Umstanden genau ist es legitim, anzugeben, dass ein wissenschaftliches<br />
Gesetz aus einer endlichen Anzahl von Beobachtungen oder experimentellen<br />
Belegen „gewonnen" wurde?<br />
Ein erster Versuch, diese Frage zu beantworten, beinhaltet den Anspruch,<br />
dass folgende Bedingungen erfiillt sein miissen, um einen induktiven Schluss von<br />
beobachtbaren Tatsachen auf wissenschaftliche Gesetze zu rechtfertigen:<br />
1. Verallgemeinerungen miissen auf einer groBen Anzahl von<br />
Beobachtungen beruhen.<br />
2. Die Beobachtungen miissen unter einer groBen Vielfalt von<br />
Bedingungen wiederholt worden sein.<br />
3. Keine Beobachtungsaussage darf im Widerspruch zu dem<br />
entsprechenden allgemeinen Gesetz stehen.<br />
Bedingung (1) wird <strong>als</strong> notwendig erachtet, weil es selbstverstandlich nicht gerechtfertigt<br />
ist, aufgrund lediglich einer einzigen Beobachtung, dass sich eine<br />
erhitzte Metallstange ausdehnt, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sich alle<br />
Metalle bei Erwarmung ausdehnen. Genauso wenig darf man den Schluss ziehen,<br />
dass alle Bayern Trunkenbolde seien, weil man einen von ihnen im Vollrausch<br />
gesehen hat. Es ist eine groBe Anzahl von unabhangigen Beobachtungen notwendig,<br />
bevor diese beiden Verallgemeinerungen gerechtfertigt sind. Der Induktivismus<br />
weist nachdriicklich darauf hin, dass wir keine voreiligen Schliisse ziehen<br />
diirfen.<br />
Eine Moglichkeit, die Anzahl der Beobachtungen bei den angefiihrten Beispielen<br />
zu erhohen, besteht darin, einen einzigen Metallstab wiederholt zu erhitzen<br />
oder immer wieder einen bestimmten Bayern zu beobachten, der Abend fur<br />
Abend, oder vielleicht sogar jeden Morgen, betrunken ist. Eine Anzahl so erwor-<br />
39
40<br />
bener Beobachtungsaussagen wiirde jedoch zweifellos eine sehr unbefriedigende<br />
Gmndlage fur die jeweilige Verallgemeinemng darstellen. Deshalb ist Bedingung<br />
(2) notwendig. Die Aussage „Alle Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden"<br />
stellt nur dann eine berechtigte Verallgemeinemng dar, wenn die ihr zugrundeliegenden<br />
Beobachtungen unter einer Vielzahl von Bedingungen stattgefunden<br />
haben. Verschiedene Arten von Metallen mtissen erhitzt worden sein.<br />
Lange Eisenstangen, kurze Eisenstangen, Silberstabe, Kupferstabe etc. sollten<br />
sowohl unter hohem Druck, unter sehr hohen und unter weniger hohen Temperaturen<br />
erhitzt worden sein usw. Wenn sich unter samtlichen Bedingungen alle erhitzten<br />
Metallteile ausgedehnt haben, dann, und nur dann, ist es gerechtfertigt, aus<br />
der Menge der Beobachtungsaussagen ein allgemeines Gesetz abzuleiten. Wenn<br />
nun ein bestimmtes Metallsttick beobachtet wird, das sich bei Erwarmung nicht<br />
ausdehnt, so ist es offensichtlich, dass die Verallgemeinerung nicht gerechtfertigt<br />
ist. Bedingung (3) ist unentbehrlich.<br />
Das oben Dargestellte kann in dem folgenden Prinzip der Induktion zusammengefasst<br />
werden:<br />
Wenn eine groBe Anzahl von A unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen<br />
beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A<br />
ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen alle A die<br />
Eigenschaft B.<br />
Es gibt einige emstzunehmende Probleme mit dieser Charakterisierung der Induktion.<br />
Betrachten wir die erste Bedingung, die Forderung nach einer groBen<br />
Anzahl von Beobachtungen. Eine Schwierigkeit stellt die Unklarheit des Begriffs<br />
„groB" dar. Werden hundert, tausend oder mehr Beobachtungen gefordert? Soil<br />
hier eine groBere Prazision erreicht werden, indem eine Zahl eingesetzt wird, lage<br />
in der Wahl einer bestimmten Menge sicher eine nicht unerhebliche Willkur. Das<br />
ist aber nicht das einzige Problem. Es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen die<br />
Forderung nach eine groBen Menge von Fallen unangemessen erscheint. Um dies<br />
zu veranschaulichen, wollen wir die starke offentliche Reaktion gegen die atomare<br />
Kriegsfuhrung in Erinnerung rufen, die auf den ersten Abwurf einer Atombombe<br />
iiber Hiroshima gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte. Diese Reaktion<br />
beruhte auf der Einsicht, dass Atombomben in unglaublicher Weise Tod und Zerstorung<br />
sowie grenzenloses menschliches Leid verursachen. Und doch basierte<br />
diese allgemein getragene Uberzeugung auf lediglich einer dramatischen Beobachtung.<br />
So wiirde auch nur ein extrem starrkopfiger Induktivist seine Hand viele<br />
Male ins Feuer halten, bevor er zu dem Schluss kommt, dass Feuer brennt. Betrachten<br />
wir ein weniger ausgefallenes Beispiel, das sich auf die wissenschaftliche<br />
Praxis bezieht. Angenommen, ich mochte die Ergebnisse einer Replikation eines<br />
Experiments, uber das vor kurzem in einigen wissenschaftlichen Zeitschriften<br />
berichtet wurde, publizieren lassen, mit Sicherheit wird der Herausgeber der betreffenden<br />
Zeitschrift meinen Artikel nicht annehmen und dies damit erklaren,<br />
dass das Experiment bereits durchgefiihrt wurde. Man sieht, Bedingung 1 steckt<br />
voller Probleme.
Auch Bedingung 2 weist gravierende Probleme auf. Sie beziehen sich auf die<br />
Frage, was <strong>als</strong> eine groBe Vielfalt von Bedingungen gelten kann. Was ware eine<br />
groBe Vielfalt von Bedingungen, unter denen die Ausdehnung von Metall durch<br />
Erhitzung untersucht werden soil? Muss die Art des Metalls, der Luftdruck und<br />
die Tageszeit variiert werden? Bei der ersten, moglicherweise auch bei der zweiten<br />
Bedingung lautet die Antwort,ja", bei der dritten jedoch „nein". Was ist der<br />
Grund dieser Antwort? Die Frage ist wichtig, soil die Liste von moglichen Variationen<br />
nicht unendlich erweitert werden, indem weitere Bedingungsvariationen,<br />
wie die LaborgroBe und die Farbe der Socken des Experimentators, hinzugefugt<br />
werden. Wenn solche „uberflussigen" Variationen nicht eliminiert werden konnen,<br />
sind die Bedingungen, unter denen ein Induktionsschluss akzeptiert werden kann,<br />
nie erflillt. Doch warum werden bestimmte Variationen <strong>als</strong> iiberfltissig angesehen?<br />
Die Antwort ist einfach: Wir berixcksichtigen unser vorhandenes Wissen uber die<br />
Situation, um zwischen den Faktoren zu unterscheiden, die das untersuchte System<br />
beeinflussen und denen, die dies nicht konnen. Es ist unser Wissen tiber Metalle<br />
und die Moglichkeiten auf sie einzuwirken, das uns zu der Erwartung fiihrt,<br />
dass ihr physikalisches „Verhalten" von der Art des Metalls und dem Luftdruck<br />
abhangt, aber nicht von der Tageszeit oder der Farbe der Socken des Experimentators.<br />
Wir nehmen unser momentanes Wissen zur Hilfe, um zu beurteilen, was<br />
eine relevante Bedingung ist, die variiert werden muss, um die Generalisierbarkeit<br />
eines untersuchten Effekts zu erforschen.<br />
Diese Reaktion auf die dargestellte Problematik ist sicher richtig. Sie stellt<br />
jedoch fur den Anspruch, dass wissenschaftliche Erkenntnis induktiv aus Tatsachen<br />
gewonnen werden soil, eine Schwierigkeit dar. Diese ergibt sich, wenn wir<br />
die Frage stellen, wie man auf dieses Wissen zuriickgreifen kann, wenn die Beurteilung<br />
der Relevanz bestimmter Bedingungen fur ein untersuchtes Phanomen<br />
(wie die Ausdehnung von Metall) selbst gerechtfertigt werden soil. Wenn wir<br />
fordem, dass Wissen durch Induktion gewonnen werden soil, taucht unser Problem<br />
wieder auf, weil die weiteren induktiven Argumente selbst einer Spezifikation<br />
der relevanten Bedingungen bediirfen und so weiter. Jedes induktive Argument<br />
enthalt einen Bezug auf vorhergehendes Wissen, das ein induktives Argument<br />
benotigt, um es zu belegen, was einen Bezug auf vorhergehendes Wissen<br />
enthalt, und so geht das in einer nie endenden Argumentationskette weiter. Die<br />
Forderung, dass alles Wissen durch Induktion belegt sein muss, wird zu einer<br />
Forderung, die nicht erfullt werden kann.<br />
Auch Bedingung 3 ist problematisch, weil kaum eine Form wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis der Forderung gerecht wird, dass es keine Ausnahmen geben darf<br />
Dieser Aspekt wird ausftihrlich in Kapitel 7 diskutiert.<br />
4.5 Weitere Probleme des induktiven SchlieBens<br />
Wir wollen die Position, nach der wissenschaftliche Erkenntnis mittels einer Art<br />
induktiven SchlieBens aus beobachtbaren Tatsachen gewonnen werden soil,<br />
Induktivismus nennen, und diejenigen, die sich dieser Sichtweise verschrieben haben,<br />
Induktivisten. Es wurde bereits auf ein schwerwiegendes Problem hingewie-<br />
41
42<br />
sen, namlich, dass mit dieser Sichtweise das Problem einhergeht, dass genau festgestellt<br />
werden muss, unter welchen Bedingungen eine Generalisierung einen befriedigenden<br />
induktiven Schluss darstellt. Es ist <strong>als</strong>o nicht klar, worauf Induktion<br />
hinauslauft. Aber es gibt weitere Probleme mit der induktivistischen Position.<br />
Wenn wir die gegenwartigen wissenschaftlichen Erkenntnisse fiir bare<br />
Mtinze nehmen, so muss zugestanden werden, dass sich ein groBer Teil dieser<br />
Erkenntnisse auf Nicht-Beobachtbares bezieht. Sie hat zu tun mit solchen Dingen<br />
wie Protonen und Elektronen, Genen und DNA-Molekiilen und so weiter. Wie<br />
kann ein solches Wissen mit der induktivistischen Position vereinbart werden?<br />
Insofern <strong>als</strong> induktives Denken eine Art von Generalisierung beobachtbarer Tatsachen<br />
beinhaltet, scheint es so, <strong>als</strong> ware ein solches Denken nicht geeignet, um<br />
Wissen uber das Nicht-Beobachtbare hervorzubringen. Jede Art der Generalisierung<br />
von Tatsachen der beobachtbaren Welt kann nicht mehr hervorbringen <strong>als</strong><br />
Generalisierungen uber die beobachtbare Welt. Konsequenterweise kann wissenschaftliche<br />
Erkenntnis iiber die nicht beobachtbare Welt nie durch die Art induktiven<br />
Denkens etabliert werden, die wir diskutiert haben. Das bringt den Induktivisten<br />
in die unangenehme Position, vieles in der gegenwartigen Wissenschaft zuriickzuweisen,<br />
weil sie weit iiber das hinausgeht, was durch induktives Generalisieren<br />
des unmittelbar Beobachtbaren gerechtfertigt werden kann.<br />
Ein weiteres Problem entsteht durch die Tatsache, dass viele wissenschaftliche<br />
Gesetze in exakter, mathematischer Form formuliert sind. Das Gravitationsgesetz,<br />
das besagt, dass die Kraft zwischen zwei Massen proportional zum Produkt<br />
dieser Massen, geteilt durch das Quadrat der zwischen ihnen liegenden Distanz ist,<br />
stellt ein einfaches Beispiel dar. Im Vergleich zur Exaktheit solcher Gesetze sind<br />
die Messungen, welche die beobachtbaren Beweise fur sie darstellen, wenig exakt.<br />
Es wird anerkannt, dass alle Beobachtungen in gewissem Umfang fehlerbehaftet<br />
sind, was sich in der Praxis von Wissenschaftlem dadurch ausdriickt, dass diese<br />
das Resultat einer bestimmten Messung in der Form x±dx niederschreiben, wobei<br />
dx den geschatzten Umfang des Messfehlers darstellt. Wenn wissenschaftliche<br />
Gesetze induktive Generalisierungen beobachtbarer Tatsachen sind, steht man vor<br />
dem Problem, dass fehlerbehaftete Messungen die Pramissen induktiver Argumente<br />
darstellen. Ebenso problematisch ist die Frage, wie auf der Basis wenig<br />
exakter Beweise jem<strong>als</strong> exakte Gesetze induktiv gerechtfertigt werden konnen.<br />
Ein drittes Problem des Induktivisten ist eine alte „philosophische Kamelle",<br />
die das Induktionsproblem genannt wird. Das Problem entsteht fiir jeden, der sich<br />
der Sichtweise verschreibt, wissenschaftliche Erkenntnis musse in alien Aspekten<br />
entweder durch einen Bezug zur (deduktiven) Logik gerechtfertigt sein oder dadurch,<br />
dass sie aus Tatsachen gewonnen ist. David Hume war ein Philosoph des<br />
18. Jahrhunderts, der diese Sichtweise vertrat, und er war es auch, der das Problem,<br />
das nun dargestellt werden soil, klar benannte.<br />
Das Problem entsteht, wenn die Frage aufgeworfen wird, wie die Induktion<br />
selbst gerechtfertigt werden kann. Wie kann das Induktionsprinzip belegt werden?<br />
Fiir die, die sich mit dieser Frage beschaftigen, gibt es nur zwei Moglichkeiten,<br />
eine Rechtfertigung unter Bezugnahme auf die Logik oder eine Rechtfertigung<br />
unter Bezugnahme auf die Erfahrung. Wir haben bereits gesehen, dass die erste<br />
Moglichkeit nicht gegeben ist. Es bleibt die zweite Moglichkeit, der Versuch,
Induktion unter Bezugnahme auf Erfahrung zu rechtfertigen. Wie kann eine solche<br />
Rechtfertigung aussehen? Vermutlich in etwa folgendermaBen: Es kann festgestellt<br />
werden, dass Induktion in einer Vielzahl von Fallen fUnktioniert hat. Zum<br />
Beispiel wurden die Gesetze der Optik, gewonnen durch Induktion aus Ergebnissen<br />
von Laborexperimenten, oft eingesetzt, um optische Instrumente zu entwickeln,<br />
die zufriedenstellend arbeiteten. Ebenso werden die Gesetze der Planetenbewegungen,<br />
induktiv aus der Beobachtung der Positionen von Planeten geschlossen,<br />
erfolgreich eingesetzt, um Sonnenfmsternisse und Konjunktionen vorherzusagen.<br />
Die Liste konnte in groBem Umfang durch erfolgreiche Vorhersagen und<br />
Erklarungen erweitert werden, von denen wir annehmen, dass sie auf induktiv<br />
gewonnenen wissenschaftlichen Gesetzen und <strong>Theorien</strong> basieren. Daher, so wird<br />
argumentiert, rechtfertigt sich Induktion durch die Erfahrung.<br />
Dies kann nicht akzeptiert werden, was deutlich wird, wenn das Argument in<br />
folgender Weise schematisch dargestellt wird:<br />
Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheitxy.<br />
Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit X2 etc.<br />
Das Induktionsprinzip ist immer erfolgreich.<br />
Hier wird eine allgemeine Aussage zur Gultigkeit des Induktionsprinzips aus einer<br />
Reihe von Einzelbeispielen seiner Anwendung geschlossen. Das Argument ist<br />
daher selbst induktiv. Konsequenterweise beinhaltet der Versuch, Induktion unter<br />
Bezugnahme auf die Erfahrung zu rechtfertigen, das, was man versucht zu beweisen.<br />
Diese Rechtfertigung der Induktion beinhaltet einen Rtickgriff auf die Induktion<br />
und ist daher vollig unbefriedigend.<br />
Ein Versuch, das Induktionsproblem zu vermeiden, besteht darin, die Forderung,<br />
dass wissenschaftliche Erkenntnis erwiesenerweise wahr sein muss, abzuschwachen<br />
und sich damit zu begniigen, dass gezeigt werden kann, dass wissenschaftliche<br />
Aussagen im Lichte von Beweisen wahrscheinlich wahr sind. So rechtfertigt<br />
die enorme Menge von Beobachtungen, die die Aussage stutzen, dass<br />
Materialien, die tiber eine hohere Dichte verftigen <strong>als</strong> Luft, zur Erde fallen, die<br />
Annahme, dass die Aussage wahrscheinlich wahr ist, obwohl es nicht moglich ist,<br />
die Wahrheit der Aussage zu beweisen. Entsprechend dieses Vorschlags kann das<br />
Induktionsprinzip folgendermaBen umformuliert werden:<br />
Wenn eine groBe Anzahl von A unter einer groBen Vielfalt von Bedingungen<br />
beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A ohne<br />
Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen wahrscheinlich<br />
alle A die Eigenschaft B.<br />
Diese Umformulierung umgeht allerdings auch nicht das Induktionsproblem. Das<br />
umformulierte Prinzip bleibt ein allgemeiner Satz. Es macht auf der Basis einer<br />
endlichen Zahl von Erfolgen die Aussage, dass alle Anwendungen dieses Prinzips<br />
zu allgemeinen Satzen ftihren, die wahrscheinlich wahr sind. In der Konsequenz<br />
beinhalten, wie bei der urspriinglichen Form des Prinzips, auch Versuche, die<br />
43
44<br />
probabilistische Version des Induktionsprinzips durch Riickgriff auf die Erfahrung<br />
zu rechtfertigen, eine Bezugnahme auf genau die induktiven Argumente, die eigentlich<br />
gerechtfertigt werden sollen.<br />
Es gibt ein weiteres gmndsatzliches Problem mit der probabilistischen Variante<br />
des Induktionsprinzips. Dieses Problem entsteht, wenn prazisiert werden soil,<br />
wie wahrscheinlich ein Gesetz oder eine Theorie angesichts der vorliegenden<br />
Belege ist. Intuitiv scheint es plausibel anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass ein allgemeines Gesetz wahr ist, in dem Umfang steigt, indem es durch Beobachtungen<br />
gesttitzt wird. Die Intuition halt einer genaueren Betrachtung jedoch<br />
nicht stand. Legt man die Wahrscheinlichkeitstheorie zugrunde, ist es ausgesprochen<br />
schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass die Wahrscheinlichkeit jedes<br />
allgemeinen Gesetzes, unabhangig von beobachtbaren Belegen, gleich Null ist. In<br />
einfachen Worten bedeutet dies, dass beobachtbare Belege aus einer endlichen<br />
Anzahl von Beobachtungsaussagen bestehen, wahrend allgemeine Gesetze Aussagen<br />
uber eine unbegrenzte Anzahl moglicher Falle sind. Damit ist die Wahrscheinlichkeit<br />
eines Gesetzes, eine endliche Zahl dividiert durch eine unendliche,<br />
was immer den Wert Null ergibt, unabhangig davon, um welchen Faktor die Zahl<br />
der Belege erhoht wird. Anders ausgedriickt: Genauso wie es eine unendliche<br />
Menge von Kurven gibt, die durch eine endliche Anzahl von Punkten gezogen<br />
werden konnen, gibt es immer eine unendliche Menge von allgemeinen Aussagen,<br />
die mit einer endlichen Anzahl von Beobachtungsaussagen vereinbar sind bzw.<br />
eine unbegrenzte Menge von Hypothesen, die mit eine begrenzten Menge von<br />
Belegen kompatibel sind. In der Konsequenz ist jede ihrer Wahrscheinlichkeiten,<br />
wahr zu sein, gleich Null. In Kapitel 12 werden wir eine Moglichkeit diskutieren,<br />
diesem Problem zu begegnen.<br />
In diesem und dem vorhergehenden Abschnitt wurden zwei Probleme der<br />
Auffassung, wissenschaftliche Erkenntnis werde durch induktives SchlieBen aus<br />
Tatsachen gewonnen, deutlich gemacht. Das erste betraf die Frage der Spezifikation<br />
der Angemessenheit von induktiven Argumenten. Das zweite bezog sich auf<br />
die Zirkularitat der Versuche, Induktion im Allgemeinen zu rechtfertigen. Ich<br />
halte das zuerst Genannte fur schwerwiegender. Der Grund, warum ich das Induktionsproblem<br />
flir nicht so problematisch halte, liegt darin, dass jeder Versuch,<br />
Wissenschaft zu rechtfertigen, mit ahnlichen Problemen behaftet ist. Es treten<br />
immer Schwierigkeiten auf, wenn rationale Rechtfertigungen fur Prinzipien gesucht<br />
werden, weil wir kein rationales Argument flir ein rationales Argument<br />
heranziehen konnen, ohne das vorauszusetzen, was wir begriinden wollen. Genauso<br />
wenig kann etwas begriindet werden, ohne dass neue Fragen aufgeworfen<br />
werden. Dennoch, das, was ein deduktives Argument charakterisiert, kann sehr<br />
genau festgestellt werden, wahrend das, was ein gutes induktives Argument ausmacht,<br />
in keiner Weise deutlich wird.<br />
4.6 Der Reiz des Induktivismus<br />
Mit hoher Pragnanz wird die in den ersten Kapiteln diskutierte induktivistische<br />
Sichtweise von Wissenschaft, die wissenschaftliche Erkenntnis <strong>als</strong> etwas begreift,<br />
was durch induktives SchlieBen aus Tatsachen gewonnen wird, in der folgenden.
von einem Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts geschriebenen Passage,<br />
ausgedriickt:<br />
Wenn wir uns hier vorzustellen versuchen, wie ein Verstand von<br />
libermenschlicher Kraft und Reichweite, der jedoch in Bezug auf die<br />
logischen Gedankengange ganz normal ware,... die wissenschaftliche<br />
Methode betreiben wtirde, so wtirde dieser Prozess folgendermaBen<br />
aussehen: Zunachst wtirde er samtliche Tatsachen ohne Auslese und<br />
A priori-Vermutung uber ihre relative Bedeutung beobachten und<br />
aufzeichnen. Zweitens wtirde er die beobachteten und aufgezeichneten<br />
Tatsachen analysieren, vergleichen und klassifizieren, ohne auf<br />
andere Hypothesen oder Postulate zurtickzugreifen, <strong>als</strong> er sie notwendigerweise<br />
fur logisches Denken braucht. Drittens wtirde er aus<br />
dieser Analyse der Tatsachen induktiv Verallgemeinerungen beztiglich<br />
der klassifikatorischen und kausalen Beziehungen zwischen<br />
ihnen gewinnen. Viertens wtirde er in seiner weiteren Forschung sowohl<br />
deduktiv <strong>als</strong> auch induktiv vorgehen, wobei er Schltisse aus<br />
zuvor aufgestellten Verallgemeinerungen verwenden wtirde. (Wolfe,<br />
zitiert nach Hempel, 1974, S. 21, Hervorhebungen im Orig.)<br />
Wir haben gesehen, dass die Idee, die Sammlung von Tatsachen konne und solle<br />
vor dem Erwerb und der Akzeptanz von jeglichem Wissen stattfinden, fi^agwtirdig<br />
ist. Dies anzunehmen bedeutet, dass meine Beobachtungen der Flora im australischen<br />
Busch einen hoheren Wert hatten, <strong>als</strong> die eines getibten Beobachters, weil<br />
ich wenig uber Botanik weiB. Wir wollen diesen Aspekt der Charakterisierung von<br />
Wissenschaft durch unseren Wirtschaftswissenschaftler zurtickweisen. Was bleibt,<br />
ist ein Konzept mit besonderer Anziehung. Es ist in Abbildung 2 zusammengefasst.<br />
Gesetze und <strong>Theorien</strong>, die wissenschaftliche Erkenntnis konstituieren, werden<br />
per Induktion aus einer sachlichen Basis gewonnen, die die Beobachtung und<br />
das Experiment liefern. Ist solch generelles Wissen verfugbar, kann es herangezogen<br />
werden, um Vorhersagen zu machen und Erklarungen zu bieten.<br />
Betrachten wir folgende Schlussfolgerung:<br />
1. Reines Wasser gefriert bei 0 Grad Celsius (nach einer gewissen<br />
Zeit).<br />
2. Der Ktihler meines Autos enthalt nahezu reines Wasser.<br />
3. Wenn die Temperatur unter 0 Grad Celsius sinkt, dann gefi-iert<br />
das Wasser in dem Ktihler meines Autos (nach einer gewissen<br />
Zeit).<br />
45
46<br />
Gesetze<br />
und <strong>Theorien</strong><br />
Beobachtungsaussagen Erkldrung und<br />
Vorhersage<br />
Abbildung 2<br />
Dies ist ein Beispiel flir eine logisch giiltige Schlussfolgerung, mit der man<br />
Vorhersage (3) aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, die in der Voraussetzung<br />
(1) enthalten ist, ableiten kann. Wenn (1) und (2) wahr sind, dann muss auch (3)<br />
wahr sein. Jedoch kann die Wahrheit von (1), (2) oder (3) nicht durch diese oder<br />
irgendeine andere Deduktion begriindet werden. Fiir einen Induktivisten ist die<br />
Quelle der Wahrheit nicht die Logik, sondem die Erfahrung. Aus dieser Sicht<br />
wurde (1) aus der unmittelbaren Beobachtung gefrierenden Wassers ermittelt.<br />
Wenn erst einmal (1) und (2) durch Beobachtung und Induktion bestatigt worden<br />
sind, dann kann Vorhersage (3) aus ihnen deduziert werden.<br />
Weniger triviale Beispiele sind natiirlich komplizierter. Die Rolle jedoch, die<br />
der Beobachtung, der Induktion und der Deduktion zukommt, bleibt im Wesentlichen<br />
die Gleiche. Als letztes Beispiel soil dargestellt werden, wie die Naturwissenschaft<br />
das Phanomen des Regenbogens vom induktivistischen Standpunkt aus<br />
erklaren kann.<br />
Die einfache Voraussetzung (1) des vorangegangenen Beispiels wird hier<br />
durch eine Anzahl von Gesetzen ersetzt, die die Eigenschaften des Lichts beschreiben,<br />
namentlich die Reflexions- und Brechungsgesetze des Lichtes sowie<br />
Aussagen zur Abhangigkeit der Farbe vom Grad der Brechung. Diese allgemeinen<br />
Naturgesetze lassen sich mittels Induktion aus der Erfahrung ableiten. Es wird<br />
eine groBe Anzahl von Laborexperimenten durchgefiihrt, in denen Lichtstrahlen<br />
von Spiegeln und Wasseroberflachen reflektiert werden. Gemessen werden die<br />
Einfalls- und Brechungswinkel der Lichtstrahlen beim Obergang von Luft in Wasser,<br />
von Wasser in Luft usw. Diese Experimente werden unter einer groBen Viel-
fait von Bedingungen wiederholt, bis die Bedingungen, die notwendig sind, um<br />
die induktive Verallgemeinerung der optischen Gesetze zu rechtfertigen, erflillt<br />
sind.<br />
Die Voraussetzung (2) des vorhergegangenen Beispiels wird ebenfalls durch<br />
ein komplexeres Aufgebot von Aussagen ersetzt. Dies beinhaltet Aussagen uber<br />
die Auswirkung der Tatsache, dass die Sonne in Relation zu einem Beobachter auf<br />
der Erde eine bestimmte Position einnimmt und dass die Regentropfen aus einer<br />
Wolke stammen, die sich ebenfalls in Bezug auf den Beobachter in einem bestimmten<br />
Gebiet befindet. Eine Anzahl derartiger Aussagen, die Einzelheiten des<br />
jeweiligen Forschungsgegenstandes beschreiben, werden im Folgenden <strong>als</strong> Anfangsbedingungen^<br />
bezeichnet. Beschreibungen von experimentellen Versuchsanordnungen<br />
sind typische Beispiele fiir Anfangsbedingungen.<br />
Kennt man die Gesetze der Optik und die entsprechenden Anfangsbedingungen,<br />
dann ist es moglich, deduktiv eine Erklarung fur die Entstehung eines fiir<br />
einen Beobachter sichtbaren Regenbogens abzuleiten. Diese Deduktionen sind<br />
nicht mehr so einfach nachvollziehbar wie in den vorherigen Beispielen. Sie verwenden<br />
sowohl mathematische <strong>als</strong> auch verbale Ableitungen. Die Argumentationskette<br />
ist in etwa die Folgende: Wenn wir davon ausgehen, dass ein Regentropfen<br />
annahemd kugelformig ist, dann wird der Weg eines Lichtstrahls ungefahr so<br />
verlaufen, wie in Abbildung 3 dargestellt.<br />
zum Beobachter<br />
Abbildung 3<br />
^ Bei Popper <strong>als</strong> „Randbedingungen" bezeichnet (vgl. Popper, 1982, S. 31-33), auch „Ausgangsbedingungen";<br />
besser ware vielleicht „individuelle Bedingungen" oder „individuelle Gegebenheitem" (vgl.<br />
Seiffert, 1983, S. 170). (Anm. d. Hrsg.)<br />
47
48<br />
Wenn ein weiBer Lichtstrahl bei a auf einen Regentropfen trifft, dann wird<br />
sich der rote Anteil entsprechend dem Brechungsgesetz entlang ab fortbewegen<br />
und der blaue Anteil entlang ab\ Entsprechend den Reflexionsgesetzen muss ab<br />
entlang be und ab' entlang b'c' reflektiert werden. Die Brechung bei c und c' wird<br />
wieder durch das Brechungsgesetz bestimmt, sodass ein Beobachter, der den<br />
Regentropfen sieht, die roten und blauen Bestandteile des weiBen Lichtes getrennt<br />
wahmimmt (und ebenso alle anderen Farben des Spektrums). Die gleiche Differenzierung<br />
der Farben kann unser Beobachter bei jedem Regentropfen sehen, der<br />
sich in einer Region des Himmels befindet, in der die Verbindungslinie zwischen<br />
Regentropfen und Sonne und die Linie, die der Regentropfen mit dem Beobachter<br />
bildet, einen Winkel D beschreibt. Geometrische Uberlegungen fuhren dann zu<br />
dem Ergebnis, dass fur einen Beobachter ein farbiger Regenbogen nur dann sichtbar<br />
sein kann, wenn die Regenwolke eine ausreichend groBe Ausdehnung hat.<br />
Die Erklarung fiir den Regenbogen wurde hier lediglich skizziert. Dies soil<br />
jedoch ausreichen, um die allgemeine Form des ihr zugrundeliegenden Gedankenganges<br />
zu veranschaulichen. Vorausgesetzt, die Gesetze der Optik sind wahr (und<br />
fiir den „naiven" Induktivisten konnen diese aus der Beobachtung durch Induktion<br />
nachgewiesen werden), und unter der Voraussetzung, dass die Anfangsbedingungen<br />
genau beschrieben wurden, dann folgt daraus notwendigerweise die Erklarung<br />
vom Phanomen des Regenbogens. Somit lasst sich die allgemeine Form wissenschaftlicher<br />
Erklarung und Vorhersage folgendermaBen zusammenfassen:<br />
1. Gesetze und <strong>Theorien</strong><br />
2. Anfangsbedingungen<br />
3. Vorhersagen und Erklarungen<br />
Dies ist der Schritt, der auf der rechten Seite von Abbildung 2 dargestellt wurde.<br />
Die grundsatzliche induktivistische Herangehensweise hat eine unmittelbare<br />
Anziehungskraft. Sie liegt darin, dass sie auf formale Weise das zusammenfasst,<br />
was der allgemeinen Meinung uber die spezifischen Charakteristika wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis wie Objektivitat, Zuverlassigkeit und Nutzlichkeit entspricht.<br />
Der induktivistische Beitrag zur Frage der Nutzlichkeit von Wissenschaft, m Bezug<br />
auf die Erleichterung von Vorhersage und Erklarung, wurde in diesem Abschnitt<br />
bereits diskutiert.<br />
Die Objektivitat von Wissenschaft, so wie sie von Induktivisten gesehen<br />
wird, kann aus dem Umfang abgeleitet werden, in dem Beobachtung, Induktion<br />
und Deduktion selbst <strong>als</strong> objektiv angesehen werden. Beobachtbare Tatsachen<br />
werden <strong>als</strong> etwas verstanden, das durch den vorurteilsfreien Gebrauch der Sinne<br />
bereitgestellt wird, was keinen Raum fur subjektive Meinungen lasst. Induktives<br />
und deduktives SchlieBen sind in dem Umfang angemessen, in dem sie offentlich<br />
formulierten Kriterien der Angemessenheit entsprechen. Es bleibt <strong>als</strong>o ebenfalls<br />
kein Raum fur personliche Meinungen. Ableitungen entsprechen entweder objektiven<br />
Standards oder sie tun dies nicht.
Die Zuverlassigkeit der Wissenschaft folgt aus den induktivistischen Ansprtichen<br />
an die Beobachtung, die Induktion und die Deduktion. Entsprechend dem<br />
„naiven" Induktivisten ergeben sich auf Tatsachen bemhende Beobachtungsaussagen,<br />
welche die Basis der Wissenschaft bilden, direkt und verlasslich durch den<br />
sorgfaltigen Gebrauch der Sinne. Im weiteren Verlauf wird diese Verlasslichkeit<br />
auf die Gesetze und <strong>Theorien</strong> ubertragen, die auf induktivem Weg aus diesen<br />
Tatsachen abgeleitet wurden. Voraussetzung ist, dass die Bedingungen adaquater<br />
induktiver Generalisierung erfiillt sind. Eine Garantie daftir bietet das Induktionsprinzip,<br />
von dem angenommen wird, dass es die Basis der Wissenschaft bildet.<br />
So attraktiv sie auch erscheinen mag, wir haben gesehen, dass die induktivistische<br />
Position im besten aller Falle einiger emstzunehmender Einschrankungen bedarf<br />
Im schlechtesten aller Falle ist sie vollig inadaquat. Wir haben gesehen, dass wissenschaftliche<br />
Tatsachen in keinster Weise einfach gegeben sind, sondem konstruiert<br />
werden mussen, dass sie in nicht vernachlassigbarer Weise von dem Wissen<br />
abhangen, das sie voraussetzen (eine Komplikation, die das Schema in Abbildung<br />
2 tibergeht), und dass sie verbessert und ersetzt werden konnen. Schwerer<br />
wiegt, dass wir nicht in der Lage waren, eine so prazise Spezifikation dessen vorzunehmen,<br />
was Induktion ist, dass wir in der Lage sind, eine gerechtfertigte Generalisierung<br />
von Tatsachen von einer unuberlegten oder iibereilten zu unterscheiden,<br />
eine gewaltige Aufgabe angesichts der Fahigkeit der Natur, uns zu Uberraschen,<br />
wie zum Beispiel durch die Entdeckung, dass suprafluide Stoffe aufwarts<br />
flieBen konnen.<br />
In Kapitel 12 werden wir einige jungere Versuche, den induktivistischen<br />
Beitrag zur Wissenschaft von seinen Schwierigkeiten zu befreien, diskutieren. Bis<br />
dort hin werden wir uns in den nachsten beiden Kapiteln einem Philosophen zuwenden,<br />
der versucht, die Probleme des Induktivismus zu umgehen, indem er eine<br />
Sichtweise von Wissenschaft entwickelt, die sich nicht auf Induktion bezieht.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Die historische Quelle des Induktionsproblems ist Humes ,,Traktat uber die<br />
menschliche Natur'\\9QA, Teil 3). Eine andere klassische Diskussion des Problems<br />
liefert Russell (1981, Kap. 6). Eine sorgfaltige technische Untersuchung der<br />
Konsequenz von Humes Argumenten nimmt Stove (1973) vor. Poppers Behauptung,<br />
das Induktionsproblem gelost zu haben, findet sich in Popper (1984, Kap. 1).<br />
Gut verstandliche Beitrage zum induktiven Denken konnen bei Hempel (1974)<br />
und Salmon (1975) geftmden werden und etwas ausftihrlicher bei Glymour<br />
(1980). Eine Sammlung von Essays zur induktiven Logik, inklusive einer eigenen<br />
provokativen Ubersicht von Lakatos selbst, findet sich bei Lakatos (1968).<br />
49
5.1 Einleitung<br />
Der F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
Karl Popper war der vehementeste Verfechter einer Alternative zum Induktivismus,<br />
die allgemein <strong>als</strong> F<strong>als</strong>ifikationismus bezeichnet wird. Popper studierte in den<br />
1920er Jahren in Wien, einer Zeit, in der eine Gruppe den Logischen Positivismus<br />
formulierte, die <strong>als</strong> Wiener Kreis bekannt wurde. Einer der bedeutendsten Vertreter<br />
war Rudolph Camap, und die Auseinandersetzungen und Debatten zwischen<br />
seinen und Poppers Anhangem war bis in die 1960er Jahre zeijtraler Bestandteil<br />
der Wissenschaftsphilosophie. Popper selbst erzahlt die Geschichte, wie er seine<br />
Illusionen liber die Idee, Wissenschaft sei etwas Besonderes, weil sie auf Tatsachen<br />
basiere (je mehr desto besser), verlor. Er wurde misstrauisch, <strong>als</strong> er sah,<br />
wie Freudianer und Marxisten ihre Theorie stiitzten, indem sie eine groBe Spannbreite<br />
von Beispielen menschlichen Verhaltens bzw. historischen Wechsels in den<br />
Worten ihrer Theorie interpretierten und gleichzeitig behaupteten, dass ihre <strong>Theorien</strong><br />
durch diese Beispiele bestatigt seien. Es schien Popper, <strong>als</strong> konnten sich diese<br />
<strong>Theorien</strong> niem<strong>als</strong> <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erweisen, weil sie gentigend flexibel waren, um mit<br />
jedem Beispiel menschlichen Verhaltens oder historischen Wechsels vereinbar zu<br />
sein. In der Konsequenz konnten diese <strong>Theorien</strong>, obwohl sie <strong>als</strong> aussagekraftig<br />
und durch eine Menge von Tatsachen belegt erschienen, nichts erklaren, weil sie<br />
nichts ausschlieBen konnten. Popper verglich dies mit einer bertihmt gewordenen<br />
Oberpriifung von Einsteins Relativitatstheorie, die Eddington 1919 vomahm.<br />
Einsteins Theorie impliziert, dass sich Lichtstrahlen kriimmen, wenn sie massive<br />
Objekte, wie die Sonne, in groBer Nahe passieren. Dennoch erscheint ein Stern,<br />
der hinter der Sonne liegt, an emer anderen Stelle <strong>als</strong> dies der Fall ware, wenn es<br />
diese Krummung nicht gebe. Eddington suchte nach dieser Verschiebung, indem<br />
er einen solchen Stem wahrend einer Sonnenfinstemis betrachtete. Es zeigte sich,<br />
dass die Verschiebung beobachtet werden konnte, und Einsteins Theorie wurde<br />
bestatigt. Popper merkte jedoch an, dass dies ebenso nicht hatte eintreten konnen.<br />
Indem eine spezifische uberprufbare Vorhersage vorgenommen wird, setzt sich<br />
die Allgemeine Relativitatstheorie einem Risiko aus. Sie schlieBt Beobachtungen<br />
aus, die nicht mit ihr in Einklang stehen. Popper zog den Schluss, dass genuine
52<br />
wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> dadurch, dass sie definitive Vorhersagen machen, in<br />
einer Art und Weise eine Reihe von beobachtbaren Tatbestanden ausschlieBen,<br />
wie dies nach seinem Dafurhalten bei den <strong>Theorien</strong> von Freud und Marx nicht der<br />
Fall ist. Er gelangte so zu seiner Schlusselidee, dass wissenschaftliche <strong>Theorien</strong><br />
f<strong>als</strong>ifizierbar sind.<br />
F<strong>als</strong>ifikationisten gestehen ohne weiteres ein, dass Beobachtung theoriegeleitet<br />
ist und <strong>Theorien</strong> voraussetzt. Sie haben keine Probleme damit, jede Art von<br />
Anspruch aufzugeben, der impliziert, dass sich <strong>Theorien</strong> im Lichte von beobachtbarer<br />
Evidenz <strong>als</strong> wahr oder wahrscheinlich wahr erweisen miissen. <strong>Theorien</strong><br />
stellen spekulative und vorlaufige Vermutungen oder Annahmen dar, die der<br />
menschliche Intellekt in dem Versuch kreiert, Probleme vorausgehender <strong>Theorien</strong><br />
zu tiberwinden und eine wissenschaftliche Erklarung zu einigen Aspekten der<br />
Welt bzw. des Universums zu leisten. Einmal vorgeschlagen, miissen diese spekulativen<br />
<strong>Theorien</strong> streng und rticksichtslos durch Beobachtung und Experiment<br />
Uberpriift werden. <strong>Theorien</strong>, die Beobachtungen und Experimenten nicht standhalten,<br />
miissen fallen gelassen werden und durch weitere spekulative Vermutungen<br />
ersetzt werden. Wissenschaft schreitet durch Versuch und Irrtum, Vermutung<br />
und Widerlegung voran. Nur die geeignetste Theorie iiberlebt. Obwohl nie gesagt<br />
werden kann, dass eine Theorie wahr ist, kann doch gesagt werden, sie sei die<br />
beste, die verfugbar ist bzw. dass sie besser <strong>als</strong> alle vorausgegangenen ist. Es<br />
ergeben sich fiir den F<strong>als</strong>ifikationismus keine Probleme, Induktion zu charakterisieren<br />
oder zu rechtfertigen, weil Wissenschaft entsprechend dieses Ansatzes<br />
keine Induktion beinhaltet.<br />
Die Inhalte dieser stark verkiirzten Zusammenfassung des F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
soil in den nachsten beiden Kapiteln ausfiihrlicher dargelegt werden.<br />
5.2 Ein logisches Argument zur Unterstutzung des F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
<strong>Theorien</strong> konnen gemaB dem F<strong>als</strong>ifikationismus <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch nachgewiesen werden,<br />
wenn entsprechende Beflmde aus Beobachtungen und Experimenten vorliegen. Es<br />
gibt ein einfaches und logisches Argument, das den F<strong>als</strong>ifikationismus in diesem<br />
Punkt zu unterstiitzen scheint. Bereits im vierten Kapitel haben wir gesehen, dass<br />
selbst dann, wenn wir davon ausgehen konnen, dass wahre Beobachtungsaussagen<br />
verfugbar sind, es allein auf dieser Grundlage dennoch niem<strong>als</strong> moglich ist, durch<br />
logische Deduktionen zu universellen Gesetzen zu gelangen. Andererseits ist es<br />
moglich, ausgehend von einzelnen Beobachtungsaussagen logische Deduktionen<br />
durchzufuhren, um so nachzuweisen, dass universelle Gesetze und <strong>Theorien</strong> f<strong>als</strong>ch<br />
sind. Gehen wir zum Beispiel von der Aussage „Am Ort x zum Zeitpunkt t wurde<br />
ein Rabe beobachtet, der nicht schwarz war" aus, dann folgt daraus logischerweise,<br />
dass die Aussage „Alle Raben sind schwarz" f<strong>als</strong>ch ist. Das bedeutet, dass<br />
der folgende Beweis eine logisch giiltige Deduktion darstellt:<br />
Voraussetzung: Am Ort x zum Zeitpunkt t wurde ein Rabe<br />
beobachtet, der nicht schwarz war.<br />
Schlussfolgerung: Nicht alle Raben sind schwarz.
1st die Voraussetzung zutreffend und wird die Schlussfolgemng verworfen, so<br />
ergibt sich ein Widerspruch. Zwei weitere Beispiele sollen diesen recht trivialen<br />
logischen Sachverhalt veranschaulichen: Wenn man in einem Experiment durch<br />
Beobachtung nachweisen kann, dass sich ein Gewicht von 10 kg und ein Gewicht<br />
von 1 kg im freien Fall mit annahernd gleicher Geschwindigkeit nach unten bewegen,<br />
dann kann hieraus die Schlussfolgemng gezogen werden, dass die Behauptung,<br />
Korper fallen mit einer Geschwindigkeit proportional zu ihrem Gewicht,<br />
f<strong>als</strong>ch ist. Wenn zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dass ein Lichtstrahl, der<br />
dicht an der Sonne vorbeifuhrt, in einer gebogenen Linie abgelenkt wird, dann<br />
trifft es nicht zu, dass sich Licht notwendigerweise in gerader Linie fortpflanzt.<br />
Die F<strong>als</strong>chheit von allgemeinen Aussagen kann von entsprechenden Einzelaussagen<br />
abgeleitet werden. Dieser logische Sachverhalt ist der Grundsatz des<br />
F<strong>als</strong>ifikationismus.<br />
5.3 F<strong>als</strong>ifizierbarkeit <strong>als</strong> Kriterium fur gute <strong>Theorien</strong><br />
Der F<strong>als</strong>ifikationismus betrachtet Wissenschaft <strong>als</strong> eine Menge von Hypothesen,<br />
die versuchsweise vorgeschlagen werden, um das Verhalten bestimmter Aspekte<br />
der Welt oder des Universums zu beschreiben und zu erklaren. Jedoch gentigt es<br />
nicht, irgendeine Hypothese heranzuziehen. Es gibt eine grundlegende Bedingung,<br />
die jede Hypothese oder jedes System von Hypothesen erftillen muss, bevor sie<br />
den Status eines wissenschaftlichen Gesetzes oder einer Theorie erhalten kann.<br />
Eine Hypothese muss, soil sie einen Beitrag zur Wissenschaft leisten, f<strong>als</strong>ifizierbar<br />
sein. Bevor wir fortfahren, muss geklart werden, wie der Terminus ,/<strong>als</strong>ifizierbar''<br />
im F<strong>als</strong>ifikationismus verwendet wird.<br />
Nachfolgend einige Beispiele von einfachen Behauptungen, die im angesprochenen<br />
Sinne f<strong>als</strong>ifizierbar sind:<br />
1. Mittwochs regnet es nie.<br />
2. Alle Stoffe dehnen sich bei Hitze aus.<br />
3. Schwere Gegenstande, wie etwa Ziegelsteine, fallen, wenn<br />
man sie nahe der Erdoberflache loslasst und sie auf kein<br />
Hindemis treffen, in gerader Linie nach unten.<br />
4. Wenn ein Lichtstrahl von einem ebenen Spiegel reflektiert<br />
wird, ist der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel.<br />
Behauptung (1) ist f<strong>als</strong>ifizierbar, well sie durch die Beobachtung f<strong>als</strong>ifiziert werden<br />
kann, dass es an einem Mittwoch regnet. Behauptung (2) ist ebenfalls f<strong>als</strong>ifizierbar.<br />
Sie kann durch die Beobachtungsaussage, dass sich irgendein Stoff x nicht<br />
ausgedehnt hat, <strong>als</strong> er zum Zeitpunkt t erhitzt wurde, f<strong>als</strong>ifiziert werden. Um Aussage<br />
(2) zu f<strong>als</strong>ifizieren, konnte man die Eigenschaft von Wasser nahe dem Gefrierpunkt<br />
betrachten. Aussagen (1) und (2) sind <strong>als</strong>o beide f<strong>als</strong>ifizierbar und<br />
f<strong>als</strong>ch. Behauptungen (3) und (4) konnten, soweit wir wissen, wahr sein. Aber<br />
trotzdem sind sie f<strong>als</strong>ifizierbar im besagten Sinne. Es ist logisch moglich, dass der<br />
53
54<br />
nachste Ziegelstein, der fallen gelassen wird, nach oben „fallt". Die Behauptung<br />
„Der Ziegelstein fallt aufwarts, wenn man ihn loslasst" beinhaltet keinen Widerspruch,<br />
obwohl es sein mag, dass eine solche Aussage noch niem<strong>als</strong> durch Beobachtung<br />
bestatigt wurde. Behauptung (4) ist f<strong>als</strong>ifizierbar, weil es denkbar ware,<br />
dass ein Lichtstrahl, der in einem schragen Winkel auf einen Spiegel fallt, im<br />
rechten Winkel zum Spiegel reflektiert wird. Dies wird niem<strong>als</strong> eintreffen, wenn<br />
das Reflexionsgesetz wahr ist, aber wenn es eintreten wiirde, bedeutete dies keinen<br />
logischen Widerspruch. Behauptungen (3) und (4) sind f<strong>als</strong>ifizierbar, auch<br />
wenn sie wahr sein mogen.<br />
Eine Hypothese ist f<strong>als</strong>ifizierbar, wenn eine oder mehrere logisch mogliche<br />
Beobachtungsaussagen existieren, die mit der Hypothese unvereinbar sind. Wenn<br />
diese <strong>als</strong> wahr nachgewiesen werden, wurden sie die Hypothese f<strong>als</strong>ifizieren.<br />
Im Folgenden einige Beispiele fur Aussagen, die diesen Anforderungen nicht<br />
gerecht werden und die durchgangig nicht f<strong>als</strong>ifizierbar sind:<br />
5. Entweder es regnet oder es regnet nicht.<br />
6. Alle Punkte auf einem euklidischen Kreis befmden sich<br />
gleich weit vom Mittelpunkt entfemt.<br />
7. Bei Sportwetten kann Gluck im Spiel sein.<br />
Keine logisch mogliche Beobachtungsaussage konnte Aussage (5) widerlegen. Sie<br />
ist wahr, wie das Wetter auch immer sein mag. Behauptung (6) ist notwendigerweise<br />
wahr, weil der euklidische Kreis so definiert ist. Sind die Punkte auf einem<br />
Kreis nicht gleich weit von einem Fixpunkt entfemt, dann handelt es sich schlichtweg<br />
nicht um einen euklidischen Kreis. Die Aussage „Alle Junggesellen sind<br />
unverheu-atet" ist aus demselben Grund nicht f<strong>als</strong>ifizierbar. Behauptung (7) ist ein<br />
Zitat aus einem Horoskop einer Zeitung. Sie ist ein typisches Beispiel fur das<br />
Irrefuhrende an Behauptungen von Wahrsagem. Diese Behauptung ist nicht f<strong>als</strong>ifizierbar.<br />
Es lauft darauf hinaus, dem Leser weiszumachen, dass, wenn er heute<br />
wettet, er gewinnen konnte. Dies bleibt wahr, ob er nun wettet oder nicht, und<br />
auch wenn er tatsachlich wettet, bleibt die Aussage wahr, gleichgultig, ob er dabei<br />
gewinnt oder verliert.<br />
Der F<strong>als</strong>ifikationismus fordert, dass wissenschaftliche Hypothesen in dem<br />
eben besprochenen Sinne f<strong>als</strong>ifizierbar sein mussen. Denn nur durch das Ausscheiden<br />
einer Menge logisch moglicher Beobachtungsaussagen ist ein Gesetz<br />
oder eine Theorie aussagekraftig. Wenn eine Aussage nicht f<strong>als</strong>ifizierbar ist, dann<br />
kann die Wirklichkeit alle moglichen Eigenschaften besitzen und sich wie auch<br />
immer verhalten, ohne mit der Aussage im Widerspruch zu stehen. Im Gegensatz<br />
zu den Aussagen (1), (2), (3) und (4) teilen uns die Aussagen (5), (6) und (7)<br />
nichts uber die Wirklichkeit mit. Ein wissenschaflliches Gesetz oder eine wissenschaftliche<br />
Theorie sollte uns idealerweise bestimmte Informationen daruber vermitteln,<br />
wie sich die Wirklichkeit tatsachlich verhalt, wobei (logisch) denkbare<br />
Moglichkeiten, wie sie sich verhalten konnte, es aber tatsachlich nicht tut, ausgeschlossen<br />
werden sollten. Das Gesetz „Alle Planeten bewegen sich auf elliptischen<br />
Bahnen um die Sonne" ist insofem wissenschaftlich, <strong>als</strong> es die Aussage macht,<br />
dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen bewegen und quadratische oder ovale
Umlaufbahnen ausschlieBt. Gerade well das Gesetz definitive Aussagen uber die<br />
Umlaufbahnen von Planeten macht, besitzt es einen Informationsgehalt und ist<br />
f<strong>als</strong>ifizierbar.<br />
Ein fluchtiger Blick auf einige Gesetze, die <strong>als</strong> typische Komponenten wissenschaftlicher<br />
<strong>Theorien</strong> betrachtet werden konnen, zeigt uns, dass sie das Kriterium<br />
der F<strong>als</strong>ifizierbarkeit erfiillen. Es ist leicht einzusehen, dass Gesetze wie<br />
„Gegensatzliche magnetische Pole ziehen einander an" oder „Wird zu einer Base<br />
Saure gegeben, so entstehen Salz und Wasser" f<strong>als</strong>ifizierbar sind. Allerdings lehrt<br />
der F<strong>als</strong>ifikationismus, dass einige <strong>Theorien</strong>, nur oberflachlich betrachtet, den Anschein<br />
erwecken, die Eigenschaften guter wissenschaftlicher <strong>Theorien</strong> zu besitzen,<br />
tatsachlich jedoch nicht f<strong>als</strong>ifizierbar sind und deswegen zuriickgewiesen werden<br />
sollten. Popper behauptete, dass zumindest einige Lesarten der marxistischen Geschichtstheorie,<br />
der Psychoanalyse von Freud und der Individualpsychologie von<br />
Adler an diesem Fehler kranken. Dieser Aspekt soil an der folgenden, etwas iiberzogenen<br />
Darstellung der adlerschen Psychologie verdeutlicht werden.<br />
Eine fiindamentale Lehre in Adlers Theorie ist die, dass die Motive menschlichen<br />
Handelns in Minderwertigkeitsgefuhlen zu suchen sind. In unserem Beispiel<br />
wird diese Sichtweise durch folgenden Vorfall belegt: Wahrend ein Mann<br />
am Ufer eines gefahrlichen Flusses steht, sttirzt ganz in der Nahe ein Kind ins<br />
Wasser. Der Mann springt nun entweder ins Wasser und versucht, das Kind zu<br />
retten, oder er tut es nicht. Springt der Mann ins Wasser, dann wird der Adlerianer<br />
eine Begriindung zur Hand haben, wie dies seine Theorie unterstutzt. Der Mann<br />
musste offensichtlich sein Gefuhl der Minderwertigkeit dadurch iiberwinden, dass<br />
er trotz der Gefahr den Mut dazu aufbringt, ins Wasser zu springen. Wenn der<br />
Mann nicht ins Wasser springt, kann der Adlerianer genauso gut den Anspruch<br />
erheben, dass dies ein Beleg fur seine Theorie ist: Der Mann hat seine Minderwertigkeitsgefiihle<br />
uberwunden, indem er demonstriert, dass er die Starke und<br />
Macht besitzt, gelassen am Ufer stehen zu bleiben, wahrend das Kind ertrinkt.<br />
Wenn diese Karikatur kennzeichnend fur die adlersche Theorie ist, dann ist<br />
diese Theorie nicht f<strong>als</strong>ifizierbar. Sie ist mit jeder Art menschlichen Verhaltens<br />
vereinbar, und gerade deswegen sagt sie iiber menschliches Verhalten iiberhaupt<br />
nichts aus. Gewiss, bevor Adlers Theorie aus diesen Griinden zuriickgewiesen<br />
wird, ware es notwendig, statt eines Zerrbildes die naheren Einzelheiten der Theorie<br />
zu untersuchen. Aber es gibt eine Menge von soziologischen, psychologischen<br />
und theologischen <strong>Theorien</strong>, die den Verdacht aufkommen lassen, dass sie mit<br />
dem Anspruch, alles erklaren zu wollen, eben gar nichts erklaren. Die Existenz<br />
eines liebenden Gottes und das Eintreffen irgendeiner Katastrophe konnen in<br />
Einklang gebracht werden, wenn die Katastrophe so interpretiert wird, dass sie uns<br />
geschickt wird, um uns auf die Probe zu stellen oder uns zu bestrafen - was sich<br />
eben gerade in der entsprechenden Situation anbietet. Viele Beispiele aus dem<br />
Tierreich konnen <strong>als</strong> Beweise betrachtet werden, welche die Annahme „Der Korper<br />
eines Tieres erfullt optimal die jeweils an ihn gestellten Anforderungen" unterstutzen.<br />
Theoretiker, die in dieser Weise vorgehen, machen sich den Ausfliichten<br />
von Wahrsagern schuldig und werden von F<strong>als</strong>ifikationisten kritisiert. Wenn<br />
eine Theorie einen informativen Gehalt haben soil, dann muss sie die Moglichkeit<br />
bieten, f<strong>als</strong>ifiziert zu werden.<br />
55
56<br />
5.4 F<strong>als</strong>ifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Prazision<br />
Eine gute wissenschaftliche Theorie oder ein gutes wissenschaftliches Gesetz sind<br />
allein deswegen f<strong>als</strong>ifizierbar, well sie definitive Aussagen uber die Wirklichkeit<br />
machen. Fiir den F<strong>als</strong>ifikationisten bedeutet dies gleichzeitig, dass eine Theorie<br />
mit zunehmender F<strong>als</strong>ifizierbarkeit auch im weitesten Sinne besser wird. Je umfassender<br />
die Ansprtiche einer Theorie sind, desto groBer ist die Zahl moglicher<br />
Gelegenheiten, um nachzuweisen, dass sich die Welt in Wirklichkeit nicht so<br />
verhalt, wie es die Theorie besagt. Eine sehr gute Theorie ist eine Theorie, die<br />
umfassende Aussagen uber die Welt macht, die folglich in hohem MaBe f<strong>als</strong>ifizierbar<br />
ist und die stets einer F<strong>als</strong>ifizierung standhalt.<br />
Was damit gemeint ist, soil mithilfe eines einfachen Beispiels veranschaulicht<br />
werden. Betrachten wir die beiden folgenden Gesetze:<br />
(a) Der Mars bewegt sich auf einer elliptischen Bahn um die<br />
Sonne.<br />
(b) Alle Planeten bewegen sich auf einer elliptischen Bahn um<br />
ihre jeweilige Sonne.<br />
Es bestehen wohl keine Zweifel, dass (b) <strong>als</strong> ein Sttick wissenschaftliche Erkenntnis<br />
einen hoheren Stellenwert hat <strong>als</strong> (a). Gesetz (b) umfasst Gesetz (a) und geht<br />
daruber hinaus. Gesetz (b), das vorgezogen werden muss, ist f<strong>als</strong>ifizierbarer <strong>als</strong><br />
(a). Wenn Beobachtungen vom Mars Gesetz (a) f<strong>als</strong>ifizieren wurden, dann wtirden<br />
sie auch Gesetz (b) f<strong>als</strong>ifizieren. Jegliche F<strong>als</strong>ifikation von (a) wurde eine F<strong>als</strong>ifikation<br />
von (b) bedeuten, jedoch nicht umgekehrt. Ebenso sind Beobachtungsaussagen<br />
beziiglich der Umlaufbahnen von Venus, Jupiter etc., die (b) f<strong>als</strong>ifizieren,<br />
fiir (a) irrelevant. Wenn wir in Anlehnung an Popper diejenige Menge von Beobachtungsaussagen,<br />
die dazu dienen konnte, ein Gesetz oder eine Theorie zu f<strong>als</strong>ifizieren,<br />
<strong>als</strong> F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten dieses Gesetzes oder dieser Theorie<br />
bezeichnen, dann konnen wir sagen, dass die F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten von (a)<br />
eine Teilmenge der F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten von (b) sind. Gesetz (b) ist f<strong>als</strong>ifizierbarer<br />
<strong>als</strong> Gesetz (a), was gleichzeitig bedeutet, dass es das umfassendere und<br />
somit das bessere Gesetz ist.<br />
Ein weniger kunstliches Beispiel bezieht sich auf das Verhaltnis zwischen<br />
Keplers und Newtons <strong>Theorien</strong> des Sonnensystems. Als Theorie von Kepler<br />
bezeichnen wir seine drei Gesetze der Planetenbewegungen. F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten<br />
dieser Theorie bestehen aus einer Menge von Aussagen zu den Planetenpositionen<br />
in Bezug zur Sonne zu bestimmten Zeiten. Die Theorie von Newton<br />
verdrangte <strong>als</strong> eine umfassendere und damit bessere Theorie die Theorie Keplers.<br />
Sie besteht aus Newtons Bewegungsgesetzen sowie seinem Gravitationsgesetz.<br />
Letzteres macht die Aussage, dass sich zwei Korper im Universum gegenseitig mit<br />
einer Kraft anziehen, die umgekehrt proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes<br />
ist. F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten der newtonschen Theorie stellt zum Beispiel die<br />
Menge von Aussagen uber Planetenpositionen zu bestimmten Zeiten dar. Aber es<br />
gibt eine Vielzahl weiterer F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten, wie zum Beispiel F<strong>als</strong>ifikationen,<br />
die sich auf das Verhalten fallender Korper und auf Pendelbewegungen
eziehen oder auf den Zusammenhang zwischen der Flut und dem Stand der<br />
Sonne und des Mondes. Es gibt weitaus mehr Moglichkeiten, die Theorie von<br />
Newton zu f<strong>als</strong>ifizieren <strong>als</strong> die keplersche. Und trotzdem konnte sich die newtonsche<br />
Theorie den F<strong>als</strong>ifikationsversuchen widersetzen und damit ihre Uberlegenheit<br />
liber die keplersche Theorie beweisen.<br />
Hoch f<strong>als</strong>ifizierbare <strong>Theorien</strong> sollten weniger f<strong>als</strong>ifizierbaren vorgezogen<br />
werden, vorausgesetzt, sie werden nicht tatsachlich f<strong>als</strong>ifiziert. Diese Voraussetzung<br />
ist fur den F<strong>als</strong>ifikationisten entscheidend. <strong>Theorien</strong>, die f<strong>als</strong>ifiziert werden,<br />
miissen grundsatzlich zurtickgewiesen werden. Wissenschaft besteht darin, hoch<br />
f<strong>als</strong>ifizierbare Hypothesen vorzuschlagen sowie hartnackig und bewusst zu versuchen,<br />
sie zu f<strong>als</strong>ifizieren. Um Popper (2000, S. 337) zu zitieren:<br />
Ich will daher geme zugeben, dass F<strong>als</strong>ifikationisten wie ich es vorziehen<br />
zu versuchen, ein interessantes Problem durch eine ktihne<br />
Hypothese zu losen, statt einen Katalog von irrelevanten Binsenwahrheiten<br />
zusammenzustellen, auch dann, wenn der Versuch sich<br />
<strong>als</strong> schwierig erweist, oder geradezu <strong>als</strong> ein Fehlschlag. Wir Ziehen<br />
das vor, weil wir glauben, dass dies der Weg ist, um aus unseren<br />
Fehlern zu lemen; und dass wir durch die Entdeckung, dass unsere<br />
Vermutung f<strong>als</strong>ch ist, viel uber die Wahrheit gelemt haben und ihr<br />
nahergekommen sind. (Hervorhebungen i. Orig.)<br />
Wir lernen aus unseren Fehlern. Der Fortschritt der Wissenschaft ist durch Versuch<br />
und Irrtum bedingt. Da die Ableitung universeller Gesetze und <strong>Theorien</strong> aus<br />
Beobachtungsaussagen <strong>als</strong> nicht moglich nachgewiesen wurde, jedoch die Deduktion<br />
ihrer F<strong>als</strong>chheit logisch moglich ist, wurden F<strong>als</strong>ifikationen die wichtigsten<br />
Meilensteine, die aufsehenerregendsten Leistungen und entscheidendsten Momente<br />
in der Entwicklung von Wissenschaft. Die Betonung der F<strong>als</strong>ifikation vom<br />
Standpunkt des eher extremen F<strong>als</strong>ifikationismus aus, die vielleicht unserer Intuition<br />
zunachst zuwiderlauft, wird in den spateren Kapiteln kritisiert.<br />
Da Wissenschaft <strong>Theorien</strong> mit einem groBen Informationsgehalt anstrebt, begriiBen<br />
es die F<strong>als</strong>ifikationisten, dass man ktihne und spekulative Vermutungen<br />
anstellt. Es miissen unbesonnene Spekulationen angeregt werden, vorausgesetzt,<br />
dass sie f<strong>als</strong>ifizierbar sind und zurtickgewiesen werden, sobald sie f<strong>als</strong>ifiziert<br />
werden. Diese Alles-oder-Nichts-Forderung steht im Widerspruch zu dem behutsamen<br />
Vorgehen, das von dem extremen Induktivisten vertreten wird. Letzterer<br />
lasst in der Wissenschaft lediglich solche <strong>Theorien</strong> zu, die <strong>als</strong> wahr oder wahrscheinlich<br />
wahr dargestellt werden konnen. Demnach sollten wir liber gegenwartig<br />
vorliegende Resultate aus Experimenten nur so weit hinausgehen, <strong>als</strong> uns dies<br />
legitime Induktionen erlauben. Im Gegensatz dazu erkennt der F<strong>als</strong>ifikationist die<br />
Begrenztheit der Induktion und die Theorieabhangigkeit von Beobachtung an. Die<br />
Geheimnisse der Natur konnen nur mithilfe von differenzierten und kreativen<br />
<strong>Theorien</strong> aufgedeckt werden. Je groBer die Zahl der vorgeschlagenen <strong>Theorien</strong> ist,<br />
die mit der Realitat der Welt konfrontiert werden und je spekulativer solche Vermutungen<br />
sind, umso groBer sind die Chancen flir entscheidende Fortschritte in<br />
der Wissenschaft. Es besteht keine Gefahr eines Zuviels an spekulativen <strong>Theorien</strong>,<br />
57
58<br />
sofem jede Theorie, die sich in der Folge von Beobachtung oder anderer LFberpriifung<br />
zur Beschreibung der Welt <strong>als</strong> inadaquat herausstellt, rigoros eliminiert wird.<br />
Die Forderung, dass <strong>Theorien</strong> hoch f<strong>als</strong>ifizierbar sein sollten, hat die positive<br />
Konsequenz, dass <strong>Theorien</strong> eindeutig und exakt aufgestellt werden mtissen. Wenn<br />
eine Theorie derart vage formuliert ist, dass es nicht absolut eindeutig ist, was<br />
ausgesagt wird, dann kann sie jeweils so interpretiert werden, <strong>als</strong> ob sie mit den<br />
Ergebnissen aus Beobachtungen und Experimenten iibereinstimmen wtirden. Auf<br />
diese Art und Weise konnte sie gegen F<strong>als</strong>ifikation verteidigt werden. Goethe<br />
(1979, S. 268f.; Originalausgabe 1810) schrieb zum Beispiel tiber die Elektrizitat:<br />
Es ist ... ein Nichts, ein Null, ein Nullpunkt, ein GleichgUltigkeitspunkt,<br />
der aber in alien erscheinenden Wesen liegt und zugleich<br />
der Quellpunkt ist, aus dem bei dem geringsten Anlass eine Doppelerscheinung<br />
hervortritt, welche nur insofem erscheint, <strong>als</strong> sie wieder<br />
verschwindet. Die Bedingungen, unter welchen jenes Hervortreten<br />
erregt wird, sind nach Beschaffenheit der besonderen Korper unendlich<br />
verschieden.<br />
Wenn wir dieses Zitat flir bare Mtinze nehmen, ist es sehr schwierig zu erkennen,<br />
welcher experimentell-physikalische Versuchsaufbau dazu dienen konnte, diese<br />
Aussage zu f<strong>als</strong>ifizieren. Gerade weil sie so vage und ungenau ist (zumindest<br />
derartig aus dem Kontext gerissen), ist sie nicht f<strong>als</strong>ifizierbar. Dadurch, dass Politiker<br />
und Wahrsager ihre Aussagen derart vage formulieren, sodass sie zutreffen,<br />
was auch immer eintreten mag, kann man ihnen kaum den Vorwurf der F<strong>als</strong>chaussage<br />
machen. Die Forderung nach einem hohen Grad an F<strong>als</strong>ifizierbarkeit schlie6t<br />
solche Kunstgriffe aus. Der F<strong>als</strong>ifikationist fordert, dass <strong>Theorien</strong> mit ausreichender<br />
Eindeutigkeit formuliert werden, um sich damit auf das Risiko der F<strong>als</strong>ifikation<br />
einzulassen.<br />
Eine ahnliche Situation besteht beziiglich der Prazision einer Theorie. Je genauer<br />
eine Theorie formuliert ist, umso f<strong>als</strong>ifizierbarer wird sie. Wenn wir anerkennen,<br />
dass eine Theorie umso besser ist, je f<strong>als</strong>ifizierbarer sie ist (vorausgesetzt,<br />
sie ist nicht f<strong>als</strong>ifiziert worden), dann milssen wir auch anerkennen, dass sie auch<br />
umso besser ist, je genauer ihre Aussagen sind. Die Aussage „Planeten wandem in<br />
elliptischen Bahnen um die Sonne" ist genauer <strong>als</strong> „Planeten wandem in geschlossenen<br />
Bahnen um die Sonne" und damit f<strong>als</strong>ifizierbarer. Eine ovale Kreisbahn<br />
wurde die erste Aussage f<strong>als</strong>ifizieren, nicht aber die zweite, wohingegen irgendeine<br />
Umlaufbahn, die die zweite Aussage f<strong>als</strong>ifiziert, ebenso die erste f<strong>als</strong>ifizieren<br />
wtirde. Der F<strong>als</strong>ifikationist muss der ersten Aussage den Vorzug geben. Ebenso<br />
muss er die Aussage, dass die Lichtgeschwindigkeit in einem Vakuum 299,8 x 10^<br />
m/sec betragt, der weniger genauen Aussage, dass sie ungefahr 300 x lO^m/sec<br />
betragt, vorziehen, allein, weil die erste Aussage f<strong>als</strong>ifizierbarer ist.<br />
Die eng miteinander verbundenen Forderungen nach Prazision und Eindeutigkeit<br />
einer Aussage ergeben sich beide problemlos aus der f<strong>als</strong>ifikationistischen<br />
Sichtweise von Wissenschaft.
5.5 F<strong>als</strong>ifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt<br />
Der Fortschritt der Wissenschaft, wie ihn der F<strong>als</strong>ifikationist sieht, kann folgendermaBen<br />
zusammengefasst werden: Wissenschaft geht von Problemen aus, und<br />
zwar von Problemen, die mit der Erklarung bestimmter Aspekte der Welt oder des<br />
Universums zu tun haben. F<strong>als</strong>ifizierbare Hypothesen werden von Wissenschaftlern<br />
<strong>als</strong> Losungen fiir diese Probleme vorgeschlagen. Die Hypothesen werden<br />
dann kritisch betrachtet und uberpriift. Einige Hypothesen werden recht schnell<br />
verworfen, andere hingegen mogen sich <strong>als</strong> erfolgreicher erweisen. Diese mussen<br />
zum Gegenstand noch strengerer Kritik und Oberprufung werden. Wenn eine<br />
Hypothese, die erfolgreich einer Vielfalt rigoroser LFberprtifungen standgehalten<br />
hat, schlieBlich f<strong>als</strong>ifiziert wird, ist ein neues Problem aufgetaucht, das hoffentlich<br />
bereits ein Stuck weiter vom gelosten Ausgangsproblem entfemt ist. Dieses neue<br />
Problem erfordert, dass neue Hypothesen aufgestellt werden, gefolgt von emeuter<br />
kritischer Uberprtifung. In dieser Weise setzt sich der Prozess unbegrenzt fort.<br />
Man kann niem<strong>als</strong> von einer Theorie behaupten, dass sie wahr ist, wie gut sie auch<br />
rigoroser tJberprtifung standgehalten hat; aber es kann hoffentlich gesagt werden,<br />
dass eine gegenwartige Theorie der vorangegangenen in dem Sinne uberlegen ist,<br />
dass sie den LFberprtifungen standhalten kann, durch die die vorherigen f<strong>als</strong>ifiziert<br />
wurden.<br />
Bevor wir auf einige Beispiele eingehen, die die f<strong>als</strong>ifikationistische Vorstellung<br />
vom Fortschritt der Wissenschaft veranschaulichen, soil zunachst auf den<br />
Anspruch eingegangen werden, dass Wissenschaft mit Problemen einsetzt. Einige<br />
Fragen, mit denen sich Wissenschaftler in der Vergangenheit auseinandergesetzt<br />
haben, lauten zum Beispiel: Wieso sind Fledermause in der Lage, nachts so ungemein<br />
geschickt zu fliegen, obwohl sie nur sehr kleine und schwache Augen haben?<br />
Warum zeigt ein einfaches Barometer bei groBer Hohe liber dem Meeresspiegel<br />
einen niedrigeren Wert <strong>als</strong> bei geringer Hohe? Warum haben sich die<br />
Photoplatten im Labor von Rontgen immer wieder geschwarzt? Warum verschiebt<br />
sich das Perihel des Merkurs zunehmend? Diese Probleme gehen alle mehr oder<br />
weniger aus direkter Beobachtung hervor. Betrachtet man diese Tatsache, dann<br />
konnte man sich fragen, ob nicht auch fiir den F<strong>als</strong>ifikationisten ebenso wie fur<br />
den naiven Induktivisten Wissenschaft mit Beobachtung beginnt? Die Antwort auf<br />
diese Frage muss definitiv vemeint werden. Die oben zitierten Beobachtungen,<br />
aus denen sich die Probleme ableiten, sind lediglich problematisch im Licht ganz<br />
bestimmter <strong>Theorien</strong>. Die erste Beobachtung ist problematisch unter dem Aspekt<br />
der Theorie, dass lebende Organismen mit ihren Augen „sehen"; die zweite war<br />
fur diejenigen problematisch, die Galileis Theorie beftirworteten, weil dies im<br />
Widerspruch zu der Theorie stand, die von der „Kraft des Vakuums" ausging und<br />
die von ihnen <strong>als</strong> Erklarung dafur herangezogen wurde, warum die Quecksilbersaule<br />
eines Barometers nicht fallt; die dritte Beobachtung war problematisch ftir<br />
Rontgen, weil zu der damaligen Zeit ganz selbstverstandlich angenommen wurde,<br />
dass keine Strahlung oder Ausdunstung irgendeiner Art existierte, die den Behalter<br />
mit den Photoplatten durchdringen und diese schwarzen konnte; die vierte<br />
Beobachtung war insofern problematisch, weil sie mit Newtons Theorie unvereinbar<br />
war. Der Anspruch, dass Wissenschaft von Problemen ausgeht, steht voll-<br />
59
60<br />
kommen in Einklang mit dem Primat der Theorie uber Beobachtung und Beobachtungsaussagen.<br />
Wissenschaft beginnt nicht mit reiner Beobachtung.<br />
Nach diesem Exkurs wollen wir zur f<strong>als</strong>ifikationistischen Vorstellung vom<br />
Fortschritt der Wissenschaft kommen. Er wird beschrieben <strong>als</strong> das Fortschreiten<br />
vom Problem zu spekulativen Hypothesen, zu ihrer kritischen Uberprtifiing, ihrer<br />
moglichen F<strong>als</strong>ifikation und von da aus zu neuen Problemen. Zwei Beispiele sollen<br />
diesen Prozess zeigen. Das erste, ein sehr einfaches, bezieht sich auf das Problem<br />
des Nachtfluges von Fledermausen, das zweite, ein etwas komplexeres,<br />
beschreibt den Fortschritt in der Physik.<br />
Wir beginnen mit dem Problem der Fledermause. Fledermause sind in der<br />
Lage, muhelos und mit hoher Geschwindigkeit zwischen den Asten von Baumen,<br />
Telegraphenleitungen etc. und aneinander vorbeizufliegen und dabei Insekten zu<br />
fangen, und dies, obgleich sie schwache Augen haben und zudem noch meistens<br />
nachts fliegen. Dies wirft ein Problem auf, well dies allem Anschein nach auch die<br />
plausible Theorie f<strong>als</strong>ifiziert, dass Tiere, wie der Mensch auch, mit ihren Augen<br />
sehen. Als F<strong>als</strong>ifikationist wird man nun versuchen, das Problem so zu losen, dass<br />
man eine Vermutung oder Hypothese aufstellt. Vielleicht sind Fledermause, obwohl<br />
sie anscheinend schwache Augen haben, trotzdem auf irgendeine Art und<br />
Weise, die wir noch nicht verstehen, in der Lage, nachts durchaus wirksam mit<br />
ihren Augen zu sehen. Diese Hypothese kann Uberpriift werden. Eine Anzahl von<br />
Fledermausen wird in einem abgedunkelten Raum, in dem Hindemisse angebracht<br />
sind, fi*eigelassen und es wird ihre Fahigkeit, den Hindemissen auszuweichen, auf<br />
irgendeine Art und Weise gemessen. Denselben Fledermausen werden dann die<br />
Augen verbunden, und sie werden emeut im Testraum fi-eigelassen. Vor dem<br />
Experiment kann der Experimentator den folgenden Schluss ziehen, wobei eine<br />
der Voraussetzungen zur Deduktion seiner Hypothese konkret wie folgt lautet:<br />
„Fledermause sind in der Lage, beim Fliegen Hindernissen auszuweichen, wobei<br />
sie auf ihre Augen angewiesen sind, und sie konnen dies nicht, ohne ihre Augen<br />
zu benutzen". Die zweite Voraussetzung ist eine Beschreibung der experimentellen<br />
Situation, einschlieBlich der Aussage „Dieser Stichprobe von Fledermausen<br />
wurden die Augen verbunden, sodass sie ihre Augen nicht benutzen konnen". Aus<br />
diesen beiden Voraussetzungen kann der Experimentator deduktiv ableiten, dass<br />
die Stichprobe von Fledermausen nicht in der Lage sein wird, die Hindernisse in<br />
dem Testlabor wirksam zu umfliegen. Das Experiment wird nun durchgefiihrt und<br />
es wird herausgeftmden, dass die Fledermause ZusammenstoBe ebenso wirksam<br />
vermeiden konnen wie zuvor. Die Hypothese wird f<strong>als</strong>ifiziert. Es muss nun emeut<br />
eine Vermutung bzw. eine Hypothese aufgestellt werden. Vielleicht schlagt ein<br />
Wissenschaftler vor, dass in irgendeiner Weise die Ohren der Fledermause an der<br />
Fahigkeit beteiligt sind, Hindemisse zu umfliegen. Als Versuch, diese Hypothese<br />
zu f<strong>als</strong>ifizieren, kann das Experiment dienen, den Fledermausen, bevor sie in dem<br />
abgedunkelten Testraum fi*eigelassen werden, die Ohren zu verstopfen. Diesmal<br />
stellt sich heraus, dass die Fahigkeit der Fledermause, den Hindernissen auszuweichen,<br />
bedeutsam beeintrachtigt ist. Die Hypothese wurde bestatigt. Der F<strong>als</strong>ifikationist<br />
muss nun versuchen, seine Hypothese praziser zu fassen, sodass sie zunehmend<br />
f<strong>als</strong>ifizierbarer wird. Es wird vorgeschlagen, dass die Fledermaus das<br />
Echo ihrer eigenen Laute horen konnte, das von festen Objekten widerhallt. Dies
wird tiberpruft, indem den Fledermausen die Fahigkeit genommen wird, Laute von<br />
sich zu geben, ehe sie im Testraum freigelassen werden. Emeut prallen die Fledermause<br />
gegen Hindemisse, und emeut ist damit die Hypothese bestatigt. Der<br />
F<strong>als</strong>ifikationist scheint damit eine vorlaufige Losung fiir sein Problem gefunden<br />
zu haben, obgleich er nicht fur sich beanspruchen kann, tatsachlich experimentell<br />
bewiesen zu haben, wie Fledermause beim Fliegen ZusammenstoBe vermeiden. Es<br />
konnten sich eine ganze Reihe von Faktoren herausstellen, die belegen, dass er<br />
sich geirrt hat. Vielleicht nehmen Fledermause Echos nicht mit ihren Ohren wahr,<br />
sondern mit sensitiven Regionen nahe den Ohren, deren Funktion durch das Zustopfen<br />
der Ohren ausgeschaltet wurde. Oder vielleicht nehmen unterschiedliche<br />
Arten von Fledermausen Hindemisse in ganz unterschiedlicher Weise wahr, sodass<br />
die im Experiment verwendeten Fledermause nicht wirklich reprasentativ<br />
waren.<br />
Der Fortschritt der Physik von Aristoteles uber Newton bis Einstein liefert<br />
ein prominenteres Beispiel. Die f<strong>als</strong>ifikationistische Beschreibung dieses Fortschritts<br />
sieht etwa folgendermaBen aus. Die aristotelische Physik war in gewissem<br />
Umfang recht erfolgreich. Sie konnte eine Vielfalt von Phanomenen erklaren, so<br />
zum Beispiel, warum schwere Gegenstande auf den Boden fallen (sie suchen ihren<br />
naturlichen Platz im Zentrum des Universums), sie konnte den Mechanismus von<br />
Saugglocken und Vakuumpumpen erklaren (die Erklarung beruhte auf der Unmoglichkeit<br />
des Vakuums) und so weiter. Aber letztendlich wurde die aristotelische<br />
Physik auf vielerlei Weise f<strong>als</strong>ifiziert. Steine fielen von der Mastspitze eines<br />
sich gleichmaBig bewegenden Schiffes auf das Deck am FuB des Mastes und nicht<br />
in einiger Entfernung des Mastes, wie dies die Theorie von Aristoteles vorhersagte.<br />
Es konnte beobachtet werden, dass die Jupitermonde den Jupiter umkreisten<br />
und nicht die Erde. Eine groBe Anzahl weiterer F<strong>als</strong>ifikationen sammelten sich im<br />
Laufe des 17. Jahrhunderts an. Die newtonsche Physik war jedoch, sobald sie<br />
einmal von Galilei und Newton in einem Prozess von Vermutungen entworfen<br />
und entwickelt war, der aristotelischen Theorie iiberlegen und ersetzte diese.<br />
Newtons Theorie konnte eine Erklamng fur fallende Gegenstande geben, fiir die<br />
Funktionsweise von Saugglocken und Vakuumpumpen und alles andere, das die<br />
aristotelische Theorie erklaren konnte und wurde dartiber hinaus Phanomenen<br />
gerecht, die fur die aristotelische Theorie problematisch waren. Zusatzlich konnte<br />
Newtons Theorie Phanomene erklaren, die durch die aristotelische Theorie nicht<br />
bertihrt wurden, wie etwa die Beziehung zwischen den Gezeiten und dem Stand<br />
des Mondes, oder die Variation der Schwerkraft in Abhangigkeit von der Hohe<br />
tiber dem Meeresspiegel. Uber zwei Jahrhunderte lang war Newtons Theorie erfolgreich.<br />
Das heiBt, Versuche, sie in Bezug auf ein neues Phanomen, das mit<br />
ihrer Hilfe vorhergesagt wiirde, zu f<strong>als</strong>ifizieren, blieben ohne Erfolg. Die Theorie<br />
fuhrte sogar zu der Entdeckung eines neuen Planeten, des Planeten Neptun. Aber<br />
ungeachtet ihres Erfolges haben anhaltende F<strong>als</strong>ifiziemngsversuche sich schlieBlich<br />
<strong>als</strong> erfolgreich herausgestellt. Newtons Theorie wurde auf unterschiedlichen<br />
Wegen f<strong>als</strong>ifiziert. Sie war ebenso wenig in der Lage, Details der Kreisbahn des<br />
Planeten Merkur zu erklaren, wie die veranderliche Masse von sich schnell bewegenden<br />
Elektronen in einer Entladungsrohre. Physiker sahen sich herausfordernden<br />
Problemen gegeniiber, und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert for-<br />
61
62<br />
derten diese Probleme neue spekulative Hypothesen, die zur Cberwindung dieser<br />
Probleme entwickelt wurden. Einstein wurde dieser Herausforderung gerecht.<br />
Seine Relativitatstheorie war in der Lage, die Phanomene zu erklaren, die Newtons<br />
Theorie f<strong>als</strong>ifizierten, wahrend sie es gleichzeitig mit Newtons Theorie in den<br />
Bereichen aufiiehmen konnte, in denen diese erfolgreich uberpriift worden war.<br />
Dartiber hinaus brachte Einsteins Theorie die Vorhersage spektakularer Phanomene<br />
hervor. Seine Spezielle Relativitatstheorie sagt vorher, dass die Masse eine<br />
Funktion der Geschwindigkeit sei und dass Masse in Energie transformierbar ist<br />
und umgekehrt. Seine Allgemeine Relativitatstheorie sagt vorher, dass Lichtstrahlen<br />
in starken Gravitationsfeldem gebeugt werden. Versuche, Einsteins Theorie<br />
im Hinblick auf diese neuen Phanomene zu widerlegen, misslangen. Die F<strong>als</strong>ifikation<br />
der einsteinschen Theorie bleibt eine Herausforderung fur die modeme<br />
Physik. Der Erfolg, falls er eintreten sollte, wurde einen neuen Schritt nach vorn<br />
im Fortschritt der Physik bedeuten.<br />
Dies stellt eine typische f<strong>als</strong>ifikationistische Sichtweise vom Fortschritt der<br />
Physik dar. In spateren Kapiteln werden wir zeigen, dass ihre Richtigkeit und<br />
GUltigkeit in Zweifel gezogen werden muss. Aus dem vorangegangenen Abschnitt<br />
wird deutlich, dass das Konzept vom Fortschritt und der Entwicklung von Wissenschaft<br />
ein Konzept ist, das in der f<strong>als</strong>ifikationistischen Vorstellung von Wissenschaft<br />
eine zentrale Rolle spielt. Dieser Frage wird im Einzelnen im folgenden<br />
Kapitel nachgegangen.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Der klassische Text zum F<strong>als</strong>ifikationismus ist Poppers „Logik der Forschung"<br />
(10. Aufl. 1994). Er erschien 1934 auf Deutsch und erst 1959 wurde eine englischsprachige<br />
Obersetztung vorgelegt. Daruber hinaus liegen mit „Vermutungen<br />
und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis" (2000,<br />
engl. Originalausgabe 1963) und „Objektive Erkenntnis. Ein evolutionarer Entwurf<br />
(1984, engl. Originalausgabe 1973) neuere Textsammlungen von Popper<br />
vor. Im ersten Kapitel von „Vermutungen und Widerlegungen" berichtet Popper,<br />
wie er auf dem Weg eines Vergleichs von Freud, Adler und Marx mit Einstein<br />
seine eigenen zentralen Ideen entwickelte. Weitere Quellen zum F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
werden am Ende des nachsten Kapitels angegeben.
Der raffinierte F<strong>als</strong>ifikationismus,<br />
neuartige Vorhersagen und der<br />
Fortschritt der Wissenschaft<br />
6.1 Relativer und absoluter F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsgrad<br />
In dem vorangegangenen Kapitel kamen bestimmte Bedingungen zur Sprache, die<br />
eine Hypothese erfullen muss, damit sie wert ist, von einem Wissenschaftler untersucht<br />
zu werden. Eine Hypothese sollte f<strong>als</strong>ifizierbar sein - je f<strong>als</strong>ifizierbarer,<br />
desto besser - und dennoch nicht bereits f<strong>als</strong>ifiziert worden sein. Raffinierte F<strong>als</strong>ifikationisten<br />
sind sich dariiber im Klaren, dass diese Bedingungen allein nicht<br />
ausreichend sind. Eine weitere Bedingung bezieht sich auf den Anspruch, dass<br />
sich die Wissenschaft weiterentwickeln sollte. Eine Hypothese, die vorgesehen ist,<br />
eine andere zu ersetzen, sollte daher f<strong>als</strong>ifizierbarer sein <strong>als</strong> jene, die sie ersetzen<br />
soil.<br />
Der raffinierte F<strong>als</strong>ifikationismus^, der auf den Fortschritt der Wissenschaft<br />
abhebt, betont weit mehr die relativen Verdienste konkurrierender <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> die<br />
Verdienste einzelner <strong>Theorien</strong>. Diese Sichtweise vermittelt im Gegensatz zu der<br />
eher statischen Darstellung der meisten naiven F<strong>als</strong>ifikationisten ein eher dynamisches<br />
Bild der Wissenschaft. Statt zu firagen „Ist diese Theorie f<strong>als</strong>ifizierbar?",<br />
„Wie f<strong>als</strong>ifizierbar ist diese Theorie?" und „Ist diese Theorie f<strong>als</strong>ifiziert worden?",<br />
wird nunmehr die Frage gestellt „Ist diese neu vorgeschlagene Theorie ein tragfahiger<br />
Ersatz flir die Theorie, mit der sie konkurriert?". Im Allgemeinen wird<br />
man darin Ubereinstimmen, dass auf den Vorschlag einer neuen Theorie erst dann<br />
eingegangen werden sollte, wenn sie f<strong>als</strong>ifizierbarer <strong>als</strong> ihre rivalisierende Theorie<br />
ist, und insbesondere, wenn sie ein neues Phanomen vorhersagt, das von der<br />
konkurrierenden Theorie nicht beriihrt wurde.<br />
Der Akzent, der auf den Vergleich des F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsgrades von aufeinander<br />
folgenden <strong>Theorien</strong> gelegt wird und der sich aus der Betonung von Wissenschaft<br />
<strong>als</strong> einer Menge standig wachsender Erkenntnis ergibt, ermoglicht es, ein<br />
formales Problem zu vermeiden. Denn es ist tatsachlich sehr schwierig, genaue<br />
Angaben dariiber zu machen, wie f<strong>als</strong>ifizierbar nun gerade eine bestimmte Theorie<br />
ist. Ein absolutes F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsmaB lasst sich nicht defmieren, einfach deswe-<br />
engl. „sophisticated f<strong>als</strong>ificationism" (Anm. d. Hrsg.)
64<br />
gen, well die Anzahl der F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeiten einer Theorie stets unendlich<br />
ist. Es fallt einem schwer, sich vorzustellen, wie die Frage „Wie f<strong>als</strong>ifizierbar ist<br />
das Gravitationsgesetz von Newton?" beantwortet werden konnte. Auf der anderen<br />
Seite ist es haufig moglich, den F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsgrad von Gesetzen oder <strong>Theorien</strong><br />
miteinander zu vergleichen. So ist zum Beispiel die Aussage „Alle Korper<br />
Ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt proportional zu dem<br />
Quadrat ihres Abstandes verhalt" f<strong>als</strong>ifizierbarer <strong>als</strong> die Aussage „Die Planeten<br />
des Sonnensystems ziehen sich gegenseitig mit einer Kraft an, die sich umgekehrt<br />
proportional zu dem Quadrat ihres Abstandes verhalt". Die zweite Aussage folgt<br />
aus der ersten. Alles, was die zweite Aussage f<strong>als</strong>ifiziert, f<strong>als</strong>ifiziert auch die erste<br />
Aussage, der umgekehrte Fall trifft jedoch nicht zu. Fur den F<strong>als</strong>ifikationisten<br />
ware es eine Idealvorstellung, wenn er behaupten konnte, dass die aufeinander<br />
folgenden <strong>Theorien</strong>, die gemeinsam die geschichtliche Entwicklung einer Wissenschaft<br />
bilden, aus f<strong>als</strong>ifizierbaren <strong>Theorien</strong> bestehen, wobei jede Theorie aus dieser<br />
Reihe f<strong>als</strong>ifizierbarer ist <strong>als</strong> ihre Vorgangerin.<br />
6.2 Die Erhohung der F<strong>als</strong>ifizierbarkeit und Ad-hoc-Modifikationen<br />
Die Forderung, dass in dem MaBe, in dem sich eine Wissenschaft weiterentwickelt,<br />
auch ihre <strong>Theorien</strong> stets f<strong>als</strong>ifizierbarer werden, folglich immer mehr Informationsgehalt<br />
besitzen und zunehmend umfassender werden, schlieBt Modifikationen<br />
der <strong>Theorien</strong> aus, die lediglich dazu dienen, die Theorie gegen eine bedrohliche<br />
F<strong>als</strong>ifikation zu schiitzen. Die Modifikation einer Theorie, wie das Hinzufagen<br />
einer zusatzlichen Annahme oder eine Veranderung irgendeiner bestehenden Annahme,<br />
die keine weiteren iiberpriifbaren Konsequenzen hat <strong>als</strong> die nicht modifizierte<br />
Theorie, werden Ad-hoc-Modifikationen genannt. Im Weiteren werden in<br />
diesem Abschnitt Beispiele angefuhrt, die den Begriff der Ad-hoc-Modifikation<br />
erlautem sollen. Wir betrachten zunachst bestimmte Ad-hoc-Modifikationen, die<br />
der F<strong>als</strong>ifikationist verwerfen wiirde, und anschlieBend werden wir diesen Beispielen<br />
Modifikationen gegentiberstellen, die keine Ad-hoc-Modifikationen darstellen<br />
und die der F<strong>als</strong>ifikationist folglich begrtiBen wtirde.<br />
Wir beginnen mit einem recht trivialen Beispiel. Betrachten wir einmal die<br />
Verallgemeinerung „Brot ist nahrhaft". Wenn wir diese simple Theorie naher<br />
betrachten, kommen wir zu dem Schluss, dass auf tibliche Weise angebauter Weizen,<br />
der auf tibliche Weise zu Brot verarbeitet und auf tibliche Weise verzehrt<br />
wird, flir Menschen nahrhaft ist. Diese anscheinend harmlose Theorie wurde problematisch,<br />
<strong>als</strong> in einem franzosischen Dorf Weizen, der auf die tibliche Weise<br />
angebaut und auf tibliche Weise zu Brot verarbeitet wurde, die Ursache daflir war,<br />
dass die meisten Menschen, die von dem Brot gegessen hatten, ernstlich erkrankten<br />
und viele sogar starben. Die Theorie „Brot ist nahrhaft" wurde f<strong>als</strong>ifiziert. Um<br />
diese F<strong>als</strong>ifikation zu vermeiden, kann die Theorie modifiziert werden, indem die<br />
Lesart dahingehend geandert wird, dass man sagt: „Brot, mit Ausnahme dieser<br />
bestimmten Menge Brot, die in dem besagten fi-anzosischen Dorf produziert<br />
wurde, ist nahrhaft." Dies ist eine Ad-hoc-Modifikation. Man kann die modifizierte<br />
Theorie nicht auf eine andere Art und Weise uberprufen <strong>als</strong> die ursprlingli-
che Theorie. Wenn ein Mensch ein Brot verzehrt, dann ist dies eine Uberpriifung<br />
der ursprunglichen Theorie, wohingegen Uberprtifungen der modifizierten Theorie<br />
auf den Verzehr eines Brotes beschrankt bleiben, das nicht zu der Menge des<br />
Brotes gehort, das in Frankreich zu derart verhangnisvollen Auswirkungen gefuhrt<br />
hatte. Die modifizierte Hypothese ist weniger f<strong>als</strong>ifizierbar <strong>als</strong> die urspriingliche<br />
Hypothese. Der F<strong>als</strong>ifikationist lehnt deshalb derartige nachtragliche Modifikationen<br />
ab.<br />
Das nachste Beispiel ist weniger tragisch, aber dafiir unterhaltsamer. Es ist<br />
ein Beispiel, welches sich auf einen tatsachlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts<br />
ereigneten Disput zwischen Galilei und einem seiner Gegner, einem Anhanger<br />
von Aristoteles, bezieht. Nachdem Galilei den Mond sorgfaltig mithilfe seines<br />
gerade neu entwickelten Fernrohres beobachtet hatte, konnte er berichten, dass der<br />
Mond keineswegs eine glatte Kugel sei, sondern dass die Mondoberflache reich an<br />
Bergen und Kratem ist. Sein Gegner aus dem aristotelischen Lager musste zugeben,<br />
dass es sich in der Tat so verhalte, <strong>als</strong> er selbst die Beobachtungen wiederholte.<br />
Die Beobachtungen bedrohten jedoch eine Vorstellung, die fur viele<br />
Anhanger von Aristoteles grundlegend war, namlich dass alle Himmelskorper<br />
vollkommene Kugeln seien. Galileis Rivale verteidigte seine Theorie, die offensichtlich<br />
der Gefahr ausgesetzt war, f<strong>als</strong>ifiziert zu werden, auf eine Art, die in<br />
bedenklicher Weise der Definition von Ad-hoc-Modifikationen nahe kommt. Er<br />
behauptete, dass es auf dem Mond eine unsichtbare Substanz gebe, die die Krater<br />
fiillen und die Berge bedecken wtirde, sodass der Mond doch vollkommen kugelformig<br />
sei. Als Galilei wissen wollte, wie das Vorhandensein dieser unsichtbaren<br />
Substanz festgestellt werden konne, antwortete sein Gegner, dass es nun mal keine<br />
Moglichkeit gebe, sie nachzuweisen. Es besteht wohl nicht der geringste Zweifel<br />
dartiber, dass die modifizierte Theorie zu keinen neuen tiberprufbaren Konsequenzen<br />
flihrte und so fiir einen F<strong>als</strong>ifikationisten vollig unannehmbar sein musste. Es<br />
gelang dem gereizten Galilei, diese Unzulanglichkeit seines Gegners auf seine<br />
bekanntermaBen geistreiche Art aufzudecken. Er ktindigte an, dass er bereit sei,<br />
zuzugeben, dass es auf dem Mond eine unsichtbare Substanz gebe, die nicht nachgewiesen<br />
werden konne, aber er bestehe darauf, dass sie sich nicht auf die Art und<br />
Weise verteile, wie dies sein Gegner behauptete, sondern dass sie sich in Wirklichkeit<br />
auf den Bergspitzen anhaufen wtirde, sodass diese in Wirklichkeit um<br />
noch vieles hoher seien <strong>als</strong> sie durch das Fernrohr zu sein schienen. Galilei gelang<br />
es, seinen Gegner in dem fruchtlosen Spiel des Erfindens von Ad-hoc-Modifikationen<br />
zu iiberlisten.<br />
Es soil noch ein weiteres Beispiel einer Hypothese aus der Geschichte der<br />
Wissenschaft angefuhrt werden, die moglicherweise auch ad hoc entstanden ist.<br />
Vor Lavoisier war die Phlogistontheorie die anerkannte Theorie der Verbrennung.<br />
Nach dieser Theorie schieden Stoffe, wenn sie verbrannten. Phlogiston aus. Diese<br />
Theorie wurde durch die Entdeckung gefahrdet, dass viele Stoffe nach der Verbrennung<br />
an Gewicht zunehmen. Eine Moglichkeit, die auf der Hand lag, war,<br />
sich vorzustellen, dass Phlogiston ein negatives Gewicht hat. Wenn diese Hypothese<br />
ausschlieBlich dadurch uberpriift werden konnte, indem Stoffe vor und nach<br />
der Verbrennung gewogen werden, dann ware sie ad hoc. Sie wtirde zu keinen<br />
neuen Uberprtifungen flihren.<br />
65
66<br />
Modifikationen einer Theorie, die den Versuch darstellen, eine Schwierigkeit<br />
zu uberwinden, mtissen nicht notwendigerweise ad hoc sein. Es folgen nun einige<br />
Beispiele von Modifikationen, die nicht ad hoc und die deswegen auch fiir den<br />
F<strong>als</strong>ifikationisten annehmbar sind.<br />
Kehren wir zu der F<strong>als</strong>ifikation der Behauptung „Bi'ot ist nahrhaft" zuruck,<br />
um zu sehen, wie diese Behauptung auf eine annehmbare Art und Weise modifiziert<br />
werden kann. Sie wiirde annehmbar sein, wenn anstelle der ursprtingUch<br />
f<strong>als</strong>ifizierten Theorie die Behauptung „Brot ist nahrhaft bis auf Brote, die aus<br />
einem Weizen gemacht sind, der von einer bestimmten Sorte Schimmelpilz verdorben<br />
wurde" treten wiirde (gefolgt von einer naheren Beschreibung einiger<br />
Eigenschaften des Schimmelpilzes). Diese modifizierte Theorie ist nicht ad hoc,<br />
weil sie zu neuen Uberprtifungen fiihrt. Sie kann unabhdngig gepriift werden, um<br />
einen Ausdruck von Popper zu verwenden (vgl. Popper, 1974, S. 213-229, insbes.<br />
S. 215). Mogliche Uberprtifungen wurden eine Untersuchung des mit Schimmel<br />
befallenen Weizens umfassen, aus dem das vergiftete Brot gebacken wurde. Auch<br />
konnte der Schimmel auf eigens prapariertem Weizen geztichtet werden, um zu<br />
untersuchen, wie hoch der Nahrwert des Brotes ist, das daraus gebacken wurde.<br />
Der Schimmel konnte chemisch analysiert werden, um das Vorhandensein von<br />
bekannten Giften festzustellen usw. Alle diese Uberprufungen, von denen viele<br />
keine LFberprufung der urspriinglichen Hypothese darstellen, konnten auf die F<strong>als</strong>ifikation<br />
der modifizierten Hypothese hinauslaufen. Wenn die modifizierte, f<strong>als</strong>ifizierbarere<br />
Hypothese durch neue Uberprufungen nicht f<strong>als</strong>ifiziert wird, dann<br />
haben wir etwas Neues gelernt und konnen einen Fortschritt verzeichnen.<br />
Wenn wir uns wieder einem weniger konstruierten Beispiel aus der Geschichte<br />
der Wissenschaft zuwenden, dann konnen wir die Reihe von Ereignissen<br />
betrachten, die zu der Entdeckung des Planeten Neptun flihrte. Beobachtungen der<br />
Bewegung vom Uranus im 19. Jahrhundert wiesen darauf hin, dass seine Umlaufbahn<br />
betrachtlich von der abwich, die man aufgrund der Gravitationstheorie von<br />
Newton vorhergesagt hatte. Die Theorie wurde damit vor ein Problem gestellt. Bei<br />
dem Versuch, dieses Problem zu losen, vermuteten Leverrier in Frankreich und<br />
Adams in England, dass es in der Nahe vom Uranus einen Planeten geben mtisse,<br />
den man bis dahin nicht entdeckt hatte. Die Anziehungskraft zwischen dem vermuteten<br />
Planeten und dem Uranus wurde <strong>als</strong> Erklarung fiir die Abweichung von<br />
der anfanglich vorhergesagten Umlaufbahn herangezogen. Wie sich schlieBlich<br />
zeigte, war diese Vermutung nicht ad hoc. Es war moglich, die ungefahre Nahe<br />
des mutmaBlichen Planeten abzuschatzen, vorausgesetzt, er hatte eine ausreichende<br />
GroBe und war tatsachlich verantwortlich fiir die Storung der Umlaufbahn<br />
des Uranus. Als dies feststand, war es moglich, die neue Vermutung zu tiberpriifen,<br />
indem das betreffende Himmelsgebiet mithilfe eines Femrohres abgesucht<br />
wurde. Auf diese Art und Weise bekam Galle zum ersten Mai den Planeten zu<br />
Gesicht, den man heute <strong>als</strong> Neptun kennt. Was man tat, um die Theorie von<br />
Newton gegen die F<strong>als</strong>ifikation zu schtitzen, war alles andere <strong>als</strong> ad hoc; es fuhrte<br />
ganz im Gegenteil zu einer neuartigen Uberpriifung dieser Theorie, die sie auf<br />
eine dramatische Weise bestand und die einen Fortschritt bedeutete.
6.3 Bewahrung im F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
Als der F<strong>als</strong>ifikationismus im vorangegangenen Kapitel <strong>als</strong> eine Alternative zum<br />
Induktivismus eingeflihrt wurde, maBen wir der F<strong>als</strong>ifikation, d.h. der Tatsache,<br />
dass <strong>Theorien</strong> den Uberprtifungen durch Beobachtungen und Experimente nicht<br />
standhalten, eine wesentliche Bedeutung bei. Es wurde behauptet, dass die logische<br />
Sachlage zwar die Feststellung erlaubt, dass eine Theorie im Licht der zur<br />
Verfiigung stehenden Beobachtungsaussagen f<strong>als</strong>ch ist, jedoch nicht, dass sie<br />
wahr ist. Femer wurden Grunde dafur angefiihrt, dass sich die Wissenschaft weiterentwickelt,<br />
indem kiihne Vermutungen vorgeschlagen werden, die in hohem<br />
MaBe f<strong>als</strong>ifizierbar sind, gefolgt von rigorosen Versuchen, die neuen Vorschlage<br />
zu f<strong>als</strong>ifizieren. Gleichzeitig war damit die Vorstellung verkntipft, dass dann bedeutende<br />
Fortschritte in der Wissenschaft gemacht werden, wenn diese kiihnen<br />
Vermutungen f<strong>als</strong>ifiziert werden. Gerade dies behauptet Popper, der sich in der im<br />
5. Kapitel auf Seite 57 angefiihrten Textstelle selbst <strong>als</strong> F<strong>als</strong>ifikationisten betrachtet.<br />
Ware man jedoch ausschlieBlich auf die F<strong>als</strong>ifikation angewiesen, wtirde man<br />
der Position des raffmierten F<strong>als</strong>ifikationismus nicht gerecht werden. Das Beispiel,<br />
mit dem der vorangegangene Abschnitt abschloss, enthalt hierfur mehr <strong>als</strong><br />
nur einen Hinweis. Der Versuch, die Theorie von Newton mit einer spekulativen<br />
Hypothese zu retten - ein Versuch, der unabhangig tiberprtifbar war - hatte<br />
Erfolg, weil die Hypothese durch die Entdeckung des Planeten Neptun bekraftigt<br />
wurde und nicht, weil sie f<strong>als</strong>ifiziert wurde.<br />
Es ist ein Fehler, die F<strong>als</strong>ifikation von hochf<strong>als</strong>ifizierbaren Vermutungen <strong>als</strong><br />
Moglichkeit zu betrachten, mit der bedeutende Fortschritte in der Wissenschaft<br />
erzielt werden konnen, und Popper muss an dieser Stelle korrigiert werden. Dies<br />
wird deutlich, wenn wir verschiedene extreme Moglichkeiten betrachten. Das eine<br />
Extrem sind <strong>Theorien</strong>, die kuhne und gewagte Vermutungen anstellen, wahrend<br />
das andere Extrem behutsame Vermutungen sind, mit denen kein bedeutsames<br />
Risiko eingegangen wird. Wenn eine dieser beiden Arten von Vermutungen einer<br />
tjberprufung durch Beobachtung oder Experiment nicht standhalt, dann wird sie<br />
f<strong>als</strong>ifiziert. Halt eine Theorie jedoch einer derartigen Uberprtifung stand, dann<br />
konnen wir sagen, dass sich eine Vermutung bewdhrt hat. Bedeutsame Fortschritte<br />
werden durch die Bewahrung von kiihnen Vermutungen oder durch die F<strong>als</strong>ifikation<br />
von behutsamen Vermutungen gekennzeichnet. Erstere sind schon einfach<br />
deswegen aufschlussreich und liefern einen wesentlichen Beitrag far die wissenschaftliche<br />
Erkenntnis, weil sie die Entdeckung von etwas bedeuten, von dem man<br />
zuvor nichts wusste oder das man fiir unwahrscheinlich hielt. Die Entdeckung des<br />
Neptun, der Radiowellen und Eddingtons Bestatigung von Einsteins gewagter<br />
Vorhersage, dass Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldem gebeugt werden,<br />
bilden alle einen entscheidenden Fortschritt dieser Art. Gewagte Vorhersagen<br />
wurden bestatigt. Die F<strong>als</strong>ifikation von behutsamen Vermutungen ist deswegen<br />
aufschlussreich, weil sie den Nachweis erbringt, dass das, was unproblematisch<br />
<strong>als</strong> Wahrheit betrachtet wurde, in Wirklichkeit f<strong>als</strong>ch ist. Der Beweis von Russell,<br />
dass die naive Mengenlehre, die scheinbar auf nahezu selbstevidenten Satzen<br />
beruht, in sich widerspruchlich ist, ist ein Beispiel fur eine aufschlussreiche F<strong>als</strong>ifikation<br />
einer Vermutung, die anscheinend kein Risiko in sich bu-gt. Hingegen<br />
67
68<br />
lehrt uns die F<strong>als</strong>ifikation einer kiihnen Vermutung oder die Bewdhrung einer<br />
behutsamen Vermutung nur wenig. Wenn eine kuhne Vermutung f<strong>als</strong>ifiziert wird,<br />
dann ist alles, was man daraus lemt, dass sich wieder eine verrtickte Idee <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch<br />
erwiesen hat. Die F<strong>als</strong>ifikation der Spekulation von Kepler, dass die raumliche<br />
Lage der Planetenbahnen durch die platonischen Korper erklart werden konne,<br />
bildet zum Beispiel nicht gerade einen der bedeutsamsten Meilensteine in der<br />
Entwicklung der Physik. Ebenso ist die Bewahrung von behutsamen Hypothesen<br />
nicht aufschlussreich. Derartige Bewahrungen beweisen lediglich, dass eine gut<br />
begrundete Theorie, die fur unproblematisch gehalten wurde, wieder einmal mit<br />
Erfolg Anwendung fand. So ware zum Beispiel die Bewahrung der Vermutung,<br />
dass sich Eisenstucke, die durch ein neues Verfahren aus Eisenerz gewonnen<br />
werden, ebenso wie andere Eisenstiicke ausdehnen, wenn sie erhitzt werden, von<br />
nur geringer Bedeutung.<br />
Der F<strong>als</strong>ifikationismus mochte Ad-hoc-Wy^othQSQn ausschlieBen und zu dem<br />
Entwerfen von kiihnen Hypothesen <strong>als</strong> potenzielle Verbesserungen f<strong>als</strong>ifizierter<br />
<strong>Theorien</strong> ermutigen. Diese kiihnen Hypothesen werden zu neuen iiberprufbaren<br />
Vorhersagen fuhren, die sich aus der urspriinglich f<strong>als</strong>ifizierten Theorie nicht<br />
ergeben. Wahrend die Tatsache, dass eine Hypothese die Moglichkeit zu neuen<br />
Uberprufungen eroffiiet, diese ftir die Forschung interessant macht, gilt sie jedoch<br />
solange nicht <strong>als</strong> eine Verbesserung der entsprechenden Theorie, zu deren Ersatz<br />
sie aufgestellt wurde, bis sie nicht wenigstens einigen Uberpriifixngen standgehalten<br />
hat. Dies ist gleichbedeutend mit der Forderung, dass eine neue und kiihne<br />
Theorie, die entworfen wird, erst dann <strong>als</strong> angemessener Ersatz einer f<strong>als</strong>ifizierten<br />
Theorie betrachtet werden kann, wenn sie einige neuartige Vorhersagen macht, die<br />
sich bewahrt haben. Viele wilde und vorschnelle Spekulationen iiberstehen nachfolgende<br />
Uberpriifungen nicht und konnen deshalb auch nicht <strong>als</strong> Beitrag zum<br />
Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis gewertet werden. Die gelegentlich<br />
vorkommende wilde und vorschnelle Spekulation, die zu einer neuartigen und<br />
unerwarteten Vorhersage fiihrt und sich dennoch bei Beobachtungen und im Experiment<br />
bewahrt, gerat dadurch zu einem Glanzpunkt in der Geschichte des Fortschritts<br />
der Wissenschaft. Die Bewahrung von neuartigen Vorhersagen, die sich<br />
aus kiihnen Vermutungen ergeben, ist fiir die f<strong>als</strong>ifikationistische Auffassung vom<br />
Fortschritt der Wissenschaft von groBer Bedeutung.<br />
6.4 Kiihnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen<br />
Wir miissen dem, was wir iiber die Adjektive „kuhn" und „neuartig" in Bezug auf<br />
Hypothesen bzw. auf Vorhersagen gesagt haben, noch etwas hinzufugen. Es sind<br />
beides geschichtlich relative Begriffe. Was in einem bestimmten Stadium der<br />
Wissenschaftsgeschichte <strong>als</strong> eine kiihne Vermutung betrachtet wurde, braucht zu<br />
einem spateren Zeitpunkt nicht mehr langer kiihri zu sein. Als Maxwell 1864 seine<br />
„Dynamische Theorie des elektromagnetischen Feldes" vorstellte, handelte es sich<br />
um eine kuhne Vermutung. Die Vermutung war kiihn, well sie im Widerspruch zu<br />
<strong>Theorien</strong> stand, die zu dieser Zeit schon allgemein anerkannt waren. Diese <strong>Theorien</strong><br />
gingen von der Annahme aus, dass elektromagnetische Systeme (Magnete,
geladene Korper, ladungstragende Korper usw.) durch den leeren Raum unmittelbaren<br />
Einfluss aufeinander ausiiben und dass die elektromagnetischen Krafte sich<br />
nur mit einer endlichen Geschwindigkeit durch materielle Stoffe fortpflanzen. Die<br />
Theorie von Maxwell kollidierte mit diesen allgemein anerkannten Annahmen,<br />
weil sie vorhersagte, dass Licht eine elektromagnetische Erscheinung ist und dass<br />
Wechselstrome, wie spater auch ersichtlich wurde, eine neue Art von Strahlung<br />
aussenden, die Radiowellen, die sich mit einer endlichen Geschwindigkeit durch<br />
den leeren Raum bewegen. Die Theorie von Maxwell war 1864 kiihn und die<br />
Vorhersage der Radiowellen, die daraus folgte, war eine neuartige Vorhersage.<br />
Heutzutage ist die Tatsache, dass die Theorie von Maxwell eine genaue Beschreibung<br />
tiber das Verhalten einer ganzen Reihe elektromagnetischer Systeme geben<br />
kann, ein allgemein anerkannter Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis. Aussagen<br />
tiber die Existenz und die Eigenschaften der Radiowellen werden nicht<br />
mehr <strong>als</strong> neuartige Vorhersagen betrachtet.<br />
Wenn wir die Gesamtheit der wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong>, die in einem bestimmten<br />
Stadium der Wissenschaftsgeschichte allgemein anerkannt und fest<br />
begriindet sind, das Hintergrundwissen dieser Zeit nennen, dann konnen wir<br />
sagen, dass eine Vermutung dann kiihn ist, wenn dasjenige, was sie behauptet,<br />
angesichts des Hintergrundwissens dieser Zeit unwahrscheinlich ist. Die Allgemeine<br />
Relativitatstheorie von Einstein war 1915 eine kiihne Theorie, weil in dieser<br />
Zeit das Hintergrundwissen die Annahme enthielt, dass sich Licht in geraden<br />
Linien fortbewegt. Dies stand im Widerspruch zu einer Schlussfolgerung der<br />
Allgemeinen Relativitatstheorie, nach der Lichtstrahlen in starken Gravitationsfeldem<br />
gebeugt werden. Die Astronomic von Kopemikus war 1543 kiihn, weil sie im<br />
Widerspruch zu der Hintergrundannahme stand, dass die Erde unbeweglich im<br />
Mittelpunkt des Weltalls stehe. Heutzutage wiirde man diese Theorie nicht <strong>als</strong><br />
kiihn bezeichnen.<br />
Genauso wie man Vermutungen in Bezug auf das jeweilige Hintergrundwissen<br />
<strong>als</strong> kuhn betrachtet, so werden auch Vorhersagen <strong>als</strong> neuartig eingestuft, wenn<br />
sie Phanomene betreffen, die in dem Hintergrundwissen dieser Zeit nicht vorkommen<br />
oder vielleicht sogar ausdriicklich ausgeschlossen werden. Die Vorhersage<br />
der Existenz vom Planeten Neptun im Jahre 1846 war neuartig, weil das<br />
Hintergrundwissen dieser Zeit keinen Hinweis auf die Existenz eines derartigen<br />
Planeten enthielt. Poisson leitete 1818 aus der Wellentheorie des Lichtes von<br />
Fresnel die Vorhersage ab, dass man, wenn man eine lichtundurchlassige Scheibe<br />
auf geeignete Art und Weise beleuchtet, in der Mitte der anderen Seite der Scheibe<br />
einen hellen Fleck beobachten konne. Die Vorhersage war neuartig, weil das Auftreten<br />
dieses hellen Flecks durch die Teilchentheorie des Lichts, die einen Teil des<br />
Hintergrundwissens dieser Zeit ausmachte, ausgeschlossen wurde.<br />
Im vorigen Abschnitt wurde erortert, dass bedeutende Beitrage zu dem Fortschreiten<br />
der wissenschaftlichen Erkenntnis dann zustandekommen, wenn entweder<br />
eine kiihne Vermutung bestatigt oder wenn eine behutsame Vermutung f<strong>als</strong>ifiziert<br />
wird. Die Akzeptanz von Hintergrundwissen versetzt uns in die Lage, zu<br />
erkennen, dass diese beiden Moglichkeiten gemeinsam <strong>als</strong> das Ergebnis eines<br />
einzigen Experiments auftreten. Hintergrundwissen besteht, gerade weil dieses<br />
Wissen fest begriindet ist und <strong>als</strong> unproblematisch betrachtet wird, aus behutsa-<br />
69
70<br />
men Hypothesen. Die Bewahrung einer kuhnen Vermutung hat die F<strong>als</strong>ifikation<br />
eines Teils des Hintergrundwissens zur Folge, hinsichtlich dessen die Vermutung<br />
ktihn war.<br />
6.5 Ein Vergleich induktivistischer und f<strong>als</strong>ifikationistischer Sichtweise von<br />
Bewahrung<br />
So wie die raffinierten F<strong>als</strong>ifikationisten Wissenschaft sehen, wird der Bewahrung<br />
eine wichtige Rolle beigemessen. Dennoch ist es nicht f<strong>als</strong>ch, diesen Standpunkt<br />
<strong>als</strong> „f<strong>als</strong>ifikationistisch" zu bezeichnen. Auch der raffinierte F<strong>als</strong>ifikationist behauptet,<br />
dass man <strong>Theorien</strong> f<strong>als</strong>ifizieren und verwerfen kann, wohingegen er jedoch<br />
in Abrede stellt, dass <strong>Theorien</strong> jem<strong>als</strong> wahr oder wahrscheinlich wahr sein<br />
konnen. Das Ziel der Wissenschaft bestehe darin, <strong>Theorien</strong> zu f<strong>als</strong>ifizieren und sie<br />
durch bessere <strong>Theorien</strong> zu ersetzen, die offensichtHch eher in der Lage sind,<br />
Uberprtiftingen standzuhalten. Bewahrungen einer neuen Theorie sind insofern<br />
bedeutsam, <strong>als</strong> sie erkennen lassen, dass sie eine Verbesserung der Theorie darstellen,<br />
die ersetzt wird. Letztere wird durch die Belege f<strong>als</strong>ifiziert, die durch die<br />
neue Theorie hervorgebracht wurden und die die neue Theorie bestatigen. Wenn<br />
eine neu vorgeschlagene, kiihne Theorie erfolgreich ihre rivalisierende Theorie<br />
verdrangt hat, dann wird sie zum neuen Gegenstand strenger Pruftmgen werden,<br />
an dem sich weitere, ktihn vorgeschlagene <strong>Theorien</strong> messen. Weil der F<strong>als</strong>ifikationist<br />
die Betonung auf den Fortschritt der Wissenschaft legt, hat er eine wesentlich<br />
andere Auffassung von Bewahrung <strong>als</strong> der Induktivist. Die Bedeutung der<br />
Bewahrung wird gemaB dem extremen induktivistischen Standpunkt, der im vierten<br />
Kapitel beschrieben wurde, ausschlieBlich durch die logische Beziehung zwischen<br />
den bewahrten Beobachtungsaussagen und der durch diese begrundeten<br />
Theorie bestimmt. Die Beobachtung des Planeten Neptun durch Galle verlieh der<br />
newtonschen Theorie ebenso viel Unterstiitzung wie neuere Beobachtungsaussagen.<br />
Der historische Kontext, in dem das Beweismaterial erworben wird, ist irrelevant.<br />
Wir sprechen dann von Bewahrungen, wenn es einer Theorie induktive<br />
Unterstiitzung verleiht. Die Unterstiitzung fiir eine Theorie und die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass sie wahr ist, ist umso groBer, je ofter sie sich bewahrt hat. Diese<br />
ahistorische Bewahrungstheorie wiirde sicherlich die Konsequenz haben, dass<br />
zahllose Beobachtungen von fallenden Steinen, Planetenpositionen etc. lohnende<br />
wissenschaftliche Aktivitaten auslosten, da sie zu einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit<br />
des Wahrheitsgehaltes vom Gravitationsgesetz ftihren wiirden.<br />
Hingegen ist aus f<strong>als</strong>ifikationistischer Sicht die Bedeutung von Bewahrungen<br />
sehr stark im Rahmen ihres historischen Kontexts zu sehen. Bewahrt sich eine<br />
Theorie im Hinblick auf eine neue Vorhersage, so bedeutet dies ftir sie einen erheblichen<br />
Gewinn. Das heiBt mit anderen Worten, dass eine Bewahrung dann<br />
bedeutend ist, wenn dies eigentlich angesichts des Hintergrundwissens dieser Zeit<br />
<strong>als</strong> unwahrscheinlich erachtet wird. Bewahrungen, die selbstverstandlich sind,<br />
sind bedeutungslos. Wenn wir heute zur Bewahrung der Theorie von Newton<br />
einen Stein zu Boden fallen lieBen, dann leisten wir ftir die Wissenschaft keinen<br />
bedeutenden Beitrag. Wenn es uns hingegen morgen gelingen wiirde, dass sich
eine spekulative Theorie bewahrt, aus der hervorgeht, dass die Anziehungskraft<br />
zwischen zwei Korpern von ihren Temperaturen abhangt, womit wir zugleich die<br />
Theorie von Newton f<strong>als</strong>ifizieren wiirden, dann hatten wir sehr wohl einen bedeutenden<br />
Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis geleistet. Die Gravitationstheorie<br />
von Newton und einige der Einschrankungen, die diese Theorie macht,<br />
sind Bestandteil des allgemein anerkannten Hintergrundwissens, wohingegen dies<br />
bei der Temperaturabhangigkeit der Anziehungskraft nicht der Fall ist.<br />
Es folgt nun noch ein weiteres Beispiel, welches belegt, dass der F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
die Bewahrung zu Recht aus einer historischen Perspektive betrachtet. Die<br />
Theorie von Maxwell bewahrte sich, <strong>als</strong> Hertz die ersten Radiowellen nachwies.<br />
Die Theorie von Maxwell bewahrt sich zudem auch jedes Mai, wenn wir Radio<br />
horen. In beiden Fallen sagt die Theorie vorher, dass man Radiowellen nachweisen<br />
wird, und in beiden Fallen verleiht der erfolgreiche Nachweis der Theorie eine<br />
induktive Unterstutzung. Trotz alledem ist Hertz beriihmt geworden, da er sie<br />
erstmalig nachwies und sich die maxwellsche Theorie dabei bewahrte, wohingegen<br />
von der Tatsache, dass wir sie immer wieder nachweisen, wenn wir Radio<br />
horen, in der Wissenschaft zu Recht keine Notiz genommen wird. Hertz trug zum<br />
wissenschaftlichen Fortschritt bei; wenn wir hingegen Radio horen, dann ist dies<br />
lediglich unser privater Zeitvertreib. Der historische Kontext macht den alleinigen<br />
Unterschied aus.<br />
6.6 Die Vorteile des F<strong>als</strong>ifikationismus gegeniiber dem Induktivismus<br />
Nach einer Zusammenfassung des F<strong>als</strong>ifikationismus wird es Zeit, einige der Vorteile<br />
dieser Position gegeniiber der induktivistischen Position zu betrachten, nach<br />
der, wie in vorangegangenen Kapiteln diskutiert, wissenschaftliche Erkenntnis<br />
induktiv aus gegebenen Tatsachen gewonnen wird.<br />
Wir haben gesehen, dass einige Tatsachen, im Speziellen experimentell gewonnene,<br />
in nicht vernachlassigbarer Weise theorieabhangig und fehlbar sind. Das<br />
stellt diejenige induktivistische Position infrage, die von der Wissenschaft verlangt,<br />
dass sie eine unproblematische und auf Tatsachen beruhende Begriindung<br />
haben soil. Der F<strong>als</strong>ifikationist erkennt, dass sowohl Tatsachen <strong>als</strong> auch <strong>Theorien</strong><br />
fehlbar sind. Dennoch gibt es fur den F<strong>als</strong>ifikationisten eine wichtige Gruppe von<br />
Tatsachen, die die Uberprtifungsgrundlage fur wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> darstellen.<br />
Sie besteht aus den auf Tatsachen beruhenden Behauptungen, die einer<br />
strengen Uberprtifung standgehalten haben. Das hat zur Folge, dass zwar die Basis<br />
der Wissenschaft fehlbar ist, dies jedoch kein so groBes Problem fiir F<strong>als</strong>ifikationisten<br />
darstellt wie fur Induktivisten, da F<strong>als</strong>ifikationisten eher nach einer kontinuierlichen<br />
Verbesserung der Wissenschaft streben <strong>als</strong> nach einem Beleg von<br />
Wahrheit oder wahrscheinlicher Wahrheit.<br />
Der Induktivist hat Probleme, Kriterien fiir gutes induktives SchlieBen zu<br />
spezifizieren und daher Schwierigkeiten, Fragen nach den Bedingungen zu beantworten,<br />
unter denen gesagt werden kann, dass Tatsachen eine signifikante Unterstutzung<br />
einer Theorie liefem. Der F<strong>als</strong>ifikationist ist in diesem Zusammenhang<br />
im Vorteil. Tatsachen unterstutzen eine Theorie in bedeutsamer Art und Weise,<br />
71
72<br />
wenn durch sie eine strenge LFberprtifung dieser Theorie geleistet wird. Die Bestatigungen<br />
neuartiger Vorhersagen sind wichtige Bestandteile dieser Kategorie. Das<br />
macht es moglich zu erklaren, warum Wiederholungen von Experimenten nicht zu<br />
einer bedeutsamen Steigemng der empirischen Unterstutzung einer Theorie fuhren,<br />
eine Tatsache, der sich extreme Induktivisten nur schwer anschlieBen konnen.<br />
Die Durchfuhrung eines bestimmten Experiments kann eine strenge Pnifung einer<br />
Theorie darstellen. 1st das Experiment angemessen und hat die Theorie der Uberpriifung<br />
standgehalten, werden weitere Wiederholungen des gleichen Experiments<br />
jedoch nicht mehr <strong>als</strong> ein strenger Test der Theorie angesehen und sind daher<br />
immer weniger in der Lage, eine bedeutsame Unterstutzung fiir sie zu liefem. Einmal<br />
mehr hat der F<strong>als</strong>ifikationist keine Schwierigkeiten zu erklaren, wie Wissen<br />
uber das, was nicht beobachtbar ist, aus Wissen uber beobachtbare Tatsachen<br />
gewonnen werden kann, wahrend dies fiir den Induktivisten sehr wohl der Fall ist.<br />
Behauptungen uber Nicht-Beobachtbares, konnen einer strengen Uberprufung<br />
unterzogen und unterstiitzt werden, indem ihre neuartigen Konsequenzen untersucht<br />
werden.<br />
Wir haben gesehen, dass Induktivisten Schwierigkeiten haben, induktives<br />
SchlieBen, das dazu eingesetzt wird zu zeigen, ob eine Theorie wahr oder wahrscheinlich<br />
wahr ist, zu charakterisieren und zu rechtfertigen. Der F<strong>als</strong>ifikationist<br />
umgeht dieses Problem, indem er darauf besteht, dass Wissenschaft keine Induktion<br />
beinhaltet. Die Deduktion wird eingesetzt, um die Konsequenzen von <strong>Theorien</strong><br />
offen zu legen, sodass sie tiberpriift und gegebenenfalls f<strong>als</strong>ifiziert werden<br />
konnen. Es wird jedoch nicht behauptet, dass das Standhalten einer Uberpriifung<br />
zeigen kann, ob eine Theorie wahr oder wahrscheinlich wahr ist. Im besten aller<br />
Falle ist das Ergebnis einer solchen Uberpriiftmg, dass demonstriert werden kann,<br />
dass die Theorie besser ist <strong>als</strong> ihre Vorgangerin. Der F<strong>als</strong>ifikationist setzt eher auf<br />
Fortschritt <strong>als</strong> auf Wahrheit.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Zu Poppers Auseinandersetzung mit seinem f<strong>als</strong>ifikationistischen Ansatz siehe<br />
„Realism and the Aim of Science" (1983). In der von Schilpp herausgegebenen<br />
Reihe „Library of Living Philosophers" erschien 1974 der Band „The Philosophy<br />
of Karl Popper". Er enthalt Poppers Autobiographic, einige von Kritikem verfasste<br />
Artikel zu seiner Philosophic und Poppers Antworten auf diese Kritiken sowie<br />
eine detaillierte Bibliographic seiner Werke. Einen gut verstandlichen Uberblick<br />
uber Poppers Philosophic bieten Ackermann (1976) und O'Hear (1980). Die<br />
Modifikation von Poppers Sichtweise wird ausfuhrlicher im Abschnitt „Bewahrung<br />
im F<strong>als</strong>ifikationismus" in Chalmers (1973) diskutiert<br />
Als weiterfuhrende Literatur kann dartiber hinaus der von Keuth (1998) herausgegebene<br />
Band „Karl Popper: Logik der Forschung" empfohlen werden (Anm.<br />
der Hrsg.).
Die Grenzen des F<strong>als</strong>iflkationismus<br />
7.1 Probleme der Logik<br />
Generalisiemngen, die wissenschaftliche Gesetze konstituieren, konnen logisch<br />
niem<strong>als</strong> aus einer endlichen Anzahl von Beobachtungen abgeleitet werden. Die<br />
Fehlerhaftigkeit eines Gesetzes kann jedoch durchaus logisch aus einer einzigen,<br />
dem Gesetz widersprechenden Beobachtung abgeleitet werden. Wird nur ein<br />
schwarzer Schwan beobachtet, wird die Aussage ,,A\\Q Schwane sind weiB" f<strong>als</strong>ifiziert.<br />
Dies gilt ohne Ausnahme und kann nicht geleugnet werden. Dieses Argument<br />
zur Untermauerung einer f<strong>als</strong>ifikationistischen Wissenschaftsphilosophie<br />
heranzuziehen, ist jedoch nicht so einfach, wie es erscheinen mag. Sobald wir uns<br />
jenseits solch einfacher Beispiele wie dem der Farbe von Schwanen bewegen und<br />
uns komplexeren Dingen zuwenden, die typischer fiir die Wissenschaft sind, treten<br />
Probleme auf.<br />
Ist die Wahrheit einer Beobachtungsaussage B gegeben, dann kann auf die<br />
Fehlerhaftigkeit einer Theorie T, die logischerweise nach sich zieht, dass B nicht<br />
der Fall sein kann, geschlossen werden. Dennoch bestehen gerade die F<strong>als</strong>ifikationisten<br />
darauf, dass Beobachtungsaussagen, die die Basis der Wissenschaft bilden,<br />
theorieabhangig und fehlbar sind. Konsequenterweise folgt aus einem Widerspruch<br />
zwischen T und B nicht, dass T f<strong>als</strong>ch ist. Das Einzige, was logisch auf die<br />
Tatsache folgt, dass T eine Vorhersage mit sich bringt, die sich nicht mit B vereinbaren<br />
lasst, ist, dass entweder T oder B f<strong>als</strong>ch ist. Daruber, welche dies ist,<br />
kann die Logik allein jedoch keine Auskunft geben. Wenn Beobachtungen und<br />
Experimente Belege erbringen, die im Widerspruch zu Gesetzen oder <strong>Theorien</strong><br />
stehen, konnen die Belege ebenso f<strong>als</strong>ch sein, wie das Gesetz oder die Theorie.<br />
Nichts an der Logik der Situation verlangt danach, dass immer das Gesetz oder die<br />
Theorie zuriickgewiesen werden muss, wenn ein Widerspruch zu Beobachtungen<br />
oder Experimenten besteht. Genauso kann eine fehlerbehaftete Beobachtung<br />
zuriickgewiesen und die Theorie, mit der sie nicht vereinbar ist, beibehalten werden.<br />
Genau dies war der Fall, <strong>als</strong> die kopemikanische Theorie beibehalten wurde,<br />
wahrend die mit bloBem Auge vorgenommenen Beobachtungen der GroBe von<br />
Venus und Mars, die zur Theorie in logischem Widerspruch standen, verworfen
74<br />
wurden. Das Gleiche gilt, wenn neuere Spezifikationen der Bahn des Mondes<br />
beibehalten und Schatzungen seiner GroBe durch Beobachtungen ohne Hilfsmittel<br />
zunickgewiesen werden. Wie sicher eine Aussage auch auf Beobachtungen und<br />
Experimenten basieren mag, die f<strong>als</strong>ifikationistische Position kann die Moglichkeit<br />
nicht ausschlieBen, dass Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis die<br />
Unangemessenheit dieser Aussage offenbaren. In der Konsequenz sind einfache<br />
und uberzeugende F<strong>als</strong>ifikationen von <strong>Theorien</strong> mittels Beobachtungen nicht<br />
erreichbar.<br />
Die logischen Probleme des F<strong>als</strong>ifikationismus sind damit jedoch nicht beendet.<br />
„Alle Schwane sind weiB" wird zweifellos f<strong>als</strong>ifiziert, wenji ein Fall von<br />
einem nicht-weiBen Schwan nachgewiesen werden kann. Aber vereinfachte Darstellungen<br />
der Logik der F<strong>als</strong>ifikation wie diese, verdecken eine emsthafte<br />
Schwierigkeit des F<strong>als</strong>ifikationismus, die aus der Komplexitat einer jeden realistischen<br />
Testsituation entsteht. Eine realistische wissenschaftliche Theorie wird eher<br />
aus der Gesamtheit einzelner allgemeiner Aussagen bestehen, <strong>als</strong> aus einer Einzelaussage<br />
wie „Alle Schwane sind weiB". Femer sind, wenn eine Theorie experimentell<br />
Uberprtift werden muss, mehr Aussagen beteiligt <strong>als</strong> die, aus denen die<br />
betreffende Theorie besteht. Die Theorie muss durch Hilfshypothesen erweitert<br />
werden, wie zum Beispiel durch Gesetze und <strong>Theorien</strong>, die den Gebrauch von<br />
benotigten Instrumenten bestimmen. Zusatzlich ist es notwendig, die sogenannten<br />
Anfangsbedingungen hinzuzufligen, wie zum Beispiel die Beschreibung des experimentellen<br />
Aufbaus, damit bestimmte Vorhersagen beztiglich der Giiltigkeit dessen,<br />
was experimentell uberprtift werden soil, abgeleitet werden konnen. Nehmen<br />
wir zum Beispiel an, dass eine astronomische Theorie durch Beobachtung der<br />
Positionen einiger Planeten mithilfe des Teleskops tiberpruft werden soil, dann<br />
muss die Theorie vorhersagen, wie das Teleskop justiert werden muss, damit man<br />
den Planeten zu einer bestimmten Zeit beobachten kann. Die Pramissen, von denen<br />
die Vorhersage abgeleitet wird, beinhalten die sich aufeinander beziehenden<br />
Aussagen, aus denen die zu iiberprlifende Theorie besteht, die sogenannten Anfangsbedingungen<br />
wie friihere Positionen des Planeten und der Sonne, sowie<br />
Hilfshypothesen, die zum Beispiel Korrekturen ermoglichen, die aufgrund der<br />
Lichtbrechung des Planeten in der Erdatmosphare vorgenommen werden mussen,<br />
etc. Wenn sich dann die Vorhersage, die sich aus diesem Labyrinth von Voraussetzungen<br />
ergibt, <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erweist (in unserem Beispiel, wenn der Planet nicht in<br />
der vorhergesagten Position erscheint), dann erlaubt uns die Logik der Situation<br />
allenfalls die Schlussfolgerung, dass mindestens eine der Voraussetzungen f<strong>als</strong>ch<br />
gewesen sein muss. Die Identifikation der f<strong>als</strong>chen Voraussetzung ist uns damit<br />
nicht moglich. Es kann sein, dass die Theorie, die tiberpruft werden sollte, f<strong>als</strong>ch<br />
ist, aber ebenso kann es eine Hilfshypothese oder ein Teilaspekt der Beschreibung<br />
der Anfangsbedingungen sein, die ftir die f<strong>als</strong>che Vorhersage verantwortlich sind.<br />
Eine Theorie kann nicht endgiiltig f<strong>als</strong>ifiziert werden, da die Moglichkeit nicht<br />
ausgeschlossen werden kann, dass einige Aspekte der komplexen Testsituation,<br />
nicht aber die untersuchte Theorie selbst, fur eine irrtiimliche Vorhersage verantwortlich<br />
sind. Diese Schwierigkeit firmiert unter der Bezeichnung Duheme-<br />
Quine-These nach Piere Duheme (1978), der sie erstm<strong>als</strong> erwahnte, und William<br />
V. O. Quine (1979), der sie emeut aufgriff.
Es folgen einige Beispiele aus der Geschichte der Astronomie, die diesen<br />
Punkt veranschaulichen.<br />
In einem oben angefiihrten Beispiel diskutierten wir, wie Newtons Theorie<br />
scheinbar aufgrund der Umlaufbahn des Planeten Uranus widerlegt wurde. In<br />
diesem Fall stellte sich heraus, dass nicht die Theorie f<strong>als</strong>ch war, sondem die<br />
Beschreibung der Anfangsbedingungen, die den zu der Zeit noch nicht entdeckten<br />
Planeten Neptun auBer Betracht lieB. Ein zweites Beispiel befasst sich mit dem<br />
Einwand des danischen Astronomen Tycho Brahe, der den Anspruch erhob, einige<br />
Jahrzehnte nach der erstmaligen Publikation der kopemikanischen Theorie, diese<br />
widerlegt zu haben. Wenn die Erde die Sonne umkreist, so argumentierte Brahe,<br />
dann musste sich die Richtung, aus der ein Fixstem von der Erde beobachtet wird,<br />
im Laufe des Jahres in dem MaBe verandem, wie sich die Erde von einer Seite der<br />
Sonne zur anderen bewegt. Aber <strong>als</strong> Brahe versuchte, diese vorhergesagte Parallaxe<br />
mit seinen Instrumenten nachzuweisen, misslang ihm dies, obgleich seine<br />
Instrumente zu den prazisesten und empfmdlichsten zahlten, die es zu jener Zeit<br />
gab. Brahe zog daraus den Schluss, dass die kopernikanische Theorie f<strong>als</strong>ch sei.<br />
Im Nachhinein darf angenommen werden, dass es nicht die kopernikanische Theorie<br />
war, die fur die f<strong>als</strong>che Vorhersage verantwortlich war, sondem eine der<br />
Hilfshypothesen von Brahe. Brahe schatzte die Entfemung der Fixsteme <strong>als</strong> viel<br />
zu gering ein. Wenn seine Schatzung durch eine realistischere ersetzt wird, dann<br />
stellt sich die vorhergesagte Parallaxe <strong>als</strong> zu gering heraus, <strong>als</strong> dass sie mit den<br />
Instrumenten von Brahe hatte entdeckt werden konnen.<br />
Ein drittes Beispiel ist rein hypothetisch. Es wurde von Lakatos (1974, S.<br />
98f.) konstruiert und lautet wie folgt:<br />
Die Geschichte betrifft einen imaginaren Fall planetarischer Unart.<br />
Ein Physiker in der Zeit vor Einstein nimmt Newtons Mechanik und<br />
sein Gravitationsgesetz A^ sowie die akzeptierten Randbedingungen<br />
A und berechnet mit ihrer Hilfe die Bahn eines eben entdeckten<br />
kleinen Planeten p. Aber der Planet weicht von der berechneten<br />
Bahn ab. Glaubt unser Newtonianer, dass die Abweichung von<br />
Newtons Theorie verboten war und dass ihr Beweis die Theorie A^<br />
widerlegt? - Keineswegs. Er nimmt an, dass es einen bisher unbekannten<br />
Planeten p' gibt, der die Bahn von p stort. Er berechnet<br />
Masse, Bahn etc. dieses hypothetischen Planeten und ersucht dann<br />
einen Experimentalastronomen, seine Hypothese zu uberprtifen.<br />
Aber der Planet p' ist so klein, dass selbst das groBte vorhandene<br />
Teleskop ihn nicht beobachten kann: Der Experimentalastronom beantragt<br />
einen Forschungszuschuss um ein noch groBeres Teleskop<br />
zu bauen. In drei Jahren ist das Instrument fertig. Wird der unbekannte<br />
Planet p' entdeckt, so feiert man diese Tatsache <strong>als</strong> einen<br />
neuen Sieg der Newtonschen Wissenschaft. - Aber man fmdet ihn<br />
nicht. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie und seine Idee<br />
des storenden Planeten auf? - Nicht im Mindesten! Er mutmaBt nun,<br />
dass der gesuchte Planet durch eine kosmische Staubwolke vor<br />
unseren Augen verborgen wird. Er berechnet Ort und Eigenschaften<br />
75
76<br />
dieser Wolke und beantragt ein Forschungsstipendium, um einen<br />
Satelliten zur Uberpriifung seiner Berechnungen abzusenden. Vermogen<br />
die Instmmente des Satelliten (damnter vollig neue, die auf<br />
wenig gepruften <strong>Theorien</strong> beruhen) die Existenz der vermuteten<br />
Wolke zu registrieren, dann erblickt man in diesem Ergebnis einen<br />
glanzenden Sieg der Newtonschen Wissenschaft. Aber die Wolke<br />
wird nicht gefunden. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie,<br />
seine Idee des storenden Planeten und die Idee der Wolke, die ihn<br />
verbirgt, auf? Nein! Er schlagt vor, dass es im betreffenden Gebiet<br />
des Universums ein magnetisches Feld gibt, das die Instrumente des<br />
Satelliten gestort hat. Ein neuer Satellit wird ausgesandt. Wird das<br />
magnetische Feld gefunden, so feiem Newtons Anhanger einen sensationellen<br />
Sieg. Aber das Resultat ist negativ. Gilt dies <strong>als</strong> eine<br />
Widerlegung der Newtonschen Wissenschaft? - Nein. Man schlagt<br />
entweder eine neue, noch spitzfmdigere Hilfshypothese vor, oder ...<br />
die ganze Geschichte wird in den staubigen Banden der wissenschaftlichen<br />
Annalen begraben, vergessen und nie mehr erwahnt.<br />
Wenn man diese Geschichte <strong>als</strong> durchaus plausibel betrachtet, dann illustriert sie<br />
hervorragend, wie eine Theorie immerzu vor der F<strong>als</strong>ifikation bewahrt werden<br />
kann, indem die F<strong>als</strong>ifikation einfach auf einige andere Bereiche des komplexen<br />
Netzwerkes von Annahmen gelenkt wird.<br />
7.2 Die Unzulanglichkeit des F<strong>als</strong>ifikationismus vor dem Hintergrund<br />
historischer Beispiele<br />
Eine fur den F<strong>als</strong>ifikationisten etwas peinliche historische Tatsache ist die, dass<br />
gerade jene <strong>Theorien</strong>, die allgemein zu den besten wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong><br />
gezahlt werden, niem<strong>als</strong> entwickelt worden waren, wenn sich Wissenschaftler<br />
strikt an die f<strong>als</strong>ifikationistische Methodologie gehalten hatten. Sie waren bereits<br />
in ihren Anfangen widerlegt worden. Welche klassische wissenschaftliche Theorie<br />
man auch <strong>als</strong> Beispiel heranzieht, man kann - ob zu dem Zeitpunkt, zu dem sie<br />
zum ersten Mai vorgeschlagen wurde oder zu einem spateren Zeitpunkt - Beobachtungsaussagen<br />
finden, die zu dieser Zeit allgemein anerkannt waren, die aber<br />
mit der Theorie <strong>als</strong> unvereinbar angesehen wurden. Dennoch wurden diese <strong>Theorien</strong><br />
nicht verworfen, was man fur die Wissenschaft <strong>als</strong> einen glucklichen Umstand<br />
betrachten muss. Einige historische Beispiele, die diesen Sachverhalt belegen,<br />
seien im Folgenden angefiihrt.<br />
In ihrem Anfangsstadium wurde Newtons Gravitationstheorie durch Beobachtungen<br />
der Umlaufbahn des Mondes f<strong>als</strong>ifiziert. Es dauerte fast funfzig Jahre,<br />
um diese F<strong>als</strong>ifikation auf andere Ursachen <strong>als</strong> auf Newtons Theorie zurUckzufiihren.<br />
Spater wurde bekannt, dass dieselbe Theorie mit naheren Einzelheiten der<br />
Umlaufbahn des Planeten Merkur im Widerspruch stand. Auch diesmal wurde die<br />
Theorie deswegen nicht vollig aufgegeben. Es stellte sich heraus, dass es niem<strong>als</strong><br />
moglich war, diese F<strong>als</strong>ifikation in einer Weise zu erklaren, die Newtons Theorie<br />
absicherte.
Ein zweites Beispiel, das Lakatos (1974, S. 137ff.) zu verdanken ist, betrifft<br />
das bohrsche Atommodell. Fruhe Versionen der Theorie standen mit der Beobachtung<br />
im Widerspruch, dass Materie sich fiir eine Zeitspanne von langer <strong>als</strong> 10"^<br />
Sekunden in einem statischen Zustand befindet. GemaB der Theorie umkreisen<br />
negativ geladene Elektronen innerhalb eines Atoms den positiv geladenen Kern.<br />
Aber gemaB der klassischen elektromagnetischen Theorie, auf der Bohrs Theorie<br />
aufbaut, strahlen kreisende Elektronen Energie aus. Die Energiestrahlung hat zur<br />
Folge, dass ein kreisendes Elektron an Energie verliert und in den Kern stiirzt.<br />
Quantitative Ausfuhrungen des klassischen Elektromagnetismus raumten eine<br />
geschatzte Zeit von etwa 10'^ Sekunden flir diesen Prozess ein. Gllicklicherweise<br />
hielt Bohr an seiner Theorie, ungeachtet ihrer F<strong>als</strong>ifikation, fest.<br />
Ein drittes Beispiel betrifft die Theorie der Kinetik und birgt den Vorteil,<br />
dass die F<strong>als</strong>ifikation dieser Theorie bereits bei ihrer Entstehung von ihrem Urheber<br />
eingeraumt wurde. Als Maxwell die ersten Details der kinetischen Gastheorie<br />
im Jahre 1859 veroffentlichte, bestatigte er in demselben Aufsatz die Tatsache,<br />
dass die Theorie durch Messungen der spezifischen Warme von Gasen f<strong>als</strong>ifiziert<br />
wurde (Maxwell, 1965a, S. 409) 4. Achtzehn Jahre spater kommentierte er die<br />
Konsequenzen der kinetischen Gastheorie folgendermaBen (Maxwell, 1877, S.<br />
245f.):<br />
Zweifelsohne ist es zum Teil sehr befriedigend, was wir bei unserem<br />
heutigen Wissensstand tiber die Natur von Teilchen wissen, jedoch<br />
gibt es andere Aspekte, die uns wahrscheinlich aus unserer<br />
Selbstgefalligkeit aufschrecken lassen und uns vielleicht schlieBlich<br />
aus all den Hypothesen, in denen wir bisher Zuflucht fanden, in<br />
vollig bewusste Unwissenheit fuhren, was der Auftakt flir jeden<br />
wirklichen Erkenntnisfortschritt ist.<br />
Alle entscheidenden Entwicklungen innerhalb der kinetischen Gastheorie fanden<br />
nach dieser F<strong>als</strong>ifikation statt. Auch diesmal kann man von Gliick sprechen, dass<br />
die Theorie angesichts der F<strong>als</strong>ifikation durch die Messungen der spezifischen<br />
Warme von Gasen nicht verworfen wurde, worauf zumindest der naive F<strong>als</strong>ifikationist<br />
hatte bestehen mussen.<br />
Als ein viertes Beispiel soil die kopemikanische Revolution im folgenden<br />
Abschnitt detaillierter umrissen werden. Dieses Beispiel unterstreicht die Schwierigkeiten,<br />
die sich fur den F<strong>als</strong>ifikationisten ergeben, wenn die Komplexitat des<br />
Wechsels umfassender Theoriegebaude betrachtet wird. Das Beispiel soil gleichzeitig<br />
den Hintergrund fur die Diskussion einiger neuerer und angemessenerer<br />
Ansatze darstellen, um das Wesen der Wissenschaft und ihrer Methoden zu charakterisieren.<br />
^ Nachdruck eines 1859 vor der British Association gehaltenen Vortrags, siehe insbesondere den letzten<br />
Abschnitt.<br />
77
78<br />
7.3 Die kopernikanische Revolution<br />
Im Europa des Mittelalters war es allgemein anerkannt, dass die Erde sich im<br />
Mittelpunkt eines endlichen Universums befmdet und dass die Sonne, die Planeten<br />
und die Sterne um sie herum kreisen. Die Physik und Kosmologie, die den Rahmen<br />
fur diese Astronomie boten, waren im Grunde bereits im vierten Jahrhundert<br />
V. Chr. von Aristoteles entwickelt worden. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. konstruierte<br />
Ptolemaus ein detailHertes astronomisches System, das die Umlaufbahnen<br />
der Sonne und aller Planeten beschrieb.<br />
In den frtihen Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts entwarf Kopemikus eine neue<br />
Astronomie, eine Astronomie, die eine sich bewegende Erde beinhaltete, wodurch<br />
das aristotelische und ptolemaische System herausgefordert wurden. GemaB der<br />
kopemikanischen Vorstellung befmdet sich die Erde nicht im Mittelpunkt des<br />
Universums, sondern umkreist gemeinsam mit den anderen Planeten die Sonne. In<br />
der Zeit, <strong>als</strong> sich zunehmend Belege fiir den kopemikanischen Ansatz fanden,<br />
wurde das aristotelische Weltbild durch das newtonsche ersetzt. Einzelheiten der<br />
Geschichte dieses groBen <strong>Theorien</strong>wechsels - ein Wechsel, der sich liber anderthalb<br />
Jahrhunderte hinzog - unterstutzen keineswegs die Methodologien, die von<br />
Induktivisten und F<strong>als</strong>ifikationisten vertreten werden und zeigen die Notwendigkeit<br />
eines anderen, differenzierteren wissenschaftstheoretischen Ansatzes auf, der<br />
auch den Fortschritt von Wissenschaft erklart.<br />
Als Kopernikus im Jahr 1543 zum ersten Mai Einzelheiten seiner neuen<br />
Astronomie veroffentlichte, gab es eine Menge von Argumenten, die gegen sie<br />
vorgebracht werden konnten - und auch vorgebracht wurden. In Relation zum<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisstand jener Zeit waren die Argumente stimmig, und<br />
Kopernikus konnte seine Theorie dagegen nicht befriedigend verteidigen. Um sich<br />
diese Situation vorstellen zu konnen, ist es notwendig, mit bestimmten Aspekten<br />
des aristotelischen Weltbildes vertraut zu sein, auf dessen Anschauungen die Kritik<br />
gegen Kopemikus bemhte. Ein kurzer Abriss einiger relevanter Punkte mag<br />
hier ausreichen.<br />
Das aristotelische Universum wurde in zwei voneinander getrennte Bereiche<br />
unterschieden. Die sublunare, innere Region, reiche von der im Zentrum stehenden<br />
Erde bis in die Umlaufbahn des Mondes. Die superlunare, himmlische Region<br />
sei die Fortsetzung des endlichen Universums, das sich von der Umlaufbahn des<br />
Mondes bis zur Sphare der Sterne erstrecke, die die auBere Grenze des Universums<br />
markierten. AuBerhalb dieser Sphare existiere nichts, nicht einmal Raum.<br />
Nichtausgeflillter Raum ist im aristotelischen System nicht moglich. Alle Himmelskorper<br />
in der superlunaren Region bestiinden aus einem unverganglichen<br />
Element, dem sogenannten Ather. Ather besitze eine natiirliche Neigung, sich in<br />
vollkommenen Kreisen um den Mittelpunkt des Universums zu bewegen. Diese<br />
Grundannahme wurde in der ptolemaischen Astronomie modifiziert und erweitert.<br />
Da Beobachtungen von Planetenpositionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit<br />
kreisformigen Umlaufbahnen, deren Mittelpunkt die Erde ist, nicht in Einklang<br />
gebracht werden konnten, fiihrte Ptolemaus weitere Bahnen, sogenannte Epizykel,<br />
in das System ein. Planeten bewegten sich demnach auf Kreisbahnen oder Epizykeln,<br />
deren Zentren sich auf Kreisbahnen um die Erde bewegten. Das System
der Umlaufbahnen konnte durch die Annahme weiterer Epizykel in einer Weise<br />
verfeinert werden, dass das daraus resultierende System mit Beobachtungen von<br />
Planetenpositionen ubereinstimmte und die Vorhersage zukiinftiger Planetenpositionen<br />
zulieB.<br />
Im Gegensatz zum geordneten, regelgeleiteten und unverganglichen Charakter<br />
der superlunarischen Region sei die sublunarische Region durch Veranderung,<br />
Wachstum und Zerfall, Entwicklung und Unstetigkeit gekennzeichnet. Alle Stoffe<br />
der sublunarischen Region stellten Mischungen aus den vier Elementen Luft,<br />
Erde, Feuer und Wasser dar. Die jeweils unterschiedliche Zusammensetzung der<br />
Elemente bestimme die Eigenschaften der so gebildeten Stoffe. Jedes Element<br />
habe seinen nattirlichen Platz im Universum. Der natiirliche Platz fur die Erde sei<br />
der Mittelpunkt des Universums, fur Wasser die Erdoberflache der Erde, fur Luft<br />
der Bereich unmittelbar tiber der Erdoberflache und fur Feuer der obere Bereich<br />
der Atmosphare, nahe der Umlaufbahn des Mondes. Folglich solle jeder irdische<br />
Gegenstand einen nattirlichen Platz in der sublunarischen Region haben, der von<br />
der relativen Zusammensetzung der vier Elemente abhinge. Steine, die ihrer Natur<br />
nach im Wesentlichen „Erde" sind, hatten so ihren naturlichen Platz nahe dem<br />
Erdmittelpunkt, wahrend Flammen, die ihrer Natur nach „Feuer" sind, ihren<br />
naturlichen Platz nahe der Mondumlaufbahn hatten. Alle Objekte hatten die Tendenz,<br />
sich auf direktem Wege aufwarts oder abwarts zu ihrem nattirlichen Platz<br />
hin zu bewegen. Steine hatten eine natiirliche Bewegung nach unten, zum Mittelpunkt<br />
der Erde, und Flammen eine naturliche Aufwartsbewegung, weg vom Mittelpunkt<br />
der Erde. Jede Bewegung, die sich von der naturlichen Bewegung unterscheidet,<br />
miisse eine Ursache haben. Zum Beispiel miissten Pfeile durch einen<br />
Bogen abgeschossen und Streitwagen durch Pferde gezogen werden.<br />
Dieses <strong>als</strong>o ist der harte Kern der aristotelischen Mechanik und Kosmologie,<br />
der von den Zeitgenossen Kopemikus' vorausgesetzt und der fiir Argumente gegen<br />
eine sich bewegende Erde herangezogen wurde. Betrachten wir nun einige der<br />
starkeren Argumente gegen das kopernikanische System.<br />
Das Argument, das vielleicht die ernsthafteste Bedrohung fur Kopemikus<br />
darstellte, war das sogenannte Turmargument: Wenn die Erde sich in der Weise<br />
um ihre Achse drehe, wie Kopemikus behauptete, dann wurde jeder Punkt auf der<br />
Erdoberflache in jeder Sekunde eine betrachtliche Distanz zuriicklegen. Wenn von<br />
einem Turm, der auf der sich bewegenden Erde errichtet ist, ein Stein fallen gelassen<br />
wird, dann wu-d er seine naturliche Bewegung vollziehen und sich zum Mittelpunkt<br />
der Erde hin bewegen. Wahrenddessen bewegt sich der Turm im gleichen<br />
MaBe wie die Erde weiter. Folglich wird sich der Turm bereits weiter gedreht<br />
haben, wenn der Stein die Oberflache der Erde erreicht. Der Stein mtisste deswegen<br />
in einer gewissen Entfernung vom FuB des Turmes aufkommen. Aber in der<br />
Praxis geschieht dies nicht, der Stein trifft unmittelbar am FuB des Turmes auf<br />
Hieraus folgt <strong>als</strong>o, dass die Erde sich nicht dreht und die kopemikanische Theorie<br />
f<strong>als</strong>ch ist.<br />
Ein weiteres Argument gegen Kopemikus stammt aus der Mechanik und betrifft<br />
lose Objekte wie Steine, Philosophen etc., die sich auf der Erdoberflache<br />
befmden. Wenn sich die Erde drehen wiirde, wamm werden solche Objekte dann<br />
nicht von der Erdoberflache geschleudert, wie Steine von der Felge eines sich<br />
79
80<br />
drehenden Rades geschleudert werden? Und wenn die Erde sich nicht nur dreht,<br />
sondern sich auch <strong>als</strong> Ganzes um die Sonne dreht, warum lasst sie dabei nicht den<br />
Mond hinter sich?<br />
Einige Argumente gegen Kopemikus beruhen auf astronomischen Uberlegungen,<br />
die bereits weiter oben erwahnt wurden. Sie beziehen sich auf das Ausbleiben<br />
der Parallaxe in den beobachteten Positionen der Sterne und auf die Tatsache,<br />
dass Mars und Venus, mit bloBem Auge betrachtet, ihre GroBe im Laufe des<br />
Jahres nicht nennenswert verandern.<br />
Aufgrund der genannten und ahnlicher Argumente sahen sich die Verfechter<br />
der kopernikanische Theorie mit emsthaften Schwierigkeiten konfrontiert. Kopernikus<br />
selbst war in der Tradition der aristotelischen Metaphysik groB geworden<br />
und fand so keine angemessenen Argumente zur Verteidigung seiner Theorie.<br />
Angesichts des Beweismateri<strong>als</strong> gegen Kopemikus fragt man sich, was im<br />
Jahre 1543 fur die kopernikanische Theorie sprach. „Nicht besonders viel", muss<br />
die Antwort lauten. Der hauptsachliche Vorteil der kopernikanischen Theorie lag<br />
in der Eleganz, mit der sie Besonderheiten der Planetenbewegungen erklarte, die<br />
mit der konkurrierenden ptolemaischen Theorie lediglich auf recht umstandhche<br />
Weise erklart werden konnten. Die Besonderheiten bestanden in der riickwarts<br />
gerichteten Bewegung der Planeten und der Tatsache, dass Merkur und Venus im<br />
Gegensatz zu den anderen Planeten stets in Sonnennahe verbleiben. Ein Planet<br />
unterbricht (von der Erde aus gesehen) seine westwarts gerichtete Bewegung<br />
inmitten der Sterne und wandert fiir eine kurze Zeit denselben Weg in ostliche<br />
Richtung zurtick, um dann seinen Weg in westlicher Richtung fortzusetzen. Im<br />
ptolemaischen System wurden riickwarts gerichtete Bewegungen durch speziell zu<br />
diesem Zweck konstruierte Epizykel erklart - ein Schachzug, der <strong>als</strong> ziemlich ad<br />
hoc bezeichnet werden muss. Im kopernikanischen System sind derartige ktlnstliche<br />
Bewegungen nicht notwendig. Eine riickwarts gerichtete Bewegung stellt eine<br />
nattirliche Folge der Tatsache dar, dass die Erde gemeinsam mit den Planeten vor<br />
dem Hintergrund der Fixsteme die Sonne umkreist. Eine ahnliche Erklarung gibt<br />
es zum Problem der gleichbleibenden Nahe von Merkur und Venus zur Sonne.<br />
Dies ist eine logische Folge des kopernikanischen Systems, wenn man sich einmal<br />
klargemacht hat, dass die Umlaufbahnen von Merkur und Venus sich innerhalb<br />
der Umlaufbahnen der Erde befmden. Im ptolemaischen System mussten die<br />
Umlaufbahnen der Sonne, des Merkurs und der Venus auf eine kiinstliche Art und<br />
Weise miteinander verbunden werden, um das erforderliche Resultat zu erhalten.<br />
Es gab <strong>als</strong>o bestimmte mathematische Eigenschaften der Theorie von Kopernikus,<br />
die zu jener Zeit fiir seine Theorie sprachen. Abgesehen davon waren die<br />
beiden rivalisierenden Systeme mehr oder weniger ebenbtirtig, soweit es das MaB<br />
an Einfachheit und die Ubereinstimmung mit Beobachtungen von Planetenpositionen<br />
betraf Kreisformige Umlaufbahnen, deren Mittelpunkt die Sonne darstellte,<br />
konnten nicht mit der Beobachtung in Ubereinstimmung gebracht werden,<br />
sodass Kopemikus, wie auch Ptolemaus, Epizykel hinzuziehen musste. Dabei<br />
mussten fiir beide Systeme etwa die gleiche Anzahl von Epizykeln angenommen<br />
werden, um Umlaufbahnen zu erhalten, die mit bekannten Beobachtungen im<br />
Einklang standen. Im Jahre 1543 konnte das Argument der mathematischen Einfachheit,<br />
das fur Kopemikus sprach, nicht <strong>als</strong> ein entsprechender Ausgleich zu den
mechanischen und astronomischen Argumenten betrachtet werden, die gegen ihn<br />
standen. Trotzdem faszinierte das kopernikanische System mathematisch orientierte<br />
Naturphilosophen, und ihre Anstrengungen zur Verteidigung der kopernikanischen<br />
Theorie wurden in den folgenden hundert Jahren zunehmend erfolgreicher.<br />
Derjenige, der am bedeutsamsten zur Verteidigung des kopemikanischen<br />
Systems beitrug, war Galilei. Er tat dies auf zweierlei Arten. Zunachst benutzte er<br />
ein Teleskop, um den Himmel zu beobachten und veranderte hiermit die Beobachtungsdaten,<br />
zu deren Erklarung die Theorie von Kopemikus erforderlich war.^<br />
Zweitens hinterlieB er die Anfange einer neuen Mechanik, die die aristotelische<br />
Mechanik ersetzen sollte und die herangezogen wurde, um die gegen das kopernikanische<br />
System gerichteten Argumente aus der Mechanik zu entkraften.<br />
Als Galilei 1609 seine ersten Teleskope konstruierte und sie fur die Himmelsbeobachtung<br />
erprobte, machte er dramatische Entdeckungen. Er sah, dass es<br />
eine Vielzahl von Stemen gibt, die fur das bloBe Auge nicht sichtbar smd. Er sah,<br />
dass der Jupiter Monde besitzt und dass die Mondoberflache mit Bergen und Kratern<br />
uberzogen ist. Er beobachtete weiterhin, dass die augenscheinliche GroBe von<br />
Mars und Venus, durch das Teleskop betrachtet, sich in der Weise veranderte, wie<br />
es durch die kopernikanische Theorie vorhergesagt wurde. Spater sollte Galilei<br />
bestatigen, dass die Venus ebenso Phasen hat wie der Mond, wie es Kopernikus<br />
ebenfalls vorhergesagt hatte, und was mit dem ptolemaischen System im Widerspruch<br />
steht. Die Monde des Jupiters entkrafteten das von den Verfechtern der<br />
aristotelischen Theorie vorgebrachte Argument gegen Kopemikus, das auf der<br />
Tatsache beruhte, dass der Mond bei der sich angeblich drehenden Erde bleibt.<br />
Nun wurden die Aristoteliker mit dem gleichen Problem im Hinblick auf den<br />
Jupiter und seine Monde konfrontiert. Die der Erde ahnliche Oberflache der Monde<br />
untergrub die aristotelische Unterscheidung zwischen dem voUkommenen und<br />
unverganglichen Himmel und der sich verandemden und verganglichen Erde. Die<br />
Entdeckung der Venusphasen bedeutete einen Erfolg fur die Anhanger von<br />
Kopernikus und ein weiteres Problem fur die Verfechter des ptolemaischen Weltbildes.<br />
Es lasst sich nicht leugnen, dass, nachdem die Beobachtungen, die Galilei<br />
mit seinem Teleskop gemacht hatte, einmal anerkannt waren, die kopernikanische<br />
Theorie mit weniger Widerstand zu kampfen hatte.<br />
Die vorangegangenen Bemerkungen uber Galilei und das Teleskop werfen<br />
ein ernsthaftes erkenntnistheoretisches Problem auf. Warum sollten Beobachtungen<br />
durch ein Teleskop den Beobachtungen mit bloBem Auge vorgezogen werden?<br />
Ftir eine Antwort auf diese Frage konnte eine optische Theorie des Teleskops<br />
herangezogen werden, die die VergroBerungseigenschaft erklart und die gleichzeitig<br />
eine Beschreibung der unterschiedlichen Aberrationen liefert, die wir erwarten<br />
konnen. Aber Galilei selbst zog fur diesen Zweck keine Theorie der Optik<br />
heran. Die erste Theorie der Optik, die imstande war, in diesem Sinne eine theoretische<br />
Basis zu bieten, wurde von Galileis Zeitgenossen Kepler im fruhen 16. Jahr-<br />
^ Die Anmerkungen zu Galilei und dem Teleskop sowie einige weitere Aspekte der Beurteilung der<br />
galileischen Physik stammen aus Feyerabends provokativer Darstellung in „Wider den Methodenzwang:'<br />
(1983).<br />
81
82<br />
hundert entworfen. Diese Theorie wurde in den folgenden Jahrzehnten verbessert<br />
und erweitert. Ein zweiter Zugang zu unserer Frage hinsichtlich der Uberlegenheit<br />
der teleskopischen Beobachtung gegentiber der mit bloBem Auge ist der, die<br />
Effektivitat des Teleskops praktisch zu demonstrieren, etwa dadurch, es auf entfemt<br />
gelegene Turme, Schiffe o.A. zu richten und zu zeigen, wie das Instrument<br />
Gegenstande vergroBert und das Auflosungsvermogen erhoht. Es gibt jedoch eine<br />
Schwierigkeit bei dieser Art von Rechtfertigung des Teleskops in der Astronomie.<br />
Wenn irdische Objekte durch das Teleskop betrachtet werden, ist es moglich, den<br />
betrachteten Gegenstand von Aberrationen, die durch das Teleskop verursacht<br />
werden, zu unterscheiden, da der Beobachter mit dem Aussehen eines Turmes<br />
Oder beispielsweise eines Schiffes vertraut ist. Dies aber trifft nicht zu, wenn ein<br />
Beobachter den Himmel erforscht und auf Phanomene stoBt, die er nicht kennt. In<br />
dieser Hinsicht ist es bedeutsam, dass Galileis Beschreibung von der Mondoberflache,<br />
wie er sie durch das Teleskop sah, einige Krater enthielt, die dort in Wirklichkeit<br />
nicht existieren. Vermutlich waren jene „Krater" Aberrationen, die auf die<br />
Funktionsweise von Galileis noch recht unvollkommenem Teleskop zuriickzufuhren<br />
sind. Dies soil geniigen, um die Problematik der Rechtfertigung der Beobachtung<br />
mit dem Teleskop aufzuzeigen und darzulegen, dass dies keineswegs unproblematisch<br />
ist. Galileis Widersacher, die seine Entdeckungen infrage stellten,<br />
waren nicht alles engstirnige und sture Reaktionare. Rechtfertigungen erfolgten<br />
und wurden zunehmend angemessener, wahrend gleichzeitig immer bessere<br />
Teleskope konstruiert und <strong>Theorien</strong> der Optik fur ihre Funktionsweise entwickelt<br />
wurden. Dies alles aber brauchte seine Zeit.<br />
Der bedeutendste wissenschaftliche Beitrag von Galilei waren seine Arbeiten<br />
innerhalb der Mechanik. Er lieferte einige der Grundlagen der newtonschen<br />
Mechanik, die die aristotelische Mechanik ersetzen sollte. Er unterschied deutlich<br />
zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung und stellte die Behauptung auf,<br />
dass sich Objekte im freien Fall mit einer konstanten Beschleunigung bewegen,<br />
die unabhangig von ihrem Gewicht ist, wobei der zuriickgelegte Weg dem Quadrat<br />
der Fallzeit proportional ist. Er bestritt die Behauptung von Aristoteles, dass<br />
jede Bewegung verursacht werden musse, und machte geltend, dass die Geschwindigkeit<br />
eines sich langs einer Kreisbahn um die Erde bewegten Korpers<br />
weder zu- noch abnehmen konne, da er weder falle noch steige. Er analysierte die<br />
Bewegungen von Wurfgeschossen durch eine Zerlegung in Komponenten: in eine<br />
horizontale Komponente, die eine konstante Geschwindigkeit gemaB dem Tragheitsgesetz<br />
darstellt und in eine vertikale Komponente, die einer konstanten Beschleunigung<br />
nach unten unterliegt. Er zeigte, dass die resultierende Bahn des<br />
Wurfkorpers durch eine Parabel beschrieben wird. Er entwickelte das Konzept der<br />
relativen Bewegung und bewies, dass die gleichformige Bewegung eines Systems<br />
mechanisch nicht ohne Riickgriff auf irgendeinen Bezugspunkt auBerhalb des<br />
Systems wahrgenommen werden kann.<br />
Seine entscheidenden Entwicklungen brachte Galilei nicht auf einmal hervor.<br />
Sie entstanden nach und nach in uber einem halben Jahrhundert und wurden in<br />
seinem Buch ,,Unterredungen und mathematische Demonstrationen uber zwei<br />
neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend'' (Galilei,<br />
1987b), das erstm<strong>als</strong> 1638 veroffentlicht wurde, zusammengefasst - fast ein Jahr-
hundert nach der Publikation des Hauptwerkes von Kopemikus. Galilei stellte<br />
seine neuen Konzepte wesentlich praziser und zunehmend klarer mithilfe von<br />
Beispielen und Gedankenexperimenten dar. Gelegentlich beschrieb Galilei tatsachliche<br />
Experimente, zum Beispiel zum Verhalten von Kugeln auf schiefen<br />
Ebenen, auch wenn strittig ist, wie viele dieser Experimente tatsachlich durchgefiihrt<br />
wurden.<br />
Galileis neue Mechanik versetzte das kopernikanische System in die Lage,<br />
einigen der oben erwahnten Einwande zu begegnen. Ein Gegenstand, der auf einer<br />
Turmspitze gehalten wird und der sich genauso wie der Turm in einer Kreisbewegung<br />
um den Erdmittelpunkt dreht, wird diese Bewegung zusammen mit dem<br />
Turm fortsetzen und wird, wenn man ihn fallen lasst, folglich direkt am FuB des<br />
Turmes auftreffen, was auch unserer Erfahrung entspricht. Galilei fiihrte dieses<br />
Argument weiter und behauptete, dass die Richtigkeit seines Tragheitsgesetzes<br />
demonstriert werden konne, indem man einen Stein von der Mastspitze eines sich<br />
gleichformig vorwarts bewegenden Schiffes fallen lasst und dann feststellt, dass<br />
dieser unmittelbar am MastfuB auf dem Deck auftrifft, wenngleich Galilei nicht<br />
den Anspruch erhoben hat, dieses Experiment tatsachlich durchgefuhrt zu haben.<br />
Mit der Erklarung, warum lose Gegenstande nicht von der Oberflache der sich<br />
drehenden Erde geschleudert werden, war Galilei weniger erfolgreich.<br />
Obgleich der GroBteil des wissenschaftlichen Werkes von Galilei entworfen<br />
wurde, um die kopernikanische Theorie zu stutzen, entwickelte Galilei selbst<br />
keine detaillierte Astronomic und scheint eher der aristotelischen Sichtweise mit<br />
seiner Praferenz fur kreisformige Umlaufbahnen angehangen zu haben. Es war<br />
Galileis Zeitgenosse Kepler, dem in dieser Richtung ein entscheidender Durchbruch<br />
gelang, <strong>als</strong> er entdeckte, dass man sich jede Planetenbahn <strong>als</strong> eine Ellipse<br />
vorstellen muss, in deren Mittelpunkt sich die Sonne befindet. Diese Entdeckung<br />
machte das komplexe System von Epizykeln iiberflussig, das von Kopernikus <strong>als</strong><br />
auch von Ptolemaus fiir notwendig erachtet wurde.<br />
Im ptolemaischen System mit der Erde <strong>als</strong> Mittelpunkt ist eine derartige Vereinfachung<br />
nicht moglich. Kepler konnte auf Aufzeichnungen von Planetenpositionen<br />
von Tycho Brahe zurtickgreifen, die weitaus genauer waren <strong>als</strong> die, tiber<br />
die Kopernikus verfligen konnte. Nach einer gewissenhaften Analyse der Daten<br />
gelang Kepler zu seinen drei Gesetzen der Planetenbewegungen, die besagen, dass<br />
sich Planeten in elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen, dass die Verbindungslinie<br />
zwischen dem Mittelpunkt der Sonne und dem eines Planeten in gleicher<br />
Zeit gleiche Flachen iiberstreicht und dass die Quadrate der Umlaufzeiten der<br />
Planeten sich proportional zu den Kuben der mittleren Entfernungen von der<br />
Sonne verhalten.<br />
Galilei und Kepler bemtihten sich sicherlich beide darum, Belege fur die<br />
kopernikanische Theorie zu liefem. Jedoch waren weitere Entwicklungen notwendig,<br />
bevor sie auf die sichere Grundlage einer umfassenden Physik gestellt werden<br />
konnte. Newton war in der Lage, die Werke von Galilei, Kepler und anderen zu<br />
nutzen, um eine umfassende Physik zu entwickeln, wie er sie in seiner ,,Fhilosophiae<br />
naturalisprincipia mathematical (1687) veroffentlichte. Er fand ein klares<br />
Konzept der Kraft <strong>als</strong> eine Ursache von Beschleunigung anstelle von Bewegung;<br />
ein Konzept, das in Schriften von Galilei und Kepler in etwas diffuser Weise vor-<br />
83
84<br />
gestellt wurde. Newton ersetzte Galileis zirkulares Tragheitsgesetz durch sein<br />
eigenes lineares Tragheitsgesetz, nach dem Korper sich in geraden und gleichformigen<br />
Bewegungen fortbewegen, sofern keine Krafte auf sie einwirken. Ein weiterer<br />
bedeutsamer Beitrag von Newton war die Gravitationstheorie. Sie versetzte<br />
Newton in die Lage, eine Erklarung dafiir zu liefern, warum Keplers Gesetz der<br />
Planetenbewegung und Galileis Gesetz des freien Falls annahemd zutreffend<br />
waren. Im System von Newton bildete die Wirklichkeit der Himmelskorper und<br />
der irdischen Korper eine Einheit - und alle Korper bewegen sich gemaB Newtons<br />
Bewegungsgesetzen unter dem Einfluss von Kraften. Nachdem Newtons Physik<br />
einmal anerkannt war, war es moglich, sie im Einzelnen auf die Astronomie anzuwenden.<br />
Es war zum Beispiel moglich, die Details der Umlaufbahn des Mondes<br />
zu erforschen, wobei seine endliche GroBe, die Erddrehung, die Schwankungen<br />
der Erde um die eigene Achse und so weiter berticksichtigt wurden. Es war ebenfalls<br />
moglich, die Abweichung der Planetenbewegungen von den Vorhersagen der<br />
keplerschen Gesetze zu untersuchen, die durch die endliche Masse der Sonne,<br />
interplanetarische Krafte etc. bedingt sind. Derartige Entwicklungen sollten einige<br />
der Nachft)lger Newtons fur die nachsten Jahrhunderte beschaftigen.<br />
Die Geschichte, die hier in groben Umrissen dargestellt wurde, sollte ausreichen,<br />
um aufzuzeigen, dass die kopernikanische Revolution nicht damit vollzogen<br />
war, einen Hut ein- oder zweimal vom schiefen Turm von Pisa fallen zu lassen. Es<br />
ist ebenso klar, dass weder die Induktivisten noch die F<strong>als</strong>ifikationisten eine wissenschaftstheoretische<br />
Erklarung bieten konnen, die mit dieser geschichtlichen<br />
Entwicklung vereinbar ware. Neue Konzepte von Kraft und Tragheit waren nicht<br />
das Ergebnis vorsichtiger Beobachtungen und Experimente, noch ergaben sie sich<br />
aus der F<strong>als</strong>ifikation kiihner Vermutungen und der wiederholten Ablosung einer<br />
kiihnen Vermutung durch eine andere. An fi*iihen Formulierungen der Theorie,<br />
einschlieBlich unvollstandig formulierten Konzepten, wurde festgehalten, und sie<br />
wurden, ungeachtet augenfalliger F<strong>als</strong>ifikationen, weiterentwickelt. Erst nachdem<br />
ein neues physikalisches System entwickelt worden war - ein Prozess, der die<br />
intellektuelle und praktische Arbeit vieler Wissenschaftler tiber mehrere Jahrhunderte<br />
in Anspruch nahm - konnten erfolgreich Ubereinstimmungen der neuen<br />
Theorie mit Ergebnissen von Beobachtungen und Experimenten im Detail aufgezeigt<br />
werden. Kein einziger wissenschaftstheoretischer Ansatz kann <strong>als</strong> annahemd<br />
angemessen bezeichnet werden, sofern er nicht Raum fur derartige Faktoren<br />
bietet.<br />
7.4 Die Unangemessenheit des f<strong>als</strong>inkationistischen Abgrenzungskriteriums<br />
und Poppers Antwort<br />
Poppers Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht- bzw. Pseudowissenschaft<br />
ist verlockend. Wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> sollen f<strong>als</strong>ifizierbar sein.<br />
Das heiBt, sie sollen Konsequenzen haben, die durch Beobachtungen oder Experimente<br />
iiberprufbar sind. Gilt dieses Kriterium uneingeschrankt, hat es die<br />
Schwache, dass es zu leicht erfullt wird, im Besonderen durch viele Erkenntnisanspruche,<br />
die Popper <strong>als</strong> unwissenschaftlich klassifizieren wiirde. Astrologen stel-
len Behauptungen auf, die f<strong>als</strong>ifizierbar sind (und haufig f<strong>als</strong>ifiziert werden) und<br />
in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Horoskope machen f<strong>als</strong>ifizierbare (wie<br />
unf<strong>als</strong>ifizierbare) Aussagen. Dieselbe bereits in Kapitel 5 erwahnte Zeitungskolumne<br />
„Ihre Sterne", welche die (nicht f<strong>als</strong>ifizierbare) Voraussage macht „Bei<br />
Sportwetten kann Gliick im Spiel sein", verspricht denjenigen, die am 28. Marz<br />
Geburtstag haben, dass „ein neuer Liebhaber die Augen zum Glanzen bringen<br />
wird und die sozialen Aktivitaten verbessert", ein Versprechen, das mit Sicherheit<br />
f<strong>als</strong>ifizierbar ist. Jede fundamentalistische christliche Vereinigung, die darauf<br />
besteht, dass die Bibel wortlich zu nehmen ist, ist f<strong>als</strong>ifizierbar. Die in der Genesis<br />
aufgestellte Behauptung, dass Gott Seen schuf und sie mit Fischen bevolkerte,<br />
wUrde f<strong>als</strong>ifiziert werden, wenn es keine Seen und/oder Fische gabe. Popper selbst<br />
merkt an, dass die freudsche Theorie, in dem sie Traume <strong>als</strong> Wunscherfiillungen<br />
konstruiert, der Herausforderung der F<strong>als</strong>ifikation mit Albtraumen begegnet.<br />
Als Antwort auf diese Beobachtung konnte ein F<strong>als</strong>ifikationist anmerken,<br />
dass <strong>Theorien</strong> nicht nur f<strong>als</strong>ifizierbar, sondem auch nicht f<strong>als</strong>ifiziert sein miissen.<br />
Dies widerlegt den Anspruch von Horoskopen, wissenschaftlich zu sein. Popper<br />
legt dar, dass es auch die freudsche Theorie eliminiert. Aber diese Losung sollte<br />
nicht voreilig angenommen werden, da sie alles, was der F<strong>als</strong>ifikationist <strong>als</strong> Wissenschaft<br />
beibehalten mochte, ebenfalls ausschlieBt, da wir gesehen haben, dass<br />
die meisten wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong> mit Problemen behaftet sind und zu der<br />
einen oder anderen akzeptierten Beobachtung im Widerspruch stehen. So wird im<br />
raffinierten F<strong>als</strong>ifikationismus zugelassen, dass <strong>Theorien</strong> im Angesicht einer F<strong>als</strong>ifikation<br />
modifiziert werden und dass sogar trotz F<strong>als</strong>ifikationen <strong>Theorien</strong> weiterverfolgt<br />
werden, in der Hoffhung, dass die Probleme in der Zukunft gelost<br />
werden. Diese Art der Antwort ist in der folgenden Passage von Popper (1974, S.<br />
55) zusammengefasst, in der er sich mit Schwierigkeiten der gerade angefiihrten<br />
Art auseinandersetzt.<br />
Dabei habe ich jedoch immer auch die Notwendigkeit eines gewissen<br />
Dogmatismus betont: Dem dogmatischen Wissenschaftler fallt<br />
eine wichtige Rolle zu. Wurde man allzu schnell der Kritik den<br />
Platz tiberlassen, dann wiirde man nie ausfindig machen konnen,<br />
worin die reale Kraft unserer <strong>Theorien</strong> liegt.<br />
Aus meiner Perspektive illustriert diese Passage den Umfang, in dem der F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
mit emstzunehmenden Schwierigkeiten bezuglich der in diesem<br />
Kapitel aufgeworfenen Kritik konfrontiert ist. Die StoBrichtung des F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
ist die Betonung der kritischen Komponente von Wissenschaft. Unsere<br />
<strong>Theorien</strong> sind unermtidlicher Kritik auszusetzen, sodass ungeeignete ausgesondert<br />
und durch geeignetere ersetzt werden. Angesichts der Probleme beztiglich der<br />
Bestimmtheit, mit der <strong>Theorien</strong> f<strong>als</strong>ifiziert werden konnen, gesteht Popper ein,<br />
dass es oft notig ist, an <strong>Theorien</strong> trotz offensichtlicher F<strong>als</strong>ifikation festzuhalten.<br />
Obwohl unermtidliche kritische Auseinandersetzung empfohlen wird, scheint es,<br />
dass das Gegenteil, namlich Dogmatismus, auch eine positive Rolle zu spielen hat.<br />
Dariiber hinaus ist es dann, wenn sowohl eine kritische <strong>als</strong> auch eine dogmatische<br />
Einstellung toleriert werden kann, schwer festzustellen, welche ausgeschlossen<br />
85
86<br />
werden soil. Es ware pure Ironie, wenn die hoch elaborierte Version des F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
so geschwacht wixrde, dass sie nichts mehr ausschlieBen konnte und<br />
dabei mit genau den Gedanken in Widerspruch stunde, die Popper veranlassten,<br />
sie zu formulieren.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Eine Reihe von Kritikpunkten an Poppers F<strong>als</strong>ifikationismus enthalt Schilpp<br />
(1974). Kritik an der alles andere <strong>als</strong> raffinierten Art des F<strong>als</strong>ifikationismus fmdet<br />
sich bei Lakatos (1974). Viele der in diesem Kapitel angefiihrten Punkte zur Unvereinbarkeit<br />
der kopernikanischen Revolution zum F<strong>als</strong>ifikationismus stammen<br />
aus Feyerabend (1983).<br />
In Lakatos und Musgrave (1974) fmden sich Aufsatze, die Poppers Position<br />
kritisch mit der von Kuhn vergleichen, dessen Sichtweise im nachsten Kapitel diskutiert<br />
wird. Einige der zuletzt genannten Kritikpunkte fmden sich bei Mayo<br />
(1996).
8.1 <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong><br />
8<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> I:<br />
Kuhns Paradigmen<br />
Die im vorausgegangenen Kapitel skizzierte kopemikanische Revolution legt die<br />
Vermutung nahe, dass sowohl der induktivistische <strong>als</strong> auch der f<strong>als</strong>ifikationistische<br />
Beitrag zur Wissenschaftstheorie nicht umfassend genug ist. Indem sie sich<br />
auf die Beziehung zwischen <strong>Theorien</strong> und Beobachtungsaussagen konzentrieren,<br />
scheint es ihnen nicht zu gelingen, der Komplexitat der Entwicklung bedeutender<br />
<strong>Theorien</strong> gerecht zu werden. Seit den 1960er Jahren ist es tiblich geworden, daraus<br />
den Schluss zu ziehen, dass ein angemessenerer Zugang zur Wissenschaft die<br />
Berucksichtigung der theoretischen Rahmenbedingungen, unter denen wissenschaftliche<br />
Aktivitaten stattfinden, erfordert. Die nachsten drei Kapitel beziehen<br />
sich auf drei einflussreiche Ansatze, die sich diesen Standpunkt zu Eigen gemacht<br />
haben. In Kapitel 13 werden wir die Gelegenheit haben, uns mit der Frage auseinanderzusetzen,<br />
ob ein „Theorie-dominiertes" Verstandnis von Wissenschaft zu weit<br />
geht.<br />
Ein Grund dafur, warum <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> gesehen werden, lasst sich<br />
aus der Wissenschaftsgeschichte ableiten. Historische Studien zeigen, dass die<br />
Entwicklung und der Fortschritt der bedeutendsten Wissenschaften von induktivistischen<br />
und f<strong>als</strong>ifikationistischen Ansatzen nicht erfasst werden. Die kopemikanische<br />
Revolution hat uns daflir bereits <strong>als</strong> Beispiel gedient. Die Annahme wird<br />
dadurch gesttitzt, dass die Physik einige Jahrhunderte nach Newton unter newtonschen<br />
Rahmenbedingungen weitergefuhrt wurde, bis diese zu Beginn dieses Jahrhunderts<br />
durch die Relativitats- und die Quantentheorie infrage gestellt wurden.<br />
Das historische Argument ist jedoch nicht der einzige Grund dafur, dass es fur<br />
notwendig erachtet wurde, sich auf theoretische Rahmenbedingungen zu konzentrieren.<br />
Ein allgemeineres, philosophisches Argument ist eng verkniipft mit der<br />
Theorieabhangigkeit von Beobachtungen. In Kapitel 1 wurde deutlich gemacht,<br />
dass Beobachtungsaussagen in der Sprache einer Theorie formuliert sein miissen.<br />
Folglich sind die Aussagen und die Begriffe, die in einer Theorie verwendet werden,<br />
nur in dem MaBe prazise und informativ, wie es die Theorie ist, in deren<br />
Sprache sie formuliert wurden. So sind wir uns zum Beispiel sicherlich dariiber
88<br />
einig, dass der newtonsche Begriff der „Masse" eine prazisere Bedeutung <strong>als</strong> beispielsweise<br />
der Begriff der „Demokratie" hat. Wir sind der Meinung, dass der<br />
Grund fur die relativ genaue Bedeutung des erstgenannten Begriffs sich aus der<br />
Tatsache ableiten lasst, dass er eine spezifische, genau definierte Bedeutung in<br />
einer prazisen, eindeutig umrissenen Theorie hat, namlich in der Newtonschen<br />
Mechanik. Hingegen wissen wu* nur zu gut, dass <strong>Theorien</strong>, in denen der Begriff<br />
„Demokratie" vorkommt, verschwommen und vieldeutig sind. Wenn wir tatsachlich<br />
von diesem engen Zusammenhang, der zwischen der Genauigkeit der Bedeutung<br />
eines Terminus oder einer Aussage und der Rolle, die der Terminus oder die<br />
Aussage in einer Theorie spielt, ausgehen konnen, dann folgt hieraus unmittelbar,<br />
dass Bedarf an einheitlich strukturierten <strong>Theorien</strong> besteht.<br />
Die Abhangigkeit der Bedeutung von Begriffen von der Struktur einer Theorie,<br />
in der sie Verwendung finden, sowie die Abhangigkeit der Genauigkeit ihrer<br />
Bedeutung von der Genauigkeit und der Koharenz der Struktur dieser Theorie,<br />
wird deutlicher, wenn man die begrenzten Moglichkeiten in Betracht zieht, wie<br />
Begriffe anderweitig ihre Bedeutung erhalten konnen. Eine Alternative ist die<br />
Auffassung, dass Begriffe ihre Bedeutung mittels einer Definition bekommen. Als<br />
grundlegendes Verfahren, mit dem Begriffsbestimmungen geleistet werden konnen,<br />
mtissen Definitionen jedoch abgelehnt werden, weil Begriffe nur tiber andere<br />
Begriffe definiert werden konnen, deren Bedeutung bekannt ist. Wenn die<br />
Bedeutung dieser zur Definition herangezogenen Begriffe selbst wieder mittels<br />
Definition bestimmt werden muss, dann wird deutlich, dass uns dies zu einem<br />
unendlichen Regress fuhrt, es sei denn, dass die Bedeutung irgendwelcher Begriffe<br />
auf andere Art und Weise festgelegt ist. Ein Worterbuch hat wenig Sinn,<br />
wenn jemand nicht schon viele Worter kennt. Newton konnte die Begriffe<br />
„Masse" oder „Krafl" nicht in vor-newtonscher Terminologie definieren. Er<br />
musste notgedrungen die Terminologie des alten Begriffssystems uberschreiten,<br />
um ein neues System entwickeln zu konnen. Eine zweite Alternative ist die, dass<br />
die Bedeutung von Begriffen mittels ostensiver Definition durch Zeigehandlung<br />
und Beobachtung festgelegt wird. In unserer Diskussion dartiber, wie ein Kind die<br />
Bedeutung von „Apfel" lemt (siehe Kapitel 1), haben wir gesehen, dass diese<br />
Alternative selbst im Falle eines solch elementaren Begriffs wie „Apfel" nur<br />
schwer aufrechtzuerhalten ist. Sie scheint noch weniger plausibel, bezieht man<br />
sich auf Definitionen von Begriffen wie „Masse" in der Mechanik oder „elektrisches<br />
Feld" im Elektromagnetismus. Die Behauptung, dass Begriffe zumindest<br />
zum Teil ihre Bedeutung aus der Rolle gewinnen, die sie in einer Theorie spielen,<br />
wird durch die folgenden historischen Beispiele unterstiitzt.<br />
Im Gegensatz zur weit verbreiteten Legende war das Experiment in keiner<br />
Weise der Schlussel zu Galileis Innovationen in der Mechanik. Viele der „Experimente",<br />
auf die er sich beruft, wenn er seine Theorie darlegt, sind Gedankenexperimente.<br />
Dies stellt fur diejenigen Empiristen einen Widerspruch dar, die darauf<br />
bestehen, dass neue <strong>Theorien</strong> auf experimentellen Ergebnissen basieren, wird aber<br />
unmittelbar verstandlich, wenn man sich vergegenwartigt, dass prazises Experimentieren<br />
nur dann moglich ist, wenn man im Besitz einer prazisen Theorie ist,<br />
die imstande ist, Vorhersagen in Form von prazisen Beobachtungsaussagen zu<br />
liefem. Galilei lieferte einen bedeutenden Beitrag zum Aufbau einer neuen
Mechanik, die sich in spateren Stadien <strong>als</strong> tragfahig fur eingehendes Experimentieren<br />
erwiesen hat. Es braucht uns nicht zu verwundern, dass seine Leistung eher<br />
aus Gedankenexperimenten, Analogien und anschaulichen Metaphern bestand <strong>als</strong><br />
aus ausfiihrlichem Experimentieren. Die typische Geschichte eines Begriffes, ob<br />
es sich nun um den Begriff „chemisches Element", „Atom" oder „das Unbewusste"<br />
handelt, beginnt zunachst einmal mit einer vagen Vorstellung, die dann<br />
erst allmahlich in dem MaBe deutlich wird, in dem die Theorie, deren Bestandteil<br />
er ist, eine prazisere und koharentere Form annimmt. Die Entstehung des Begriffes<br />
„elektrisches Feld" liefert dafiir ein besonders treffendes Beispiel. Als er in der<br />
ersten Halfte des 19. Jahrhunderts von Faraday zum ersten Mai eingefuhrt wurde,<br />
war er sehr vage und mithilfe von mechanischen Analogien wie „gespannter<br />
Faden" und einer bildhaften Verwendung von Termini wie „Spannung", „Starke"<br />
und „Krafl" formuliert. Der Feldbegriff wurde in dem MaBe besser defmiert, wie<br />
die Beziehung zwischen dem elektrischen Feld und anderen elektromagnetischen<br />
GroBen deutlicher gemacht werden konnte. Als Maxwell erst einmal seinen „VerschiebungsStrom"<br />
- wiederum mithilfe mechanischer Analogien - eingefuhrt<br />
hatte, war es moglich, mit den maxwellschen Gleichungen innerhalb der Theorie<br />
ein hohes MaB an Koharenz herbeizufuhren. Die maxwellschen Gleichungen<br />
decken deutlich eine Wechselbeziehung zwischen samtlichen elektromagnetischen<br />
FeldgroBen auf Nur kurze Zeit danach wurde der Ather, den man <strong>als</strong> notwendig<br />
erachtet hatte, um den Feldem eine mechanische Grundlage zu geben, uberflussig.<br />
Der Begriff „Feld" blieb <strong>als</strong> klar defmiertes, eigenstandiges Konzept bestehen.<br />
In diesem Abschnitt habe ich versucht, die logische Grundlage eines Zugang<br />
zur Wissenschaft zu schaffen, der auf die theoretischen Rahmenbedingungen<br />
abzielt, innerhalb derer wissenschaftliche Aktivitaten und Auseinandersetzungen<br />
stattfinden. Im Folgenden werden wir uns mit drei bedeutenden Philosophen beschaftigen,<br />
die diese Idee verfolgt haben.<br />
8.2 Thomas Kuhn<br />
In seinem Buch ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen '\ erstm<strong>als</strong> erschienen<br />
1962 und acht Jahre spater in uberarbeiteter Fassung wieder aufgelegt (dt.<br />
1967, zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 erganzte Auflage<br />
1976, 4. Aufl. 1979), setzt sich Kuhn kritisch mit induktivistischen und f<strong>als</strong>ifikationistischen<br />
Beitragen zur Wissenschaft auseinander. Seine Ansichten wurden<br />
seither in der Wissenschaftsphilosophie immer wieder aufgegriffen. Kuhn begann<br />
seine akademische Karriere <strong>als</strong> Physiker und wandte sich dann der Wissenschaftsgeschichte<br />
zu. Das fuhrte ihn dazu, seine Sichtweise Uber die Natur der Wissenschaft<br />
infi-age zu stellen. Er kam zu der Uberzeugung, dass traditionelle Zugangsweisen<br />
zur Wissenschaft, wie der Induktivismus und der F<strong>als</strong>ifikationismus, den<br />
historischen Gegebenheiten nicht entsprechen. In der Konsequenz entwickelte<br />
Kuhn einen Beitrag zur Wissenschaftstheorie, der mit den historischen Bedingungen<br />
in Einklang steht. Zentrales Merkmal seiner Theorie ist die Betonung des<br />
revolutionaren Charakters wissenschaftlichen Fortschritts, wobei eine Revolution<br />
das Aufgeben einer theoretischen Struktur zugunsten einer anderen, mit ihr nicht<br />
89
90<br />
zu vereinbarenden, beinhaltet. Ein anderer bedeutender Aspekt ist die wichtige<br />
Rolle, die soziologische Charakteristika der wissenschaftlichen Gemeinschaft spielen.<br />
Kuhns Vorstellung (iber den Fortschritt von Wissenschaft kann mit dem folgenden<br />
offenen Ablaufschema zusammengefasst werden:<br />
Vor-Wissenschaft — normale Wissenschaft - Krise - Revolution -<br />
Neue Normalwissenschaft - Neue Krise . . .<br />
Die wenig organisierten und unterschiedlichen Aktivitaten, die der Bildung einer<br />
Wissenschaft vorausgehen, werden schlieBlich strukturiert und bekommen eine<br />
Richtung, wenn ein einziges Paradigma von der Gemeinschaft der Wissenschaftler<br />
anerkannt wird. Ein Paradigma besteht aus den allgemeinen theoretischen<br />
Annahmen und Gesetzen sowie den Techniken fur ihre Anwendung, die die<br />
„Scientific community" einer bestimmten Wissenschaft anerkennt. Wissenschaftler,<br />
die innerhalb eines Paradigmas arbeiten - ganz gleich, ob es sich um newtonsche<br />
Mechanik, die Wellenoptik, die analytische Chemie oder um sonst irgendetwas<br />
handelt - praktizieren, was Kuhn Normalwissenschaft nennt. Bei dem Versuch,<br />
das Verhalten einiger relevanter Aspekte der Wirklichkeit, so wie es sich <strong>als</strong><br />
das Ergebnis von Experimenten darstellt, zu erklaren, entwickeln die Normalwissenschaftler<br />
ihr Paradigma und konkretisieren es. Dabei stoBen sie unvermeidlich<br />
auf Schwierigkeiten und augenfallige F<strong>als</strong>ifikationen. Wenn derartige Schwierigkeiten<br />
tiberhand nehmen, entwickelt sich daraus eine Krise. Eine Krise wird uberwunden,<br />
wenn ein volHg neues Paradigma auftaucht und mehr und mehr Anhanger<br />
unter den Wissenschaftlern bekommt, bis schlieBlich das urspriingliche, problembeladene<br />
Paradigma aufgegeben wird. Der sprunghafte Wechsel stellt eine<br />
wissenschaftliche Revolution dar. Das neue Paradigma, vielversprechend und zunachst<br />
unbelastet von emsthaften Problemen, bestimmt nun neue normalwissenschaftliche<br />
Forschungsaktivitaten, bis es ebenso mit Schwierigkeiten konfrontiert<br />
wird und sich eine neue Krise ergibt, gefolgt von einer neuen Revolution.<br />
Betrachten wir nun nach diesem kurzen Uberblick die einzelnen Komponenten<br />
des kuhnschen Ansatzes im Detail.<br />
8.3 Paradigmen und Normalwissenschaft<br />
Eine voll entwickelte Wissenschaft wird durch ein einziges Paradigma geleitet.^<br />
Das Paradigma bestimmt den Standard fur legitime Forschung innerhalb der be-<br />
Nach der 1. Auflage von „ Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen " hat Kuhn eingeraumt, dass<br />
er den Terminus „Paradigma" ursprunghch in einem zweideutigen Sinne verwandt hat. In dem Postskriptum<br />
zu der zweiten, revidierten und erganzten Auflage unterscheidet er zwischen einer umfassenderen<br />
Bedeutung des Terminus, wofiir er die Bezeichnung „disziplindres System'' („discipHnary<br />
matrix") einftihrt, und einer Bedeutung im engeren Sinne, fiir die er den Terminus „Musterbeispiel"<br />
(„exemplar") heranzieht. Hier wird weiterhin der Begriff „Paradigma" dafur verwendet, was Kuhn <strong>als</strong><br />
„disziplinares System" bezeichnet. - In seinem Postskriptum nimmt Kuhn Bezug auf die Kritik am<br />
ParadigmenbegriffvonMasterman (1974). (Anm. d. Hrsg.)
treffenden Wissenschaft. Es koordiniert und bestimmt das Vorgehen beim Problemlosen,<br />
beim „Ratsellosen" in der Normalwissenschaft. Die Existenz eines Paradigmas,<br />
das in der Lage ist, die Tradition einer Normalwissenschaft zu fordem,<br />
ist das Charakteristikum, das nach Kuhn Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft<br />
unterscheidet. Die newtonsche Mechanik, die Wellenoptik und der klassische<br />
Elektromagnetismus bildeten - und bilden vielleicht heute noch - Paradigmen und<br />
konnen aus diesem Grund alle drei <strong>als</strong> wissenschaftlich bezeichnet werden. Die<br />
moderne Soziologie lasst tiber weite Strecken ein Paradigma vermissen und<br />
verdient aus diesem Grund kaum die Bezeichnung „wissenschaftlich".<br />
Wie weiter unten begriindet wird, gehort es zum Wesen eines Paradigmas,<br />
sich einer exakten Definition zu widersetzen. Trotzdem ist es moglich, einige der<br />
typischen Komponenten, die ein Paradigma ausmachen, zu beschreiben. Zu den<br />
Komponenten gehoren explizit ft)rmulierte Gesetze und theoretische Annahmen.<br />
So bilden Newtons Bewegungsgesetze einen Teil des newtonschen Paradigmas<br />
und Maxwells Gleichungen stellen einen Teil des Paradigmas dar, das die klassische<br />
elektromagnetische Theorie ausmacht. Femer umfassen Paradigmen standardmaBige<br />
Wege der Anwendung grundlegender Gesetze auf eine Vielzahl unterschiedlicher<br />
Situationen. Zum Beispiel beinhaltet das newtonsche Paradigma<br />
Methoden der Anwendung der newtonschen Gesetze auf die Planetenbewegungen,<br />
auf Pendelbewegungen, auf das ZusammenstoBen von Billardkugeln usw. Das<br />
Paradigma umfasst ebenso das Instrumentarium sowie die instrumentellen Techniken,<br />
die notwendig sind, um die Gesetze des Paradigmas auf die Realitat anzuwenden.<br />
Bezieht man sich in der Astronomic auf das newtonsche Paradigma, so<br />
umfasst dies sowohl die Anwendung einer Vielzahl bewahrter Arten von Teleskopen<br />
sowie Techniken zu ihrem Gebrauch, <strong>als</strong> auch eine Reihe unterschiedlicher<br />
Techniken zur Korrektur der mithilfe der Teleskope gesammelten Daten.<br />
Eine weitere Komponente von Paradigmen sind allgemeine metaphysische<br />
Prinzipien, die die Arbeiten innerhalb eines Paradigmas leiten. Wahrend des 19.<br />
Jahrhunderts wurde das newtonsche Paradigma von einer Annahme geleitet, die<br />
etwa wie folgt lauten konnte: „Die gesamte physische Welt ist <strong>als</strong> ein mechanisches<br />
System zu erklaren, das gemaB den Bewegungsgesetzen von Newton unter<br />
dem Einfluss vielfaltiger Krafte ftinktioniert". Das kartesianische Programm im<br />
17. Jahrhundert beinhaltete das Prinzip: „Es gibt keinen vollstandig leeren Raum,<br />
und das Universum ist vergleichbar mit einem groBen Uhrwerk, in dem alle Krafte<br />
den Charakter eines StoBes haben". SchlieBlich beinhalten alle Paradigmen eine<br />
Reihe sehr allgemeiner methodologischer Vorschriften: „Ein Paradigma muss der<br />
Realitat angepasst werden" oder „Fehlgeschlagene Versuche, das Paradigma der<br />
Realitat anzupassen, miissen <strong>als</strong> ernstzunehmende Probleme betrachtet werden."<br />
Normalwissenschaft beinhaltet ausfuhrliche Versuche, ein Paradigma auszuarbeiten,<br />
wobei angestrebt wird, seine Anpassung an die Realitat zu verbessern.<br />
Ein Paradigma soil immer hinlanglich unprazise und offen sein, sodass noch genug<br />
Raum fiir derartige Forschungsarbeit verbleibt.^ Kuhn stellt Normalwissenschaft<br />
<strong>als</strong> ein Ratsellosen dar, welches sich nach den Regeln des betroffenen Paradigmas<br />
richtet. Die Ratsel sind sowohl theoretischer <strong>als</strong> auch experimenteller<br />
^ Vgl. den etwas praziseren BQgriff dQrpositiven Heuristik von Lakatos. (Anm. d. Hrsg.)<br />
91
92<br />
Natur.^ So bestehen zum Beispiel innerhalb des newtonschen Paradigmas typische<br />
theoretische Ratsel darin, mathematische Techniken zu entwickeln, die sich auf<br />
die Bewegungen von Planeten beziehen, die von mehr <strong>als</strong> einer Anziehungskraft<br />
bestimmt werden, wie auch auf die Entwicklung von geeigneten Vorstellungen zur<br />
Anwendung der newtonschen Gesetze auf die Bewegung von Flussigkeiten. Zu<br />
den experimentellen Ratseln gehoren die Prazisiemng teleskopischer Beobachtungen<br />
sowie die Entwicklung experimenteller Techniken, die imstande sind, verlasshche<br />
Messungen der Gravitationskonstanten zu liefern. Normalwissenschaftler<br />
mussen von der Voraussetzung ausgehen, dass ein Paradigma die Mittel bietet, um<br />
die Ratsel zu losen, die innerhalb ihres Rahmens formuliert werden. Scheitert ein<br />
Wissenschaftler daran, ein Ratsel zu losen, wird dies eher <strong>als</strong> ein Scheitem des<br />
Wissenschaftlers betrachtet, <strong>als</strong> dass das Paradigma infrage gestellt wird. Ratsel,<br />
die sich einer Losung widersetzen, werden eher <strong>als</strong> Anomalien statt <strong>als</strong> F<strong>als</strong>ifikationen<br />
des Paradigmas betrachtet. Kuhn erkennt an, dass alle Paradigmen einige<br />
Anomalien beinhalten (z. B. die kopemikanische Theorie und die scheinbare GroBe<br />
der Venus oder das newtonsche Paradigma und die Umlaufbahn des Merkurs) und<br />
weist jede Art von F<strong>als</strong>ifikationismus zurtick.<br />
Ein Normalwissenschaftler muss dem Paradigma, in dem er arbeitet, in gewisser<br />
Weise unkritisch gegentiberstehen. Nur so ist er in der Lage, seine Krafte<br />
auf die ausftihrliche Ausarbeitung des Paradigmas zu konzentrieren und die wissenschaftliche<br />
Arbeit zu leisten, die zur Erforschung der Wirklichkeit notwendig<br />
ist. Es ist der Mangel an Widersprtichlichkeiten zwischen Grundannahmen, der die<br />
voll entwickelte Normalwissenschaft von den relativ desorganisierten Aktivitaten<br />
unfertiger Vor-Wissenschaft unterscheidet. Nach Kuhn ist letztere durch totale<br />
Widersprtichlichkeit und standige Debatten uber Grundannahmen charakterisiert,<br />
und zwar in einem solchen MaBe, dass es unmoglich ist, zu detaillierter fachwissenschaftlicher<br />
Arbeit zu gelangen. Es gibt fast ebenso viele <strong>Theorien</strong> wie Wissenschaftler,<br />
und jeder Theoretiker ist gezwungen, von vorn anzufangen und seinen<br />
eigenen speziellen Ansatz zu rechtfertigen.<br />
Kuhn ftihrt <strong>als</strong> Beispiel die Optik vor Newton an. Vom Altertum bis Newton<br />
gab es mannigfaltige <strong>Theorien</strong> liber die Natur des Lichtes. Bevor Newton seine<br />
eigene Theorie aufstellte und verteidigte, konnte keine allgemeine tJbereinkunft<br />
erzielt werden, und es gab keine detaillierte, allgemein anerkannte Theorie. Nicht<br />
nur, dass rivalisierende Theoretiker der vorwissenschaftlichen Periode sich uber<br />
grundlegende theoretische Annahmen uneinig waren, sondem dies betraf bereits<br />
die Arten der beobachtbaren Phanomene, die fur ihre jeweiligen <strong>Theorien</strong> relevant<br />
waren. Soweit Kuhn die Rolle anerkennt, die ein Paradigma bei der Ausrichtung<br />
der Forschung auf beobachtbare Phanomene und ihrer Interpretation spielt, bezieht<br />
^ In der von Kuhn verwendeten Bedeutung sind Ratsel jene besondere Problemkategorie, die zur<br />
Erprobung von Scharfsinn oder Geschicklichkeit dienen kann. Es ist kein Kriterium der Gilte eines<br />
solchen „Ratsels", dass seine Losung interessant oder wichtig ist. Im Gegenteil, die wirklich drangenden<br />
Probleme, z.B. ein Heilmittel gegen Krebs oder das Konzept fur einen dauerhaften Frieden sind oft<br />
uberhaupt keine „Ratsel", weil sie vielleicht gar keine Losung haben. Nicht der innere Wert ist das<br />
Kriterium ftir ein Ratsel, sondem das sichere Vorhandensein einer Losung (vgl. Kuhn, 1979, S. 50f.).<br />
(Anm. d. Hrsg.)
er sich im GroBen und Ganzen auf die Zusammenhange, die <strong>als</strong> die Theorieabhangigkeit<br />
der Beobachtung beschrieben wurde.<br />
Kuhn betont, dass ein Paradigma mehr umfasst <strong>als</strong> allein das, was in expliziten<br />
Regeln und Anweisungen ausgedrtickt werden kann. Er beruft sich auf Wittgensteins<br />
Diskussionen des „Spier'-Begriffs, um seine Vorstellungen zu erlautem.<br />
Wittgenstein erortert, warum es nicht moglich ist, notwendige und hinreichende<br />
Bedingungen dafiir aufzustellen, dass eine Aktivitat ein Spiel ist. Wenn man es<br />
versucht, fmdet man bestandig Aktivitaten, die unter diese Definition fallen, aber<br />
die man nicht zu Spielen rechnen kann, oder Aktivitaten, die die Definition ausschlieBt,<br />
aber die man sehr wohl zu Spielen rechnen wiirde. Kuhn behauptet, dass<br />
fiir Paradigmen die gleiche Situation besteht. Wenn man versucht, eine exakte und<br />
explizite Charakterisierung einiger Paradigmen der Wissenschaftsgeschichte oder<br />
gegenwartiger Wissenschaft zu geben, dann zeigt sich regelmaBig, dass einige<br />
Arbeiten, die innerhalb eines Paradigmas geleistet werden, nicht der Charakterisierung<br />
entsprechen. Dennoch betont Kuhn, dass diese Situation ebenso wenig das<br />
Paradigmen-Konzept unhaltbar macht, wie die gleiche Situation in Bezug auf das<br />
Spiel den legitimen Gebrauch dieses Konzepts ausschlieBt. Obgleich es keine<br />
vollstandige und explizite Charakterisierung gibt, erwerben einzelne Wissenschaftler<br />
durch ihre wissenschaftliche Ausbildung Wissen tiber ein Paradigma.<br />
Durch das Losen von Standardproblemen, durch Standardexperimente und eigenstandige<br />
Forschungsarbeiten unter der Anleitung eines innerhalb des jeweiligen<br />
Paradigmas bereits versierten Praktikers wird ein angehender Wissenschaftler mit<br />
den Methoden, den Techniken und den Standards des betreffenden Paradigmas<br />
vertraut gemacht. Er wird genauso wenig in der Lage sein, explizit Rechenschaft<br />
tiber die Methoden und Fertigkeiten, die er erworben hat, abzulegen, wie ein<br />
Schreinermeister in der Lage ist, vollstandig zu beschreiben, was hinter seinen<br />
Fertigkeiten steckt. Vieles vom Wissen des Normalwissenschaftlers ist im Sinne<br />
von Polanyi (1973) stillschweigendes Wissen.<br />
Aufgrund der Art seiner Ausbildung - die aus Grunden der Effizienz so sein<br />
muss, wie sie ist - ist ein typischer Normalwissenschaftler nicht in der Lage, die<br />
genaue Art des Paradigmas, in dem er arbeitet, zu formulieren und ist sich so auch<br />
des Paradigmas nicht bewusst. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Wissenschaftler<br />
nicht den Versuch machen kann, die Voraussetzungen seines Paradigmas zu formulieren,<br />
wenn die Notwendigkeit gegeben ist. Diese Notwendigkeit ergibt sich,<br />
wenn ein Paradigma durch ein rivalisierendes Paradigma bedroht wird. Unter<br />
diesen Umstanden muss der Versuch unternommen werden, die allgemeinen Gesetze<br />
sowie die metaphysischen und methodologischen Grundsatze, die das Paradigma<br />
ausmachen, explizit zu machen, um sie gegen die altemativen Gesetze und<br />
Prmzipien des neuen Paradigmas zu verteidigen. Im nachsten Abschnitt wollen<br />
wir mit der Zusammenfassung des kuhnschen Ansatzes fortfahren und erortem,<br />
auf welche Weise ein Paradigma ins Wanken gerat und durch ein rivalisierendes<br />
Paradigma ersetzt wird.<br />
93
94<br />
8.4 Krise und Revolution<br />
Der Normalwissenschaftler arbeitet voller Vertrauen innerhalb eines gut defmierten<br />
Bereiches, der durch ein Paradigma vorgeschrieben wird. Das Paradigma bietet<br />
ihm eine Anzahl definierter Probleme zusammen mit Methoden, von denen er<br />
tiberzeugt ist, dass sie ftir die Problemlosung angemessen sind. Wenn er das Paradigma<br />
fiir irgendwelche Misserfolge bei der Problemlosung verantwortlich machen<br />
wurde, ware das so, <strong>als</strong> wenn ein Schreiner seinen Werkzeugen Vorwiirfe machen<br />
wurde. Trotzdem konnen sich Misserfolge ereignen, und sie konnen schlieBlich<br />
einen bedenklichen Grad erreichen, woraus eine emstzunehmende Krise fiir das<br />
Paradigma erwachst. Diese Krise kann zur Widerlegung des Paradigmas sowie zu<br />
seiner Verdrangung durch ein mit diesem nicht zu vereinbarenden, alternativen<br />
Paradigma fuhren.<br />
Die bloBe Existenz ungeloster Rdtsel innerhalb eines Paradigmas macht noch<br />
keine Krise aus. Kuhn raumt ein, dass Paradigmen stets Schwierigkeiten beinhalten,<br />
dass stets Anomalien existieren. Nur unter einer besonderen Konstellation von<br />
Umstanden konnen sich Anomalien in einer Art und Weise entwickeln, dass sie<br />
das Vertrauen in ein Paradigma untergraben. Eine Anomalie wird <strong>als</strong> besonders<br />
bedrohlich betrachtet, wenn sie die entscheidenden Grundlagen eines Paradigmas<br />
bertihrt und dazu bestandig den Versuchen der Normalwissenschaft widersteht, sie<br />
zu beseitigen. Als Beispiel zitiert Kuhn die Probleme, die im Rahmen der maxwellschen<br />
elektromagnetischen Theorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit den<br />
Konzepten des Athers und der Erdbewegung verbunden waren. Ein anderes<br />
Beispiel stellen etwa die Probleme dar, die sich durch das Auftreten von Kometen<br />
fur den geordneten und vollkommenen aristotelischen Kosmos aus verbundenen<br />
kristallinen Spharen ergaben. Anomalien werden auch dann <strong>als</strong> emsthaft betrachtet,<br />
wenn sie im Zusammenhang mit dringlichen sozialen Erfordernissen stehen.<br />
Die Probleme, mit denen sich die ptolemaische Astronomic konfrontiert sah,<br />
waren dringlich im Hinblick auf ihre Erfordemisse flir die Kalenderreform zur<br />
Zeit von Kopernikus. Auch ist die Zeitspanne bedeutsam, in der eine Anomalie<br />
den Versuchen widersteht, sie zu beseitigen. Femer ist die Anzahl emsthafter<br />
Anomalien ein entscheidender Faktor, der Einfluss auf den Beginn einer Krise hat.<br />
Nach Kuhn erfordert die Analyse der charakteristischen Faktoren einer Krisenperiode<br />
in der Wissenschaft ebenso die Kompetenz eines Psychologen wie die<br />
eines Historikers. Sobald gesehen wu*d, dass Anomalien emstzunehmende Probleme<br />
ftir ein Paradigma aufwerfen, beginnt „eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher<br />
Unsicherheit" (Kuhn, 1979, S. 80). Versuche, das Problem zu<br />
losen, werden zunehmend radikaler, und die durch das Paradigma gegebenen<br />
Regeln zur Losung von Problemen werden allmahlich gelockert. Die Normalwissenschaftler<br />
beginnen, sich auf philosophische und metaphysische Debatten einzulassen<br />
und versuchen, ihre Neuerungen, die vom Standpunkt des Paradigmas<br />
einen zweifelhaften Status besitzen, mithilfe philosophischer Argumente zu verteidigen.<br />
Manche Wissenschaftler beginnen sogar, offen ihre Unzufriedenheit und<br />
ihr Unbehagen dem herrschenden Paradigma gegeniiber zum Ausdruck zu bringen.<br />
Kuhn zitiert die Reaktion von Wolfgang Pauli auf das, was er <strong>als</strong> wachsende<br />
Krise in der Physik um 1927 sah. Ein erbitterter Pauli gesteht einem Freund: „Zur
Zeit ist die Physik wieder einmal fiirchtbar durcheinander. Auf jeden Fall ist sie<br />
fiir mich zu schwierig und ich wiinschte, ich ware Filmschauspieler oder etwas<br />
Ahnliches und hatte von der Physik nie etwas gehort" (Kuhn, 1979, S. 97). Wenn<br />
ein Paradigma erst in einem derartigen AusmaB geschwacht und unterwandert<br />
wurde, dass seine Befiirworter ihr Vertrauen in das Paradigma verlieren, ist die<br />
Zeit reif fiir die Revolution.<br />
Die Gefahr einer Krise wird gesteigert, wenn sich ein rivalisierendes Paradigma<br />
einstellt. „Das neue Paradigma oder ein ausreichender Hinweis auf eine<br />
spatere Artikulierung [taucht] ganz plotzlich, manchmal mitten in der Nacht, im<br />
Geist eines tief in die Krise verstrickten Wissenschaftlers auf (Kuhn, 1979, S.<br />
102). Das neue Paradigma unterscheidet sich vollstandig von dem alten und ist mit<br />
ihm unvereinbar. Die radikalen Unterschiede sind dabei verschiedener Natur.<br />
Jedes Paradigma betrachtet die Welt <strong>als</strong> aus unterschiedlichen Bestandteilen<br />
zusammengesetzt. Das aristotelische Paradigma sieht das Universum <strong>als</strong> in zwei<br />
getrennte Bereiche geteilt, in die unvergangliche und unveranderliche superlunarische<br />
Region und in die vergangliche und Veranderungen unterworfene sublunarische<br />
Region. Spatere Paradigmen betrachten das gesamte Universum <strong>als</strong> aus derselben<br />
materiellen Grundsubstanz bestehend. Die Chemie vor Lavoisier etwa<br />
besagte, dass es eine Substanz namens Phlogiston gabe, welche entweicht, wenn<br />
ein Stoff verbrannt wird. Aus dem neuen Paradigma Lavoisiers folgte, dass es<br />
einen derartigen Stoff nicht gibt, wohingegen die Existenz des Sauerstoffs betont<br />
wird, der eine andere Rolle bei der Verbrennung spielt. Die maxwellsche elektromagnetische<br />
Theorie beinhaltete die Existenz eines Athers, der jeden Raum einnimmt,<br />
wohingegen Einsteins radikale Umgestaltung der Theorie den Ather eliminierte.<br />
Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Arten von Fragen <strong>als</strong><br />
legitim oder bedeutsam. Fragen liber das Gewicht von Phlogiston waren fur Phlogiston-Theoretiker<br />
entscheidend, fur Lavoisier indessen muBig. Fragen tiber die<br />
Masse von Planeten waren fur die Anhanger Newtons fundamental, fiir Aristoteliker<br />
dagegen ketzerisch. Das Problem der Geschwindigkeit der Erde in Relation<br />
zum Ather, das fur die Physik vor Einstein zutiefst bedeutsam war, wurde durch<br />
Einstein aufgehoben. So wie unterschiedliche Paradigmen unterschiedliche Arten<br />
von Fragen aufwerfen, so umfassen sie unterschiedliche und sich gegenseitig<br />
ausschlieBende Standards. Eine nicht weiter erklarbare Femwirkung konnten die<br />
Anhanger der newtonschen Theorie zulassen, von den Kartesianern ware sie kurzerhand<br />
<strong>als</strong> Metaphysik oder <strong>als</strong> okkult abgetan worden. Bewegung ohne ersichtliche<br />
Ursache war fur Aristoteles unsinnig, fur Newton axiomatisch. Die Umwandlung<br />
von Elementen hat einen entscheidenden Stellenwert in der modemen<br />
Atomphysik (wie auch in der mittelalterlichen Alchemic und in der mechanischen<br />
Philosophic des 17. Jahrhunderts), steht jedoch vollig im Gegensatz zu den Zielen<br />
des daltonschen atomistischen Programms. Eine Reihe von Ereignissen, die innerhalb<br />
der modernen Mikrophysik beschrieben werden konnen, weist eine Unbestimmtheit<br />
auf, die im newtonschen Programm keinen Platz hatte.<br />
Die Art und Weise, wie ein Wissenschaftler einen bestimmten Aspekt der<br />
Welt sieht, wird durch das Paradigma bestimmt, in dem er arbeitet. Kuhn betont,<br />
dass Anhanger rivalisierender Paradigmen im gewissen Sinne „in verschiedenen<br />
95
96<br />
Welten leben". Er fiihrt <strong>als</strong> Beleg dafur die Tatsache an, dass Verandemngen am<br />
Himmel erst dann von westlichen Astronomen beobachtet, aufgezeichnet und<br />
diskutiert wurden, nachdem Kopernikus seine Theorie vorgestellt hatte. Vorher<br />
wurde mit dem aristotelischen Paradigma die Auffassung vorgegeben, dass es in<br />
der superlunarischen Region keine Verandemngen gibt und dementsprechend<br />
wurden auch keine Verandemngen wahrgenommen. Jene Verandemngen, die<br />
bemerkt wurden, wurden <strong>als</strong> Stomngen der oberen Atmospare erklart.<br />
Kuhn vergleicht den Wechsel einzelner Wissenschaftler von einem Paradigma<br />
zu einem mit diesem unvereinbaren, altemativen Paradigma mit einem<br />
„Gestaltwander' oder einer religiosen Konversion. Es gibt <strong>als</strong>o kein logisches<br />
Argument, das die Uberlegenheit des einen Paradigmas iiber das andere beweist<br />
und das dartiber hinaus einen vernunftgeleiteten Wissenschaftler zwingen konnte,<br />
den Wandel zu voUziehen. Ein Gmnd, wamm ein solcher Beweis nicht moglich<br />
ist, ist die Tatsache, dass an dem Urteil eines Wissenschaftlers iiber den Wert<br />
einer wissenschaftlichen Theorie eine Vielzahl von Faktoren beteiligt ist. Die<br />
Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers hangt von der Prioritat ab, die er<br />
einem der unterschiedlichen Faktoren einraumt. Die Faktoren umfassen solche<br />
Kriterien wie Einfachheit, die Dringlichkeit sozialer Notwendigkeiten, die Fahigkeit,<br />
spezielle Arten von Problemen zu losen etc. So hatte der eine Wissenschaftler<br />
von der kopernikanischen Theorie aufgrund der Einfachheit bestimmter, ihr innewohnender<br />
mathematischer Gmndziige angetan sein konnen, ein anderer mag ihr<br />
wegen der Moglichkeit der Kalenderreform zugeneigt gewesen sein. Ein dritter<br />
wiedemm mag von der Annahme der kopemikanischen Theorie abgeschreckt<br />
worden sein, weil sie mit der irdischen Mechanik eng verbunden ist und weil er<br />
sich moglicherweise der Probleme bewusst war, die die kopemikanische Theorie<br />
ffir diese aufwirft. Ein weiterer mag die kopemikanische Theorie aus religiosen<br />
Grtinden abgelehnt haben.<br />
Ein zweiter Gmnd, warum es keinen logisch zwingenden Beweis fiir die<br />
Uberlegenheit eines Paradigmas iiber ein anderes gibt, ergibt sich aus der Tatsache,<br />
dass die Vertreter rivalisierender Paradigmen unterschiedliche Standards oder<br />
metaphysische Prinzipien anerkennen. Nach den eigenen Standards mag Paradigma<br />
A <strong>als</strong> dem Paradigma B iiberlegen beurteilt werden, wahrend bei einer Voraussetzung<br />
der Standards des Paradigmas B das Urteil gegenteilig ausfallen<br />
wurde. Die Schlussfolgerung eines Beweises ist nur dann zwingend, wenn die<br />
Voraussetzungen akzeptiert werden. Anhanger rivalisierender Paradigmen erkennen<br />
die jeweiligen Voraussetzungen gegenseitig nicht an, und so sind auch die<br />
gegenseitigen Beweise fiir sie nicht stringent. Aus diesen Grunden vergleicht<br />
Kuhn wissenschaftliche Revolutionen mit politischen Revolutionen. Genauso wie<br />
„politische Revolutionen ... darauf aus [sind], politische Institutionen auf Weisen<br />
zu andem, die von jenen Institutionen verboten werden" und demzuft)lge „die<br />
eigentliche politische Auseinandersetzung versagt", so erweist sich die Wahl zwischen<br />
„konkurrierenden Paradigmen <strong>als</strong> eine Wahl zwischen unvereinbaren<br />
Lebensweisen der Gemeinschaft", und kein Argument kann „logisch oder auch<br />
nur probabilistisch zwingend" sein (Kuhn, 1979, S. 105f.). Das heiBt jedoch nicht,<br />
dass es nicht eine ganze Reihe von Argumenten gibt, die nicht zu den oben erwahnten<br />
Faktoren gehort und die die Entscheidungen der Wissenschaftler beein-
flusst. Aus Kuhns Sicht ist es eine Aufgabe fur Forscher aus den Reihen der Soziologen<br />
und Psychologen, die Faktoren aufzudecken, warum Wissenschaftler einen<br />
Paradigmenwechsel vollziehen.<br />
Es gibt miteinander in Beziehung stehende Grtinde, wann und warum ein Paradigma<br />
mit einem anderen konkurriert; es gibt kein logisch zwingendes Argument,<br />
das vorschreibt, dass ein von der Vemunft geleiteter Wissenschaftler das<br />
eine ftir das andere aufgeben sollte. Es gibt kein einziges Kriterium, nach dem ein<br />
Wissenschaftler die Vorztige oder Moglichkeiten eines Paradigmas beurteilen<br />
muss, und femer erkennen Verfechter konkurrierender Programme unterschiedliche<br />
Standards an und sehen die Welt sogar auf unterschiedliche Weise, wie sie sie<br />
auch in unterschiedlichen Sprachen beschreiben. Das Ziel von Diskussionen und<br />
Streitgesprachen zwischen Anhangem rivalisierender Paradigmen sollte es vielmehr<br />
sein, zu iiberzeugen, anstatt den Gegner zu zwingen, den eigenen Standpunkt<br />
einzunehmen.<br />
Damit ist in dem vorangegangenen Abschnitt der Sachverhalt, der hinter<br />
Kuhns Aussage steht, dass rivalisierende Paradigmen inkommensurabel sind, zusammengefasst.<br />
Eine wissenschaftliche Revolution bedeutet die Preisgabe eines Paradigmas<br />
und die Obemahme eines neuen, nicht nur durch einen einzelnen Wissenschaftler,<br />
sondem durch die „Scientific community" <strong>als</strong> Ganzes. Wenn mehr und mehr einzelne<br />
Wissenschaftler aus unterschiedlichen Grtinden zu dem neuen Paradigma<br />
libergewechselt sind, gibt es eine „wachsende Verlagerung der fachwissenschaftlichen<br />
Bindungen" (Kuhn, 1979, S. 169). Wenn die Revolution erft)lgreich ist, dann<br />
wird sich diese Verlagerung ausbreiten, sodass sie die Mehrheit der „Scientific<br />
community" umfasst und nur noch ein paar Andersdenkende iibrig bleiben. Diese<br />
sind aus der neuen „Scientific community" ausgeschlossen und werden vielleicht<br />
in einem philosophischen Institut oder einer psychiatrischen Klinik Zuflucht suchen.<br />
Auf jeden Fall werden sie schlieBlich aussterben.<br />
8.5 Die Funktion von Normalwissenschaft und Revolutionen<br />
Gewisse Aspekte der kuhnschen Schriften mogen den Eindruck erwecken, dass<br />
seine Erklarung des Wesens von Wissenschaft rein deskriptiv ist, d.h., dass er<br />
nichts weiter anstreben wtxrde <strong>als</strong> die Beschreibung von wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong><br />
oder Paradigmen sowie Aktivitaten von Wissenschaftlern. Ware dies der Fall,<br />
dann wiirde Kuhns Ansatz <strong>als</strong> Wissenschaftstheorie einen nur geringen Wert besitzen.<br />
Bevor der deskriptive Ansatz nicht durch eine Theorie erganzt wird, bietet<br />
er keine Richtlinien daftir, welche Aktivitaten und Ergebnisse beschrieben werden<br />
sollen. Insbesondere miissen die Aktivitaten und Ergebnisse derjenigen Wissenschaftler,<br />
ftir die ihre Arbeit primar Broterwerb ist, in genauso detaillierter Form<br />
dokumentiert werden, wie die Leistungen eines Einstein oder eines Galilei.<br />
Es ist jedoch ein Fehler, Kuhns Charakterisierung von Wissenschaft so zu<br />
betrachten, <strong>als</strong> sei sie allein aus der Beschreibung der Arbeit von Wissenschaftlern<br />
hervorgegangen. Kuhn betont, dass sein Ansatz eine Theorie der Wissenschaft<br />
darstellt, da er eine Erklarung der Funktion der unterschiedlichen Komponenten<br />
97
98<br />
umfasst. Nach Kuhn erfullen Normalwissenschaft und Revolutionen wichtige<br />
Funktionen, sodass Wissenschaft entweder diese oder gewisse anderen Charakteristika<br />
umfassen muss, die die gleichen Funktionen erfullen konnen. Wir wollen<br />
diese Funktionen naher betrachten.<br />
Perioden der Normalwissenschaft bieten Wissenschaftlem die Moglichkeit,<br />
die fachwissenschaftlichen Details einer Theorie zu entwickeln. Wahrend sie<br />
innerhalb eines Paradigmas, dem Fundament, das <strong>als</strong> absolut gtiltig betrachtet<br />
wird, forschen, sind sie in der Lage, die anspruchsvolle experimentelle und theoretische<br />
Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um die Anpassung des Paradigmas an<br />
die Realitat in zunehmendem MaBe zu verfeinem. Das Vertrauen in die Angemessenheit<br />
des Paradigmas versetzt Wissenschaftler in die Lage, ihre Energie eher in<br />
Versuche zu stecken, die detaillierten „Ratsel" zu losen, die sich innerhalb ihres<br />
Paradigmas stellen, anstatt sich in Streitgesprachen uber die Legitimation ihrer<br />
fundamentalen Annahmen und Methoden aufzureiben. FUr den Normalwissenschaftler<br />
ist es notwendig, in gewissem Sinne „unkritisch" zu sein. Wenn alle<br />
Wissenschaftler an jedem Aspekt des Rahmens, in dem sie forschen, immerzu<br />
Kritik tibten, wurde nie ins Detail gehende Forschung geleistet werden konnen.<br />
Wenn alle Wissenschaftler Normalwissenschaftler waren und blieben, dann<br />
wtirde eine Einzelwissenschaft sich auf ein einziges Paradigma einschieBen und<br />
sich danach nicht weiterentwickeln. Dies ware vom kuhnschen Standpunkt aus ein<br />
schwerwiegender Fehler. Ein Paradigma verkorpert einen speziellen konzeptuellen<br />
Rahmen, mit dem die Welt betrachtet und beschrieben wird, sowie eine Anzahl<br />
experimenteller und theoretischer Techniken, um dieses Paradigma an die Gegebenheiten<br />
der Realitat anzupassen. Aber es gibt keinen A-phori-Grund dafur, dass<br />
man erwarten kann, dass irgendein Paradigma voUkommen ist oder zumindest das<br />
beste, das zur Verfugung steht. Es gibt keine induktiven Prozeduren, um zu voUkommen<br />
angemessenen Paradigmen zu gelangen. Folglich sollte Wissenschaft die<br />
Moglichkeit beinhalten, aus einem Paradigma in ein anderes, besseres auszubrechen.<br />
Dies ist die Funktion von Revolutionen. Alle Paradigmen sind in gewissem<br />
MaBe unzureichend, soweit es die Anpassung an die Realitat betrifft. Wenn das<br />
Paradigma eine zu geringe Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit aufweist, d.h.,<br />
wenn sich eine Krise entwickelt, dann wird der revolutionare Schritt, das Ersetzen<br />
des gesamten Paradigmas durch ein anderes fur den Fortschritt der Wissenschaft<br />
entscheidend.<br />
Fortschritt durch Revolutionen ist Kuhns Alternative zu dem kumulativen<br />
Fortschritt, der fur den Induktivismus charakteristisch ist. GemaB diesem Ansatz<br />
wachst wissenschaftliche Erkenntnis kontinuierlich, je mehr und verschiedenartigere<br />
Beobachtungen gemacht werden, die es ermoglichen, neue Konzepte zu formulieren,<br />
alte weiterzuentwickehi und neue gesetzmaBige Beziehungen zwischen<br />
ihnen zu entdecken. Von Kuhns Standpunkt aus ist dies f<strong>als</strong>ch, weil es die Rolle<br />
ignoriert, die ein Paradigma bei der Steuerung von Beobachtung und Experiment<br />
spielt. Gerade weil ein Paradigma einen derartig tiefgreifenden Einfluss auf die<br />
Wissenschaft hat, die in ihrem Rahmen betrieben wird, muss ein Paradigmenwechsel<br />
revolutionar sein.<br />
Eine weitere Funktion, die fur Kuhns Ansatz spricht, darf nicht unerwahnt<br />
bleiben. Wie oben bereits ausgefuhrt wurde, sind Kuhns Paradigmen nicht so
genau umrissen, dass sie durch ein explizites System von Regeln ersetzt werden<br />
konnten. Verschiedene Wissenschaftler oder Forschergruppen mogen das Paradigma<br />
in etwas unterschiedlicher Weise interpretieren und anwenden. Mit der<br />
gleichen Situation konfrontiert, treffen nicht alle Wissenschaftler die gleiche Entscheidung<br />
oder wenden die gleiche Strategic an. Dies hat den Vorteil, dass die<br />
Anzahl an Strategien, die erprobt werden, sich vervielfaltigen. Risiken sind dementsprechend<br />
auf die gesamte „Scientific community" verteilt, und auf lange Sicht<br />
erhohen sich die Erfolgschancen. Wie sonst konnte die „Scientif!c community" <strong>als</strong><br />
Gruppe auf mehrere Moglichkeiten setzen? (vgl. Kuhn, 1974b, S. 233).<br />
8.6 Die Verdienste des kuhnschen Beitrags zur Wissenschaftstheorie<br />
Rein deskriptiv ist Kuhns Idee, dass wissenschaftliche Arbeit das Losen von Problemen<br />
innerhalb eines nicht infi-age gestellten Rahmens beinhaltet, sicher richtig.<br />
Bine Disziplin, in der Grundsatzliches immer wieder hinterfragt wird, wie es fur<br />
Poppers Methode der „Vermutungen und Widerlegungen" charakteristisch ist,<br />
wird kaum bemerkenswerte Fortschritte machen, weil Prinzipien nicht lange genug<br />
von Herausforderungen verschont bleiben, um fachwissenschaftliche Arbeit<br />
zu leisten. Es ist richtig, ein heroisches Bild Einsteins zu zeichnen, <strong>als</strong> eine Person,<br />
die wesentliche Fortschritte macht, indem sie die Originalitat und den Mut<br />
zeigt, einige der fimdamentalen Prinzipien der Physik infrage zu stellen. Man darf<br />
dabei aber nicht tibersehen, dass es 200 Jahre detaillierte Forschung innerhalb des<br />
newtonschen Paradigmas und 100 Jahre Forschung im Rahmen der <strong>Theorien</strong> zur<br />
Elektrizitat und des Magnetismus bedurfte, um die Probleme offen zu legen, die<br />
Einstein erkannte und mit seiner Relativitatstheorie loste. Es ist eher die Philosophic<br />
<strong>als</strong> die Wissenschaft, die durch das konstante LFben von Kritik an Grundsatzen<br />
einigermaBen gut charakterisiert werden kann.<br />
Vergleichen wir die Ansatze von Kuhn und Popper, um zu erfassen, in welchem<br />
Sinne sich die Astrologie von einer Wissenschaft unterscheidet, so ist es,<br />
wie Mayo (1996, Kap. 2) tiberzeugend darlegt, Kuhns Beitrag, der schlussiger ist.<br />
Aus einer popperschen Perspektive wird die Astrologie entweder <strong>als</strong> Nicht-Wissenschaft<br />
diagnostiziert, weil sie nicht f<strong>als</strong>ifizierbar ist, oder weil sie f<strong>als</strong>ifizierbar<br />
ist und sich <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erwiesen hat. Ersteres ist nicht richtig, weil - wie Kuhn<br />
(1974a) deutlich macht - selbst in der Renaissance, <strong>als</strong> Astrologie emsthaft praktiziert<br />
wurde, Astrologen Vorhersagen trafen, die f<strong>als</strong>ifizierbar waren und tatsachlich<br />
haufig f<strong>als</strong>ifiziert wurden. Aber auch Letzteres genugt nicht, um der Astrologie<br />
den Status einer Wissenschaft abzusprechen, weil dies fur die Physik, die<br />
Chemie und die Biologic ebenso gelten wurde, da wir gesehen haben, dass alle<br />
Wissenschaften Schwierigkeiten mit problematischen Beobachtungen und experimentellen<br />
Resultaten haben. Kuhns Antwort besteht in dem Schluss, dass der<br />
Unterschied zwischen der Astronomic, um ein Beispiel herauszugreifen, und der<br />
Astrologie darin besteht, dass Astronomen in der Lage sind, aus Vorhersagefehlern<br />
zu lemen, Astrologen nicht. Astronomen konnen ihre Instrumentarien verfeinem,<br />
mogliche Storungen tiberprtifen, unentdeckte Planeten oder mangelnde<br />
Spharizitat des Mondes postulieren und so weiter, um dann detailliert daran zu<br />
99
100<br />
arbeiten und herauszufinden, ob solche Veranderungen das Problem, vor das sie<br />
eine nicht eingetroffene Vorhersage stellt, zu beseitigen. Astrologen haben dagegen<br />
keine vergleichbaren Ressourcen, um aus Fehlern zu lemen. Die Ressourcen,<br />
uber die Astronomen verftlgen und Astrologen nicht, konnen dabei <strong>als</strong> ein von<br />
vielen geteiltes Paradigma verstanden werden, das die Normalwissenschaft aufrechterhalt.<br />
Kuhns Normalwissenschaft stellt damit ein entscheidendes Element<br />
der Wissenschaft dar.<br />
Der komplementare Teil von Kuhns Ansatz, die wissenschaftliche Revolution,<br />
scheint ebenfalls uber bemerkenswerte Vorziige zu verfiigen. Kuhn benutzte<br />
den Begriff der Revolution, um den nicht-kumulativen Charakter wissenschaftlichen<br />
Fortschritts deutlich zu machen. Der langfiristige Fortschritt von Wissenschaft<br />
beinhaltet nicht nur die Anhauftmg von bestatigten Tatsachen und Gesetzen,<br />
sondem gelegentlich auch das LFber-Bord-werfen eines Paradigmas und sein<br />
Ersetzen durch ein anderes, mit ihm nicht zu vereinbarendes neues Paradigma.<br />
Kuhn war sicher nicht der Erste, der dieses Argument vorbrachte. Popper selbst<br />
wies darauf hin, dass Wissenschaft das kritische Umsturzen von <strong>Theorien</strong> und<br />
deren Ersatz durch alternative <strong>Theorien</strong> beinhaltet. Wahrend jedoch ftir Popper<br />
das Ersetzen einer Theorie durch eine andere einfach das Ersetzen eines Sets von<br />
Behauptungen durch andere Sets ist, umfasst eine wissenschaftliche Revolution<br />
nach Kuhns Sichtweise weit mehr. Eine Revolution beinhaltet nicht nur den<br />
Wechsel genereller Gesetze, sondem auch eine Anderung der Wahmehmung von<br />
Realitat und eine Veranderung der MaBstabe, die an die Bewertung einer Theorie<br />
angelegt werden. Wie wir gesehen haben, wird in der aristotelischen Theorie ein<br />
endliches Universum angenommen, ein System, in dem jeder Gegenstand einen<br />
naturgegebenen Platz und eine ebensolche Funktion hat, wobei der Unterscheidung<br />
in Himmel und Erde eine besondere Bedeutung zukommt. Innerhalb dieser<br />
Theorie war die Bezugnahme auf die Funktion verschiedener Gegenstande ein<br />
legitimer Erklarungsansatz (zum Beispiel fallen Steine zur Erde, um an ihren<br />
naturgegebenen Platz zu gelangen und damit dem Universum seine ideale Ordnung<br />
wiederzugeben). Seit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts<br />
ist das Universum unendlich und Gegenstande interagieren mittels Kraften, die<br />
bestimmten Gesetzen gehorchen. Erklarungen beziehen sich auf diese Krafte und<br />
Gesetze. Empirische Belege spielen in den <strong>Theorien</strong> (oder Paradigmen) von<br />
Aristoteles und Newton eine unterschiedliche Rolle. Im Rahmen der aristotelischen<br />
Theorie wurden solche Beweise <strong>als</strong> fundamental erachtet, die mittels der<br />
nicht durch Hilfsmittel unterstiitzten, unter optimalen Bedingungen arbeitenden<br />
Sinne erbracht wurden. Bei der newtonschen Theorie waren Beweise, die unter<br />
Einsatz von Instrumenten und Experimenten gewonnen wurden, von grundsatzlicher<br />
Bedeutung und wurden den direkten Sinneseindrticken oftm<strong>als</strong> vorgezogen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist Kuhn augenscheinlich im Recht, wenn er anmerkt,<br />
dass es so etwas wie wissenschaftliche Revolutionen gibt, die nicht nur<br />
einen Wechsel innerhalb der aufgestellten Behauptungen bedeuten, sondem auch<br />
einen Wechsel dessen, was <strong>als</strong> Wesen der Welt angenommen und was <strong>als</strong> Beweis<br />
und <strong>als</strong> Erklamngsmodus ftir angemessen erachtet wird. Wird dies zugrundegelegt,<br />
muss dariiber hinaus jeder angemessene Beitrag zum wissenschaftlichen<br />
Fortschritt darlegen, inwieweit die im Verlauf der Revolution vorgenommenen
Veranderungen <strong>als</strong> progressiv anerkannt werden konnen. SchlieBen wir uns Kuhns<br />
Charakterisierung von Wissenschaft an und werfen dieses Problem in aller Scharfe<br />
auf: Kuhn behauptet, dass das, was <strong>als</strong> Problem angesehen wird, von Paradigma<br />
zu Paradigma wechselt. Das Gleiche gilt fur die MaBstabe zu Beurteilung der<br />
Angemessenheit von vorgeschlagenen Losungen fiir Probleme. Wenn MaBstabe<br />
jedoch von Paradigma zu Paradigma wechseln, stellt sich die Frage, auf welche<br />
man sich beziehen kann, um festzustellen, dass ein Paradigma besser ist, <strong>als</strong>o<br />
einen Fortschritt gegentiber dem Paradigma, das es ersetzt, darstellt? Wann kann<br />
gesagt werden, dass Wissenschaft durch Revolutionen voranschreitet?<br />
8.7 Kuhns Ambivalenz bezuglich des Fortschritts durch Revolutionen<br />
Kuhns Haltung gegeniiber der von uns gestellten Grundfrage, die auch in seinem<br />
eigenen Werk behandelt wird, ist durchgangig ambivalent. Nach der Publikation<br />
des Buches ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" wurde Kuhn vorgeworfen,<br />
eine „relativistische" Sichtweise des wissenschaftlichen Fortschrittes zu<br />
propagieren. Kuhn habe einen Beitrag zum Thema Fortschritt eingebracht, nach<br />
dem die Frage, ob ein Paradigma besser ist <strong>als</strong> eines, das es infrage stellt, nicht<br />
deflnitiv und neutral beantwortet werden kann, sondern von Werten Einzelner,<br />
Gruppen oder Kulturen abhangt. Kuhn trat diesem „Vorwurf' entgegen und ftigte<br />
der zweiten Auflage seines Buches ein Postskriptum an, in dem er sich vom Relativismus<br />
distanzierte: „Spatere wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> sind besser <strong>als</strong> frtihere<br />
geeignet, Probleme in den oft ganz unterschiedlichen Umwelten, auf die sie angewendet<br />
werden, zu losen. Dies ist keine relativistische Position, und in diesem<br />
Sinne bin ich fest txberzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt" (Kuhn, 1979, S.<br />
217). Dieses Kriterium ist insofem problematisch, <strong>als</strong> Kuhn selbst betont, dass<br />
das, was <strong>als</strong> Problem bzw. seine Losung gelten kann, vom jeweiligen Paradigma<br />
abhangig ist und weil Kuhn an anderer Stelle (1979a, S. 217) andere Kriterien wie<br />
„Einfachheit, Anwendungsbreite und Vertraglichkeit mit anderen Spezialgebieten"<br />
anfiihrt. Noch problematischer ist jedoch der Widerspruch zwischen diesem<br />
nicht-relativistischen Anspruch beziiglich des Fortschritts und den zahlreichen<br />
Passagen in Kuhns Buch, die <strong>als</strong> explizites Eintreten ftir eine relativistische Position<br />
verstanden werden konnen, wenn nicht sogar <strong>als</strong> ein Leugnen, dass es<br />
irgendwelche rationale Kriterien wissenschaftlichen Fortschritts gibt.<br />
Kuhn vergleicht wissenschaftliche Revolutionen mit Gestaltwandel, religioser<br />
Konversion und politischen Revolutionen. Kuhn benutzt diese Vergleiche, um<br />
zu betonen, wie wenig die Treue eines Wissenschaftlers gegentiber dem einen<br />
oder anderen Paradigma auf rationale, allgemein anerkannte Kriterien zuruckgefiihrt<br />
werden kann. Die Art und Weise, in der die Darstellung auf Seite 9 (Abb. 1)<br />
von einer von oben zu einer von unten betrachteten Treppe wechselt, ist ein einfaches<br />
Beispiel fiir einen Gestaltwandel, aber es macht deutlich, dass ein solcher<br />
Wandel das Gegenteil einer durchdachten Wahl ist. Das Konvertieren von einer<br />
Religion zu einer anderen wird tiblicherweise in analoger Weise gesehen. Was die<br />
Analogic zu politischen Revolutionen angeht, betont Kuhn (1979, S. 105f), dass<br />
diese „darauf aus [sind], politische Institutionen auf Weisen zu andern, die von<br />
101
102<br />
jenen Institutionen verboten werden", sodass „die eigentliche politische Auseinandersetzung<br />
versagt". Analog dazu „erweist sich die [Wahl] zwischen konkurrierenden<br />
Paradigmen <strong>als</strong> eine Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der<br />
Gemeinschaft", da kein Argument „logisch oder auch nur probabilistisch zwingend"<br />
sein kann. Kuhns Insistieren darauf, dass die Art, in der wir die Natur der<br />
Wissenschaft entdecken, ihrem „Wesen nach soziologisch" sei und wir Uber ihrem<br />
Fortschritt nur eine Aussage treffen konnen, „wenn wir die Natur der wissenschaftlichen<br />
Gruppe priifen ... [und] entdecken, was diese Gruppe schatzt, was sie<br />
duldet und was sie verachtet" (Kuhn, 1974, S. 230), fuhrt ebenfalls zum Relativismus,<br />
wenn sich herausstellt, dass unterschiedliche Gruppen unterschiedliche<br />
Dinge schatzen, tolerieren oder eben nicht schatzen. Genau so interpretieren gewisse<br />
zeitgenossische Wissenschaftssoziologen ublicherweise Kuhn, indem sie<br />
seine Sichtweisen zu einem expliziten Relativismus weiterentwickeln.<br />
Nach meinem DafUrhalten enthalt Kuhns Beitrag zum wissenschaftlichen<br />
Fortschritt, in der zweiten Auflage, die um das Postskriptum erganzt wurde, zwei<br />
nicht miteinander zu vereinbarende Argumentationslinien. Die eine ist relativistisch,<br />
die andere nicht. Daraus ergeben sich zwei Moglichkeiten: Die eine besteht<br />
darin, den Weg der oben erwahnten Soziologen weiter zu verfolgen und die relativistische<br />
Linie in Kuhns Ansatz anzunehmen und weiterzuentwickeln. Das bedeutet<br />
unter anderem die Darstellung soziologischer Analysen von Wissenschaft,<br />
auf die Kuhn zwar immer wieder anspielt, auf die er aber nicht weiter eingegangen<br />
ist. Eine zweite Moglichkeit besteht darin, die relativistischen Komponenten zu<br />
ignorieren und Kuhns Publikationen so umzuschreiben, dass sie mit einem alles<br />
umfassenden Verstandnis wissenschaftlichen Fortschritts kompatibel sind. Diese<br />
Alternative erft)rdert eine Antwort auf die Frage, wann von einem Paradigma<br />
gesagt werden kann, dass es einen Fortschritt gegentiber dem, das es ersetzt, darstellt.<br />
Ich hoffe, dass mit dem Ende des Buchs klar wird, welche Option ich ftir<br />
fiiichtbarer halte.<br />
8.8 Objektives Wissen<br />
„ ... Gerade weil es ein tJbergang zwischen unvereinbaren Dingen ist, wenn er<br />
nicht Schritt um Schritt vor sich gehen, von Logik und neutraler Erfahrung erwirkt.<br />
Er muss, wie der Gestaltwandel, auf einmal (wenn auch nicht notwendigerweise<br />
in einem Augenblick) geschehen oder liberhaupt nicht" (Kuhn, 1967, S.<br />
199). Ich bin nicht der Einzige, den dieser Satz von Kuhn verwirrt hat. Wie kann<br />
ein Paradigmenwechsel „auf einmal", nicht notwendiger Weise jedoch „in einem<br />
Augenblick" stattfinden? Es ist nicht schwer, die Quelle der Verwirrung, die in<br />
diesem problematischen Satz liegt, zu identifizieren. Auf der einen Seite ist sich<br />
Kuhn der Tatsache bewusst, dass sich eine wissenschaftliche Revolution uber eine<br />
beachtliche Zeitspanne, die viel theoretische und experimentelle Arbeit beinhaltet,<br />
erstrecken kann. Kuhns klassische Studie zur kopemikanischen Revolution (1959,<br />
dt. 1981) dokumentiert die jahrhundertelange Arbeit, derer sie bedurfte. Andererseits<br />
leuchtet bei Kuhns Vergleich zwischen einem Paradigmenwechsel und einem<br />
„Gestaltwandel" bzw. religioser Konversion die Idee, dass ein Wechsel „auf einmal"<br />
stattfmdet, unmittelbar ein. Es kann vermutet werden, dass Kuhn hier zwei
Arten von Wissen verwechselt, und es ist wichtig und hilfreich, diesen Unterschied<br />
zu benennen.<br />
Wenn ich sage „Ich kenne den Zeitpunkt, zu dem ich diesen speziellen Absatz<br />
geschrieben habe und Sie nicht", beziehe ich mich auf ein Wissen, das ich<br />
erworben und abgespeichert habe, das Ihnen jedoch nicht zur Verfiigung steht. Ich<br />
kenne Newtons erstes Bewegungsgesetz, bin jedoch nicht in der Lage, einen<br />
Flusskrebs zu klassifizieren. Auch dies ist eine Frage des mir verfugbaren Wissens.<br />
Die Aussagen, dass sich Maxwell nicht bewusst war, dass seine elektromagnetische<br />
Theorie Radiowellen vorhersagt, bzw. dass sich Einstein der Ergebnisse<br />
des Michelson-Morley-Experiments bewusst war, implizieren denselben Gebrauch<br />
des Begriffs „wissen" im Sinne von „sich bewusst sein". Wissen ist ein Zustand<br />
des Verstandes. Eng verbunden mit dieser sich auf den Zustand des individuellen<br />
Verstandes beziehenden Sichtweise ist die Frage, ob und wenn ja, in welchem<br />
Umfang ein Individuum einzelne oder mehrere Aussagen akzeptiert oder glaubt.<br />
Ich bin der Meinung, dass Galilei die Validitat der Nutzung von Teleskopen iiberzeugend<br />
darlegte, wahrend Feyerabend dies nicht tat. Ludwig Boltzmann akzeptierte<br />
die kinetische Theorie der Case, wahrend sein Landsmann Ernst Mach dies<br />
nicht tat. All diese Arten iiber Wissen und Aussagen zu Wissensinhalten zu sprechen,<br />
beziehen sich auf den jeweilige Zustand des Verstandes oder auf individuelle<br />
Meinungen und ist weit verbreitete und durchaus legitim. Um einen geeigneteren<br />
Begriff einzuftihren, soil die eben dargestellte Art des Wissens subjektiv benannt<br />
werden. Dies soil unterschieden werden von Wissen im objektiven Sinn.<br />
Der Satz „Meine Katze lebt in einem Haus, das keine Tiere beherbergt" ist<br />
widerspriichlich. Die Satze „Ich habe eine Katze" und „Heute ist ein Meerschweinchen<br />
gestorben" sind aus der Aussage „Heute hat meine weiBe Katze ein<br />
Meerschweinchen getotet" abgeleitet. Bei diesen Beispielen wird die den Satzen<br />
zugesprochene Eigenschaft in einem allgemeinen Sinn offensichtlich. Dies muss<br />
jedoch nicht so sein. Zum Beispiel kann ein Jurist in einem Gerichtsverfahren<br />
gegen einen Morder nach eingehender Analyse entdecken, dass die Tatsachen, die<br />
ein Zeuge berichtet, Konsequenzen haben, die den von einem anderen Zeugen<br />
berichteten Tatsachen widersprechen. Ist dies der Fall, dann ist dies unabhangig<br />
davon, ob die fraglichen Zeugen sich dessen bewusst sind oder nicht und ob sie<br />
die Aussagen fiir wahr halten oder nicht. Dartiber hinaus ware der Widerspruch,<br />
hatte der Jurist ihn nicht aufgedeckt, unentdeckt geblieben, und zu keiner Zeit<br />
ware sich jemand dessen bewusst gewesen. Dennoch waren die Aussagen weiterhin<br />
widerspruchlich. Aussagen konnen Eigenschaften haben, die unabhangig davon<br />
sind, wessen sich Individuen bewusst sind. Sie haben objektive Eigenschaften.<br />
Wir haben uns bereits in Kapitel 1 mit der Unterscheidung zwischen subjektivem<br />
und objektivem Wissen beschaftigt. Dort wurde zwischen der Wahmehmungserfahrung<br />
von Individuen und den Konsequenzen, die sie daraus ziehen<br />
einerseits, und den Beobachtungsaussagen, die sie zur Unterstiitzung heranziehen<br />
andererseits, unterschieden. Es wurde dargelegt, dass die Letzteren in einer Art<br />
und Weise offentlich uberpriifbar sind, wie das bei den zuerst Genannten nicht<br />
moglich ist.<br />
103
104<br />
Das Labyrinth an Aussagen, das eine Wissenschaft zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt erreicht hat, hat in ganz ahnhcher Weise Eigenschaften, deren sich die<br />
Wissenschaftler selbst nicht bewusst sein mtissen. Die theoretische Struktur der<br />
modernen Physik ist so komplex, dass sie sicher nicht mit den Annahmen eines<br />
Physikers oder einer Gruppe von Physikern gleichzusetzen ist. Genauso wie viele<br />
Arbeiter ihre Anstrengungen im Errichten einer Kathedrale vereinigen, tragen<br />
viele Wissenschaftler auf ihrem je spezifischen Weg und mit ihren individuellen<br />
Fahigkeiten zur Entwicklung und Konkretisierung der Physik bei. Ebenso wie sich<br />
ein gliicklicher Turmarbeiter der Implikationen einiger ominoser Entdeckungen,<br />
die von Arbeitem am Fundament gemacht wurden, in keiner Weise bewusst sein<br />
muss, mag sich ein hochfliegender Theoretiker der Relevanz einiger experimenteller<br />
Ergebnisse flir die Theorie, an der er arbeitet, nicht bewusst sein. In beiden<br />
Fallen existieren Beziehungen zwischen Teilen einer Struktur unabhangig davon,<br />
ob sich Individuen dieser Beziehungen bewusst sind.<br />
Historische Beispiele, die geeignet sind, diesen Sachverhalt zu illustrieren,<br />
sind leicht zu fmden. Haufig werden unerwartete Konsequenzen einer Theorie,<br />
wie zum Beispiel eine experimentelle Vorhersage oder ein Widerspruch mit einer<br />
anderen Theorie im Rahmen von Folgeuntersuchungen entdeckt. So leitete<br />
Poisson aus der Wellentheorie des Lichts von Fresnel die Vorhersage ab, dass<br />
man, wenn man eine lichtundurchlassige Scheibe auf geeignete Art und Weise<br />
beleuchtet, im Zentrum der Schattenseite einen hellen Fleck beobachten kann.<br />
Fresnel dagegen war sich dieser Konsequenz seiner Theorie nicht bewusst. Auch<br />
zahlreiche Widerspriiche zwischen Fresnels Theorie und der durch sie infrage<br />
gestellten Teilchentheorie des Lichts von Newton sind entdeckt worden. Zum Beispiel<br />
sagt Fresnels Theorie voraus, dass sich Licht in der Luft schneller fortbewegt<br />
<strong>als</strong> im Wasser, wahrend Newtons Theorie genau das Gegenteil vorhersagt.<br />
Es wurde dargestellt, dass Wissen <strong>als</strong> objektiv konstruiert werden kann, indem<br />
auf objektive Eigenschaften von Aussagen, im Speziellen von Aussagen<br />
beziiglich theoretischer und beobachtbarer Aspekte, Bezug genommen wird. Doch<br />
nicht nur solche Aussagen sind objektiv. Experimentelle Versuchsanordnungen<br />
und Prozeduren, methodologische Regeln und mathematische Systeme sind ebenfalls<br />
objektiv in dem Sinn, <strong>als</strong> sie sich von den Bewusstseinsinhalten von Individuen<br />
unterscheiden. Sie konnen von Individuen kontrovers behandelt, ausgearbeitet,<br />
modifiziert und kritisiert werden. Jeder Wissenschaftler ist mit einer objektiven<br />
Situation - bestimmten <strong>Theorien</strong>, experimentellen Ergebnissen, Instrumenten<br />
und Techniken, bestimmten Arten von Argumenten usw. - konfrontiert, und er<br />
wird diese benutzen, um zu versuchen, die Situation zu verandern und zu optimieren.<br />
Der Begriff „objektiv" soil nicht bewertend verstanden werden. Inkonsistente<br />
<strong>Theorien</strong> oder solche, die nur wenig Erklamngsgehalt haben, konnen im oben<br />
beschriebenen Sinne objektiv sein. Tatsachlich haben solche <strong>Theorien</strong> objektiv die<br />
Eigenschaften, inkonsistent zu sein und wenig Erklamngsgehalt zu besitzen. Obwohl<br />
das hier beschriebene Verstandnis des Begriffs „objektiv" dem von Popper<br />
sehr ahnlich ist (siehe vor allem Popper, 1984, Kap. 3 und 4), soil die Ahnlichkeit<br />
doch nicht so weit gehen, dass auch wir uns in die verzwickte Diskussion daruber<br />
verstricken, in welchem Sinne genau diese objektiven Eigenschaften existieren.
Aussagen haben nicht die Eigenschaften physikalischer Objekte. Die Art der Existenz<br />
solcher linguistischen Objekte zu benennen, ist eine vertrackte philosophische<br />
Aufgabe. Ahnliches gilt fur andere soziale Konstruktionen, wie methodologische<br />
Regeln und mathematische Systeme. Mir genugt es jedoch, meine Argumente<br />
durch das Heranziehen der genannten Beispiele auf einer allgemein nachvollziehbaren<br />
Ebene vorzubringen. Fiir meine Belange ist dies ausreichend.<br />
Viele von Kuhn angefuhrten Aspekte von Paradigmen liegen auf der objektiven<br />
Seite der hier vorgestellten Dichotomie, so zum Beispiel seine Ausfuhrungen<br />
zur Tradition des Ratsellosens innerhalb eines Paradigmas, zu den Anomalien, mit<br />
denen ein Paradigma konfrontiert ist und ebenso zu der Art und Weise, in der sich<br />
Paradigmen beztiglich unterschiedlicher Standards und metaphysischer Annahmen<br />
unterscheiden. Akzeptiert man diese Interpretation, ist es - in Kuhns Terminologie<br />
- sinnvoll, unsere grundlegende Frage danach zu stellen, in welchem Sinne von<br />
einem bestimmten Paradigma gesagt werden kann, dass es einen Fortschritt<br />
gegeniiber einem rivalisierenden Paradigma darstellt. Es ist die Frage nach der<br />
objektiven Beziehung zw^ischen Paradigmen.<br />
Dennoch gibt es aber auch eine eher der subjektiven Seite der Dichotomie<br />
entsprechenden Sichtweise in Kuhns Werk, zum Beispiel seine Ausfiihrungen zum<br />
„Gestaltwandel" und Ahnliches. Spricht man von Paradigmenwechseln in Begriffen<br />
eines Gestaltwandels, wie dies Kuhn tut, entsteht der Eindruck, <strong>als</strong> seien die<br />
Sichtweisen der jeweiligen Seiten eines Wechsels nicht vergleichbar. Wird dies<br />
gleichgesetzt mit einem Wechsel, der im Bewusstsein eines Wissenschaftlers stattfindet,<br />
wechselt er von der Anhangerschaft eines Paradigmas zu einer anderen.<br />
Diese Gleichsetzung fiihrt zu der Verwirrung, die der am Beginn dieses Abschnitts<br />
angefuhrte Satz hervorruft. Stehen die Natur von Wissenschaft und der Charakter<br />
wissenschaftlichen Fortschritts im Mittelpunkt der Betrachtung, wie dies bei Kuhn<br />
der Fall zu sein scheint, so sollten die Ausfiihrungen zum Gestaltwandel und zur<br />
religiosen Konversion aus Kuhns Beitrag entfemt werden, und es sollte bei einer<br />
objektiven Charakterisierung von Paradigmen und deren Beziehungen zueinander<br />
bleiben. Zumeist geht Kuhn auch genau so vor, und seine historischen Studien<br />
sind eine Fundgrube fiir wichtiges Material zur Erhellung der Natur von Wissenschaft.<br />
Inwiefern von einem historisch existierenden Paradigma gesagt werden kann,<br />
dass es besser ist <strong>als</strong> ein rivalisierendes, das es ersetzt, unterscheidet sich von der<br />
Frage nach der Art und Weise und den Grtinden, aus denen ein einzelner Wissenschaftler<br />
die Paradigmen wechselt oder sich entscheidet, innerhalb des einen oder<br />
anderen zu fi)rschen. Die Tatsache, dass Wissenschaftler im Rahmen ihrer Forschungsarbeit<br />
aus einer Vielzahl von Grtinden, oft beeinflusst durch subjektive<br />
Faktoren, Urteile fallen und Entscheidungen treffen, ist das eine. Die Beziehung<br />
zwischen unterschiedlichen Paradigmen, die oft erst im Nachhinein wahrgenommen<br />
werden, etwas anderes. Wenn identifiziert werden kann, wie Wissenschaft<br />
voranschreitet, sind es die zuletzt genannten Erwagungen, in denen eine Antwort<br />
zu fmden ist. Das sind die Griinde, weswegen mich Kuhns Versuch in seinem<br />
Text von 1977 (Kap. 13) nicht befriedigt, dem Vorwurf des Relativismus entgegenzutreten,<br />
indem er sich auf die Themen „Werteentscheidung und <strong>Theorien</strong>wahl"<br />
konzentriert.<br />
105
106<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Zentrale Quelle ist Kuhns Buch ,,Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen"<br />
(1979^^). In „Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschafllichen Arbeit"<br />
(1974a) diskutiert Kuhn die Beziehungen zwischen seiner und Poppers Sichtweise,<br />
und in „Bemerkungen zu meinen Kritikem" (1974b) antwortet er auf einige<br />
Kritiken. Eine wertvolle Sammlung von Essays von Kuhn findet sich in dem 1977<br />
erschienenes Buch ,,The Essential tension: Selected Studies in Scientific Tradition<br />
and Change''. Eine detaillierte Diskussion von Kuhns Philosophie und eine<br />
Bibliographie seiner Werke findet sich bei Hoyningen-Huene (1993). Der von<br />
Lakatos und Musgrave (1974) vorgelegte Band enthalt eine Reihe von Kontroversen<br />
zwischen Kuhn und seinen Kritikem. Zum Einfluss von Kuhns Ideen in der<br />
Soziologie siehe zum Beispiel Bloor (1971) und Barnes (1982). Ein Beitrag dazu,<br />
wie in der Wissenschaft Begriffe ihre Bedeutung erhalten, siehe Nersessian<br />
(1984); hier wird die im ersten Abschnitt dieses Kapitels dargestellte Position<br />
verdeutlicht.
9.1 Imre Lakatos<br />
<strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> <strong>Strukturen</strong> II:<br />
Forschungsprogramme<br />
Imre Lakatos, ein gebtirtiger Ungar, wanderte in den spaten 1950er Jahren nach<br />
England aus, wo er Karl Popper kennen lemte, der nach Lakatos eigenen Worten<br />
„[sein] Leben veranderte" (Worrall & Currie, 1982a, S. 139). Obwohl er ein begeisterter<br />
Anhanger von Poppers Ansatz war, erkannte er einige der Probleme des<br />
popperschen F<strong>als</strong>ifikationismus (vgl. Kapitel 7). Mitte der 1960er Jahre erkannte<br />
Lakatos die altemativen Perspektiven von Wissenschaft, die Kuhns Werk „Z)/e<br />
Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" beinhaltet. Obwohl Popper und Kuhn<br />
rivalisierende Ansatze vorlegten, haben ihre je spezifischen Sichtweisen doch einiges<br />
gemeinsam. Im Speziellen beziehen beide Position gegen den Positivismus<br />
und den Induktivismus. Sie stellen beide die Theorie (bzw. das Paradigma) tiber<br />
die Beobachtung und machen deutlich, dass die Suche nach Beobachtungsresultaten<br />
und Experimenten, ihre Interpretation und die Frage, ob sie akzeptiert werden,<br />
vor dem Hintergrund von <strong>Theorien</strong> bzw. Paradigmen stattfinden. Lakatos fuhrte<br />
diese Tradition weiter und suchte nach einer Moglichkeit, Poppers F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
zu modifizieren und dabei einige seiner Probleme zu beseitigen. Unter anderem<br />
bezog er sich dabei auf einige Uberlegungen Kuhns, wobei er die relativistischen<br />
Aspekte seiner Position vehement zuriickwies. Wie Kuhn betrachtete<br />
Lakatos wissenschaftliche Aktivitaten <strong>als</strong> etwas, das unter bestimmten Rahmenbedingungen<br />
stattfmdet. Er pragte den Begriff der „Forschungsprogramme", was<br />
in gewisser Weise seine Alternative zu Kuhns Paradigmen darstellt. Hauptquelle<br />
fur eine Darstellung von Lakatos Methodologie ist sein 1974 publizierter Text<br />
,,F<strong>als</strong>ifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme"<br />
(engl. Orig. 1970).<br />
9.2 Die lakatosschen Forschungsprogramme<br />
In Kapitel 7 haben wir gesehen, dass eines der Hauptprobleme des popperschen<br />
F<strong>als</strong>ifikationismus darin liegt, dass es keine klaren Richtlinien dafiir gibt, welcher<br />
Teil einer Theorie von einer auftretenden F<strong>als</strong>ifikation betroffen ist. Wenn es der
108<br />
Laune einzelner Wissenschaftler unterliegt, die Schuld einem beliebigen Teilbereich<br />
zuzuschreiben, bleibt unklar, wie es moglich ist, dass sich ausgereifte wissenschaftliche<br />
Disziplinen so koordiniert und geschlossen weiterentwickeln konnten,<br />
wie dies offenbar der Fall ist. Lakatos Antwort lautete, dass nicht alle Aspekte<br />
einer wissenschaftlichen Disziplin gleichwertig sind. Manche Gesetze und Prinzipien<br />
sind zentraler <strong>als</strong> andere. Tatsachlich sind einige so fundamental, dass sie<br />
einem konstituierenden Merkmal einer Wissenschaft gleichkommen. In ihrer<br />
Zentralitat konnen sie durch kein auftretendes Versagen infrage gestellt werden.<br />
Davon sind eher weniger fundamentale Komponenten betroffen. Unter dieser<br />
Voraussetzung kann Wissenschaft <strong>als</strong> eine programmatische Entwicklung der<br />
Implikationen ftmdamentaler Prinzipien verstanden werden. Wissenschaftler konnen<br />
versuchen, auftretende Probleme zu losen, indem sie die eher peripheren Annahmen<br />
modifizieren. Unabhangig davon, wie unterschiedlich solche Modifikationen<br />
sein mogen, tragen sie damit - so sie erft)lgreich sind - zur Weiterentwicklung<br />
eines Forschungsprogramms bei.<br />
Lakatos sieht in solchen ftmdamentalen Prinzipien den harten Kern von Forschungsprogrammen.<br />
Der harte Kern eines Programms ist mit Abstand das kennzeichnendste<br />
Merkmal eines Programms. Der harte Kern besteht aus einigen sehr<br />
allgemeinen Hypothesen, die die Basis bilden, von der aus das Programm entwickelt<br />
werden muss. Einige Beispiele: Der harte Kern der Astronomic von Kopernikus<br />
besteht aus den Annahmen, dass die Erde und die Planeten um eine feststehende<br />
Sonne kreisen und dass die Erde sich in einem Tag um ihre eigene Achse<br />
dreht. Der harte Kern der newtonschen Physik besteht aus den Bewegungsgesetzen<br />
sowie dem Gesetz der Massenanziehungskraft. Der harte Kern des Historischen<br />
Materialismus von Marx wtirde die Annahmen enthalten, dass soziale Veranderung<br />
vom Standpunkt des Klassenkampfes aus erklart werden muss, wobei<br />
die Art der Klassen und die naheren Einzelheiten des Kampfes letztlich durch die<br />
okonomische Basis bestimmt werden.<br />
Die Grundlagen eines Programms miissen durch eine Reihe von Zusatzannahmen<br />
erganzt werden, um sie so zu untermauem, dass definitive Voraussagen<br />
gemacht werden konnen. Sie bestehen nicht nur aus expliziten Annahmen und<br />
Gesetzen, die den harten Kern erganzen, sondem auch aus Annahmen, die der<br />
Beschreibung der Anfangsbedingungen und Beobachtungsaussagen sowie experimentellen<br />
Ergebnissen zugrundeliegen. So musste zum Beispiel der harte Kern<br />
des Forschungsprogrammes von Kopemikus erweitert werden, indem den anfanglich<br />
kreisformigen Planetenbahnen zahlreiche Epizykel hinzugefligt wurden. Dartiber<br />
hinaus bestand die Notwendigkeit, die filiher allgemein anerkannte Bestimmung<br />
der Entfemung zwischen den Stemen und der Erde zu verandem. Ursprtinglich<br />
beinhaltete das Programm auch die Annahme, dass das bloBe Auge akkurate<br />
Mormationen iiber die Position, die GroBe und die Helligkeit von Sternen und<br />
Planeten liefert. Unstimmigkeiten zwischen einem ft)rmulierten Programm und<br />
einer Beobachtung sollen den Zusatzannahmen und nicht dem harten Kern zugeschrieben<br />
werden. Um ihre Rolle <strong>als</strong> Schutz des harten Kerns vor F<strong>als</strong>ifikationen<br />
zu betonen, nennt Lakatos die Summe der Zusatzhypothesen, die den harten Kern<br />
erganzen, Schutzgilrtel. Nach Lakatos (1974, S. 130) bleibt der harte Kern unberiihrt<br />
von der „methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten". Annahmen,
die den Schutzgtirtel darstellen, sollen dagegen modifiziert werden, um eine Obereinstimmung<br />
zwischen den Vorhersagen eines Programms und den Ergebnissen<br />
von Beobachtungen und Experimenten herzustellen. Zum Beispiel wurde der<br />
Schutzgtirtel des kopernikanischen Programms dahingehend modifiziert, dass eliptische<br />
Umlaufbahnen durch Kopernikus' Epizykel ersetzt wurden, und mit bloBem<br />
Auge gewonnene durch teleskopische Daten. Auch die Anfangsbedingungen<br />
wurden schlieBlich durch Anderungen der Schatzungen des Abstands von Stemen<br />
zur Erde und durch die Annahme neuer Planeten verandert. Bei der Charakterisierung<br />
von Forschungsprogrammen machte Lakatos groBziigig Gebrauch von dem<br />
Begriff „Heuristik". Eine Heuristik ist eine Menge von Regeln oder Hinweisen zur<br />
Unterstutzung von Entdeckungen bzw. Erfindungen. Zum Beispiel konnte nachfolgender<br />
Satz Teil einer Heuristik zur Losung von Kreuzwortratseln sein: „Beginne<br />
mit Anhaltspunkten, die Antworten mit kurzen Wortem verlangen und mache<br />
weiter mit solchen, die lange Worter benotigen". Lakatos unterteilte Richtlinien<br />
zur Arbeit in Forschungsprogrammen in negative und positive Heuristiken. Die<br />
negative Heuristik spezifiziert, was ein Wissenschaftler nicht tun soil. Wie wir<br />
bereits gesehen haben, sind Wissenschaftler zum Beispiel gehalten, nicht den<br />
harten Kern eines Programms, an dem sie gerade arbeiten, zu modifizieren. Modifiziert<br />
ein Wissenschaftler den harten Kern, ist er bereits aus dem Programm ausgestiegen.<br />
So war das bei Tycho Brahe in Bezug auf das kopemikanische Programm<br />
der Fall, <strong>als</strong> er annahm, dass nur die Planeten, nicht jedoch die Erde die<br />
Sonne umkreist, und dass die Sonne die Erde umkreist.<br />
Die positive Heuristik eines Programms, die festlegt, was ein Wissenschaftler<br />
innerhalb eines Programms tun soil, statt zu sagen, was er nicht tun soil, ist schwerer<br />
zu charakterisieren <strong>als</strong> die negative Heuristik. Die positive Heuristik bietet<br />
Richtlinien dafiir, wie der harte Kern erganzt und der resultierende Schutzgtirtel<br />
verandert werden soil, damit ein Programm zu Erklarungen und Vorhersagen von<br />
beobachtbaren Phanomenen fuhrt. Dazu Lakatos (1974, S. 131):<br />
Die positive Heuristik besteht aus einer partiell artikulierten Reihe<br />
von Vorschlagen oder Hinweisen, wie man die ,widerlegbaren Fassungen'<br />
des Forschungsprogramms verandem und entwickebi soil<br />
und wie der ,widerlegbare' Schutzgtirtel modifiziert und raffmierter<br />
gestaltet werden kann.<br />
Die Entwicklung eines Forschungsprogramms beinhaltet nicht nur das Hinzuziehen<br />
geeigneter Hilfshypothesen, sondem auch die Entwicklung geeigneter mathematischer<br />
und experimenteller Techniken. Es war zum Beispiel beim kopernikanischen<br />
Programm von Anfang an klar, dass fur eine Weiterentwicklung und<br />
ausfiihrliche Anwendung des Programms geeignete mathematische Techniken<br />
erft)rderlich sind, um epizyklische Bewegungen adaquater zu beschreiben, sowie<br />
verbesserte Techniken der astronomischen Beobachtung.<br />
Lakatos veranschaulicht den Begriff der positiven Heuristik mit der Darstellung<br />
der Anfange der newtonschen Gravitationstheorie (vgl. Lakatos 1974, S.<br />
132f). Hier bestand die positive Heuristik aus der Idee, dass man mit einfachen,<br />
idealisierten Fallen beginnen solle, und nachdem diese gemeistert sind, zu kompli-<br />
109
110<br />
zierteren und realistischeren Fallen iibergehen solle. Newton kam zuerst zu dem<br />
Gesetz, dass die Anziehung umgekehrt proportional zu dem Quadrat des Abstandes<br />
zweier Korper ist, indem er die ellipsenformige Bewegung eines „punktformigen"<br />
Planeten um eine feststehende „punktformige" Sonne betrachtete. Es war<br />
klar, dass falls die Gravitationstheorie in der Praxis auf die Planeten bezogen<br />
werden sollte, das Programm dieses idealisierten Modells sich zu einem realistischeren<br />
Modell weiterentwickeln musste. Aber diese Entwicklung hatte die Losung<br />
theoretischer Probleme zur Folge und konnte nicht ohne erhebliche theoretische<br />
Arbeit zustandegebracht werden. Newton selber machte mit einem bestimmten<br />
Programm vor Augen, d.h. geleitet von einer positiven Heuristik, einen<br />
betrachtlichen Fortschritt. Er zog zuerst die Tatsache in Betracht, dass sich sowohl<br />
eine Sonne <strong>als</strong> auch ein Planet unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen Anziehung<br />
bewegen. Dann berticksichtigte er die endliche GroBe der Planeten und betrachtete<br />
sie <strong>als</strong> Kugeln. Nachdem er das mathematische Problem, das hierdurch auftrat,<br />
gelost hatte, ging Newton dazu uber, sich zum Beispiel auf solche problematischen<br />
Sachverhalte zu konzentrieren, die sich aus der Tatsache ergeben, dass ein<br />
Planet sich dreht und dass es sowohl eine Anziehungskraft zwischen den einzelnen<br />
Planeten <strong>als</strong> auch zwischen jedem Planeten und der Sonne gibt. Als Newton<br />
mit seinem Programm so weit fortgeschritten war und dabei einen Weg gegangen<br />
war, der sich gleich von Anfang an <strong>als</strong> mehr oder weniger notwendig dargestellt<br />
hatte, befasste er sich mit der Ubereinstimmung zwischen seiner Theorie und<br />
seinen Beobachtungen. Als sich herausstellte, dass es hierbei an tJbereinstimmung<br />
mangelte, konnte er sich zum Beispiel darauf beziehen, dass die entsprechenden<br />
Planeten nicht der idealen Kugelform entsprechen, usw. Neben dem theoretischen<br />
Programm, das in der positiven Heuristik enthalten ist, drangte sich ein eindeutig<br />
definiertes experimentelles Programm geradezu auf. Dieses Programm enthielt die<br />
Entwicklung von genaueren Femrohren mitsamt den Hilfshypothesen, die fur ihre<br />
Verwendung in der Astronomic erforderlich waren, wie beispielsweise <strong>Theorien</strong>,<br />
die die Brechung des Lichts in der Atmosphare benicksichtigten. Die ursprungliche<br />
Fassung des Programms von Newton implizierte, dass versucht werden sollte,<br />
einen Apparat zu konstruieren, der empfmdlich genug ist, um die Anziehungskraft<br />
der Erde auf einer Laborwaage zu messen (Experiment von Cavendish).<br />
Das Programm, das Newtons Bewegungsgesetze und sein Gravitationsgesetz<br />
zum harten Kern hat, bietet starke heuristische Richtlinien. Sie bestehen in der<br />
Planung eines defmitiven Programms von Anfang an. Lakatos (1974, S. 137ff.)<br />
gibt mit der Entwicklung von Bohrs Atomtheorie ein weiteres Beispiel fur die<br />
Anwendung einer positiven Heuristik. Was bei diesen Beispielen der Entwicklung<br />
eines Forschungsprogramms besonders auffallt, ist das verhaltnismaBig spate<br />
Stadium, in dem Beobachtungsuberpriifimgen relevant werden. Dies steht im<br />
Einklang mit den Erlauterungen uber Galileis Entwicklung der Ursprtinge der<br />
Mechanik im vorigen Kapitel. Trotz offensichtlicher F<strong>als</strong>ifikationen durch Beobachtungen<br />
wird zunachst an einem Forschungsprogramm festgehalten. Einem Forschungsprogramm<br />
muss die Gelegenheit gegeben werden, seine gesamte Leistungsfahigkeit<br />
unter Beweis zu stellen. Ein ausreichend raffmierter und geeigneter<br />
Schutzgiirtel muss entwickelt werden. Bezogen auf das Beispiel des kopernikanischen<br />
Programms beinhaltete dies die Entwicklung einer angemessenen Mecha-
nik, die in der Lage war, die Bewegung der Erde abzubilden, und einer angemessenen<br />
Theorie der Optik, die dazu beitragen konnte, per Teleskop gewonnene<br />
Daten zu interpretieren. Wenn ein Programm sich so weit entwickelt hat, dass es<br />
Beobachtungsixberprufungen unterzogen werden kann, dann sind nach Lakatos<br />
eher die Bewahrungen <strong>als</strong> die F<strong>als</strong>ifikationen entscheidend. Der Wert eines Forschungsprogramms<br />
bemisst sich nach dem Umfang, in dem es zu neuartigen Vorhersagen<br />
fuhrt, die bestatigt werden. Das newtonsche Programm erlebte enorme<br />
Bestatigung, <strong>als</strong> Galle <strong>als</strong> Erster den Planeten Neptun beobachten konnte und <strong>als</strong><br />
der Komet Halley wie vorhergesagt wiederkehrte. Fehlgeschlagene Vorhersagen,<br />
wie Newtons erste Berechnungen der Umlaufbahn des Mondes, zeigten lediglich,<br />
dass weiter an der Erganzung und Modifikation des Schutzgiirtels gearbeitet werden<br />
musste.<br />
Hauptindikator flir den Nutzen eines Forschungsprogramms ist der Umfang,<br />
in dem es zu neuartigen Vorhersagen fuhrt, die bestatigt werden. Ein zweiter<br />
Indikator, der in den oben gemachten Ausflihrungen implizit enthalten ist, liegt<br />
darin, dass ein Forschungsprogramm tatsachlich ein Programm fur die Forschung<br />
bietet. Die positive Heuristik soil so koharent sein, dass sie durch den Entwurf<br />
eines Programms zuktinftige Forschung leitet. Lakatos nahm vom Marxismus und<br />
von der freudschen Psychoanalyse an, dass sie dem zweiten Indikator gerecht<br />
werden, nicht aber dem erstgenannten, wahrend die zeitgenossische Soziologie<br />
zwar in gewissem Umfang dem ersteren gerecht wird, nicht jedoch dem zweiten<br />
Indikator fiir den Nutzen eines Forschungsprogramms (allerdings untermauerte er<br />
diese Einschatzung nicht mit weiteren Argumenten). In jedem Fall wird ein progressives<br />
Forschungsprogramm seine Koharenz beibehalten und zuletzt unabwendbar<br />
zu neuartigen Vorhersagen fiihren, die bestatigt werden. Ein degeneriertes<br />
Forschungsprogramm dagegen wird an Koharenz verlieren bzw. keine Bestatigung<br />
seiner neuartigen Vorhersagen erhalten. Das Ersetzen eines degenerierten<br />
Programms durch ein progressives stellt Lakatos' Version einer wissenschaftlichen<br />
Revolution dar.<br />
9.3 Methodologie innerhalb eines Programms und die Vergleiehbarkeit von<br />
Programmen<br />
Lakatos' Methodologie wissenschafllicher Forschungsprogramme muss im Rahmen<br />
der Arbeit, die innerhalb eines Programms geleistet wird und im Rahmen des<br />
Konflikts mit anderen Programmen behandelt werden. Die Arbeit innerhalb eines<br />
einzelnen Programms beinhaltet die Erweiterung und Modifikation des Schutzgurtels<br />
durch die Hinzunahme und Benennung verschiedener Hypothesen. Jeder<br />
dieser Vorgange ist gestattet, solange er nicht in dem in Kapitel 6 diskutierten<br />
Sinne iiber einen A(i-/2oc-Charakter verfugt. Modifikationen oder Erganzungen<br />
des Schutzgiirtels mtissen unabhangig voneinander tiberprtifbar sein. Wissenschaftler<br />
sind frei, den Schutzglirtel zu modifizieren oder zu erweitern, wie es<br />
ihnen richtig erscheint, vorausgesetzt, dies eroffiiet die Moglichkeit neuer Uberprufungen<br />
und damit die Moglichkeit neuartiger Erkenntnisse. Ziehen wir, um<br />
dies zu erlautern, ein Beispiel aus der Entwicklung des newtonschen Forschungs-<br />
Ill
112<br />
programms heran, das wir schon ofters betrachtet haben, und halten wir uns die<br />
Situation vor Augen, der sich Leverrier und Adams gegenubersahen, <strong>als</strong> sie sich<br />
mit der eigenwilligen Umlaufbahn des Uranus beschaftigten. Diese beiden Wissenschaftler<br />
entschieden sich dafiir, den Schutzgurtel des Programms zu verandem,<br />
indem sie behaupteten, dass die Anfangsbedingungen unangemessen seien<br />
und annahmen, dass es einen bisher nicht entdeckten Planeten nahe des Uranus<br />
geben mtisse, der zu einer Storung der Umlaufbahn fuhre. Dieser Schritt war mit<br />
der Methodologie Lakatos vereinbar, weil er uberprufbar war. Der vermutete<br />
Planet konnte gesucht werden, indem Teleskope auf die entsprechende Himmelsregion<br />
gerichtet wurden. Auch andere Antwortmoglichkeiten waren entsprechend<br />
Lakatos' Position legitim gewesen. Zum Beispiel konnte die problematische Umlaufbahn<br />
auf eine neuartige Storung der Teleskope zurtickgefiihrt werden, wenn<br />
gewahrleistet ist, dass uberpruft werden kann, ob eine solche Storung tatsachlich<br />
vorliegt. In gewissem Sinne gilt, dass eine Problemlosung umso besser ist, je<br />
besser sie iiberprtift werden kann, weil dies die Aussichten auf Erfolg vergroBert<br />
(wobei Erfolg hier bedeutet, dass die neuartigen Vorhersagen, die sich daraus<br />
ergeben, bestatigt werden). Losungsversuche mit ^(i-/zoc-Charakter schlieBt<br />
Lakatos' Methodologie aus. So ist es nicht moglich, das in unserem Beispiel behandelte<br />
Problem der Umlaufbahn des Uranus zu losen, indem einfach behauptet<br />
wird, diese komplexe Umlaufbahn entspreche der natUrlichen Bewegung des<br />
Uranus. Es ermoglicht keine neuen Uberpriifungen und damit keine Perspektive<br />
fur neuartige Entdeckungen.<br />
Eine zweite Vorgehensweise, die nach Lakatos' Methodologie ausscheidet,<br />
ist die Aufgabe des harten Kerns. Ein solcher Schritt zerstort die Koharenz eines<br />
Programms und kommt dem Verlassen des Programms gleich. Hatte zum Beispiel<br />
ein Wissenschaftler versucht, die Umlaufbahn des Uranus mit der Behauptung zu<br />
erklaren, dass die Kraft zwischen Uranus und Sonne einer anderen GesetzmaBigkeit<br />
<strong>als</strong> der des umgekehrt proportionalen Quadrates ihres Abstandes folgt, hatte er<br />
sich auBerhalb des Forschungsprogramms von Newton begeben.<br />
Die Tatsache, dass jeder Bereich eines komplexen theoretischen Systems fur<br />
eine mogliche F<strong>als</strong>ifikation verantwortlich sein kann, stellt die F<strong>als</strong>ifikationisten,<br />
die uneingeschrankt auf die Methode der Vermutungen und Widerlegungen vertrauen,<br />
vor ein emsthaftes Problem. Fiir den F<strong>als</strong>ifikationisten endet die Unfahigkeit,<br />
den Ursprung der Schwierigkeiten ausfmdig zu machen, in einem planlosen<br />
Chaos. Der wissenschaftliche Ansatz von Lakatos ist so angelegt, dass diese Konsequenz<br />
vermieden wird. Die Ordnung wird durch die Unverletzlichkeit des harten<br />
Kerns und durch die positive Heuristik, die damit einhergeht, aufrechterhalten.<br />
Das freimiitige Entwickeln sinnvoller Vermutungen innerhalb dieses Rahmens<br />
wird zu Fortschritt fiihren, vorausgesetzt, dass sich einige der Vorhersagen, die<br />
sich aus diesen Vermutungen ergeben, gelegentlich <strong>als</strong> erfolgreich erweisen. Entscheidungen,<br />
Hypothesen aufrechtzuerhalten oder zu verwerfen, werden unmittelbar<br />
durch die Ergebnisse der experimentellen LFberprufungen bestimmt. Die<br />
Hypothesen, die einer experimentellen Uberpriifung standhalten, werden vorlaufig<br />
aufrechterhalten. Die Frage, welche Bedeutung der Beobachtung wahrend der<br />
Uberpriifung einer Hypothese zukommt, wirft innerhalb eines Forschungspro-
gramms so gut wie keine Probleme auf, da der harte Kern und die positive Heuristik<br />
dazu dienen, eine ausreichend stabile Beobachtungssprache zu definieren.<br />
Wie oben erwahnt, beinhaltet Lakatos' Version einer kuhnschen Revolution<br />
das Verdrangen eines Forschungsprogramms durch ein anderes. Wie wir gesehen<br />
haben, war es Kuhn (1979, S. 105) nicht moglich, eine klare Antwort auf die<br />
Frage zu geben, wann von einem Paradigma gesagt werden kann, dass es dem, das<br />
es ersetzt, tiberlegen ist. Kuhn sah keine andere Moglichkeit, <strong>als</strong> sich auf die Autoritat<br />
der Scientific community zu beziehen. Paradigmen sind ihren jeweiligen Vorgangem<br />
tiberlegen, weil dies die Scientific community so einschatzt, und es gibt<br />
„keine hohere Norm <strong>als</strong> die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft". Lakatos<br />
behagten die relativistischen Implikationen von Kuhns Theorie nicht. Er suchte<br />
nach MaBstaben, die auBerhalb der jeweiligen Paradigmen, oder in Lakatos Fall<br />
Forschungsprogramme, liegen, die eingesetzt werden konnen, um nicht-relativistische<br />
Kriterien zu identifizieren, nach denen Wissenschaft voranschreitet. In gewissem<br />
Umfang liegen solche Standards in seiner Konzeption von degenerierten<br />
bzw. progressiven Forschungsprogrammen. Fortschritt bedeutet das Ersetzen eines<br />
degenerierten durch ein progressives Forschungsprogramm, wobei letzteres insofem<br />
eine Verbesserung gegentiber ersterem darstellt, <strong>als</strong> es sich effektiver im<br />
Vorhersagen neuartiger Phanomene erwiesen hat.<br />
9.4 Neuartige Vorhersagen<br />
Das nicht-relativistische MaB fur Fortschritt, das Lakatos vorgeschlagen hat, legt<br />
sehr viel Wert auf das Konzept neuartiger Vorhersagen. Ein Programm ist einem<br />
anderen tiberlegen, wenn es erfolgreicher neuartige Phanomene vorhersagt. Wie<br />
Lakatos feststellt, ist das Konzept neuartiger Vorhersagen jedoch nicht so klar,<br />
wie es im ersten Moment erscheinen mag. Es bedarf einiger Sorgfalt, dieses Konzept<br />
in eine Form zu bringen, in der es dem Zweck dienen kann, den es innerhalb<br />
der lakatosschen Methodologie hat. Dies gilt auch fiir jede andere Methodologie,<br />
die von diesem Konzept Gebrauch macht.<br />
Neuartige Vorhersagen haben wir bereits im Rahmen der popperschen Methodologie<br />
gefunden. Im Wesentlichen scheint eine Vorhersage fiir Popper zu<br />
einer bestimmten Zeit neu zu sein, wenn sie nicht Bestandteil des Wissens ist, das<br />
zu dieser Zeit bekannt und allgemein akzeptiert ist oder wenn es zu diesem Wissen<br />
im Widerspruch steht. Fiir Popper entspricht die Uberprufung einer Theorie<br />
uber ihre neuartigen Vorhersagen einer strengen Pnifung dieser Theorie, weil<br />
diese Vorhersagen den landlaufigen Erwartungen widersprechen. Wie Lakatos<br />
selbst feststellte, erfullt sein Gebrauch des Konzepts neuartiger Vorhersagen (das<br />
dem Poppers sehr ahnlich ist) nicht den von ihm angestrebten Zweck, die Progressivitat<br />
eines Forschungsprogramms zu charakterisieren. Dies wird durch eine<br />
Reihe eindeutiger Gegenbeispiele belegt, auf die Lakatos zur Verdeutlichung<br />
seiner Position zuriickgreift. Diese Gegenbeispiele beziehen sich auf Situationen,<br />
in denen der Wert eines Forschungsprogramms an seiner Fahigkeit festgemacht<br />
wird, Phanomene zu erklaren, die zu der gegebenen Zeit allgemein bekannt und<br />
nicht im popperschen Sinn neuartig waren.<br />
113
114<br />
Seit der Antike sind Besonderheiten der Planetenbewegungen bekannt, die<br />
erst mit dem Aufkommen der kopemikanischen Theorie hinreichend erklart werden<br />
konnten. Dies sind zum Beispiel die Rucklaufigkeit der Planetenbewegungen<br />
und die Tatsache, dass Planeten am hellsten erscheinen, wenn sie sich zurtickbewegen,<br />
sowie die Tatsache, dass sich Venus und Merkur nie weit entfemt von der<br />
Sonne zeigen. Mit der Annahme, dass sich die Erde zusammen mit den Planeten<br />
um die Sonne dreht und dass die Umlaufbahnen von Merkur und Venus innerhalb<br />
der Erdbahn liegen, ergeben sich diese Merkmale von selbst. Im Rahmen der<br />
ptolemaischen Theorie konnten sie dagegen nur durch speziell dafur eingefuhrte<br />
Epizykel erklart werden. Lakatos stimmt mit Kopemikus und wohl mit den meisten<br />
von uns darin uberein, dass dieser Sachverhalt ein Hauptmerkmal fur die<br />
tJberlegenheit des kopemikanischen tiber das ptolemaische System darstellt. Da<br />
diese Phanomene jedoch seit der Antike bekannt waren, konnen die kopemikanischen<br />
Vorhersagen allgemeiner Merkmale der Planetenbewegung nicht in dem<br />
von uns definierten Sinn <strong>als</strong> neuartig bezeichnet werden. Die Beobachtung von<br />
Fixstemparallaxen ist wahrscheinlich die erste Bestatigung der kopemikanischen<br />
Theorie durch die Erfullung einer Vorhersage, die in dem beschriebenen Sinne <strong>als</strong><br />
neuartig gelten kann. Aber auch dies trifft Lakatos' Absicht nicht, weil die erste<br />
Messung einer Sternparallaxe erst im 19. Jahrhundert stattfand^, <strong>als</strong> die Uberlegenheit<br />
des kopemikanischen uber das ptolemaische System wissenschaftlich<br />
langst akzeptiert war.<br />
Leicht konnen andere Beispiele gefunden werden. Bine der wenigen Beobachtungen,<br />
die zur Stutzung der Allgemeinen Relativitatstheorie Einsteins herangezogen<br />
werden konnte, war die Perihelverschiebung des Planeten Merkur, ein<br />
Phanomen, das lange vor seiner vollstandigen Erklarung durch Einsteins Theorie<br />
bekannt war.^^ Eine der beeindruckendsten Leistungen der Quantenmechanik war,<br />
dass sie die Spektren erklaren konnte, die das von Gasen ausgesandte Licht aufweist.<br />
Auch dieses Phanomen war Experimentatoren bereits mehr <strong>als</strong> ein halbes<br />
Jahrhundert vor seiner quantenmechanischen Erklarung bekannt. Diese Erfolge<br />
konnen eher <strong>als</strong> neuartige Vorhersagen von Phanomenen beschrieben werden,<br />
denn <strong>als</strong> Vorhersagen von neuartigen Phanomenen.<br />
Vor dem Hintergmnd einiger Erwagungen Zahars (1973) erkannte Lakatos,<br />
dass der Stellenwert neuartiger Vorhersagen fiir die urspriingliche Fassung der<br />
Methodologie von Forschungsprogrammen modifiziert werden musste. Soil beurteilt<br />
werden, in welchem Umfang beobachtete Phanomene eine Theorie oder ein<br />
Programm stutzen, ist es sicher eine historisch kontingente Tatsache ohne philosophische<br />
Relevanz, ob zuerst die Theorie zu diesem Phanomen oder das Wissen<br />
dariiber existiert. Einsteins Relativitatstheorie kann die Umlaufbahn des Merkurs<br />
ebenso erklaren wie die Krummung des Lichts in einem Gravitationsfeld. Dies<br />
sind beides bemerkenswerte Erfolge, die die Theorie unterstutzen. Die Prazession<br />
des Perihels der Umlaufbahn vom Merkur war bereits vor Einsteins Theorieent-<br />
^ Durch Friedrich Wilhelm Bessel im Jahre 1883 (Anm. d. Hrsg.)<br />
^^ Der groBte Anteil der Periheldrehung des Merkurs beruht auf Storungen durch die anderen Planeten<br />
und konnte vor Einstein durch die klassische Mechanik erklart werden. Es verblieb jedoch ein kleiner<br />
Rest von 43" pro Jahrhundert; die Allgemeine Relativitatstheorie erklart diesen Uberschuss. (Anm. d.<br />
Hrsg.)
wicklung bekannt, wahrend die Kriimmung von Lichtstrahlen erst danach entdeckt<br />
wurde. Aber macht es wirklich einen Unterschied in der Beurteilung von Einsteins<br />
Theorie, wenn es umgedreht gewesen ware oder wenn beide Phanomene davor<br />
Oder danach entdeckt worden waren? Die Feinheiten einer angemessenen Antwort<br />
auf diese Uberlegungen werden immer noch diskutiert, zum Beispiel von<br />
Musgrave (1974b) und Worrall (1985, 1989a). Die Logik der obigen Beispiele<br />
liegt jedoch klar auf der Hand. Die ptolemaische Erklarung riickwarts gerichteter<br />
Bewegungen stellt keine iiberzeugende Bestatigung seines Programms dar, weil<br />
sie kiinstlich festgesetzt wurde, um die beobachtbaren Daten durch die Hinzunahme<br />
speziell zu diesem Zweck entwickelter Epizykel zu erklaren. Im Gegensatz<br />
dazu ergeben sich die beobachtbaren Phanomene ganz natiirlich aus den Grundsatzen<br />
der kopernikanischen Theorie, ohne dass diese kiinstlich angepasst werden<br />
musste. Die Vorhersagen einer Theorie oder eines Programms, die wirklich zahlen,<br />
sind eher diejenigen, die sich natiirlich ergeben, <strong>als</strong> diejenigen, die arrangiert<br />
werden. Was eventuell hinter all dem steht, ist die Idee, dass das Evidente eine<br />
Theorie dann unterstiitzt, wenn ohne die Theorie Dinge unerklart bleiben. Wie<br />
sollte es der kopernikanischen Theorie gelingen, all die beobachtbaren Merkmale<br />
von Planetenbewegungen zu erklaren, wenn sie nicht im Grunde zutreffend ist?<br />
Dasselbe Argument funktioniert bei der Erklarung derselben Phanomene durch<br />
Ptolemaus nicht. Auch wenn die Theorie Ptolemaus vollig f<strong>als</strong>ch ist, verwundert<br />
es nicht, dass sie die Phanomene erklaren kann, weil die Epizykel genau zu diesem<br />
Zweck aufgenommen wurden. Dies entspricht der Sichtweise Worralls (1985,<br />
1989a).<br />
Im Lichte der bisherigen Ausfuhrungen sollten wir Lakatos' Methodologie<br />
dahingehend reformulieren, dass ein Programm in dem Umfang progressiv ist, in<br />
dem es ihm gelingt, naturliche, im Gegensatz zu neuartigen Vorhersagen zu machen.<br />
Dabei wird „natiirlich" <strong>als</strong> Gegensatz zu „arrangiert", „kiinstlich" oder „ad<br />
hoc" verstanden. Wir werden diesen Gedanken in Kapitel 13 aus einem anderen,<br />
eventuell iiberlegenerem Blickwinkel emeut aufnehmen.<br />
9.5 Die Uberprufung einer Methodologie an der Geschichte<br />
Lakatos teilte Kuhns Vorliebe flir die Wissenschaftsgeschichte. Er hielt es flir<br />
wunschenswert, dass jede Wissenschaftstheorie in der Lage sein soUe, die Geschichte<br />
der Wissenschaft zu interpretieren. Das bedeutet, dass eine Methodologie<br />
oder Philosophic der Wissenschaft in gewissem Sinne an der Wissenschaftsgeschichte<br />
iiberpriift werden muss. Lakatos war sich allerdings bewusst, dass die<br />
genaue Art und Weise der Uberprufung prazisiert werden muss. Wird die Notwendigkeit,<br />
dass eine Wissenschaftsphilosophie zur Geschichte der Wissenschaft<br />
passen muss, undifferenziert ausgelegt, so ware eine gute Wissenschaftsphilosophie<br />
nichts anderes <strong>als</strong> eine genaue Beschreibung der Wissenschaft. Als solche<br />
ware sie nicht in der Lage, essentielle Charakteristika von Wissenschaft herauszuarbeiten<br />
oder zwischen guter und schlechter Wissenschaft zu unterscheiden.<br />
Popper und Lakatos neigen dazu, Kuhns Beitrag <strong>als</strong> in diesem Sinne „nur" deskriptiv<br />
und daher <strong>als</strong> unzulanglich zu betrachten. Popper war so misstrauisch<br />
115
116<br />
beziiglich des Problems, dass er, anders <strong>als</strong> Lakatos, leugnete, dass ein Vergleich<br />
mit der Wissenschaftsgeschichte ein legitimer Weg der Argumentation fiir eine<br />
Wissenschaftsphilosophie sei.<br />
Ich bin der Meinung, dass das Wesentliche der von Lakatos in seinem Text<br />
von 1978 (dt. 1982b) beschriebenen Position Folgendes ist: Es gibt Episoden der<br />
Wissenschaftsgeschichte, die ohne Probleme und ohne anspruchsvolle Wissenschaftsphilosophien<br />
<strong>als</strong> progressiv erkannt werden konnen. Leugnet jemand, dass<br />
Galileis Physik einen Fortschritt gegeniiber der aristotelischen oder dass Einstein<br />
einen Fortschritt gegeniiber Newton darstellt, verwendet er oder sie einfach den<br />
Begriff der Wissenschaft anders <strong>als</strong> allgemein tiblich. Setzt man sich mit der Frage<br />
auseinander, wie Wissenschaft am besten kategorisiert werden kann, benotigt man<br />
zur Formulierung dieser Frage einige vor-wissenschaftliche Vorstellungen davon,<br />
was Wissenschaft ist. Diese vor-wissenschaftlichen Vorstellungen beinhalten die<br />
Fahigkeit, klassische Beispiele zentraler wissenschaftlicher Erft)lge wie die von<br />
Galilei und Einstein zu erkennen. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorannahmen<br />
kann geft)rdert werden, dass jede Wissenschaftsphilosophie oder -methodologie<br />
mit diesen kompatibel sein muss. Das bedeutet, dass jede Wissenschaftsphilosophie<br />
in der Lage sein muss, zu erfassen, in welchem Sinne Galileis Erft)lge in der<br />
Astronomic und der Physik im GroBen und Ganzen bedeutende Fortschritte darstellten.<br />
Erbringt die Wissenschaftsgeschichte, dass Galilei den Begriff der beobachtbaren<br />
Tatsachen neu defmierte und dass er sich bezuglich seiner Mechanik<br />
eher auf Gedankenexperimente verlieB <strong>als</strong> auf tatsachlich durchgeftihrte Experimente,<br />
dann stellt dies bestimmte philosophische Schulen vor ein Problem. Betroffen<br />
sind die Schulen, die wissenschaftlichen Fortschritt in dem Sinne <strong>als</strong> kumulativ<br />
darstellen, <strong>als</strong> er durch das Sammeln beobachtbarer Tatsachen zustandekommt,<br />
von denen dann vorsichtige Generalisierungen abgeleitet werden. Lakatos fruhe<br />
Version seiner Methodologie von Forschungsprogrammen kann dahingehend kritisiert<br />
werden, dass dort ein Begriff der neuartigen Vorhersagen benutzt wird, der<br />
es unmoglich macht zu erfassen, in welchem Sinne Kopernikus Astronomic progressiv<br />
war.<br />
Mittels dieser Argumentationslinie fahrt Lakatos fort, positivistische und f<strong>als</strong>ifikationistische<br />
Methodologien zu kritisieren, weil sie einige klassische Episoden<br />
wissenschaftlichen Fortschritts nicht erklaren konnen. Im Gegensatz dazu<br />
argumentiert er, dass sein eigener Beitrag diese Schwache nicht aufweist. Bezogen<br />
auf weniger wichtige Episoden der Wissenschaftsgeschichte kann sich Lakatos<br />
oder einer seiner Anhanger Episoden herauspicken, die Historiker und Philosophen<br />
vor Ratsel gestellt haben, und zeigen, wie sie aus dem Blickwinkel der Methodologie<br />
von Forschungsprogrammen erklart werden konnen. Zum Beispiel<br />
waren einige von der Tatsache verwirrt, dass Thomas Young, <strong>als</strong> er im filihen 19.<br />
Jahrhundert die Wellentheorie des Lichts vorstellte, nur wenig Anhanger fand,<br />
wahrend die zwei Dekaden spater von Fresnel entwickelte Version auf breite<br />
Akzeptanz stieB. In historischer Hinsicht unterstUtzt Worrall (1976) Lakatos'<br />
Position, indem er zeigt, dass historisch belegt werden kann, dass Youngs Theorie<br />
auf nattirlichem (im Gegensatz zu einem sehr arrangierten) Weg nicht in strengem<br />
Sinne experimentell belegt werden konnte. Bei Fresnel dagegen war dies der Fall.<br />
Gleichzeitig wies Fresnels Version der Wellentheorie durch die von ihm vorge-
stellten mathematischen Verfahren eine uberlegene positive Heuristik auf. Einige<br />
von Lakatos' Studenten fuhrten Studien mit dem Ziel durch, Lakatos' Methodologie<br />
hierdurch zu untersttitzen (s. Howson, 1976).<br />
Lakatos sah die Hauptstarke seiner Methodologie darin, dass sie half, die<br />
Geschichte der Wissenschaft zu schreiben. Der Wissenschaftshistoriker muss<br />
versuchen, Forschungsprogramme zu identifizieren, ihren harten Kern und den<br />
Schutzgiirtel zu charakterisieren und zu dokumentieren, auf welchem Weg sie<br />
fortschritten oder degenerierten. So kann deutlich werden, wie sich Wissenschaft<br />
im Wettkampf zwischen Programmen weiterentwickelt. Wie die Essays in<br />
Howson (1976) deutlich machen, muss zugestanden werden, dass Lakatos und<br />
seine Anhanger durch Studien, die so durchgeftihrt wurden, erfolgreich Licht in<br />
einige klassische Episoden der Geschichte der Physik brachten. Obwohl Lakatos'<br />
Methodologie eine Hilfe fiir Wissenschaftshistoriker bietet, intendierte er dies ftir<br />
Wissenschaftler selbst nicht. Diese Schlussfolgerung ist unvermeidlich vor dem<br />
Hintergrund der Art und Weise, wie Lakatos es ftir notwendig erachtete, den F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
zu modifizieren, um die mit ihm verbundenen Probleme zu Uberwinden.<br />
<strong>Theorien</strong> sollen bei Auftreten einer F<strong>als</strong>ifikation nicht verworfen werden,<br />
weil der Grund dieser F<strong>als</strong>ifikation auBerhalb der Theorie liegen mag, und ein<br />
einziger Erfolg belegt mit Sicherheit nicht ftir alle Zeiten eine Theorie. Darin liegt<br />
der Grund daftir, dass Lakatos das Konzept der Forschungsprogramme vorstellt,<br />
denen Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln und die nach einer Zeit der Degeneration<br />
voranschreiten oder nach anfanglichem Erfolg degenerieren konnen. In<br />
diesem Zusammenhang soil daran erinnert werden, dass auch die kopernikanische<br />
Theorie nach anfanglichem Erfolg fur etwa ein Jahrhundert degenerierte, bevor<br />
die Interessen von Galilei und Kepler sie wieder zum Leben erweckte. Wird dieser<br />
Schritt jedoch vollzogen, ist klar, dass sich aus Lakatos' Methodologie keine Hauruck-Ratschlage<br />
ableiten lassen, nach der Wissenschaftler ein Forschungsprogramm<br />
aufgeben oder ein bestimmtes Programm einem rivalisierenden vorziehen<br />
mtissen. Es ist nicht irrational oder notwendigerweise f<strong>als</strong>ch, wenn ein Wissenschaftler<br />
oder eine Wissenschaftlerin an einem degenerierten Programm weiterarbeitet,<br />
solange er oder sie denkt, dass es Moglichkeiten gibt, es wieder zum Leben<br />
zu erwecken. Nur auf lange Sicht - <strong>als</strong>o aus historischer Perspektive - kann<br />
Lakatos' Methodologie eingesetzt werden, um Forschungsprogramme sinnvoll<br />
miteinander zu vergleichen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Lakatos<br />
zwischen der Bewertung von Forschungsprogrammen, was lediglich in historischer<br />
Hinsicht moglich ist, und Ratschlagen fiir Wissenschaftler, welche durch<br />
seine Methodologie nie gegeben werden sollten. „Es gibt keine unmittelbare Rationalitat<br />
in der Wissenschaft" wurde einer von Lakatos' Slogans, womit er ausdrucken<br />
wollte, dass nach seiner Meinung Positivismus und F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
dort, wo sie dahingehend interpretiert werden, dass sie Kriterien fiir die Annahme<br />
und Zuruckweisung von <strong>Theorien</strong> zur Verfiigung stellen, zu viel fur sich in Anspruch<br />
nehmen.<br />
117
118<br />
9.6 Probleme mit der lakatosschen Methodologie<br />
Wie wir gesehen haben, halt es Lakatos fur angemessen, Methodologien an der<br />
Wissenschaftsgeschichte zu uberpriifen. Es ist daher nach seinen eigenen Worten<br />
legitim, die Frage aufzuwerfen, ob seine Methodologie deskriptiv angemessen ist.<br />
Es gibt Griinde, dies in Zweifel zu ziehen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob es<br />
in der Wissenschaftsgeschichte so etwas wie „harte Kerne", die der Identifikation<br />
von Forschungsprogrammen dienen, tatsachlich gibt. Widersprtiche ergeben sich<br />
aus dem AusmaB der Bemiihungen, in dem Wissenschaftler gelegentlich versuchen,<br />
Probleme zu losen, indem sie die Gmndlagen der Theorie oder des Programms,<br />
an dem sie arbeiten, modifizieren. Kopemikus zum Beispiel riickte die<br />
Sonne ein wenig aus dem Zentrum der planetaren Umlaufbahnen heraus, lieB den<br />
Mond und nicht die Sonne die Erde umkreisen und nutzte allerlei Kunstgriffe, um<br />
die Details der Epizykelbewegungen so lange zu modifizieren, bis die Bewegungen<br />
der Planeten nicht mehr einheitlich waren. Was war <strong>als</strong>o genau der harte Kern<br />
des kopernikanischen Programms? Im 19. Jahrhundert gab es ernstzunehmende<br />
Bemtihungen, die Probleme der Periheldrehung des Merkurs dadurch aus der Welt<br />
zu schaffen, dass man das Gravitationsgesetz abzuandem versuchte. Es fmden sich<br />
<strong>als</strong>o in der Wissenschaftsgeschichte Vorgange, mit denen die Hauptbeispiele, die<br />
Lakatos beziiglich seines Konzepts vom „harten Kern" anfuhrt, erschtittert werden.<br />
Ein groBeres Problem betrifft die Realitat der methodologischen Entscheidungen,<br />
die eine solch wichtige Rolle in Lakatos' Beitrag zur Wissenschaftstheorie<br />
spielen. Zum Beispiel haben wir gesehen, dass der „harte Kern" eines Forschungsprogramms<br />
fur Lakatos (1974, S. 130) „aufgrund der methodologischen<br />
Entscheidung seiner Protagonisten" unwiderlegbar bleibt. Sind diese Entscheidungen<br />
eine historische Realitat oder ein Hirngespinst Lakatos'? Lakatos gibt keine<br />
wirklichen Belege fur die Antwort, die er benotigt, und es ist auch nicht wirklich<br />
klar, welche Art von Studie solche Belege erbringen wlirde. Das Thema ist von<br />
zentraler Bedeutung fur Lakatos, weil die methodologischen Entscheidungen den<br />
Unterschied zwischen seiner Position und der Kuhns ausmachen. Kuhn und<br />
Lakatos argumentieren, dass Wissenschaftler koordiniert innerhalb eines bestimmten<br />
Rahmens arbeiten. Fur Kuhn ist die Frage, wie und warum sie dies tun,<br />
Gegenstand soziologischer Analysen. Fiir Lakatos fuhrt dies zu einem nicht akzeptablen<br />
Relativismus. Fiir ihn ergibt sich der Zusammenhalt durch methodologische<br />
Entscheidungen, die rational sind. Lakatos gibt allerdings keine Antwort auf<br />
den Vorwurf, dass diese Entscheidungen keine historische (oder gegenwartige)<br />
Realitat haben, noch gibt er eine klare Antwort auf die Frage, in welchem Sinne<br />
sie <strong>als</strong> rational betrachtet werden sollten.<br />
Eine andere grundlegende Kritik an Lakatos ist direkt verbunden mit dem<br />
zentralen Thema dieses Buches, der Frage, was das Charakteristische wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis ist. Lakatos' Rhetorik zumindest legt nahe, dass seine<br />
Methodologie eine definitive Antwort auf diese Frage geben sollte. Er fordert,<br />
dass „das Hauptproblem der Wissenschaftstheorie ... das Problem der Aufstellung<br />
allgemeiner Bedingungen fur die Wissenschaftlichkeit einer Theorie" ist, ein<br />
Problem, welches „eng mit dem Problem der Verniinftigkeit der Wissenschaft<br />
zusammen[hangt] ...", und dessen „Losung uns einen Leitfaden daftir in die Hand
geben [sollte], wann die Anerkennung einer wissenschaftlichen Theorie verntinftig<br />
ist und wann nicht" (Lakatos, 1982d, S. 182f., Hervorhebung i. Orig.). Lakatos<br />
(1974, S. 170) stellt seine Methodologie <strong>als</strong> eine Losung dieser Probleme dar, die<br />
„uns <strong>als</strong>o helfen [konnte], Gesetze zu formulieren, zur Eindammung dieser intellektuellen<br />
Pollution" [Hervorhebung d. Hrsg.]. „Ich [Lakatos] gebe Kriterien des<br />
Fortschritts und der Stagnation innerhalb eines Programmes an sowie Regeln fiir<br />
die ,Elimination' ganzer Forschungsprogramme" (Lakatos, 1982b, S. 118). Es<br />
ergibt sich aus den Details seiner Position und seinen eigenen Anmerkungen zu<br />
diesen Details, dass die Methodologie von Lakatos nicht in der Lage war, diese<br />
Erwartungen zu erfiillen. Er gab keine Regeln far die Elimination ganzer Forschungsprogramme,<br />
da es vernunftig ist, an einem degenerierenden Forschungsprogramm<br />
in der Hoffnung festzuhalten, dass es em Comeback erlebt. Und wenn<br />
es wissenschaftlich war, an der kopemikanischen Theorie liber ein ganzes Jahrhundert<br />
festzuhalten, was notig war, bis die Theorie bedeutsame Frtichte trug,<br />
warum sollten zeitgenossische Marxisten (Lakatos' vorrangigste Zielscheiben)<br />
unwissenschaftlich sein, wenn sie den Historischen Materialismus so weit entwickeln,<br />
bis er bedeutsame Frtichte tragt. In der Tat hat Lakatos eingeraumt, dass<br />
seme Methodologie nicht in der Lage ist, irgendeine gegenwartige Theorie <strong>als</strong><br />
unwissenschaftliche „intellektuelle Pollution" zu diagnostizieren, sobald er im<br />
Zusammenhang mit der Physik erkannte, dass seine Methodologie allein im<br />
Nachhinein mit dem Vorteil historischer Betrachtung Urteile fallen kann. Wenn es<br />
keine „Augenblicks-Rationalitat" gibt, dann kann es auch keine „Augenblicks-<br />
Widerlegung" von Marxismus, Soziologie oder irgendeines anderen lakatosschen<br />
bete noir geben.<br />
Lakatos und seine Anhanger machten dies an Fallstudien zur Physik der<br />
letzten dreihundert Jahre deutlich. Aber wenn die auf diesem Weg untersttitzte<br />
Methodologie dann emgesetzt wird, um andere Bereiche zu beurteilen, wie den<br />
Marxismus und die Astrologie, wird bei alien untersuchten Bereichen - ohne dies<br />
explizit zu sagen - angenommen, dass sie, wenn sie <strong>als</strong> wissenschaftlich erachtet<br />
werden sollen, die grundlegenden Charakteristika der Physik aufweisen miissen.<br />
Feyerabend (1976) hat diesen Standpunkt von Lakatos kritisiert. Lakatos' Vorgehensweise<br />
birgt mit Sicherheit eine wichtige Frage, und es muss lediglich explizit<br />
gemacht werden, dass sie ein Problem offenbart. Es gibt offensichtliche Griinde,<br />
warum angenommen werden kann, dass eine Methodologie und MaBstabe zur<br />
Beurteilung der Physik fiir andere Bereiche nicht geeignet sind. Physik kann sich<br />
weiterentwickeln und tut dies auch oft, indem einzelne Mechanismen unter den<br />
kunstlichen Bedingungen eines kontrollierten Experiments isoliert werden. Die<br />
Schwerkraft, elektromagnetische Felder, die herrschenden Mechanismen beim<br />
Zusammenprall von Partikeln usw. sind Beispiele dafur. Menschen und Gesellschaften<br />
konnen im Allgemeinen nicht auf diese Art und Weise behandelt werden,<br />
ohne dass das zerstort wird, was untersucht werden soil. Damit lebende Systeme<br />
<strong>als</strong> solche funktionieren, bedarf es einer groBen Komplexitat. So kann sogar von<br />
der Biologic erwartet werden, dass sie einige wichtige Unterschiede zur Physik<br />
aufweist. In den Sozialwissenschaften stellt das Wissen, das sie produzieren, selbst<br />
eine wichtige Komponente der untersuchten Systeme dar. So kann zum Beispiel<br />
eine okonomische Theorie die Art und Weise beeinflussen, wie sich Individuen<br />
119
120<br />
auf dem Markt verhalten, sodass ein Wechsel der Theorie einen Wechsel in dem<br />
untersuchten okonomischen System mit sich bringen kann. Das ist eine Komplikation,<br />
die in der Physik nicht vorkommt. Im Lichte unserer <strong>Theorien</strong> iiber ihre Bewegungen<br />
andem Planeten diese nicht. Wohin auch immer solche Uberlegungen<br />
fiihren mogen, fest steht, dass Lakatos - ohne dies direkt anzusprechen - voraussetzt,<br />
dass sich jede wissenschaftliche Erkenntnis in der Physik der vergangenen<br />
dreihundert Jahre in einigen fundamentalen Aspekten ahnebi muss.<br />
Ein anderer bedeutender Aspekt ergibt sich, wenn wir die Implikationen einer<br />
posthum publizierten Studie von Lakatos (1982a) uber „Newtons Wirkung auf die<br />
Kriterien der Wissenschaftlichkeit" berticksichtigen. In dieser Studie zeigt<br />
Lakatos, dass Newton einen Wechsel der wissenschaftlichen Standards mit sich<br />
brachte - einen Wechsel, den Lakatos <strong>als</strong> progressiv erachtet. Die Tatsache, dass<br />
Lakatos dies anfiihrt, passt aber nur schlecht zu den Annahmen, die er wiederholt<br />
an anderen Stellen auBert, dass namlich eine Bewertung von Wissenschaft anhand<br />
einiger „universeller" Kriterien vorgenommen werden muss. Wenn Newton wissenschaftliche<br />
MaBstabe zum Besseren veranderte, kann man fragen: In Bezug auf<br />
welche Standards war dieser Wechsel progressiv? Wir sind so mit einem ahnlichen<br />
Problem konfi*ontiert, wie dies bei Kuhn der Fall gewesen ist. Es ist ein Problem,<br />
mit dem wir uns spater auseinandersetzen werden und das wir vielleicht<br />
sogar einer Losung naher bringen konnen.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Der zentrale Text zu Lakatos' Methodologie ist der 1974 erschienene Aufsatz<br />
„F<strong>als</strong>ifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme"<br />
(engl. Orig. 1970). Die meisten anderen wichtigen Aufsatze von Lakatos wurden<br />
von Worrall und Currie (1982a und 1982b) in zwei Banden herausgegeben. Wichtig<br />
sind weiterhin Lakatos' Aufsatze „The Problem of Inductive Logic"(1968) und<br />
„Replies to Critics" (1971). Eine faszinierende Anwendung von Lakatos' Ideen<br />
auf die Mathematik ist sein Buch ,,Beweise und Widerlegungen: Die Logik mathematischer<br />
Entdeckungen" (1979, engl. Orig. 1976). In Howson (1976) fmden<br />
sich historische Fallstudien, die durchgeftihrt wurden, um Lakatos' Position zu<br />
untersttitzen. Eine weitere derartige Studie legten Lakatos und Zahar (1982) vor.<br />
Das Buch von Cohen, Feyerabend und Wartofsky (1976) enthalt eine Sammlung<br />
von Essays zur Erinnerung an Lakatos. Feyerabend (1976) bietet eine wichtige<br />
kritische Auseinandersetzung mit Lakatos' Methodologie. Der Begriff der ,neuartigen<br />
Vorhersagen' wird von Musgrave (1974b), Worrall (1985, 1989a) und Mayo<br />
(1996) diskutiert. Einen nutzlichen Uberblick uber Lakatos' Werk gibt Larvor mit<br />
seinem 1998 erschienenen Buch ..Lakatos: An Introduction".
10<br />
Feyerabends anarchistische<br />
Wissenschaftstheorie<br />
10.1 Standortbestimmung<br />
Wir scheinen Probleme mit unserer Suche danach zu haben, was die Charakterisierung<br />
von Wissenschaft ist, die dazu dienen kann, deutlich zu machen, was sie<br />
von anderen Formen der Erkenntnis unterscheidet. Wie haben mit der Vorstellung<br />
der zu Beginn dieses Jahrhunderts so einflussreichen Positivisten begonnen, dass<br />
Wissenschaft etwas Besonderes sei, weil sie aus Tatsachen gewonnen wird. Doch<br />
dieser Versuch erwies sich <strong>als</strong> nicht erfolgreich, weil Tatsachen wegen ihrer Theorieabhangigkeit<br />
und Fehlbarkeit nicht klar genug sind, um diese Sichtweise aufrechtzuerhalten.<br />
Gleichzeitig konnte nicht deutlich gemacht werden, wie <strong>Theorien</strong><br />
aus diesen Tatsachen „gewonnen" werden konnen. Der F<strong>als</strong>ifikationismus leistete<br />
auch keine besseren Dienste. Das lag in der Hauptsache daran, dass es in keiner<br />
realistischen wissenschaftlichen Situation moglich ist, die Ursache einer fehlerhaften<br />
Vorhersage zu benennen. Es bleibt unklar, wie <strong>Theorien</strong> f<strong>als</strong>ifiziert oder<br />
wie sie bestatigt werden konnen. Kuhn und Lakatos versuchten beide das Problem<br />
dadurch zu losen, dass sie die Aufmerksamkeit auf die theoretischen Rahmenbedingungen<br />
lenkten, unter denen Wissenschaftler arbeiten. Dennoch betonte Kuhn<br />
das AusmaB, in dem Forscher innerhalb rivalisierender Paradigmen „in unterschiedlichen<br />
Welten leben" in einem solchen MaBe, dass ihm selbst keine Argumente<br />
mehr zur Erhellung der Frage blieben, inwieweit der Wechsel von einem<br />
Paradigma zum nachsten im Rahmen einer wissenschaftlichen Revolution einen<br />
Schritt nach vom darstellt. Lakatos versuchte, dieser Falle zu entgehen, endete<br />
jedoch bei einem so weichen Kriterium zur Charakterisierung von Wissenschaft,<br />
dass kaum etwas davon abgeleitet werden konnte - ganz abgesehen von den Problemen<br />
hinsichtlich der Annahme methodologischer Entscheidungen, auf die er<br />
sich dabei besonders beruft. Ein Wissenschaftsphilosoph, der von diesem Versagen<br />
in keinster Weise liberrascht war und der versuchte, daraus die entsprechenden<br />
Implikationen abzuleiten, war Paul Feyerabend. Sein kontroverser, aber<br />
nichtsdestotrotz einflussreicher „anarchistischer" Beitrag soil m diesem Kapitel<br />
beschrieben und gewurdigt werden.
122<br />
10.2 Feyerabends Argumentation wider den Methodenzwang<br />
Paul Feyerabend, ein Osterreicher, der den GroBteil seiner akademischen Laufbahn<br />
in Berkeley, Kalifomien, zugebracht und der sich intensiv mit Popper und<br />
Lakatos auseinandergesetzt hat, veroffentlichte 1975 ein Buch mit dem Titel<br />
„Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge" (dt. 1976:<br />
„Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie"^^).<br />
In diesem Buch kritisierte er alle Ansatze der Wissenschaftstheorie, die der wissenschaftlichen<br />
Methode einen besonderen Status zuweisen, indem sie anfuhren,<br />
dass es keine vergleichbare Methode gebe. Tatsachlich behauptete er, dass Wissenschaft<br />
keinerlei Merkmale aufweise, die sie notwendigerweise anderen Erkenntnisformen<br />
txberlegen mache. Wenn es uberhaupt ein einziges unveranderliches<br />
Prinzip der wissenschaftlichen Methode gibt, so Feyerabends Uberzeugung, dann<br />
ist es das Prinzip „anything goes". Es gibt Passagen in Feyerabends Werk, sowohl<br />
im frtihen <strong>als</strong> auch im spaten, die herangezogen werden konnen, um den extrem<br />
anarchistischen Beitrag, der in Wider den Methodenzwang enthalten ist, deutlich<br />
zu machen. Dennoch erscheint es fiir unser Anliegen lehrreicher, uns uneingeschrankt<br />
an die anarchistische Wissenschaftstheorie zu halten, um zu sehen, was<br />
wir daraus lernen konnen. Auf alle Falle ist es die extreme Form der Position<br />
Feyerabends, die in der Literatur Aufinerksamkeit erregt hat und auf die Philosophen,<br />
nicht ohne Schwierigkeiten, zu kontern versuchten.<br />
Feyerabends Hauptargumentationslinie versucht, die von Philosophen vorgebrachten<br />
Charakterisierungen von Methoden und wissenschaftlichen Fortschritt<br />
infi*age zu stellen, indem er sie folgendermaBen auf ihrem eigenen Terrain herausfordert:<br />
Er zieht Beispiele ftir wissenschaftliche Veranderungen heran, die seine<br />
Widersacher - die Mehrzahl von Philosophen eingeschlossen - <strong>als</strong> klassische<br />
Falle wissenschaftlichen Fortschritts erachten, und zeigt, dass nach den historischen<br />
Gegebenheiten keine dieser Veranderungen mit den Wissenschaftstheorien,<br />
die diese Philosophen propagieren, ubereinstimmt. Dabei spielt es fur Feyerabends<br />
Argumentation keine Rolle, ob die betreffenden Episoden progressiv sind. Das<br />
wichtigste Beispiel Feyerabends bezieht sich auf die Fortschritte Galileis in der<br />
Physik und der Astronomic. Feyerabend argumentiert, dass ein Beitrag zu den<br />
Methoden der Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Fortschritt nicht <strong>als</strong> solcher<br />
betrachtet werden kann, wenn er sich nicht auf Galileis Innovationen anwenden<br />
lasst. In der Darstellung der Position Feyerabends beziehe ich mich groBtenteils<br />
auf das Beispiel zu Galilei, in der Hauptsache weil es ausreicht, um seine<br />
Position zu illustrieren, aber auch, weil es auch ohne schwer verstandliche Fachtermini<br />
nachvollzogen werden kann.<br />
In Kapitel 1 dieses Buches zeichnen einige Zitate ein positivistisches oder<br />
induktivistisches Bild, nach dem Galileis Neuerungen dadurch erklart werden<br />
konnen, dass er sich auf beobachtbare Tatsachen bezog und seine <strong>Theorien</strong> so<br />
anlegte, dass sie diesen Tatsachen entsprachen. Der folgende Absatz aus Galileis<br />
^ ^ 1983 in der 3. Auflage unter dem Titel „Wider den Methodenzwang" (ohne den provokativen Untertitel)<br />
erschienen, die eine vom Autor teils gekurzte, teils erganzte, teils umgeschriebene Neuausgabe<br />
der 1. deutschen Ubersetzung von Hermann Vetter von 1976 darstellt. (Anm. d. Hrsg.)
..Dialog liber die beiden hauptsdchlichsten Weltsysteme, das ptolemdische und das<br />
kopernikanische" (1982), auf den Feyerabend (1983, S. 131) hinweist, legt nahe,<br />
dass Galilei anders dachte. Als Antwort an einen Gesprachspartner, der sich uber<br />
die geringe Zahl der Kopernikaner erstaunt zeigt, gibt Salviati, der „die Rolle des<br />
Kopernikus spielt", folgende Erklarung:<br />
Du wunderst dich, daB es so wenige Anhanger der pythagoreischen<br />
Auffassung [daB sich die Erde bewegt] gibt, aber ich wundere mich,<br />
daB sich ihr bis heute uberhaupt jemand angeschlossen hat. Und ich<br />
kann den hervorragenden Scharfsinn derjenigen nicht genug bewundern,<br />
die sich diese Auffassung zu eigen gemacht und <strong>als</strong> wahr<br />
anerkannt haben: sie haben kraft ihres Verstandes ihren eigenen<br />
Sinnen solche Gewalt angetan, dass sie das, was ihnen die Vemunft<br />
eingab, tiber das Gegenteilige stellten, das ihnen die Sinneserfahrung<br />
eindeutig zeigte. Denn die Argumente gegen die Erdumdrehung,<br />
die wir bereits untersucht haben, sind, wie wir sahen, sehr<br />
einleuchtend; und daB die Ptolemaer und die Aristoteliker und alle<br />
ihre Schiiler sie <strong>als</strong> schlussig ansahen, spricht doch sehr fur ihre<br />
Wirksamkeit. Doch die Erfahrungen, die offensichtlich der jahrlichen<br />
Bewegung [der Erde um die Sonne] widersprechen, haben ja<br />
scheinbar so viel mehr Gewicht, dass - ich wiederhole es - mein Erstaunen<br />
keine Grenzen kennt, wenn ich daran denke, dass Aristarch<br />
und Kopernikus imstande waren, die Vemunft so uber die Sinne zu<br />
stellen, dass sie, diesen zum Trotz, zur Beherrscherin ihrer Auffassungen<br />
wurde.<br />
123<br />
Weit davon entfemt, Tatsachen, die durch die Sinne seiner Zeitgenossen gewonnen<br />
wurden, zu akzeptieren, fand es Galilei (1982) notwendig, die Sinne durch<br />
den Geist zu besiegen und sogar durch „einen iiberlegeneren, besseren Sinn", das<br />
Teleskop, zu ersetzen. Betrachten wir zwei Falle, in denen Galilei es fur notwendig<br />
hielt, die Evidenz der Sinne „zu besiegen" - seine Zurtickweisung der Annahme,<br />
die Erde bewege sich nicht und seine Annahme, dass sich die GroBe von<br />
Venus und Mars im Laufe eines Jahres nicht veranderten.<br />
Wird ein Stein von einem Turm geworfen, landet er an dessen FuB. Diese<br />
und andere Erfahrungen konnen <strong>als</strong> Beleg dafur betrachtet werden, dass sich die<br />
Erde nicht bewegt. Musste sich die Erde nicht, wenn sie sich um ihre eigene<br />
Achse dreht (<strong>als</strong> Ausdruck des Herumwirbelns der Erde, auf das sich Galilei in<br />
dem vorangehenden Zitat bezieht) wahrend des Falls weiter bewegen, mit dem<br />
Ergebnis, dass der Stein in einiger Entfemung vom Turm zu Boden fallt? Wies<br />
Galilei dieses Argument zuriick, indem er sich auf Tatsachen bezog? Wie Feyerabend<br />
deutlich machte, tat dies Galilei im „ Dialog uber die beiden hauptsdchlichsten<br />
Weltsysteme'' (1982) nicht. Er erreichte das gewiinschte Ergebnis, indem<br />
er dem Leser Fragen stellt. Dabei argumentiert er zunachst folgendermaBen: Die<br />
Geschwindigkeit einer Kugel, die eine schiefe Ebene hinunterrollt, wird zunehmen,<br />
weil sie in gewisser Weise dem Zentrum der Erde entgegen „fallt". Im Gegensatz<br />
dazu wird die Geschwindigkeit einer Kugel, die eine solche Flache hinauf-
124<br />
rollt, abnehmen, well sie sich vom Zentrum der Erde entfemt. Nachdem er den<br />
Leser davon uberzeugt hat, dies <strong>als</strong> gegeben hinzunehmen, wird er oder sie nun<br />
gefragt, was mit der Geschwindigkeit der Kugel passieren wurde, wenn die Flache<br />
perfekt horizontal ware. Die Antwort ware wohl, dass die Geschwindigkeit weder<br />
steigt noch fallt, weil die Kugel weder nach oben noch nach unten rollt. Die Horizontalbewegung<br />
der Kugel bleibt bei konstanter Geschwindigkeit bestehen. Obwohl<br />
sich das direkt aus dem newtonschen Tragheitsgesetz ergibt, ist dies ein<br />
Beispiel fur eine gleichformige Bewegung, die ohne auBere Einwirkung anhalt.<br />
Galilei gentigt dies, um eine Reihe von Argumenten gegen die Bewegung der Erde<br />
zu entkraften. Er zieht den Schluss, dass die horizontale Bewegung eines vom<br />
Turm fallenden Steins, die er mit dem Turm auf der sich drehenden Erde teilt,<br />
erhalten bleibt. Daher entfemt sich der Stein nicht vom Turm und fallt an dessen<br />
FuB zu Boden. In diesem Sinne belegt das Turmargument entgegen der allgemeinen<br />
Annahme nicht den Stillstand der Erde. Wie er selbst eingestand, bezog sich<br />
Galileis Argumentation, soweit sie erfolgreich war, nicht auf Beobachtungen und<br />
Experimente. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zu Galileis Zeit noch viel<br />
schwerer war, eine reibungslose Flache zu schaffen <strong>als</strong> heute, und dass die Messung<br />
der Geschwindigkeit einer Kugel an verschiedenen Stellen einer schiefen<br />
Ebene dam<strong>als</strong> nicht moglich war.)<br />
In Kapitel 1 wurde gezeigt, dass die jeweilige GroBe von Venus und Mars insofem<br />
von Bedeutung war, <strong>als</strong> die kopemikanische Theorie vorhersagte, dass sie<br />
sich deutlich verandem sollte - eine Vorhersage, die mit Beobachtungen mit dem<br />
bloBen Auge nicht belegt werden konnte. Nachdem eher die per Teleskop <strong>als</strong> die<br />
mit bloBem Auge erhaltenen Daten akzeptiert wurden, war dieses Problem gelost.<br />
Aber wie konnte die Bevorzugung far teleskopische Daten verteidigt werden?<br />
Feyerabends Wiedergabe der Situation und Galileis Antwort sind Folgende: Zu<br />
akzeptieren, was das Teleskop im Bereich der Astronomic lieferte, war auf keinen<br />
Fall einfach. Galilei hatte keine angemessene oder detaillierte Theorie des Teleskops,<br />
sodass er teleskopische Daten nicht mit ihrer Hilfe rechtfertigen konnte.<br />
Terrestrisch allerdings wurde per Versuch und Irrtum versucht, das, was durch das<br />
Teleskop sichtbar wurde, zu verteidigen. Zum Beispiel konnte die Schrift auf<br />
einem femen Gebaude, die mit bloBem Auge nicht sichtbar war, uberpriift werden,<br />
indem man zu dem Gebaude hinging, oder die Identifikation der Ladung eines<br />
weit entfemten Schiffs konnte bestatigt werden, wenn das Schiff den Hafen erreicht<br />
hatte. Die Rechtfertigung des Gebrauchs auf der Erde konnte jedoch nicht<br />
einfach zur Rechtfertigung des Einsatzes von Teleskopen in der Astronomic herangezogen<br />
werden. Der terrestrische Gebrauch von Teleskopen wird durch visuelle<br />
Hinweise untersttitzt, die in der Astronomic nicht verfiigbar sind. Genuine<br />
Abbilder konnen von Artefakten des Teleskops unterschieden werden, weil wir<br />
mit dem, was wir sehen, vertraut sind. Zeigt zum Beispiel das Teleskop, dass der<br />
Mast eines femen Schiffs schwankt, dass er auf der einen Seite rot und auf der<br />
anderen blau ist, wobei tiber ihm schwarze Flecken schweben, konnen Verzermngen<br />
wie die Farben und Flecken <strong>als</strong> Artefakte identifiziert werden. Blicken wir<br />
jedoch in den Himmel, befmden wir uns auf unvertrautem Terrain und haben<br />
keine klaren Richtlinien, um festzustellen, was wahr und was artifiziell ist. Daruber<br />
hinaus sind der Vergleich mit vertrauten Objekten, die die GroBenschatzung
erleichtem, sowie der Einbezug von Parallaxen und Uberschneidungen, um abschatzen<br />
zu konnen, was nah und was fern ist, ein Luxus, der in der Astronomie<br />
generell nicht verfugbar ist. Gleichzeitig war es Galilei mit Sicherheit nicht moglich,<br />
teleskopische Bilder von Planeten dadurch zu uberprufen, dass er sich den<br />
Planeten naherte, um eine Uberpriifung mit bloBem Auge vorzunehmen. Es gab<br />
allerdings Belege dafiir, dass Teleskope insofern fehlerbehaftete Daten erbrachten,<br />
<strong>als</strong> sie den Mond in einem anderen Verhaltnis vergroBern <strong>als</strong> Planeten und Sterne.<br />
Nach Feyerabend (1983) waren diese Schwierigkeiten so geartet, dass ein<br />
Ruckgriff auf Argumente nicht geeignet war, die Widersacher zu uberzeugen, die<br />
sowohl die kopernikanische Theorie <strong>als</strong> auch teleskopische Daten, die sich auf den<br />
Himmel bezogen, zuriickweisen wollten. Konsequenterweise musste Galilei auf<br />
Propaganda und Tricks zurtickgreifen.<br />
Andererseits gibt es Fernrohrbeobachtungen, die eindeutig fur<br />
Kopernikus sprechen. Galilei fuhrt sie <strong>als</strong> unabhangige Daten fiir<br />
Kopemikus an; in Wirklichkeit ist es aber so, dass eine widerlegte<br />
Auffassung - die Kopernikanische - eine gewisse Ahnlichkeit mit<br />
Erscheinungen hat, die sich aus einer anderen widerlegten Auffassung<br />
ergeben - namlich, dass Femrohrbilder getreue Abbilder des<br />
Himmels seien. Galilei behalt wegen seines Stils und seiner geschickten<br />
LFberredungsmethoden die Oberhand, weil er auch in Italienisch<br />
und nicht nur in Lateinisch schreibt und weil er sich an<br />
Leute wendet, die gefuhlsmaBig gegen die alten Ideen und die mit<br />
ihnen verbundenen MaBstabe der Gelehrsamkeit eingenommen sind.<br />
(Feyerabend, 1983, S. 184)<br />
Ist Feyerabends Interpretation von Galileis Methodologie richtig und typisch fur<br />
die Wissenschaft, haben klassische Positivisten, Induktivisten und F<strong>als</strong>ifikationisten<br />
ernstzunehmende Schwierigkeiten, sie mit ihren Ansatzen zu vereinbaren.<br />
Bei Lakatos' Ansatz ware das moglich, nach Feyerabend jedoch nur, weil dieser<br />
Ansatz so weit gefasst ist, dass beinahe alles untergebracht werden kann. Feyerabend<br />
hanselt Lakatos damit, dass er ihm, dem „Freund und Anhanger des Anarchismus",<br />
sein Buch „Wider den Methodenzwang" widmet und ihn <strong>als</strong>, wenn auch<br />
geheimen, Anhanger des Anarchismus willkommen heiBt. Die Art, wie Feyerabend<br />
die zwei <strong>Theorien</strong>gebaude, das aristotelische, mit einer sich nicht bewegenden<br />
Erde, untermauert durch Daten, die mit bloBem Auge gewonnen wurden,<br />
einerseits, und das kopernikanische, mit einer sich bewegenden Erde, gestiitzt<br />
durch teleskopische Daten andererseits, erinnert an Kuhns Portrat von Paradigmen<br />
<strong>als</strong> sich gegenseitig ausschlieBende Sichtweisen der Welt. Tatsachlich pragten sie<br />
beide unabhangig voneinander den Begriff „inkommensuraber', um die Beziehung<br />
zwischen zwei <strong>Theorien</strong> bzw. Paradigmen zu beschreiben, die mithilfe der<br />
Logik nicht verglichen werden konnen, weil zu einem solchen Vergleich theorieneutrale<br />
Tatsachen fehlen. Um Recht und Ordnung wieder herzustellen, vermeidet<br />
Kuhn Feyerabends anarchistische Schlussfolgerungen, indem er sich im Wesentlichen<br />
auf den sozialen Konsens beruft. Feyerabend (1974) weist Kuhns Appell an<br />
den sozialen Konsens der Scientific community zurtick, zum Teil, weil er der<br />
125
126<br />
Meinung ist, dass Kuhn nicht zwischen legitimen und illegitimen Arten - zum<br />
Beispiel das Toten eines Widersachers - zur Erlangung von Konsens unterscheidet.<br />
Er halt den Appell an einen Konsens auch nicht fur geeignet, um zwischen der<br />
Wissenschaft und anderen Aktivitaten, wie der Theologie und dem organisierten<br />
Verbrechen, zu unterscheiden.<br />
Feyerabend konstatierte das Scheitem der Versuche, die spezifischen Merkmale<br />
von Wissenschaft zu beschreiben, die sie anderen Formen der Erkenntnis<br />
liberlegen macht. Dies flihrte ihn zu dem Schluss, dass der hohe Status, der der<br />
Wissenschaft in unserer Gesellschaft zugewiesen wird und die Uberlegenheit, die<br />
ihr zum Beispiel gegenuber dem Marxismus oder solchen Dingen wie der schwarzen<br />
Magie oder dem Voodoo eingeraumt wird, nicht gerechtfertigt ist. Nach<br />
Feyerabend ist die Hochachtung gegentiber der Wissenschaft ein gefahrliches<br />
Dogma, das eine repressive Rolle spielt, ahnlich der, die er der Kirche des 17.<br />
Jahrhunderts zuschreibt. Im Blick hat er dabei Aspekte wie Galileis Kampf mit<br />
eben dieser Institution.<br />
10.3 Feyerabends Eintreten fiir Freiheit<br />
Feyerabends Theorie ist eingebunden in einen ethischen Rahmen, der der individuellen<br />
Freiheit einen hohen Stellenwert einraumt und eine Grundhaltung beinhaltet,<br />
die Feyerabend (1983, S. 17) <strong>als</strong> „humanitare Einstellung" beschreibt.<br />
Demnach soil der einzelne Mensch frei sein, wobei es Feyerabend um die Freiheit<br />
in dem vom im 19. Jahrhundert lebenden John Stuart Mill in seinem Essay ,,On<br />
Liberty" dargestellten Sinne geht. Feyerabend (1983, S. 17) bejaht den Versuch,<br />
„die Freiheit aus[zu]weiten, [um] ein erftilltes und befriedigendes Leben" zu<br />
fiihren und unterstutzt Mills Eintreten ftir die „Forderung der Individualitat, die<br />
alleine wohlentwickelte Menschen erzeugt, erzeugen kann" (zit. nach Feyerabend,<br />
1983, S. 17). Aus diesem humanitaren Blickwinkel propagiert Feyerabend seinen<br />
anarchistischen Beitrag zur Wissenschaft, weil er die Freiheit des Wissenschaftlers<br />
vergroBert, indem er ihn von methodologischen Einschrankungen befreit. Noch<br />
allgemeiner lasst er Individuen die Freiheit, zwischen Wissenschaft und anderen<br />
Formen der Erkenntnis zu wahlen.<br />
Aus Feyerabends Perspektive ist die Institutionalisierung der Wissenschaft in<br />
unserer Gesellschaft nicht vereinbar mit einer humanitaren Grundhaltung. In<br />
Schulen zum Beispiel wird wie selbstverstandlich Wissenschaft gelehrt. „Die<br />
Eltern eines sechsjahrigen Kindes konnen entscheiden, ob ihm die Grundlagen des<br />
Protestantismus oder des Judentums oder uberhaupt keine Religion vermittelt werden<br />
soil, aber auf dem Gebiet der Wissenschaften haben sie kein solches Recht.<br />
Physik, Astronomic, Geschichte mussen gelernt werden. Sie konnen nicht durch<br />
Magie, Astrologie oder das Studium von Sagen ersetzt werden" (Feyerabend,<br />
1983, S. 386). Es gibt eine Trennung von Staat und Kirche, aber keine Trennung<br />
von Staat und Wissenschaft. Was in diesem Zusammenhang nach Feyerabend<br />
(1983, S. 395) getan werden muss, ist, „die Gesellschaft aus dem Wurgegriff einer<br />
ideologisch erstarrten Wissenschaft [zu befi-eien], genau wie unsere Vorfahren uns<br />
aus dem Wurgegriff der ,einen wahren Religion' befreit haben". In Feyerabends
Vorstellung einer freien Gesellschaft wird der Wissenschaft kein Vorrang vor<br />
anderen Formen der Erkenntnis oder Traditionen eingeraumt. Ein miindiger Btirger<br />
in einer freien Gesellschaft ist, jemand, der gelernt hat, sich eine Meinung zu<br />
bilden, und sich dann fur das entschieden hat, was er flir sich flir das Beste halt<br />
Um sich auf diese Entscheidung vorzubereiten, wird er die wesentlichen Ideologien<br />
<strong>als</strong> historische Erscheinungen studieren, auch die Wissenschaft, und nicht <strong>als</strong><br />
die einzige vemunftige Methode zur Behandlung eines Problems. Er studiert sie<br />
zusammen mit anderen Marchen wie etwa den Mythen der ,primitiven' Gesellschaften,<br />
um die flir eine freie Erkenntnis notwendigen Kenntnisse zu erlangen".<br />
(Feyerabend, 1983, S. 396). In Feyerabends idealer Gesellschaft ist der Staat<br />
zwischen Ideologien selbst ideologisch neutral und gewahrleistet, dass Individuen<br />
die Freiheit erhalten bleibt und niemandem eine Ideologic gegen seinen Willen<br />
aufgezwungen wird.<br />
Die Quintessenz der Argumentation Feyerabends gegen die Methoden und<br />
seines Eintretens flir einen gewissen Umfang an Freiheit des Individuums, ist<br />
seine „Anarchistische Theorie des Wissens" (1983, S. 369, Hervorhebungen i.<br />
Orig.):<br />
Keine der Methoden, die Camap, Hempel, Nagel, Popper oder<br />
selbst Lakatos heranziehen mochten, um wissenschaftliche Veranderungen<br />
rational zu machen, lasst sich anwenden, und die einzige<br />
Methode, die ubrigbleibt, die Widerlegung, wird stark geschwacht.<br />
Es bleiben asthetische Urteile, Geschmacksurteile, metaphysische<br />
Vorurteile, religiose Bedtirfriisse, kurz, es bleiben unsere subjektiven<br />
Wiinsche: die ft)rtgeschrittensten und allgemeinsten Bereiche<br />
der Wissenschaft geben dem einzelnen eine Freiheit zuruck, die er<br />
in ihren einfacheren Teilen zu verlieren schien.<br />
Damit gibt es keine wissenschaftliche Methode mehr. Wissenschaftler fr)lgen ihren<br />
subjektiven Bedlirfiiissen. Anything goes.<br />
10.4 Kritik an Feyerabends Individualismus<br />
Eine Kritik an Feyerabends Verstandnis von der Freiheit des Menschen ist ein<br />
guter Einstieg zu einer Wiirdigung seiner Kritik an den Methoden. Ein zentrales<br />
Problem mit Feyerabends Begriff von Freiheit entspringt seinem AusmaB an Negativitat.<br />
Freiheit wird verstanden <strong>als</strong> Freiheit von Einschrankungen. Individuen<br />
sollen frei von Einschrankungen sein, um ihren subjektiven Bedlirfiiissen zu ft)lgen<br />
und zu machen, was sie wollen. Das berticksichtigt nicht die positive Seite<br />
dieses Aspekts, den Umfang, in dem Individuen Zugang zu den Mitteln haben, mit<br />
denen sie ihre Wiinsche erfullen konnen. Zum Beispiel kann und wird die Redefreiheit<br />
haufig im Zusammenhang mit der Freiheit von Beschrankungen, wie<br />
staatlicher Unterdrtickung, Gesetzen gegen Verleumdung usw., diskutiert. So<br />
konnte Studierenden, die eine Veranstaltung durch AuBerungen storen, die <strong>als</strong><br />
faschistisch interpretiert werden konnen, vorgeworfen werden, die Redefreiheit<br />
127
128<br />
des Vortragenden zu leugnen. Sie werden beschuldigt, das naturliche Recht des<br />
Sprechers einzuschranken. Redefreiheit kann im positiven Sinne jedoch auch <strong>als</strong><br />
eine dem Individuum zur Verfiigung stehende Ressource verstanden werden, ihre<br />
Sichtweise anderen mitzuteilen. Welchen Zugang hat zum Beispiel der Einzelne<br />
zu den Medien? Diese Sichtweise lasst unser Beispiel in einem anderen Licht erscheinen.<br />
Die Unterbrechung der Veranstaltung mag eventuell gerechtfertigt sein,<br />
weil nur der Sprecher Zugang zu einem Horsaal der Universitat, Mikrophonen,<br />
Medien usw. hat, was fur die, die andere Sichtweisen vertreten, nicht der Fall ist.<br />
David Hume, ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, veranschaulichte diesen Punkt<br />
sehr schon, <strong>als</strong> er John Lockes Idee vom Gesellschaftsvertrag kritisierte. Locke<br />
(1913) hatte den Gesellschaftsvertrag <strong>als</strong> freie LFbereinkunft der Mitglieder einer<br />
demokratischen Gesellschaft aufgefasst und argumentiert, dass es jedem, der den<br />
Vertrag nicht anerkennen will, freigestellt ist, zu emigrieren. Hume (1976, S. 156)<br />
erwiderte:<br />
Konnen wir denn alien Emstes behaupten, dass der arme Knecht<br />
Oder Tagelohner es vermag, die freie Entscheidung zu treffen, sein<br />
Land zu verlassen, wenn er keine fremden Sprachen oder Sitten<br />
kennt, und wenn er bei dem geringen Lohn, den er erhalt, von der<br />
Hand in den Mund lebt? Das ware genauso, <strong>als</strong> wenn wir behaupten<br />
wtirden, dass sein Mann, der auf einem Schiff arbeitet, sich vollig<br />
freiwillig unter den Befehl eines Kapitans gestellt hatte, obwohl er,<br />
wahrend er schlief, an Bord geschleppt wurde, und wollte er das<br />
Schiff verlassen, nur ins offene Meer springen konnte, wobei er<br />
endlich ertrinken wtirde.<br />
Jedes Individuum wird in eine Gesellschaft hineingeboren, die bereits in dem<br />
Sinne vor ihm existiert, <strong>als</strong> sie Charakteristika besitzt, die das Individuum nicht<br />
frei wahlt. Es befmdet sich nicht in der Position dazu. Aktivitaten, die ihm offen<br />
stehen, sind determiniert durch den Zugang, den ein Individuum in der Praxis zu<br />
den Ressourcen hat, die fur bestimmte Aktivitaten notig sind. Damit ist auch seine<br />
Freiheit determiniert. Auch in der Wissenschaft wird ein Individuum, das einen<br />
Beitrag leisten mochte, mit der Situation, wie sie sich darstellt, konfrontiert sein:<br />
verschiedene <strong>Theorien</strong>, mathematische Techniken, Instrumente und experimentelle<br />
Techniken. Die Wege, die Wissenschaftlem offen stehen, sind durch diese<br />
objektive Situation eingeschrankt, wahrend der Weg eines spezifischen Wissenschaftlers<br />
determiniert ist durch den Ausschnitt an Ressourcen, zu dem er Zugang<br />
hat. Wissenschaftler sind nur insofern frei, ihren „subjektiven Bedlirfnissen" zu<br />
folgen, <strong>als</strong> sie die Freiheit haben zwischen den eingeschrankten Optionen zu<br />
wahlen, die ihnen offen stehen. Unabhangig von Veranderungen in der Wissenschaft<br />
Oder der Gesellschaft allgemein, wird ein Hauptteil theoretischer Arbeit<br />
eher darin bestehen, die Situationen zu verstehen, mit denen Individuen konfrontiert<br />
sind, <strong>als</strong> sich generell auf eine uneingeschrankte Freiheit zu berufen.<br />
Es birgt eine gewisse Ironie, dass Feyerabend, der in seiner Studie uber die<br />
Wissenschaft ausfahrlich die Existenz theorie-neutraler Tatsachen leugnet, in<br />
seiner Sozialtheorie an den weit ambitionierteren Begriff eines ideologie-neutralen
Staates appelliert. Wo auf der Welt koirnte ein solcher Staat entstehen, wie wurde<br />
er funktionieren und was wiirde ihn aufrechterhalten? Auf dem Hintergrund all der<br />
Anstrengungen, die untemommen wurden, um Fragen nach dem Ursprung und der<br />
Natur „des Staates" zu beantworten, erscheint Feyerabends fantasievolle Spekulation,<br />
iiber ein Utopia, in dem alle Menschen ohne Einschrankungen ihren Neigungen<br />
folgen konnen, kindisch.<br />
Feyerabend dafur zu kritisieren, dass er sein Verstandnis von Wissenschaft in<br />
den individualistischen Rahmen eines naiven Begriffs von Freiheit setzt, ist das<br />
eine. Sich mit den Details seiner Argumentation „wider den Methodenzwang" in<br />
den Wissenschaften auseinanderzusetzen, etwas anderes. Im nachsten Kapitel<br />
werden wir sehen, was von Feyerabends Angriff auf die Methoden konstruktiv<br />
genutzt werden kann.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
In ^Erkenntnis furfreie Menschen'' (1981b) entwickelt Feyerabend einige Gedanken<br />
aus „Wider den Methodenzwang'' (1983) weiter. In den Banden „Der wissenschaftstheoretische<br />
Realismus und die Autoritdt der Wissenschaften. Ausgewdhlte<br />
Schriften Band 1" (1978) und „Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie<br />
der Erkldrung, der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte. Ausgewdhlte<br />
Schriften Band 2'' (1981a) sind Aufsatze von Feyerabend zusammengestellt, von<br />
denen einige aus der Zeit vor seiner „anarchistischen" Phase stammen. In den<br />
Aufsatzen „Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen - ein Trostbtichlein<br />
fur Spezialisten?" (1974, engl. Orig. 1970) und „On the Critique of Scientific<br />
Reason" (1976) fmdet sich seine Kritik an Kuhn bzw. an Lakatos. Feyerabends<br />
Verstandnis von Galilei wird in „Galileo's Telescopic Observations of Venus and<br />
Mars" (Chalmers, 1985) und „The Galileo that Feyerabend Missed" (Chahners,<br />
1986) diskutiert.<br />
129
11<br />
Methodologische Wechsel<br />
11.1 Wider eine universelle Methode<br />
Wir haben im vorausgegangenen Kapitel gesehen, dass Feyerabend gegen verschiedene,<br />
von Philosophen vorgestellte Beitrage zur wissenschaftlichen Methode<br />
Widerspruch einlegt, die versucht haben, das Spezifische wissenschaftlicher Erkenntnis<br />
zu bestimmen. Seine zentrale Strategie bestand darin, die Inkompatibilitat<br />
zwischen diesen Beitragen und Galileis Fortschritten in der Physik und der<br />
Astronomie herauszuarbeiten. An anderer Stelle (Chalmers, 1985, 1986) habe ich<br />
mich mit Feyerabends historischem Beitrag zu Galilei bereits auseinandergesetzt.<br />
Einige Details meiner Kritik werden im folgenden Abschnitt vorgestellt. Trotz<br />
dieser Kritik bleibt es nach meinem Dafurhalten dabei, dass sie die Standardbeitrage<br />
zur Wissenschaft und ihrer Methoden vor Probleme stellt. In gewissem<br />
Sinne kann daher Feyerabends Eintreten gegen Methoden aufrechterhalten werden,<br />
vorausgesetzt, man ist sich bewusst, welches Verstdndnis von Methoden zuriickgewiesen<br />
wird. Feyerabend spricht sich gegen den Anspruch aus, dass es eine<br />
universelle, ahistorische Methode der Wissenschaft gebe, die MaBstabe beinhaltet,<br />
die all diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen zu erfiillen haben, die es Wert<br />
sind, <strong>als</strong> „Wissenschaft" bezeichnet zu werden. Der Begriff „universeH" soil dabei<br />
ausdrticken, dass die vorgeschlagene Methode auf alle Disziplinen anwendbar sein<br />
soil - die Physik, die Psychologic, die Schopftmgstheorie oder was auch immer -,<br />
wahrend der Begriff „ahistorisch" den zeitlosen Charakter der Methode signalisieren<br />
soil. Sie soil eingesetzt werden, um die aristotelische Physik genauso zu beurteilen<br />
wie die von Einstein, die von Demokrit oder die modeme Atomphysik. Ich<br />
bin einer Meinung mit Feyerabend, dass die Idee einer universellen und ahistorischen<br />
Methode wenig plausibel, wenn nicht sogar absurd ist. Wie Feyerabend<br />
(1976a) schreibt: „Der Gedanke, die Wissenschaft konne und sollte nach festen<br />
und allgemeinen Regeln betrieben werden, ist sowohl wirklichkeitsfern <strong>als</strong> auch<br />
schadlich .... AuBerdem ist der Gedanke fur die Wissenschaft selbst von Nachteil,<br />
denn er vemachlassigt die komplizierten physikalischen und historischen Bedingungen<br />
des wissenschaftlichen Fortschritts. Er macht die Wissenschaft weniger<br />
anpassungsfahig und dogmatischer" (S. 329, Hervorhebungen i. Orig.).
132<br />
Wenn es eine wissenschaftliche Methode gibt, die in der Lage ist, wissenschaftliche<br />
Disziplinen jedweder Art, vergangene, gegenwartige oder zukunftige,<br />
zu beurteilen, muss man sich fragen, aus welchen Quellen Philosophen schopfen<br />
konnen, um ein Handwerkszeug zu erhalten, das so machtvoll ist, dass es uns<br />
schon jetzt die Standards zukiinftiger Wissenschaften nennen kann. Es ist moglich,<br />
unsere Methoden zu verbessem und unsere MaBstabe auf dieser Grundlage zu<br />
modifizieren und zu verfeinern, wenn wir Wissenschaft <strong>als</strong> zeitlich nicht limitierte<br />
Suche nach Verbesserung unseres Wissens konzipieren.<br />
Werden Methoden <strong>als</strong> universell und unveranderlich verstanden, kann ich<br />
mich Feyerabends Kampagne wider den Methodenzwang anschlieBen. Feyerabends<br />
Antwort auf eine Absage an Methoden war, dass Wissenschaftler ihren eigenen<br />
subjektiven Bediirfnissen folgen sollen, und das ..anything goes". Universelle<br />
Methoden oder keine Methode sind jedoch nicht die einzigen Altemativen. Es gibt<br />
einen Mittelweg, der darin besteht, dass es zwar Methoden und MaBstabe gibt,<br />
diese sich jedoch von Disziplin zu Disziplin unterscheiden und auch innerhalb<br />
einer Disziplin verbessert werden konnen. Feyerabends Argumente sprechen nicht<br />
gegen diesen Mittelweg. Man kann sogar sagen, dass sein Beispiel zu Galilei so<br />
ausgelegt werden kann, dass die Idee eines Mittelwegs Untersttitzung erfahrt. Im<br />
folgenden Absatz soil der Versuch unternommen werden, dies zu zeigen.<br />
Meines Erachtens gibt es einen Mittelweg, der darin besteht, dass erfolgreiche<br />
Wissenschaftsdisziplinen historisch kontingente Methoden und Standards<br />
implizit enthalten. Oblicherweise wird Wissenschaftsphilosophen wie mir, die<br />
Feyerabends anarchistische und extrem relativistische Position vehement zuruckweisen<br />
und nach einem Mittelweg suchen, vorgehalten, sie wtirden sich selbst<br />
etwas vormachen. Zum Beispiel hat Worrall (1988) Argumente in dieser Richtung<br />
angefiihrt. Soil ein Wechsel in wissenschaftlichen Methoden propagiert werden,<br />
der extremen Relativismus vermeidet, muss nachgewiesen werden, inwieweit ein<br />
solcher Wechsel eine Verbesserung darstellt. Welche MaBstabe sollen dabei jedoch<br />
zugrundegelegt werden? Es scheint so, <strong>als</strong> sei es nicht moglich, Veranderungen<br />
nicht-relativistisch zu konstruieren, auBer, es gibt so etwas wie „Super-<br />
MaBstabe" zur Beurteilung von solch veranderten MaBstaben. „Super-MaBstabe"<br />
bringen uns jedoch wieder zurtick zu einer universellen Methode, die solche Standards<br />
anstrebt. Nach Worrall ergibt sich daraus, dass wir entweder eine universelle<br />
Methode haben oder Relativismus. Es gibt keinen Mittelweg. Als Vorbereitung<br />
einer Erwiderung auf dieses Argument ist es ntitzlich, zunachst ein Beispiel fur<br />
eine Veranderung von MaBstaben zu geben. Der folgende Abschnitt dient diesem<br />
Zweck, indem er einen von Galilei initiierten Wechsel beschreibt.<br />
11.2 Der Einsatz von Teleskopen statt der Beobachtung mit blofiem Auge:<br />
ein Wechsel von MaBstaben<br />
Einer von Galileis aristotelischen Widersachem (zitiert in Galilei, 1982, S. 262)<br />
bezieht sich auf die Auffassung, dass „die Sinne und die Erfahrung unsere Leiter<br />
beim Erforschen der Wahrheit" sind, „<strong>als</strong> das Kriterium der Wissenschaft selbst".<br />
Einige Kommentatoren der aristotelischen Tradition haben festgestellt, dass ein
zentrales Prinzip dieser Tradition darin lag, dass Wissen mit der Evidenz der<br />
Sinne kompatibel sein muss, wenn diese hinreichend sorgfaltig und unter geeigneten<br />
Bedingungen eingesetzt werden. Galileis Biograph Ludovico Geymonat<br />
(1965, S. 45) bezieht sich auf die Annahme, „die von den meisten Gelehrten jener<br />
Zeit geteilt wurde, dass die aktuelle Realitat nur durch das direkte Sehvermogen<br />
erfasst werden konne". Clavelin (1974, S 384) stellt im Zusammenhang eines<br />
Vergleichs der galileischen mit der aristotelischen Physik fest, dass „die oberste<br />
Maxime der peripatetischen Physik darin bestand, niem<strong>als</strong> die Evidenz der Sinne<br />
anzuzweifeln", und Gaukroger (1978, S 92) berichtet in einem ahnlichen Zusammenhang<br />
von einem „grundlegenden und ausschlieBlichen Sichverlassen auf Sinneswahmehmung<br />
im Werke Aristoteles".<br />
Die teleologische Verteidigung der Verlasslichkeit der Sinne war dam<strong>als</strong><br />
durchaus iiblich. Die Funktion der Sinne wurde darin gesehen, uns Informationen<br />
liber die Welt zu liefem. Aus diesem Grund erscheint es wenig einleuchtend anzunehmen,<br />
dass sie uns bei der Erfiillung ihrer Aufgabe systematisch tauschen, auch<br />
wenn sie uns unter auBergewohnlichen Umstanden wie zum Beispiel im Nebel<br />
Oder wenn der Beobachter betrunken ist, durchaus tauschen konnen. Block (1961,<br />
S. 9) beschreibt in einem aufschlussreichen Artikel iiber die aristotelische Theorie<br />
der Sinneswahrnehmung dessen Auffassung.<br />
Die Natur hat alles zu einem bestimmten Zweck gemacht, und der<br />
Zweck des Menschen ist es, die Natur durch Wissenschaft zu verstehen.<br />
Daher ware es ein Widerspruch der Natur, wenn sie den<br />
Menschen und seine Organe so geschaffen hatte, dass alles Wissen<br />
und Wissenschaft von Anbeginn f<strong>als</strong>ch sein muss.<br />
Die Sichtweise von Aristoteles wurde viele Jahrhunderte spater von Thomas von<br />
Aquin (zit. n. Block, 1961, S. 7) wieder aufgenommen:<br />
Sinneswahrnehmung ist immer wahrheitsgetreu in Bezug auf die ihr<br />
eigenen Objekte ... denn nattirliche Fahigkeiten scheitem in der<br />
Regel nicht bei den ihr eigenen Aktivitaten. Sollten sie dennoch<br />
einmal scheitem, ist dies auf eine Verwirrung oder etwas Ahnliches<br />
zurtickzuftihren. Daher beurteilen die Sinne die ihnen zuganglichen<br />
Objekte nur in wenigen Fallen ungenau und dann nur wegen eines<br />
organischen Defekts, zum Beispiel wenn jemand, der Fieber hat,<br />
etwas StiBes <strong>als</strong> bitter schmeckt, weil seine Zunge in ihrer Funktion<br />
gestort ist.<br />
Galilei befand sich in einer Situation, in der das Vertrauen in die Sinne, inklusive<br />
der mit bloBem Auge gewonnenen Daten, „das Kriterium der Wissenschaft selbst"<br />
war. Um teleskopische Daten einzuftihren und mithilfe dieser die mit bloBem<br />
Auge gewonnenen zu ersetzen oder sogar zu iibertrumpfen, musste Galilei dieses<br />
Kriterium grundsatzlich infrage stellen. Als ihm das gelungen war, hatte er die<br />
MaBstabe innerhalb der Wissenschaft verandert. Wie wir gesehen haben, war<br />
Feyerabend nicht der Meinung, dass Galilei dazu eine zwingende Argumentation<br />
133
134<br />
fand, sondem, dass er genotigt war, zu Propaganda und Tricks zu greifen. Nach<br />
den historischen Tatsachen stellt sich dies jedoch anders dar.<br />
Es wurde bereits gezeigt, wie Galilei fur den Wahrheitsgehalt seiner Beobachtungen<br />
der Monde des Jupiters eintrat. Nun soil die Aufmerksamkeit auf das<br />
gelenkt werden, was Feyerabend zur Akzeptanz der sich verandernden GroBe von<br />
Venus und Mars zusammengetragen hat. Im vorangegangenen Kapitel wurde<br />
bereits die Dringlichkeit dieser Frage beschrieben und Feyerabends Beitrag zu den<br />
Schwierigkeiten, mit denen die Akzeptanz teleskopischer Daten bei der Beobachtung<br />
von Himmelskorpern verbunden ist, gewtxrdigt.<br />
Galilei bezog sich auf das Phanomen der Irradiation, um die Beobachtungen<br />
von Planeten mit bloBem Auge infrage zu stellen und zu begrtinden, dass teleskopische<br />
Daten zu bevorzugen sind. Galileis Hypothese besagte, dass beim Anblick<br />
von kleinen, hellen, weit entfemten Lichtquellen vor dunklem Hintergrund „ein<br />
vom Auge selbst ausgehendes Hindernis" (Galilei, 1982, S. 350) eine wichtige<br />
Rolle spiele. Solche Objekte erscheinen dann „mit einem Kranz von Strahlen<br />
umrahmt" (Galilei, 1982, S. 350). An anderer Stelle erklart Galilei (1987a, S.<br />
119): „Der Grund dafur ist, daB sich uns Sterne, wenn wir sie mit bloBem Auge<br />
betrachten, nicht in ihrer einfachen, sozusagen nackten GroBe darbieten, sondem<br />
von einem gewissen Glanz erleuchtet und mit funkelndem Strahlen, gleich Haaren,<br />
umgeben sind. Die Irradiation der Planeten werde durch das Teleskop beseitigt".<br />
Da Galileis Hypothese die Annahme beinhaltet, dass Irradiation die Folge<br />
von Helligkeit, GroBe und Entfemung einer Lichtquelle ist, kann sie ohne den<br />
Einsatz eines Teleskops iiberpriift werden, indem diese Faktoren in unterschiedlicher<br />
Art und Weise, z.T. ohne Verwendung des Teleskops, modifiziert werden.<br />
Galilei (1987a) fiihrt eine Reihe solcher Modifikationsmoglichkeiten auf. Die<br />
Helligkeit von Stemen und Planeten kann reduziert werden, indem man sie durch<br />
eine Wolke hindurch, durch einen schwarzen Schleier, getontes Glas, eine Rohre,<br />
eine LUcke zwischen den Fingern oder durch ein sehr kleines Loch in einer Karte<br />
betrachtet. Durch solche Techniken kann die Irradiation von Planeten beseitigt<br />
werden, sodass sie „ihre kleinen Kugeln vollkommen rund und wie mit dem Zirkel<br />
gezogen" darbieten (Galilei, 1987a, S. 120). Bei Stemen hingegen kann die Irradiation<br />
nie vollstandig beseitigt werden, sodass sie „keineswegs von einem kreisformigen<br />
UmriB begrenzt, sondern wie etwas glanzendes, das Strahlen aussendet<br />
und stark funkelt" (Galilei, 1987a, S. 120) erscheinen. Beziiglich der Abhangigkeit<br />
der Irradiation von der augenblicklichen GroBe einer beobachteten Lichtquelle<br />
entspringt die Hypothese Galileis der Tatsache, dass der Mond und die Sonne<br />
keine Irradiation aufweisen. Dieser Aspekt der Hypothese Galileis sowie die damit<br />
verbundene Abhangigkeit der Irradiation von der Entfernung der Lichtquelle konnen<br />
direkt auf der Erde tiberprtift werden. Eine brennende Fackel kann von nah<br />
und von fern, bei Tag und bei Nacht betrachtet werden. Bei Nacht aus der Feme<br />
betrachtet, wenn sie im Vergleich zu ihrer Umgebung hell ist, erscheint sie groBer<br />
<strong>als</strong> sie tatsachlich ist. Folglich merkt Galilei an, dass seine Vorganger, einschlieBlich<br />
Tycho Brahe und Clavius, bei der Schatzung der GroBe von Stemen mehr<br />
Sorgfalt hatten walten lassen sollen.
Ich glaube jedenfalls, dass sie nicht die GroBe der in tiefer Finsternis<br />
sichtbaren Scheibe fiir die wahre hielten, sondem die, welche sich<br />
bei heller Umgebung beobachten laBt. Denn unsere irdischen<br />
Lichter, welche, von weitem gesehen, nachts groB erscheinen, deren<br />
wirkliche Flammchen aber aus der Nahe scharf begrenzt und klein<br />
erscheinen, hatten sie hinreichend vorsichtig machen sollen.<br />
(Galilei, 1982, S. 377)<br />
Die Abhangigkeit der Irradiation von der Helligkeit einer Lichtquelle relativ zu<br />
ihrer Umgebung wird auch durch das Aussehen von Sternen in der Dammerung<br />
bestatigt, die wesentlich kleiner erscheinen <strong>als</strong> bei Nacht. Auch die Venus erscheine,<br />
bei Tageslicht betrachtet, „in solcher Kleinheit, dass man allerdings scharf<br />
hinsehen muss, wahrend sie in der folgenden Nacht wie eine groBe Lichtflamme<br />
aussieht" (Galilei, 1982, S. 377). Der zuletzt genannte Effekt bietet eine grobe<br />
Handhabe, die vorhergesagten Veranderungen der GroBe der Venus zu iiberpriifen,<br />
ohne auf ein Teleskop zuriickgreifen zu mussen. Vorausgesetzt man beschrankt<br />
sich auf den Tag oder die Dammerung, kann diese LFberprtifung mit<br />
bloBem Auge vorgenommen werden. Nach Galilei schlieBlich sind die Veranderungen<br />
der GroBe „mit bloBem Auge gut wahrnehmbar", auch wenn sie prazise<br />
nur mit dem Teleskop beobachtet werden konnen (Drake, 1957, S. 131).<br />
Auf recht einfache Weise konnte Galilei demonstrieren, dass das bloBe Auge<br />
bei kleinen Lichtquellen, die im Vergleich zu ihrem Umfeld hell erscheinen, sowohl<br />
am Himmel <strong>als</strong> auch auf der Erde widerspriichliche Informationen liefert.<br />
Das Phanomen der Irradiation, fur das Galilei mehrere Belege fand, sowie die<br />
direktere Demonstration mit einer Lampe, legt nahe, dass die Beobachtung kleiner,<br />
heller Lichtquellen mit bloBem Auge nicht zuverlassig ist. Dies bedeutet unter<br />
anderem, dass die Venus mit bloBem Auge besser bei Tag beobachtet werden soil<br />
<strong>als</strong> bei Nacht, wenn sie im Vergleich zu ihrer Umgebung hell erscheint. Nur unter<br />
der zuerst genannten Bedingung zeigt sich, dass sich die augenscheinliche GroBe<br />
der Venus im Jahresverlauf verandert. All dies kann ohne Hilfe des Teleskops<br />
festgestellt werden. Wenn man aber berucksichtigt, dass das Teleskop bei der<br />
Beobachtung von Planeten die Irradiation beseitigt und dass die Anderungen der<br />
auf diese Weise enthiillten augenscheinlichen GroBe sogar kompatibel mit den<br />
durch das bloBe Auge gemachten Beobachtungen sind, gewinnen die teleskopischen<br />
Daten viel an Uberzeugungskraft.<br />
Ein abschlieBendes Argument fur die Verlasslichkeit teleskopischer Daten<br />
beziiglich der GroBe von Venus und Mars liegt darin, dass sie exakt mit den Vorhersagen<br />
aller seriosen astronomischen <strong>Theorien</strong> der damaligen Zeit ubereinstimmten.<br />
Das steht im Widerspruch mit der Art, wie sowohl Feyerabend <strong>als</strong> auch<br />
Galilei selbst die Situation darstellen, indem sie nahe legen, dass die Daten die<br />
kopemikanische Theorie gegeniiber rivalisierender <strong>Theorien</strong> unterstutzen. Diese<br />
rivalisierenden <strong>Theorien</strong> waren die von Ptolemaus und Tycho Brahe. Beide sagen<br />
genau die gleichen GroBenveranderungen vorher wie die von Kopernikus. Unterschiede<br />
in der Entfemung von der Erde, die zu den vorhergesagten Veranderungen<br />
in der augenscheinlichen GroBe der Planeten fuhren, kommen im ptolemaischen<br />
System vor, da sich die Planeten in Epizyklen naher oder weiter von der Erde<br />
135
136<br />
entfemt befinden, wahrend sich die Deferenten, deren Bewegung die Planetenbewegung<br />
tiberlagem, immer im selben Erdabstand bewegen. Im System Tycho<br />
Brahes kommen sie aus den gleichen Grunden wie im kopemikanischen System<br />
vor, da beide Systeme geometrisch Equivalent sind. Price (1969) wies ganz allgemein<br />
nach, dass dies immer dann so sein musse, wenn die Epizykel der Systeme<br />
so abgestimmt sind, dass sie mit den beobachteten Winkelpositionen der Planeten<br />
und der Sonne iibereinstimmen. Die Tatsache, dass die augenscheinliche GroBe<br />
der Planeten schon seit der Antike die bedeutenden astronomischen <strong>Theorien</strong> vor<br />
Probleme gestellt hat, raumte Osiander in seiner Einfiihrung zu Kopernikus' ,,Revolution<br />
der Himmlischen Sphdrert' ein.<br />
Wir haben den Weg nachvollzogen, auf dem Galilei fiir einige bedeutsame<br />
teleskopische Entdeckungen argumentierte, wobei angenommen werden kann,<br />
dass die Argumente schlagend waren, da die Geschichte zeigt, dass sie in kurzer<br />
Zeit alle emstzunehmenden Gegner Galileis uberzeugten. Indem Galilei seine<br />
Methode etablierte, machte er einen Schritt in eine Richtung, die zum allgemeinen<br />
Trend der Wissenschaft wurde: Das Ersetzen von Beobachtungen mit bloBem<br />
Auge durch Daten, die mithilfe von Instrumenten gewonnen werden. Indem er<br />
dies tat, verletzte er „das Kriterium der Wissenschaft selbst" und fiihrte beztiglich<br />
dieses Kriteriums einen Wechsel herbei. Wie lasst sich diese Leistung auf das Ftir<br />
und Wider gegentiber den Methoden beziehen?<br />
11.3 Der sukzessive Wechsel von <strong>Theorien</strong>, Methoden und Standards<br />
Wie ist es moglich, dass Galilei einen Wechsel von MaBstaben zuwege brachte,<br />
wo Argumente, wie die von Worrall, darauf abzielen, dass dies nicht moglich sei?<br />
Es war moglich, weil Galilei einiges mit seinen Rivalen gemeinsam hatte. In dem,<br />
was sie anstrebten, gab es groBe LFberschneidungen. Unter anderem hatten sie alle<br />
das Ziel, die Bewegungen von Himmelskorpern zu beschreiben. Ptolemaus'<br />
Almagest ist voller Aufzeichnungen von Planetenpositionen, und Tycho Brahe ist<br />
beriihmt fur seine Konstruktion massiver Quadranten und Ahnlichem, die die<br />
Exaktheit solcher Aufzeichnungen verbesserten. Bezuglich der einfachen Beobachtungen<br />
Galileis, wie die Beobachtung, dass eine Lampe bei Nacht aus der<br />
Feme groBer erscheint, <strong>als</strong> sie ist, und dass die Venus bei Tag kleiner erscheint <strong>als</strong><br />
bei Nacht, hatten seine Opponenten keine andere Wahl, <strong>als</strong> sie zu akzeptieren. Vor<br />
dem Hintergrund des gleichen Ziels, gentigten Galilei solche Beobachtungen, um<br />
seine Gegner zu uberzeugen, indem er „ausgefeilte Uberzeugungstechniken" einsetzte,<br />
die in nichts anderem bestanden <strong>als</strong> klaren Argumenten, sodass sie schlieBlich<br />
vom „Kriterium der Wissenschaft selbst" ablieBen und teleskopische Daten<br />
eher akzeptierten <strong>als</strong> die mit bloBem Auge gewonnenen.<br />
In jeder Phase ihrer Entwicklung besteht eine Wissenschaft aus bestimmten<br />
Zielen, spezifisches Wissen zu generieren, Methoden, diese Ziele zu erreichen,<br />
MaBstaben zur Beurteilung der Frage, ob diese Ziele erreicht wurden, sowie Tatsachen<br />
und <strong>Theorien</strong>, die den Stand der Zielerreichung reprasentieren. Im Lichte<br />
der Forschung ist jedes einzelne Element im Netz der Gegebenheiten Gegenstand<br />
der Revision. Es wurde bereits diskutiert, dass <strong>Theorien</strong> und Tatsachen fehlbar
sein konnen (es sei hier daran erinnert, dass extrem kalte Flussigkeiten die Aussage<br />
widerlegen konnen, dass Flussigkeiten nicht nach oben flieBen konnen), und<br />
im vorangegangenen Abschnitt wurde eine Veranderung von Methoden und MaBstaben<br />
beschrieben. Ein Beispiel dafiir, dass auch die Details von Zielen Veranderungen<br />
unterliegen konnen, soil im folgenden Abschnitt gezeigt werden.<br />
Die experimentelle Arbeit von Robert Boyle wird zu Recht <strong>als</strong> der Hauptbeitrag<br />
zur wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts gesehen. Zwei sich<br />
widersprechende Aspekte der Arbeit Boyles konnen unterschieden werden, die in<br />
gewisser Weise die neue und die alte Herangehensweise der Wissenschaft reprasentieren.<br />
In seinen eher philosophischen Schriften tritt Boyle ftir die „mechanische<br />
Philosophie" ein. Nach dieser Philosophic besteht die Welt aus Materieteilchen,<br />
sogenannte Korpuskeln. Es wird <strong>als</strong> offensichtlich angenommen, dass nur<br />
diese eine Art der Materie existiere. Sichtbare Objekte bestehen aus Arrangements<br />
mikroskopischer Korpuskeln, und die Veranderung von Objekten wird <strong>als</strong> Umarrangieren<br />
dieser Korpuskeln verstanden. Die einzigen Eigenschaften von Korpuskeki<br />
sind ihre spezifische GroBe, Form und Bewegung sowie ihre Undurchdringlichkeit,<br />
durch die sich Materie vom leeren Raum unterscheidet. Die Bewegung<br />
eines Korpuskels verandert sich, wenn es mit anderen kollidiert, und dieser Mechanismus<br />
ist die Quelle aller Aktivitat und jeder Veranderung in der Natur. Die<br />
Erklarung physikalischer Prozesse besteht im Zurtickverfolgen des Prozesses auf<br />
Bewegung, Kollision und Umstrukturierung der beteiligten Korpuskeln. Indem er<br />
diese Sichtweise formulierte, schloss sich Boyle der neuen mechanischen Sichtweise<br />
der Welt an, die <strong>als</strong> geeignete Nachfolgerin der aristotelischen angesehen<br />
wurde. Adaquate Erklarungen waren hier ultimative Erklarungen, Letztbegrundungen.<br />
Sie bezogen sich auf Form, GroBe, Bewegung und Kollision von Korpuskeln,<br />
die ihrerseits <strong>als</strong> etwas betrachtet wurden, das keiner Erklarung bedurfte.<br />
Aus diesem Blickwinkel ist damit das Ziel von Wissenschaft das Schaffen ultimativer,<br />
letztbegriindender Erklarungen.<br />
Neben seinem Eintreten ftir die mechanische Philosophie nahm Boyle Experimente,<br />
im Besonderen in der Pneumatik und der Chemie, vor. Wie einige AuBerungen<br />
Boyles implizieren, erbrachten seine Experimente nicht den Erft)lg, den die<br />
mechanische Philosophie ft)rderte. Boyles Experimente zur Physik der Luft, im<br />
Speziellen diejenigen mit einer Pumpe, die es moglich machten, einen GroBteil<br />
der Luft aus einer Glaskammer zu entfernen, ftihrten dazu, dass Boyle eine Reihe<br />
von Phanomenen, wie das Verhalten von Barometern innerhalb und auBerhalb des<br />
Vakuums, mittels des Gewichts und der Elastizitat der Luft erklarte. Er schlug<br />
sogar eine Version des Gesetzes vor, das Druck und Volumen einer Gasmasse<br />
miteinander verknupft und das seinen Namen tragt. Seine Ausftihrungen waren<br />
jedoch keine wissenschaftlichen Erklarungen aus mechanischer Sichtweise, weil<br />
sie nicht in letzter Konsequenz begrtindet waren. Sich auf Gewicht und Elastizitat<br />
zu beziehen, war nicht akzeptabel, bevor diese Eigenschaften nicht selbst in Begriffen<br />
der Korpuskularmechanik erklart werden konnten. Es erixbrigt sich, darauf<br />
hinzuweisen, dass Boyle nicht in der Lage war, diesen Anspruch zu erftillen.<br />
Allenfalls wurde anerkannt, dass sich Boyles experimentelle Wissenschaft um<br />
Erklarungen bemuhte, die sowohl niitzlich <strong>als</strong> auch zu jener Zeit erreichbar waren.<br />
Dagegen wurden mechanische Erklarungen im strengen Sinn <strong>als</strong> nicht erreichbar<br />
137
138<br />
angesehen. Tatsachlich wurde das Ziel, ultimative Erklarungen zu erlangen, in der<br />
Physik gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufgegeben. Das Ziel wurde <strong>als</strong> utopisch<br />
angesehen, vor allem wenn es den Erfolgen der experimentellen Wissenschaft<br />
gegentibergestellt wurde.<br />
Die zugrundeliegende allgemeine Idee ist die, dass einzelne Teile des Netzes<br />
von Zielen, Methoden, MaBstaben, <strong>Theorien</strong> und beobachtbaren Tatsachen, das<br />
Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit konstituiert, progressiv verandert werden<br />
konnen. Der jeweils verbleibende, unveranderte Teil des Netzes bildet den Hintergrund<br />
fur die Begrtindung des Wechsels. Dennoch wu-d es sicher nicht moglich<br />
sein, berechtigte Griinde fur eine Veranderung aller Bestandteile des Netzes auf<br />
einen Schlag zu finden, weil es fiir die Rechtfertigung des Wechsels dann keine<br />
Grundlage mehr gabe. Wenn es typisch fur die Wissenschaft ware, dass rivalisierende<br />
Forscher alles aus der Perspektive ihres jeweiligen Paradigmas so unterschiedlich<br />
sehen und in so verschiedenen Welten leben, dass sie keine Ansichten<br />
teilen, ware es in der Tat unmoglich, objektive Kriterien zu finden, nach denen<br />
Wissenschaft voranschreitet. Situationen, die dieser Karikatur entsprechen, gibt es<br />
jedoch in der Geschichte oder anderswo nicht. Wir brauchen keinen universellen,<br />
ahistorischen Beitrag zur wissenschaftlichen Methode, um einen objektiven Beitrag<br />
zum Fortschritt der Wissenschaft zu leisten oder, dartiber hinaus, einen objektiven<br />
Ansatz zur Methodenverbesserung.<br />
11.4 Intermezzo<br />
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie Worrall und ahnlich denkende Gegner<br />
des Relativismus und Befurworter einer universellen Methode auf die obigen<br />
Ausfiihrungen antworten wurden. Sie wurden etwa auf mein Beispiel zu Galilei<br />
entgegnen, dass es, obwohl es einen Wechsel von MaBstaben illustriert, den Bezug<br />
auf hohere, allgemeinere Standards beinhaltet. Sowohl Galilei <strong>als</strong> auch seine Rivalen<br />
forderten zum Beispiel, dass ihre Beitrage zu den Umlaufbahnen der Planeten<br />
von geeigneten Belegen untermauert sein sollen. Sind solche generellen Annahmen<br />
einmal ausgesprochen, mogen meine Kritiker argumentieren, dann sind es<br />
genau diese generellen Annahmen, die die universelle Methode konstituieren und<br />
die Kulisse bilden, vor der der von Galilei ausgehende Wechsel <strong>als</strong> progressiv eingestuft<br />
wurde. Ohne eine solche Kulisse, so hore ich sie sagen, kann nicht gesagt<br />
werden, dass dieser Wechsel progressiv war.<br />
Eine Konzession soil hier gemacht werden: Angenommen, wir versuchen<br />
einige generelle Prinzipien zu formulieren, denen sich vermutlich jeder Vertreter<br />
der Wissenschaft von Aristoteles bis Stephen Hawking anschlieBen werden. Angenommen,<br />
das Ergebnis ware „Nimm Argumente und die gegebenen Belege<br />
emst und strebe kein Wissen oder keine Ebene der Bestatigung an, die jenseits der<br />
Moglichkeiten der verfugbaren Methoden stehen". Wu* wollen dies die Common-<br />
Sense-YQYsion der wissenschaftlichen Methode nennen. ZugegebenermaBen gibt<br />
es eine universelle Methode im Common-Sense - dem Ge^hl von Selbstzufriedenheit,<br />
an dem sich Worrall und seine Verbiindeten angesichts dieses Zugestandnisses<br />
erfreuen mogen, soil jedoch entgegengetreten werden. Zunachst so viel: In
139<br />
dem Umfang, in dem eine solche universelle Methode richtig ist, macht sie alle,<br />
mich eingeschlossen, arbeitslos, denn sie ist kaum etwas, was ein professioneller<br />
Philosoph zu formulieren, zu wurdigen oder zu verteidigen auf sich nehmen<br />
wiirde. Aber emsthaft: wenn wir dies weiterverfolgen und mehr Details dazu fordera,<br />
was <strong>als</strong> Beweis und Bestatigung zahlt, und welche Arten von Behauptungen<br />
genau verteidigt warden konnen und wie das vonstatten gehen kann, werden diese<br />
Details je nach Wissenschaft und historischem Kontext variieren.<br />
Die Formulierung einer Common-Sense-MothodQ mag <strong>als</strong> Aufgabe fiir einen<br />
Wissenschaftsphilosophen nicht anspruchsvoll genug sein. Aber es kann angenommen<br />
werden, dass schon ihre Erwahnung genugt, einigen zeitgenossischen<br />
Trends der Wissenschaftsforschung zu widerstehen. Ich denke dabei an solche<br />
Wissenschaftssoziologen und Anhanger der Postmodeme, die den speziellen Status<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis herunterspielen oder leugnen (sie sollen hier<br />
kurz „Leveller" genannt werden). Sie beziehen sich dabei darauf, dass ihre Anerkennung<br />
- wie in anderen Bereichen auch - notwendigerweise immer mit den<br />
Interessen einzelner Wissenschaftler oder Gruppen von Wissenschaftlem an Dingen<br />
wie finanziellem oder gesellschaftlichem Status, professionellem Interesse<br />
u. A. einhergeht. Als Antwort darauf kann vermutet werden, dass es, um ein Beispiel<br />
zu nennen, eine Common-Sense-UntQvschQidung gibt zwischen dem Ziel, das<br />
Wissen dartiber zu verbessern, wie Chemikalien zusammenwirken, und der Verbesserung<br />
des sozialen Status professioneller Chemiker. Man kann sogar so weit<br />
gehen, anzunehmen, dass diejenigen, die einen solchen Unterschied leugnen, von<br />
jeglicher Art der finanziellen Forderung ihrer Projekte ausgeschlossen wurden. Es<br />
ist in diesem Zusammenhang interessant, anzumerken, dass die traditionellen Wissenschaftsphilosophen<br />
selbst zum Entstehen einer Situation beigetragen haben, die<br />
den „Levellem" Raum schafft. Sie waren es namlich, die angenommen haben,<br />
dass eine Unterscheidung zwischen Wissenschaft und anderen Arten der Erkenntnis<br />
nur mithilfe eines philosophisch formulierten Beitrages zur universellen Methode<br />
moglich ist. Konsequenterweise ist der Weg fur „Leveller" frei, wenn solche<br />
Versuche, wie es in den vorausgegangenen Kapitebi gezeigt wurde, scheitern.<br />
Mulkay (1979), wohlgemerkt einer der moderateren „Leveller", ist einer der vielen<br />
Wissenschaftsanalytiker, die zu dem Schluss kommen, dass das Scheitern<br />
dessen, was er <strong>als</strong> „Standard-Sichtweise" bezeichnet, eine soziologische Kategorisierung<br />
von Wissenschaft notwendig macht.^^<br />
Das bringt uns dahin, wo die wissenschaftsphilosophische Debatte vor 15<br />
Jahren stand. Dabei kann man es jedoch nicht belassen, da sich seit dieser Zeit<br />
zwei wichtige Bewegungen entwickelt haben, die unsere Aufinerksamkeit erfordem.<br />
Eine dieser Bewegungen startete den Versuch, einen Beitrag zur universellen<br />
^^ Meine Ausfuhrungen in diesem Absatz sollten nicht so verstanden werden, <strong>als</strong> ob kein Raum filr<br />
politische oder soziale Analysen von Wissenschaft bliebe, wie sich Wissenschaft in der Gesellschaft<br />
abspielt. Dieser Aspekt wurde in „Grenzen der Wissenschaft" (Chalmers, 1999, Kap. 8) betont. Auch<br />
habe ich mit meinen Ausftihrungen nicht intendiert, alles, was unter dem Etikett „wissenschaftssoziologische<br />
Studien" firmiert, abzutun, da viele der gegenwartigen Arbeiten valide Einsichten in die Natur<br />
wissenschaftHchen Arbeitens Hefem. Meine Bemerkungen sind ledighch an diejenigen adressiert, die<br />
sich einbilden, einen solch hohen soziologischen oder anderen Kenntnisstand zu besitzen, dass sie von<br />
diesem Standpunkt aus entscheiden konnen, dass wissenschaftliche Erkenntnis keinen besonderen<br />
Status besitzt.
140<br />
Methode zu entwickeln, indem eine Version der Wahrscheinlichkeitstheorie adaptiert<br />
wird. Wir werden diesen Ansatz im nachsten Kapitel einer naheren Betrachtung<br />
unterziehen. Eine zweite Bewegung hat versucht, das zu kontem, was sie <strong>als</strong><br />
Auswuchs theorie-dominierten Wissenschaftsverstandnisses bezeichnet, indem sie<br />
das Experiment und seine Bedeutung eingehender betrachtet.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Meine Argumentation gegen eine universelle Methode ist in „Grenzen der Wissenschaft<br />
(1999, Kap. 2) detailliert dargestellt, wahrend die Aufsatze „Galileo's<br />
Telescopic Observations of Venus and Mars" (Chalmers, 1985) und „The Galileo<br />
that Feyerabend Missed" (Chalmers, 1986) eine Kritik und eine Uberarbeitung<br />
von Feyerabends Fallstudie zu Galilei enthalten. Laudan (1977, 1984) stellt einen<br />
Versuch vor, einen Mittelweg zwischen universeller Methode und Anarchic zu<br />
finden, der sich von meiner Darstellung unterscheidet. Mehr Details zu Boyles<br />
Arbeit fmden sich in „The Lack of Excellency of Boyle's Mechanical Philosophy"<br />
(Chalmers, 1993) und „Ultimate Explanation in Science" (Chalmers, 1995).
12.1 Einleitende Bemerkungen<br />
Kapitel 12<br />
Der Ansatz von Bayes<br />
Die meisten von uns hatten gentigend Vertrauen in die Vorhersage einer in Ktirze<br />
bevorstehenden Wiederkehr des Kometen Halley, dass sie schon weit im Voraus<br />
Wochenenddomizile auf dem Land, entfernt von den Lichtera der Stadte, buchten,<br />
um ihn beobachten zu konnen. Es stellte sich heraus, dass unser Vertrauen gerechtfertigt<br />
war. Die Wissenschaft hat genug Vertrauen in die Zuverlassigkeit<br />
ihrer <strong>Theorien</strong>, dass sie bemannte Raumfahrzeuge ins All schickt. LaufI; in einem<br />
von ihnen etwas schief, sind wir beeindruckt, aber vermutlich nicht tiberrascht,<br />
wenn Wissenschaftler, unterstiitzt von Computem, sehr schnell in der Lage sind,<br />
zu berechnen, wie der verbleibende Treibstoff genutzt werden kann, eine Rakete<br />
genau in dem Moment zu ziinden, der geeignet ist, sie in eine Umlaufbahn zu<br />
katapultieren, die sie zur Erde zuriickbringt. Dies legt nahe, dass das AusmaB der<br />
Fehlbarkeit von <strong>Theorien</strong>, mit dem sich alle in diesem Buch bisher vorgestellten<br />
Philosophen, von Popper bis Feyerabend, beschaftigt haben, f<strong>als</strong>ch eingeschatzt<br />
Oder ubertrieben wird. Kann die poppersche Behauptung, dass die Wahrscheinlichkeit<br />
wissenschaftlicher <strong>Theorien</strong> Null ist, damit vereinbart werden? In diesem<br />
Zusammenhang soil nicht unerwahnt bleiben, dass sich die Wissenschaftler meiner<br />
beiden Beispiele auf die newtonsche Theorie bezogen, die nach dem Verstandnis<br />
von Popper (und vieler anderer) zu Beginn dieses Jahrhunderts auf verschiedenen<br />
Wegen f<strong>als</strong>ifiziert wurde. Wir scheinen hier mit einem Problem konfrontiert<br />
zu sein.<br />
Eine Gruppe von Philosophen, die genau dieses Problem sahen, sind die in<br />
den letzten Jahrzehnten bekannt gewordenen „Bayesianer". Sie werden so genannt,<br />
weil ihrem Ansatz ein Theorem der Wahrscheinlichkeitstheorie zugrundeliegt,<br />
das von dem im 18. Jahrhundert lebenden Mathematiker Thomas Bayes<br />
belegt werden konnte. Die Bayesianer empfanden es <strong>als</strong> unangemessen, einer gut<br />
belegten Theorie eine Wahrscheinlichkeit von Null zuzuschreiben und suchten<br />
nach einer Art induktiven SchlieBens, das zu Wahrscheinlichkeiten ungleich Null<br />
fuhrt. Dabei sollten die Schwierigkeiten, die in Kapitel 4 beschrieben wurden,<br />
vermieden werden. Sie wollten zum Beispiel in der Lage sein, zu zeigen, wie und
142<br />
warum der newtonschen Theorie eine hohe Wahrscheinlichkeit zugewiesen werden<br />
kann, wenn sie dazu eingesetzt wird, die Laufbahn des Kometen Halley oder<br />
eines Raumschiffs zu berechnen. Eine Skizze und eine kritische Wiirdigung ihres<br />
Ansatzes ist Gegenstand des folgenden Kapitels.<br />
12.2 Das bayessche Theorem<br />
Das bayessche Theorem bezieht sich auf bedingte WahrscheinHchkeiten, WahrscheinHchkeiten,<br />
die von dem Auftreten bestimmter Bedingungen abhangen (und<br />
daher bedingt genannt werden). Zum Beispiel hangt die Wahrscheinlichkeit fur<br />
einen Sieg, die eine Person beim Wetten jedem der Pferde in einem Rennen zuschreibt,<br />
von ihrem Wissen uber die jeweilige Kondition der Pferde in vorangegangenen<br />
Rennen ab. Daruber hinaus werden sich diese WahrscheinHchkeiten im<br />
Lichte neuer Erkenntnisse verandern, zum Beispiel, wenn sie beim Eintreffen auf<br />
der Rennbahn bemerken, dass eines der Pferde stark schwitzt und krank wirkt. Das<br />
bayessche Theorem bestimmt, wie sich WahrscheinHchkeiten im Lichte neuer<br />
Gegebenheiten verandern.<br />
Im wissenschaftlichen Kontext geht es darum, <strong>Theorien</strong> und Hypothesen auf<br />
der Grundlage von Befunden WahrscheinHchkeiten zuzuweisen. Die Wahrscheinlichkeit<br />
einer Hypothese h bei gegebenem Beleg e sei P(h|e), die Wahrscheinlichkeit<br />
des Befiinds e unter der Annahme, dass Hypothese h richtig ist, sei P(e|h), die<br />
Wahrscheinlichkeit der Hypothese h ohne Wissen Uber e sei P(h) und die Wahrscheinlichkeit<br />
des Befunds e ohne irgendwelche Annahmen iiber den Wahrheitsgehalt<br />
von h sei P(e). Das Bayes-Theorem lautet dann:<br />
P(h|e) = P(h) • P(e|h) / P(e)<br />
P(h) wird <strong>als</strong> Priorwahrscheinlichkeit bezeichnet, weil sie die Wahrscheinlichkeit<br />
ist, die einer Hypothese unabhangig von irgendwelchen Belegen e ihrer<br />
Richtigkeit zugewiesen wird. P(h|e) wird dagegen <strong>als</strong> Posteriorwahrscheinlichkeit<br />
bezeichnet, <strong>als</strong>o die Wahrscheinlichkeit unter Beriicksichtigung der Belege e.<br />
Damit beschreibt die Formel, wie sich die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese im<br />
Lichte bestimmter Belege verandert.<br />
Die Formel zeigt, dass sich die Priorwahrscheinlichkeit P(h) entsprechend<br />
dem Faktor P(e|h) / P(e), der e beriicksichtigt, verandert. Es wird deutlich, inwiefem<br />
das einem allgemeinen Verstandnis entspricht. Der Faktor P(e|h) ist ein MaB<br />
dafur, wie wahrscheinlich e bei gegebenen h ist. Er nimmt den maximalen Wert 1<br />
an, wenn e aus h folgt und das Minimum von 0, wenn das Gegenteil der Fall ist<br />
(WahrscheinHchkeiten nehmen Werte zwischen 1 und 0 an, wobei 1 far Gewissheit<br />
steht und 0 dafiir, dass etwas nicht moglich ist). Das AusmaB, indem ein Beleg<br />
eine Hypothese unterstutzt, ist proportional zu dem AusmaB, indem eine Hypothese<br />
emen Beleg vorhersagt, was durchaus verniinftig erscheint. Der Term P(e)<br />
im Nenner des Faktors P(e|h) / P(e) ist ein MaB daftir, wie wahrscheinlich ein<br />
Beleg ist, wenn der Wahrheitsgehalt der Hypothese h nicht berucksichtigt wird.
143<br />
Daraus folgt, dass die Bestatigung eines Belegs, der unabhangig von einer<br />
gegebenen Hypothese <strong>als</strong> extrem wahrscheinlich eingeschatzt wird, diese<br />
Hypothese nicht in wesentlichem Umfang unterstutzt, wahrend die Hypothese in<br />
hohem MaBe gestutzt wird, wenn die Bestatigung eines Belegs ohne Annahme der<br />
Hypothese <strong>als</strong> sehr unwahrscheinlich erachtet wird. Wiirde zum Beispiel eine neue<br />
Gravitationstheorie vorhersagen, dass schwere Gegenstande zu Boden fallen,<br />
wiirde diese Theorie durch das Fallen eines Steins nicht wesentlich gestiitzt, weil<br />
von dem Stein auch ohne diese Theorie erwartet wiirde, dass er fallt. Wiirde diese<br />
Theorie jedoch Variationen der Gravitation in Abhangigkeit von der Temperatur<br />
vorhersagen, wiirde sie beim Auftreten solcher Effekte in groBerem Umfang bestatigt,<br />
weil solche Effekte ohne diese Theorie fur sehr unwahrscheinlich erachtet<br />
wiirden.<br />
Bin wichtiger Aspekt der bayesschen Theorie liegt darin, dass die Bestimmung<br />
der Prior- und Posteriorwahrscheinlichkeit immer auf der Basis allgemein<br />
anerkannter Annahmen (im Sinne von Poppers Hintergrundwissen) vorgenommen<br />
wird. Als im vorangegangenen Abschnitt angenommen wurde, dass P(e|h) den<br />
Wert 1 annimmt, wiirde es zum Beispiel, wenn e aus h folgt, <strong>als</strong> selbstverstandlich<br />
angenommen, dass h in enger Verbindung mit dem verfiigbaren Hintergrundwissen<br />
steht. In einem friiheren Kapitel haben wir gesehen, dass <strong>Theorien</strong> um geeignete<br />
Hilfshypothesen erweitert werden miissen, damit es moglich ist, zu iiberpriifbaren<br />
Vorhersagen zu kommen. Die Bayesianer berucksichtigen diesen Gedanken.<br />
In der ganzen Diskussion wird angenommen, dass Wahrscheinlichkeiten auf dem<br />
Hintergrund vorhandenen Wissens berechnet werden.<br />
Es ist wichtig, deutlich zu machen, in welchem Sinne das Bayes-Theorem<br />
tatsachlich ein Theorem ist. Ohne hier zu sehr ins Detail zu gehen, sei angemerkt,<br />
dass es einige Annahmen zur Natur der Wahrscheinlichkeit gibt, die zusammengenommen<br />
die sogenannte „Wahrscheinlichkeitsrechnung" bilden. Diese Annahmen<br />
werden von Bayesianern und Nicht-Bayesianern gleichermaBen akzeptiert.<br />
Es kann gezeigt werden, dass ihre Ablehnung unerwiinschte Konsequenzen nach<br />
sich zieht. Zum Beispiel ist ein Wettsystem, das die Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />
verletzt, in dem Sinne „irrational", <strong>als</strong> es ermoglicht, dass Wetten auf jedes Ergebnis<br />
eines Spieles, Pferderennen oder sonst etwas abgeschlossen werden, sodass<br />
die Wettenden unabhangig davon, wofiir sie wetten, gewinnen, gleichgiiltig, wie<br />
das Ergebnis ausfallt. (Systeme, die diese Moglichkeit zulassen, werden „Dutch<br />
Books" genannt. Sie verletzen die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.)<br />
Das Bayes-Theorem kann von den Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />
abgeleitet werden. Es ist in diesem Sinne unumstritten.<br />
Bisher wurde das bayessche Theorem vorgestellt, und es wurde versucht,<br />
aufzuzeigen, dass die Art, wie es die Veranderung der Wahrscheinlichkeit einer<br />
Hypothese in Abhangigkeit von Belegen beschreibt, einige einfache Grundannahmen<br />
zu der Bedeutung von Belegen fur <strong>Theorien</strong> explizit macht. Nun muss die<br />
Frage nach der Interpretation der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten naher beleuchtet<br />
werden.
144<br />
12.3 Subjektiver Bayesianismus<br />
Bayesianer sind sich uneins beziiglich der fundamentalen Frage nach der Natur<br />
der betroffenen Wahrscheinlichkeiten. Auf der einen Seite haben wir die „objektiven"<br />
Bayesianer. Sie vertreten den Standpunkt, dass Wahrscheinlichkeiten auf der<br />
Grundlage der objektiven Situation durch eine rationale Instanz bestimmt werden<br />
sollten. Es soil versucht werden, den Kern ihrer Position am Beispiel des Pferderennens<br />
deutlich zu machen. Angenommen, vor uns liegt eine Liste von Pferden,<br />
die sich an einem Rennen beteiligen, von denen wir jedoch keinerlei Informationen<br />
haben. Dann konnte, auf der Grundlage einer Art „Prinzip der Indifferenz"<br />
argumentiert werden, dass der einzige rationale Weg, jedem Pferd eine Wahrscheinlichkeit<br />
zu gewinnen, zuzuschreiben, darin liegt, die Wahrscheinlichkeit auf<br />
alle Pferde gleich zu verteilen. Sind diese „objektiven" Priorwahrscheinlichkeiten<br />
einmal festgelegt, bestimmt das bayessche Theorem, wie die Wahrscheinlichkeiten<br />
im Lichte von Belegen modifiziert werden miissen. Daraus resultieren die<br />
Posteriorwahrscheinlichkeiten, die die genannte rationale Instanz akzeptiert. Das<br />
zentrale, allgemein bekannte Problem dieses Ansatzes fiir den Bereich der Wissenschaft<br />
liegt in der Frage, wie Hypothesen objektive Priorwahrscheinlichkeiten<br />
zugeschrieben werden konnen. Es erscheint notwendig, alle moglichen Hypothesen<br />
zu einem Gegenstandsbereich aufzulisten und ihnen Wahrscheinlichkeiten<br />
zuzuweisen. Nach dem Prinzip der Indifferenz konnte das zum Beispiel fur alle<br />
die gleichen sein. Aber woher soil solch eine Liste kommen? Es kann durchaus<br />
angenommen werden, dass die Zahl moglicher Hypothesen zu einem beliebigen<br />
Bereich unendlich ist, was fur jede dieser Hypothesen eine Wahrscheinlichkeit<br />
von Null bedeuten wtirde. Das bayessche Theorem konnte somit nicht angewendet<br />
werden. Alle <strong>Theorien</strong> haben eine Wahrscheinlichkeit von Null, und Popper tragt<br />
den Sieg davon. Wie ist es moglich, zu einer endlichen Liste von Hypothesen zu<br />
gelangen, die die objektive Verteilung von Wahrscheinlichkeiten ungleich Null<br />
ermoglicht? Nach meinem Dafurhalten kann dieses Problem nicht gelost werden,<br />
und die verfiigbare Literatur vermittelt den Eindruck, dass sich die meisten<br />
Bayesianer dieser Sichtweise anschlieBen. Wir wollen uns daher dem „subjektiven"<br />
Bayesianismus zuwenden.<br />
Fur subjektive Bayesianer stellen die Wahrscheinlichkeiten, auf die sich das<br />
bayessche Theorem bezieht, subjektive Uberzeugungsgrade dar. Sie argumentieren,<br />
dass auf dieser Basis eine in sich stimmige Interpretation der Wahrscheinlichkeitstheorie<br />
entwickelt werden kann und dass diese Interpretation dariiber hinaus<br />
der Wissenschaft vollstandig gerecht wird. Telle ihrer logischen Grundlage konnen<br />
durch einen Riickgriff auf die am Anfang dieses Kapitels gegebenen Beispiele<br />
deutlich gemacht werde. Wie stark auch immer die Argumente dafur sind, alien<br />
Hypothesen und <strong>Theorien</strong> Null-Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen, es stimmt einfach<br />
nicht, so die subjektiven Bayesianer, dass Menschen im Allgemeinen und<br />
Wissenschaftler im Besonderen gut bestatigten <strong>Theorien</strong> Null-Wahrscheinlichkeiten<br />
zuweisen. Die Tatsache, dass ich eine Reise in die Berge gebucht habe, um<br />
den Kometen Halley zu beobachten, legt zumindest in meinem Fall nahe, dass sie<br />
Recht haben. Bei ihrer Arbeit gehen Wissenschaftler beziiglich vieler Gesetze<br />
davon aus, dass sie richtig sind. Der unhinterfragte Einsatz des Gesetzes zur Bre-
chung des Lichts durch Astronomen und der Gesetze von Newton durch in der<br />
Raumfahrt beschaftigten Personen zeigt, dass sie diesen Gesetzen eine Wahrscheinlichkeit<br />
zuweisen, die nahe, wenn nicht sogar genau am Maximum liegt.<br />
Subjektive Bayesianer verwenden das AusmaB des Glaubens an eine Hypothese<br />
<strong>als</strong> Priorwahrscheinlichkeiten fur ihre bayesschen Berechnungen. Auf diesem<br />
Weg entgehen sie der popperschen Kritik, die zur Folge hat, dass die Wahrscheinlichkeiten<br />
aller universellen Hypothesen den Wert Null annehmen mtissen.<br />
Das bayessche Theorem hat im Zusammenhang von Wetten viel Sinn. Wir<br />
haben festgestellt, dass die Benicksichtigung der Wahrscheinlichkeitsrechnung,<br />
innerhalb derer das bayessche Theorem bestatigt werden kann, eine hinreichende<br />
Bedingung zur Vermeidung von „Dutch Books" ist. Bayessche Ansatze nutzen<br />
dies, um eine Analogic zwischen der Wissenschaft und Wettsystemen herzustellen.<br />
Das AusmaB des Glaubens eines Wissenschaftlers an eine Hypothese stellt<br />
eine Analogic zu der Hohe der Wahrscheinlichkeit dar, mit der jemand glaubt,<br />
dass ein Pferd ein Rennen gewinnt. Hier muss auf eine mogliche Quelle fiir Mchrdeutigkeiten<br />
hingewiesen werden. Bei unscrer Analogic zu Pferderenncn konnen<br />
sich die Wahrschcinlichkeiten, die dicjenigen, die auf Pferde setzen, fiir angemessen<br />
halten, entweder auf ihr Wissen uber die bctciligten Pferde oder auf ihre Einstellung<br />
zum Wetten allgemein beziehen. Das ist nicht notwendigerwcisc dasselbe.<br />
Jemand, der wettet, kann von dem abweichen, was ihm seine Uberzeugung<br />
diktiert, weil ihn auf der Rennbahn die Aufregung uberwaltigt oder weil er die<br />
Nerven verliert, da seine Uberzeugung eine sehr hohe Wettsumme erfordert. Nicht<br />
alle Bayesianer wahlen dieselbe Alternative, wenn sie die bayesschen Berechnungen<br />
auf die Wissenschaft anwenden. Dorling (1979) benutzt Wahrscheinlichkeiten,<br />
die die wissenschaftliche Praxis reflektieren, wahrend Howson und Urbach<br />
(1989) subjektive Grade der (Jberzeugung messen. Die Schwierigkeit der zuerst<br />
genannten Herangehensweise liegt darin, zu wissen, was an der wissenschaftlichen<br />
Praxis mit dem Wettverhalten korrespondiert. Wahrschcinlichkeiten mit<br />
Graden subjektiver Uberzeugung gleichzusetzen, wie es Howson und Urbach tun,<br />
hat dagegen den Vorteil, deutlich zu machen, auf was sich die Wahrschcinlichkeiten<br />
beziehen.<br />
Zu versuchen, Wissenschaft und wissenschaftliches Denken in Begriffen<br />
subjektiver Uberzeugungen von Wissenschaftlern zu verstehen, scheint ein enttauschender<br />
Ausweg fiir die zu sein, die nach einem objektiven Beitrag zur Wissenschaft<br />
streben. Howson und Urbach haben eine Antwort auf dieses Problem. Sie<br />
bestehen weiter darauf, dass die bayessche Theorie eine objektive Theorie wissenschaftlichen<br />
SchlieBens ist. Das liegt daran, dass das bayessche Theorem bei<br />
gegebenen Priorwahrscheinlichkeiten und neuen Befunden auf objektive Art und<br />
Weise genau angibt, wie die Posteriorwahrscheinlichkeit unter Berucksichtigung<br />
dieser neuen Belege sein muss. Es gibt diesbeziiglich keinen Unterschied zwischen<br />
dem Bayesianismus und der deduktiven Logik, da die Logik sich nicht mit<br />
der Quelle von Vorannahmen befasst, die die Pramissen einer Deduktion bilden.<br />
Sie gibt lediglich an, was aus den Pramissen, wenn sie einmal aufgestellt sind,<br />
folgt. Doch die bayessche Verteidigung geht einen Schritt weiter. Es kann argumentiert<br />
werden, dass die Uberzeugungen von Wissenschaftlern, so sehr sie auch<br />
am Anfang differieren mogen, durch einen geeigneten Input von Befiinden kon-<br />
145
146<br />
vergieren konnen. Es ist leicht nachzuvollziehen, wie es dazu kommen kann.<br />
Nehmen wir an, zwei Wissenschafller sind zunachst uneins tiber den vermuteten<br />
Wahrheitsgehalt einer Hypothese h, die ansonsten nicht zu erwartende experimentelle<br />
Ergebnisse e vorhersagt. Derjenige, der h eine hohe Wahrscheinlichkeit<br />
zuweist, wird e <strong>als</strong> weniger unwahrscheinlich betrachten <strong>als</strong> der, der h eine niedrige<br />
Wahrscheinlichkeit zuweist. So wird P(e) flir Ersteren hoch und fur Letzteren<br />
niedrig sein. Nehmen wir nun an, dass e experimentell bestatigt wird, dann muss<br />
jeder der Wissenschafller die Wahrscheinlichkeiten fur h durch den Faktor P(e|h) /<br />
P(e) adjustieren. Nehmen wir aber an, dass sich e aus h ableiten lasst, nimmt<br />
P(e|h) den Wert 1 an, und der Faktor ist 1/P(e). Daraus folgt, dass der Wissenschaftler,<br />
der mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit flir h startet, diese mit einem<br />
hoheren Faktor gewichtet, <strong>als</strong> der, der mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit begonnen<br />
hat. Je mehr positive Befunde dazukommen, desto hoher muss der vormalige<br />
Zweifler die Wahrscheinlichkeit nach oben setzen, eventuell bis zu dem<br />
Betrag des von Anfang an uberzeugten Wissenschaftlers. Auf diesem Weg, so argumentieren<br />
die Bayesianer, konnen sich stark differierende Meinungen <strong>als</strong> Folge<br />
von Befunden auf objektivem Weg annahern.<br />
12.4 Anwendungsmoglichkeiten der bayesschen Formel<br />
Der vorausgegangene Abschnitt hat einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie<br />
Bayesianer das typische Denken im Rahmen der Wissenschaft beschrieben. In<br />
diesem wollen wir ein paar praktische Beispiele fiir den Bayesianismus anflihren.<br />
In fruheren Kapiteln wurde gezeigt, dass es eine Art Gesetz abnehmender<br />
Replikationsstudien gibt, wenn eine Theorie in Experimenten geprufl wird. Ist eine<br />
Theorie einmal durch ein Experiment bestatigt worden, wird eine Wiederholung<br />
des gleichen Experiments unter vergleichbaren Bedingungen nicht <strong>als</strong> eine ebenso<br />
Starke Bestatigung angesehen, wie dies bei dem ersten Experiment der Fall war.<br />
Dies kann mittels des bayesschen Theorems leicht begriindet werden. Sagt die<br />
Theorie T das experimentelle Ergebnis E vorher, so nimmt die Wahrscheinlichkeit<br />
P(E|T) den Wert 1 an. Damit ist der Faktor, durch den die Wahrscheinlichkeit von<br />
T auf der Grundlage eines positiven Ergebnisses E erhoht wird, 1/P(E). Jedes Mai,<br />
wenn ein Experiment erfolgreich durchgeflihrt wird, steigt die Erwartung des<br />
Wissenschaftlers, dass das Experiment auch beim nachsten Mai erfolgreich sein<br />
wird. Das bedeutet, dass P(E) steigt. Folglich wird der Wert, um den die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass eine Theorie richtig ist, ansteigt, bei jeder Wiederholung geringer.<br />
Auch historisch gesehen spricht einiges fur den bayesschen Ansatz. Tatsachlich<br />
kann vermutet werden, dass die Auseinandersetzung von Bayesianern mit<br />
historischen Beispielen der Schlussel flir den in den letzten Jahren zu beobachtenden<br />
zunehmenden Erfolg des Ansatzes ist, ein Trend, der mit Dorling begann. In<br />
der Diskussion der Methodologie Lakatos' wurde festgestellt, dass entsprechend<br />
dieser Methodologie die Bestatigung eines Programms wichtiger ist, <strong>als</strong> eine auftretende<br />
F<strong>als</strong>ifikation, die eher den Annahmen des Schutzgtirtels <strong>als</strong> dem harten<br />
Kern zugeschrieben werden kann. Der bayessche Ansatz bietet die logische
Grundlage fiir diese Strategic. An einem historischen Beispiel, das Howson und<br />
Urbach (1989, S. 87-102) heranziehen, soli dies deutlich gemacht werden.<br />
Das Beispiel bezieht sich auf eine Hypothese, die 1815 von William Prout<br />
vertreten wurde. Beeindruckt von der Tatsache, dass Atomgewichte chemischer<br />
Elemente, bezogen auf das Atomgewicht von Wasserstoff, immer naherungsweise<br />
ganzzahlig sind, vermutete Prout, dass die Atome von Elementen aus verschiedenen<br />
Anzahlen von Wasserstoffatomen bestehen. Prout konstatierte, dass Wasserstoffatome<br />
elementare Bausteine darstellen. Die Frage ist nun, was die rationale<br />
Antwort von Prout und seinen Anhangem war, <strong>als</strong> herausgefunden wurde, dass<br />
das Atomgewicht von Chlor relativ zu Wasserstoff (gemessen 1815) bei 35,83,<br />
<strong>als</strong>o keiner ganzen Zahl, lag. Die bayessche Strategic liegt darin, Wahrscheinlichkeiten<br />
Werte zuzuweisen, die die Priorwahrschcinlichkeiten, die Prout und seine<br />
Anhanger ihrer Theoric zugeschrieben haben konnten sowie relevante Aspekt des<br />
Hintergrundwissens, zu berilcksichtigen. Auf dieser Basis wird das bayessche<br />
Theorem eingesetzt, um zu berechnen, wie sich diese Wahrscheinlichkeiten andem,<br />
wenn problematische Befunde auftreten - in diesem Fall das nicht ganzzahlige<br />
Atomgewicht von Chlor. Howson und Urbach versuchen, zu zeigen, dass das<br />
Resultat einer solchen Vorgehensweise darin besteht, dass die Wahrscheinlichkeit<br />
der proutschen Hypothese nur wenig fallt, wahrend die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
die relevanten Messungen genau sind, dramatisch nachlasst. In diesem Licht erscheint<br />
es durchaus verntinftig, dass Prout seine Hypothese (den harten Kern)<br />
beibehielt und die Schuld bei einigen Aspekten des Messvorgangs (dem Schutzgurtel)<br />
suchte. Es scheint, dass damit dem, was in der Methodologie Lakatos'<br />
ohne dies naher zu begrtinden <strong>als</strong> „methodologische Entscheidungen" bezeichnet<br />
wird, eine logische Grundlage gegeben wird. Dartiber hinaus scheint es, <strong>als</strong> hatten<br />
Howson und Urbach, die sich Dorling anschlossen, eine generelle Losung des<br />
„Duheme-Quine-Problems" gefunden. Konfrontiert mit dem Problem, welchem<br />
Teil eines Netzes von Annahmen die Schuld an einer auftretenden F<strong>als</strong>ifikation<br />
gegeben werden soil, lautet die bayessche Antwort, die Priorwahrschcinlichkeiten<br />
einzusetzen und die Posteriorwahrscheinlichkeiten zu berechnen. Daraus ergibt<br />
sich, welche Annahmen zu einem starken Rtickgang der Wahrscheinlichkeiten<br />
fiihren und damit, welche Annahmen fallen gelassen werden sollen, um den zukiinftigen<br />
Erfolg zu maximieren.<br />
Ich will nicht auf die Details der Berechnungen zum Fall Prout oder irgendeines<br />
anderen Beispiels der Bayesianer eingehen, aber ich will doch wenigstens<br />
einen kurzen Eindruck von dem Weg, den sie beschreiten, geben. Prouts Hypothese<br />
h und der Effekt des Befiindes e, dem nicht ganzzahligen Atomgewicht von<br />
Chlor, auf die Wahrscheinlichkeit, die dieser Hypothese zugewiesen wird, muss<br />
im Kontext des verfligbaren Hintergrundwissens a beurteilt werden. Die relevantesten<br />
Aspekte des Hintergrundwissens sind das Vertrauen in die verfiigbaren Techniken<br />
zur Bestimmung des Atomgewichts und der Reinheitsgrad der verwendeten<br />
Chemikalien. Schatzungen fur die Eingangswahrscheinlichkeiten von h, a und e<br />
mtissen vorgenommen werden. Howson und Urbach nahmen fur P(h) einen Wert<br />
von 0,9 an. Dabei gingen sie von der historischen Tatsache aus, dass die Proutianer<br />
von ihrer Hypothese sehr liberzeugt waren. Sie setzten P(a) auf den etwas<br />
niedrigeren Wert 0,6, weil sich die Chemiker des Problems von Unreinheiten<br />
147
148<br />
bewusst waren und well es Schwankungen der Ergebnisse verschiedener Messungen<br />
vom Atomgewicht bestimmter Elemente gab. Die Wahrscheinlichkeit von<br />
P(e) wurde auf der Gmndlage der Annahme festgelegt, dass die Alternative zu h<br />
eine zufallige Verteilung von Atomgewichten ist. P(e| nicht h & a) wurde daher<br />
der Wert 0,01 zugewiesen, weil sich bei einer zufalligen Verteilung von Atomgewichten<br />
eine einprozentige Wahrscheinlichkeit fur ein Gewicht von 35,83 ergibt.<br />
Diese und ein paar andere Wahrscheinlichkeiten werden in das bayessche Theorem<br />
eingesetzt, um die Posteriorwahrscheinlichkeiten P(h|e) und P(a|e) fur h und a<br />
zu erhalten. Die Ergebnisse sind 0,878 (fur h) und 0,073 (fur a). Festzustellen ist,<br />
dass sich die Wahrscheinlichkeit h flir Prouts Hypothese nur geringfiigig von der<br />
urspriinglichen Wahrscheinlichkeit von 0,9 unterscheidet, wahrend die Wahrscheinlichkeit<br />
a, <strong>als</strong>o die Annahme, dass die Messungen zuverlassig sind, dramatisch<br />
vom Wert 0,6 auf den Wert 0,073 fallt. Howson und Urbach schlieBen daraus,<br />
dass es fur die Proutianer eine rationale Reaktion war, ihre Hypothese beizubehalten<br />
und die Messungen anzuzweifeln. Sie weisen darauf hin, dass die in die<br />
Formel eingesetzten absoluten Werte nicht von allzu groBer Bedeutung sind,<br />
solange ihre relative Hohe die sich aus der historischen Literatur ergebenden Einschatzungen<br />
der Proutianer widerspiegeln.<br />
Der bayessche Ansatz kann herangezogen werden, um einige der Standardbeitrage<br />
zur Unerwtinschtheit von Ad-hoc-UypothQSQn und ahnlichen Themen<br />
infrage zu stellen. Weiter oben wurde in Anlehnung an Popper der Gedanke vorgestellt,<br />
dass Ad-hoc-HypothQSQn deswegen nicht wiinschenswert sind, weil sie<br />
nicht unabhangig von den Befunden geprtift werden konnen, die zu ihrer Formulierung<br />
gefuhrt haben. Vergleichbar ist die Annahme, dass Befunde, die zur Konstruktion<br />
einer Theorie herangezogen wurden, nicht gleichzeitig <strong>als</strong> Beleg fur<br />
diese Theorie verwendet werden konnen. Auch wenn dies manchmal zu angemessenen<br />
Antworten darauf, wie gut eine Theorie durch Belege bestatigt ist, fiihrt,<br />
kann dieser Gedanke aus bayesscher Sicht auch in die Irre fuhren. Daruber hinaus<br />
wird die zugrundeliegende Logik f<strong>als</strong>ch verstanden. Die Bayesianer bieten hier<br />
folgende Losung an.<br />
Bayesianer stimmen der Meinung zu, dass eine Theorie besser durch eine<br />
gewisse Variationsbreite von Befunden bestatigt ist, <strong>als</strong> durch bestimmte einzelne<br />
Belege. Eine einfache bayessche Logik erklart, warum das so sein muss: Bemuhungen,<br />
eine Theorie durch ein und denselben Befund zu bestatigen, werden immer<br />
seltener. Das folgt aus der Tatsache, dass mit jedem Versuch, eine Theorie<br />
durch denselben Befund zu bestatigen, die Wahrscheinlichkeit, dass dieser erfolgreich<br />
sein wird, zunimmt. Im Gegensatz dazu ist die Priorwahrscheinlichkeit, dass<br />
ein neuartiger Befund die Theorie bestatigen wird, vergleichsweise niedrig. Wird<br />
ein solcher Wert in die bayessche Formel eingesetzt, fiihrt er zu einem signifikanten<br />
Anstieg der Wahrscheinlichkeit der Theorie. Die Bedeutung unabhangiger<br />
Befunde steht auBer Frage. Dennoch drangen Howson und Urbach darauf, dass<br />
das Fehlen unabhangiger Cberprufungen kein geeigneter Grund zur (Dis-)Qualifizierung<br />
einer Hypothese <strong>als</strong> Ad-hoc-HypothesQ ist. Sie gehen sogar so weit, zu<br />
leugnen, dass Daten, die zur Konstruktion einer Theorie herangezogen wurden,<br />
nicht verwendet werden konnen, um sie zu bestatigen.
149<br />
Das Hauptproblem des Versuchs, Ad-hoc-HypothQSQn durch die Forderung<br />
unabhangiger LFberprufung auszuschlieBen, liegt darin, dass dieses Kriterium zu<br />
schwach ist und Hypothesen zulasst, die zumindest unserer Intuition widersprechen.<br />
Betrachten wir zum Beispiel den Versuch eines Rivalen von Galilei, trotz<br />
der Beobachtung von Mondkratem seine Annahme, der Mond sei kugelformig,<br />
aufrechtzuerhalten, indem er die Existenz einer transparenten kristallinen Substanz<br />
annahm, die den beobachtbaren Mond umgibt. Diese Annahme kann mittels des<br />
Kriteriums unabhangiger Uberpriifung nicht zuruckgewiesen werden. Das zeigt<br />
die Tatsache, dass sie durch das wahrend verschiedener Mondlandungen festgestellte<br />
Fehlen solcher kristalliner Spharen verworfen werden konnte. Bamford<br />
(1993) hat diese und andere Schwierigkeiten mit den vielfaltigen Versuchen, den<br />
Begriff ad hoc durch Philosophen der popperschen Tradition zu definieren, eingebracht.<br />
Er vermutet, dass sie versuchen, einen technischen Begriff fiir etwas zu<br />
definieren, was nicht mehr ist <strong>als</strong> eine triviale Annahme. Obwohl Bamfords Kritik<br />
nicht vom bayesschen Ansatz ausgeht, lautet die Erwiderung von Howson und<br />
Urbach insofern ahnlich, <strong>als</strong> sie meinen, dass ^(i-/zoc-Hypothesen zuruckgewiesen<br />
werden mtissen, weil sie <strong>als</strong> unplausibel erachtet werden und daher eine niedrige<br />
Wahrscheinlichkeit zugewiesen bekommen. Nehmen wir an, eine Theorie t gerat<br />
durch einige problematische Befunde in Schwierigkeiten und wird modifiziert,<br />
indem die zusatzliche Annahme a hinzugenommen wird, sodass die neue Theorie t<br />
<strong>als</strong> (t & a) bezeichnet werden kann. Aus Sicht der Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />
gilt dann, dass P(t & a) nicht groBer sein kann <strong>als</strong> P(a). Aus bayesscher Sicht wird<br />
daher die modifizierte Theorie eine niedrige Wahrscheinlichkeit haben, weil P(a)<br />
wenig wahrscheinlich ist. Die Theorie des Rivalen von Galilei kann in dem Umfang<br />
zuruckgewiesen werden, in dem seine Annahme unplausibel ist.<br />
Wenden wir uns nun dem Gebrauch von Daten zur Konstruktion einer Theorie<br />
und dem Zuriickweisen der Aussage, sie konnten nicht ebenfalls zu ihrer<br />
Unterstiitzung verwendet werden, zu. Howson und Urbach (1989, S. 275ff) geben<br />
Gegenbeispiele. Stellen wir uns eine Ume vor, die Spielmarken enthalt, und nehmen<br />
wir an, dass alle Spielmarken weiB, nicht farbig sind. Nehmen wir weiter an,<br />
wir Ziehen 1000 Mai eine Spielmarke, wobei wir nach jedem Zug die Marke zuriicklegen<br />
und die Urne schiitteln, und das Ergebnis sei, dass 495 der Spielmarken<br />
weiB sind. Nun verandem wir unsere Hypothese dahingehend, dass die Urne zu<br />
gleichen Teilen weiBe und farbige Spielmarken enthalt. Wird diese veranderte<br />
Hypothese durch die gleichen Befunde untersttitzt, die zum Zustandekommen<br />
dieser Hypothese geftihrt haben? Howson und Urbach vermuten durchaus nachvollziehbar,<br />
dass dem so ist, und zeigen das mittels bayesscher Begrundungen.<br />
Der kritische Faktor, nach dem die Wahrscheinlichkeit der Hypothese einer Gleichverteilung<br />
der Spielmarken <strong>als</strong> Resultat des Experiments steigt, bei dem 495 weiBe<br />
Spielmarken gezogen wurden, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Zahl gezogen<br />
wurde, wenn die Hypothese f<strong>als</strong>ch ware. In dem Moment, wo zugestanden<br />
wird, dass diese Wahrscheinlichkeit gering ist, folgt klar, dass das Ergebnis des<br />
Experiments die Hypothese gleicher Anteile bestatigt, auch wenn die Hypothese<br />
zur Konstruktion der Daten eingesetzt wurde.<br />
Es gibt eine Standardkritik, die haufig an einige Versionen des bayesschen<br />
Ansatzes gerichtet wird, die die Version von Howson und Urbach entkraften kann.
150<br />
Um das bayessche Theorem einsetzen zu konnen, muss die Priorwahrscheinlichkeit<br />
eines infrage stehenden Refunds P(e) bestimmt werden. Wird eine Hypothese<br />
h angenommen, ist es iiblich P(e) <strong>als</strong> P(e|h) • P(h) + P(e | nicht h) • P(nicht h) zu<br />
schreiben. Bayesianer miissen sowohl in der Lage sein, die Wahrscheinlichkeit des<br />
Befiindes unter der Bedingung, dass die Hypothese richtig ist, zu schatzen, <strong>als</strong><br />
auch die Wahrscheinlichkeit des Befundes unter der Bedingung, dass die Hypothese<br />
nicht stimmt. Hier erscheint es notwendig, die Wahrscheinlichkeit des Befiindes<br />
im Lichte aller anderen Hypothesen auBer h zu schatzen. Das wird <strong>als</strong><br />
enormes Hindemis angesehen, weil kein Wissenschaftler in der Lage ist, alle<br />
moglichen Altemativen zu h zu kennen, im Besonderen, wenn, wie manche annehmen,<br />
alle bisher nicht bekannten Hypothesen eingeschlossen sein mussen. Die<br />
Antwort von Howson und Urbach ist, dass die Wahrscheinlichkeiten ihrer bayesschen<br />
Berechnungen personliche Wahrscheinlichkeiten darstellen, die Individuen<br />
verschiedene Aussagen zuweisen. Die Hohe der Wahrscheinlichkeit, dass ein<br />
Befund im Lichte einer Alternative zu h richtig ist, wird von einem Wissenschaftler<br />
vor dem Hintergrund dessen bestimmt, was der Wissenschaftler weiB (was mit<br />
Sicherheit bisher noch nicht entwickelte Hypothesen ausschlieBt). So zogen<br />
Howson und Urbach zum Beispiel im Falle Prouts nur eine Alternative zu seiner<br />
Hypothese heran - die Hypothese, dass sich Atomgewichte zufallig verteilen -<br />
und nahmen dabei auf historische Belege Bezug, nach denen die Proutianer dies<br />
fUr die einzige Alternative hielten. Es ist der durchgangige Bezug auf subjektive<br />
Wahrscheinlichkeiten, der es Howson und Urbach moglich macht, das oben angesprochene<br />
Problem zu vermeiden.<br />
In meiner Darstellung der bayesschen Wissenschaftsanalyse habe ich mich<br />
hauptsachlich auf die von Howson und Urbach vertretene Position konzentriert,<br />
weil mir scheint, dass sie die wenigsten Inkonsistenzen enthalt. Durch die Interpretation<br />
von Wahrscheinlichkeiten <strong>als</strong> Abstuflingen von Uberzeugungen, die<br />
Wissenschaftler in der je aktuellen Situation haben, ermoglicht es ihr System, dass<br />
<strong>Theorien</strong> und Hypothesen Wahrscheinlichkeiten ungleich Null zugewiesen werden.<br />
Es leistet dartiber hinaus einen prazisen Beitrag dazu, wie Wahrscheinlichkeiten<br />
im Licht von Befimden modifiziert werden mussen und ist in der Lage, eine<br />
logische Grundlage dafur zu geben, was fiir die Schlusselmerkmale der wissenschaftlichen<br />
Methode gehalten wird. Howson und Urbach erganzen ihr System mit<br />
historischen Fallstudien.<br />
12.5 Kritik am subjektiven Bayesianismus<br />
Wir haben gesehen, dass der subjektive Bayesianismus den Vorteil hat, dass er<br />
viele Probleme alternativer bayesscher Ansatze, die nach irgendwie gearteten<br />
objektiven Wahrscheinlichkeiten suchen, vermeidet. Subjektive Wahrscheinlichkeiten<br />
anzunehmen, ist jedoch fiir viele ein zu hoher Preis ftir den Luxus, <strong>Theorien</strong><br />
Wahrscheinlichkeiten zuweisen zu konnen. Werden Wahrscheinlichkeiten in dem<br />
Umfang, wie es von Howson und Urbach gefordert wird, <strong>als</strong> subjektiv angesehen,<br />
ergeben sich eine Reihe unerwiinschter Konsequenzen.
Die Art des SchlieBens im bayesschen Ansatz wird <strong>als</strong> objektiv dargestellt,<br />
wobei auf der Grundlage gegebener Untersuchungsbefunde Priorwahrscheinlichkeiten<br />
in Posteriorwahrscheinlichkeiten transformiert werden. Aus dieser Sichtweise<br />
folgt, dass unterschiedliche Standpunkte von Vertretem rivalisierender<br />
Forschungsprogramme, Paradigmen oder was auch immer, die die Posterior-<br />
(Uberzeugungen) von Wissenschaftlern widerspiegeln, auf den Priorwahrscheinlichkeiten<br />
dieser Wissenschaftler basieren mtissen, da die Befunde <strong>als</strong> gegeben<br />
hingenommen werden und das SchlieBen <strong>als</strong> objektiv erachtet wird. Die Priorwahrscheinlichkeiten<br />
sind jedoch subjektiv und nicht Gegenstand kritischer Analysen.<br />
Sie reflektieren das unterschiedliche AusmaB der Uberzeugung individueller<br />
Wissenschaftler. In der Folge werde diejenigen, die nach den relativen Verdiensten<br />
konkurrierender <strong>Theorien</strong> fragen und danach, in welchem Sinne gesagt<br />
werden kann, dass Wissenschafl voranschreitet, vom subjektiven Bayesianismus<br />
keine Antworten erhalten, auch wenn sie mit einer Antwort, die sich auf Uberzeugungen<br />
individueller Wissenschaftler bezieht, durchaus zufirieden sind.<br />
Wenn der subjektive Bayesianismus den Schliissel zum Verstandnis der Wissenschaft<br />
und ihrer Geschichte darstellt, ist seine wichtigste Informationsquelle<br />
zum Erwerb dieses Verstandnisses das AusmaB an Uberzeugung, das Wissenschaftler<br />
haben oder hatten (die andere Quelle sind die oben diskutierten Untersuchungsbefunde).<br />
So erfordert zum Beispiel das Verstehen der tJberlegenheit der<br />
Wellentheorie uber die Teilchentheorie des Lichts einiges an Wissen dartiber, wie<br />
uberzeugt Fresnel und Poisson von dem Wissen waren, das sie in die Debatte der<br />
frlihen 30er Jahre des 18. Jahrhunderts einbrachten. Es gibt dabei zwei Probleme.<br />
Das eine liegt darin, Zugang zu diesen privaten Uberzeugungen zu erhalten (es sei<br />
daran erinnert, dass Howson und Urbach zwischen privaten Uberzeugungen und<br />
Verhalten unterscheiden und darauf beharren, dass sich ihr Ansatz auf Erstere<br />
bezieht, sodass wir von dem, was Wissenschaftler tun oder sogar schreiben, nicht<br />
auf ihre Uberzeugungen schlieBen konnen). Das zweite Problem ist die mangelnde<br />
Plausibilitat des Gedankens, dass wir den Zugang zu privaten LFberzeugungen<br />
benotigen, um zu erfassen, in welchem Sinne zum Beispiel die Wellentheorie des<br />
Lichts eine Verbesserung gegentiber ihrer Vorgangerin darstellt. Das Problem<br />
verscharft sich, wenn wir das AusmaB an Komplexitat modemer Wissenschaft und<br />
den Umfang, in dem sie gemeinsamer Arbeit bedarf, in den Mittelpunkt unserer<br />
Aufinerksamkeit stellen (siehe auch den Vergleich mit Arbeitem, die am Bau<br />
einer Kathedrale beteiligt sind, in Kapitel 8). Ein extremes Beispiel gibt Peter<br />
Galison (1997) mit seiner Darstellung des Forschungsbetriebs in der heutigen<br />
Elementarteilchenphysik, wo in der Folge experimentellen Arbeiiens anspruchsvolle<br />
mathematische <strong>Theorien</strong> entwickelt werden, die eine elaborierte Computertechnologie<br />
und Instrumentarien mit modemster Technik voraussetzen. In Situationen<br />
wie dieser gibt es keine einzelne Person, die alle Aspekte dieser komplexen<br />
Situation erfasst. Der theoretische Physiker, der Programmierer von Computerprogrammen,<br />
der Ingenieur und der experimentelle Physiker haben jeweils eigenstandige<br />
Fahigkeiten, die in einem gemeinsamen Projekt aufeinander bezogen werden<br />
mtissen. Wenn die Fortschrittlichkeit dieser Untemehmung <strong>als</strong> Konzentration auf<br />
den Umfang von Uberzeugungen verstanden wird, dann stellt sich die Frage, auf<br />
wessen LFberzeugung wir vertrauen und warum.<br />
151
152<br />
Das AusmaB, in dem nach Howsons und Urbachs Analyse Uberzeugungen<br />
von Priorwahrscheinlichkeiten abhangen, stellt ein anderes Problem dar. Setzt<br />
man voraus, dass ein Wissenschaftler stark genug an eine Theorie glaubt, um an<br />
ihr zu arbeiten (der bayessche Ansatz bietet keine Moglichkeit, Uberzeugungen<br />
beliebiger Starke zu vermeiden), so mag es erscheinen, dass diese Uberzeugung<br />
durch keine gegenteiligen Befunde erschtxttert werden kann, wie stark und weitreichend<br />
auch immer sie sein mogen. In der Tat wird dieser Aspekt durch die Studie<br />
zu Front illustriert, dieselbe Studie, die Howson und Urbach zur Unterstiitzung<br />
ihrer Position heranziehen. Erinnern wir uns daran, dass die Proutianer von einer<br />
Priorwahrscheinlichkeit von 0,9 fur ihre Theorie, nach der Atomgewichte das<br />
Vielfache des Atomgewichts von Wasserstoff besitzen, ausgingen und eine Priorwahrscheinlichkeit<br />
von 0,6 dafur annahmen, dass das die Messungen des Atomgewichts<br />
ausreichend genaue Wiedergaben des tatsachlichen Atomgewichts darstellen.<br />
Die Posteriorwahrscheinlichkeiten, die vor dem Hintergrund des Wertes 35,83<br />
fiir Chlor berechnet wurden, lagen bei 0,878 fiir Prouts Theorie und 0,073 fur die<br />
Annahme, dass die Experimente reliabel sind. Damit batten die Proutianer Recht,<br />
an ihrer Theorie festzuhalten und die Untersuchungsbefunde <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch zuriickzuweisen.<br />
Hinter Prouts Hypothese stand ursprunglich, dass eine Reihe anderer<br />
Atomgewichte <strong>als</strong> das von Chlor nahemngsweise ganzzahlige Werte aufwies,<br />
wobei jedoch diese Atomgewichte mit genau den Techniken bestimmt wurden, die<br />
die Proutianer <strong>als</strong> so wenig reliabel beurteilten, dass sie ihnen lediglich eine Wahrscheinlichkeit<br />
von 0,073 zuwiesen! Zeigt das nicht, dass Wissenschaftler, wenn<br />
sie nur dogmatisch genug sind, jeden ungtinstigen Befimd ausgleichen konnen?<br />
Sofem dies der Fall ist, hat der subjektive Bayesianismus keine Moglichkeit,<br />
solche Aktivitaten <strong>als</strong> schlechte wissenschaftliche Praxis zu identifizieren. Die<br />
Priorwahrscheinlichkeiten konnen nicht beurteilt werden, sie miissen einfach <strong>als</strong><br />
gegeben hingenommen werden. Wie Howson und Urbach (1989, S. 273) selbst<br />
betonen, „stehen sie auch nicht in der Verpflichtung, die Methoden mit denen<br />
Priorwahrscheinlichkeiten bestimmt werden, zu beurteilen".<br />
Bayesianer scheinen die poppersche Behauptung, die Wahrscheinlichkeiten<br />
aller <strong>Theorien</strong> seien Null, insofem widerlegen zu konnen, <strong>als</strong> sie diese Wahrscheinlichkeiten<br />
mit den je spezifischen Uberzeugungsgraden von Wissenschaftlern<br />
gleichsetzen. Dennoch ist die bayessche Position nicht so einfach, da Bayesianer<br />
mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten miissen, die nicht direkt zuganglich sind<br />
und daher nicht mit den aktuell herrschenden Uberzeugungen gleichgesetzt werden<br />
konnen. Betrachten wir zum Beispiel die Frage der Relevanz von in der Vergangenheit<br />
erbrachten Befunden. Wie konnen die Beobachtungen der Umlaufbahn<br />
des Merkurs <strong>als</strong> Bestatigung der einsteinschen Relativitatstheorie herangezogen<br />
werden, wo diese Beobachtungen der Theorie doch um Jahrzehnte vorausgingen?<br />
Um die Wahrscheinlichkeit der einsteinschen Theorie im Lichte dieser Befunde zu<br />
berechnen, muss der subjektive Bayesianismus unter anderem ein MaB fiir die<br />
Wahrscheinlichkeit bereitstellen, die ein Anhanger Einsteins der Wahrscheinlichkeit<br />
der Umlauft}ahn vom Merkur ohne Kenntnis der einsteinschen Theorie zuweisen<br />
wtirde. Diese Wahrscheinlichkeit ist kein MaB ftir den LFberzeugungsgrad, den<br />
ein Forscher aktuell hat, sondem ein MaB fiir den LFberzeugungsgrad, den er hatte,<br />
wenn er nicht den Kenntnisstand besaBe, iiber den er tatsachlich verfligt. Um es
milde auszudriicken, bereiten der Status solcher Uberzeugungsgrade und die Frage,<br />
wie sie geschatzt werden sollen, ernsthafte Probleme.<br />
Wenden wir uns nun der Natur der „Befunde" im subjektiven Bayesianismus<br />
zu. Wir haben Befiinde <strong>als</strong> etwas behandelt, das in das bayessche Theorem eingesetzt<br />
wird, um Priorwahrscheinlichkeiten in Posteriorwahrscheinlichkeiten zu<br />
konvertieren. Wie die Diskussion in vorangegangenen Kapiteln dieses Buches<br />
deutlich gemacht haben sollte, sind Befunde jedoch in der Wissenschaft weit davon<br />
entfemt, einfach gegeben zu sein. Der Standpunkt Howsons und Urbachs<br />
(1989, S. 272) ist explizit und stimmt mit ihrer allgemeinen Herangehensweise<br />
tiberein.<br />
Die bayessche Theorie, die wir vorschlagen, ist eine Theorie des<br />
Schlussfolgems aus den Daten; wir sagen nichts dariiber aus, ob es<br />
richtig ist, die Daten anzuerkennen und ob man den Daten gegeniiber<br />
absolut verpflichtet ist. Vielleicht ist man es nicht - dann ware<br />
es toricht, ein derartiges Vertrauen in die Daten zu setzen, wie dies<br />
gegenwartig getan wird. Die bayessche Theorie der Unterstutzung<br />
besagt, dass die Anerkennung einer evidenten Behauptung <strong>als</strong> wahr<br />
den Glauben an eine Hypothese beeinflusst. Wie man dazu kommt,<br />
die Evidenz <strong>als</strong> wahr anzuerkennen, und ob es richtig ist, sie <strong>als</strong><br />
wahr anzuerkennen, ist eine Frage, die vom Standpunkt der Theorie<br />
aus urelevant ist.<br />
Dies ist mit Sicherheit eine vollig unannehmbare Position fur jemanden, der vorhat,<br />
ein Buch iiber wissenschaftliches Denken zu schreiben. Suchen wu* nicht ein<br />
Konzept dazu, was <strong>als</strong> angemessener Befund gelten kann? Sicher wird ein Wissenschaftler<br />
auf einen Untersuchungsbefund nicht reagieren, indem er den Wissenschaftler,<br />
der ihn erbracht, danach fragt, wie tiberzeugt er von diesem Befund<br />
ist. Er wird vielmehr Informationen zur Natur des Experiments, das den Befund<br />
erbracht hat, einholen sowie zu den VorsichtsmaBnahmen, die getroffen wurden,<br />
wie die Fehlerwahrscheinlichkeit geschatzt wurde usw. Erne gute Theorie der<br />
wissenschafllichen Methode ist sicher gefordert, einen Beitrag zu den Umstanden<br />
zu leisten, unter denen ein Befiind <strong>als</strong> angemessen gelten kann. Gleichzeitig sollte<br />
sie in der Lage sein, exakte Standards empirischer Arbeit zu bestimmen, nach<br />
denen sich wissenschaftliches Arbeiten richten sollte, Sicherlich haben experimentell<br />
arbeitende Wissenschaftler eine Reihe anderer Wege, minderwertige Arbeiten<br />
zuriickzuweisen, <strong>als</strong> sich auf subjektive LFberzeugungsgrade zu beziehen.<br />
Vor allem wenn sie sich mit Kritik auseinandersetzen, legen Howson und<br />
Urbach besonderen Wert darauf, dass beide, die Priorwahrscheinlichkeiten und die<br />
Befunde, die in das bayessche Theorem eingesetzt werden mtissen, subjektive<br />
LFberzeugungsgrade sind, die der subjektive Bayesianismus nicht weiter hinterfragt.<br />
Aber was bleibt dann von ihrer Position, die <strong>als</strong> Theorie der wissenschafllichen<br />
Methode bezeichnet werden kann? Was bleibt, ist ein Theorem der Wahrscheinlichkeitsrechnung.<br />
Gestehen wir Howson und Urbach zu, dass ihre Version<br />
des Bayesianismus tatsachlich ein der deduktiven Logik verwandtes Theorem ist,<br />
macht dieses groBztigige Zugestandnis die Grenzen ihrer Position deutlich. Ihre<br />
153
154<br />
Theorie der wissenschaftlichen Methode sagt uns nicht mehr iiber Wissenschaft,<br />
<strong>als</strong> dass beobachtet werden kann, dass Wissenschaft dem Diktat der deduktiven<br />
Logik verhaftet bleibt. Der GroBteil der Wissenschaftsphilosophen wtirde zugestehen,<br />
dass die Wissenschaft die deduktive Logik ftir selbstverstandlich halt,<br />
wurde jedoch einen Ansatz bevorzugen, der dariiber hinausgeht.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Dorling (1979) veroffentlichte einen einflussreichen Aufsatz, der den subjektiven<br />
Bayesianismus bekannt machte, und Howson und Urbach (1989) liefem einen<br />
nachhaltigen und unerschrockenen Beitrag dazu. Horwich (1982) stellt einen weiteren<br />
Versuch vor, Wissenschaft im Sinne subjektiver Wahrscheinlichkeiten zu<br />
verstehen. Rosenkrantz (1977) versucht, einen bayesschen Beitrag zur Wissenschaft<br />
zu leisten, der sich auf objektive Wahrscheinlichkeiten bezieht. Earman<br />
(1992) bietet eine kritische, aber auch sehr technische Wtirdigung des bayesschen<br />
Programms. Bei Mayo (1996) fmdet sich eine ausfuhrliche Kritik am Bayesianismus.
13.1 Einfiihrung<br />
13<br />
Der Neue Experimentalismus<br />
Wenn wir den bayesschen Ansatz <strong>als</strong> Fehlschlag einschatzen, haben wir zur Charakterisierung<br />
dessen, was das Besondere an wissenschaftlicher Erkenntnis ist,<br />
noch nichts beigetragen. Popper stellte den Positivismus und den Induktivismus<br />
vor Probleme, indem er die Theorieabhangigkeit von Beobachtungen deutlich<br />
machte. Gleichzeitig zeigte er auf, dass <strong>Theorien</strong> nicht aus dem Evidenten gewonnen<br />
werden konnen, well sie daruber hinausgehen. Poppers Beitrag zur Wissenschaft<br />
bestand darin, dass die besten <strong>Theorien</strong> diejenigen sind, die emsthaften<br />
LFberprtifungen standhalten. Dennoch war sein Ansatz weder dazu in der Lage,<br />
Richtlinien dafur zu geben, wann die Theorie und wann ein Element des Hintergrundwissens<br />
fur eine F<strong>als</strong>ifikation verantwortlich gemacht werden kann, noch<br />
macht er Aussagen zu Charakteristika von <strong>Theorien</strong>, denen es gelang, einer Oberpriifung<br />
standzuhalten. Die auf Popper folgenden Ansatze, die diskutiert wurden,<br />
beinhalteten alle eine Weiterentwicklung der popperschen Ideen zur Theorieabhangigkeit.<br />
Lakatos stellte das Konzept der Forschungsprogramme vor, deren<br />
Aufrechterhaltung oder Widerlegung er <strong>als</strong> abhangig von konventionellen Entscheidungen<br />
sah, Entscheidungen, die zum Beispiel eher Hilfshypothesen fur<br />
auftretende F<strong>als</strong>ifikation verantwortlich machen <strong>als</strong> den harten Kern selbst. Dennoch<br />
war er kaum in der Lage, Griinde fur diese Entscheidungen anzugeben, bzw.<br />
sie waren zu schwach, um zu spezifizieren, wann es Zeit ist, ein Forschungsprogramm<br />
zugunsten eines anderen aufzugeben. Kuhn ging nicht von Forschungsprogrammen,<br />
sondem von Paradigmen aus, womit er ein AusmaB an Paradigmenabhangigkeit<br />
der Wissenschaft einfuhrte, das wesentlich weiter reichte <strong>als</strong> Poppers<br />
Theorieabhangigkeit. Er hatte noch mehr Schwierigkeiten <strong>als</strong> Lakatos, eine klare<br />
Antwort auf die Frage zu geben, in welchem Sinne von einem Paradigma gesagt<br />
werden kann, dass es eine Verbesserung gegentiber dem darstellt, das es ersetzt.<br />
Feyerabend trieb die Idee der Theorieabhangigkeit zum AuBersten, indem er den<br />
Gedanken spezieller Methoden und MaBstabe fur die gesamte Wissenschaft aufgab<br />
und wie Kuhn rivalisierende <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> inkommensurabel darstellte. Die<br />
Bayesianer konnen auch <strong>als</strong> Anhanger dessen, was hier die Tradition der Theorie-
156<br />
abhangigkeit genannt werden soil, bezeichnet werden. Fur sie wird das theoretische<br />
Hintergmndwissen, das Informationen tiber die Verdienste wissenschaftlicher<br />
<strong>Theorien</strong> liefert, auf dem Weg der Priorwahrscheinlichkeiten eingebracht.<br />
Nach Ansicht einer weiteren Gruppe von Philosophen muss der Vielfalt der<br />
Probleme zeitgenossischer Philosophen entgegengetreten werden, indem die Bewegung<br />
hin zu radikaler Theorieabhangigkeit grundsatzlich in Angriff genommen<br />
wird. Auch wenn sie nicht zu der positivistischen Idee, dass die Sinne eine unproblematische<br />
Basis fiir die Wissenschaft bereitstellen, zurtickkehren wollen, suchen<br />
sie doch nach einer relativ sicheren Basis der Wissenschaft, allerdings nicht in der<br />
Beobachtung, sondem im Experiment. Ich werde mich Ackerman (1989) anschlie-<br />
Ben und diesen jiingsten Trend <strong>als</strong> „den neuen Experimentalismus" bezeichnen.<br />
Nach seinen Verfechtern kann das Experiment, um es in den Worten Hackings<br />
(1996, S. 10) auszudrticken, ein „Eigenleben" jenseits groB angelegter <strong>Theorien</strong><br />
besitzen. Es wird argumentiert, dass Experimentalisten eine groBe Spannbreite<br />
von Moglichkeiten zur Verfiigung steht, die Realitat experimenteller Effekte ohne<br />
einen Ruckbezug auf <strong>Theorien</strong>gebaude feststellen zu konnen. Unbertihrt von<br />
Aussagen, nach denen wissenschaftliche Revolutionen groB angelegte <strong>Theorien</strong>wechsel<br />
beinhalten, kann dartiber hinaus dann, wenn wissenschaftlicher Fortschritt<br />
<strong>als</strong> kontinuierlicher Auft^au des Bestands wissenschaftlicher Erkenntnis gesehen<br />
wird, die Idee kumulativen Fortschritts der Wissenschaft wieder aufgegriffen werden.<br />
13.2 Zur Eigenstandigkeit von Experimenten<br />
In enger Anlehnung an Gooding (1990) beginnen wir mit einer historischen Episode.<br />
Im Spatsommer des Jahres 1820 erreichten Berichte von Oersteds Entdeckung<br />
England, dass die magnetische Kraft eines stromdurchflossenen Drahtes in<br />
gewisser Weise um den Draht zirkuliert. Faraday ftihrte einige Experimente durch,<br />
um zu klaren, was hinter diesem Phanomen steckte und um die Sache weiterzuentwickeln.<br />
Innerhalb weniger Monate hatte er so etwas wie einen primitiven<br />
Elektromotor entwickelt. Ein zylindrisches Glasrohr war oben und unten mit Kork<br />
abgedichtet. Ein Draht lief durch die Mitte des oberen Korks und endete in einem<br />
Haken, an dem in vertikaler Richtung ein weiterer Draht hing. Dessen unteres<br />
Ende konnte um das Oberteil eines Weicheisenzylinders rotieren, der aus dem<br />
Kork am Boden des Zylinders heraus ragte. Der elektrische Kontakt zwischen dem<br />
unteren Ende des hangenden Drahts und dem Eisenkern wurde durch Quecksilber<br />
auf dem unteren Kork hergestellt. Um diesen „Motor" zu aktivieren, wurde ein<br />
Magnet an das aus dem Kork heraus ragende Ende des Eisenkerns gehalten, wahrend<br />
ein leitender Draht den Eisenkern tiber eine galvanische Zelle mit dem Draht<br />
verband, der aus dem oberen Kork heraus ragte. Der entstehende Strom bewirkte,<br />
dass der hangende Draht um das magnetisierte Eisen rotierte, solange er Kontakt<br />
mit dem Quecksilber hatte. Faraday schickte sofort einige dieser Vorrichtungen,<br />
zusammen mit Instruktionen wie man sie in Gang setzt, an seine europaischen<br />
Gegenspieler. Er wies darauf hin, dass die Richtung der Rotation entweder durch<br />
Umpolung an der Stromquelle oder durch Umdrehen des Magnets verandert werden<br />
kann.
1st es nutzlich oder zutreffend, diese Leistung Faradays <strong>als</strong> theorieabhangig<br />
Oder fehlbar zu betrachten? Sie kann in einem sehr schwachen Sinn <strong>als</strong> theorieabhangig<br />
bezeichnet werden. Faradays Gegenspieler hatten seinen Instruktionen<br />
nicht folgen konnen, wenn sie nicht gewusst hatten, was Magnet, Quecksilber oder<br />
Strom sind. Aber das lauft lediglich auf eine Widerlegung eines extrem empiristischen<br />
Ide<strong>als</strong> hinaus, nachdem Tatsachen direkt durch das Eintreten sensorischer<br />
Information in das Gehim entstehen konnen, das sonst keinerlei Wissen besitzt.<br />
Keiner wird leugnen, dass jemand, der einen Magneten nicht von einer Karotte<br />
unterscheiden kann, nicht in der Lage ist, Erscheinungen des Elektromagnetismus<br />
richtig zu beurteilen. Es ist sicher nicht angebracht, den Begriff „Theorie" in so<br />
allgemeinem Sinn zu benutzen, dass der Satz „Karotten sind keine Magnete" zu<br />
einer Theorie wird. Daruber hinaus ist es zum Erfassen der genuinen Unterschiede<br />
zwischen den Interessen Faradays und Amperes wenig hilfreich, alles Gesprochene<br />
<strong>als</strong> „theorieabhangig" zu bezeichnen. Wie allgemein bekannt ist, verstand<br />
Faraday elektrische und magnetische Phanomene <strong>als</strong> Kraftlinien, die von elektrisch<br />
geladenen Korpern und Magneten ausgehen und den Raum um diese Korper<br />
herum ausfullen, wahrend kontinentale Theoretiker an elektrische Fluida dachten,<br />
die sich in Isolatoren befmden, durch Leiter flieBen und in der Distanz aufeinander<br />
einwirken sollten. Das waren die kursierenden <strong>Theorien</strong>, und die Anerkennung<br />
von Faradays Motor war nicht in dem Sinne „theorieabhangig", <strong>als</strong> sie von der<br />
Akzeptanz oder Vertrautheit mit einer der rivalisierenden <strong>Theorien</strong> abhing. Innerhalb<br />
des damaligen Elektromagnetismus stellte Faradays Motor einen experimentell<br />
geschaffenen theorieneutralen Effekt dar, der alle elektromagnetischen <strong>Theorien</strong><br />
zu einer Erklarung verpflichtete.<br />
Es ist auch nicht hilfreich, Faradays Motor <strong>als</strong> fehlbar zu betrachten. Es ist<br />
richtig, dass Faradays Motor manchmal nicht funktionierte, weil zum Beispiel der<br />
Magnet zu schwach war oder weil der Draht so weit in das Quecksilber reichte,<br />
dass es der Rotation zu viel Widerstand entgegensetzte. Konsequenterweise ist die<br />
Aussage „Alle Drahte, die in einem experimentellen Aufbau, der der Beschreibung<br />
Faradays entspricht, angebracht sind, rotieren" f<strong>als</strong>ch. Das bedeutet jedoch<br />
nur, dass Versuche, den Gehalt der faradayschen Entdeckung mittels derartiger<br />
allgemeiner Aussagen zu fassen, ungeeignet sind. Faraday entdeckte einen neuen<br />
experimentellen Effekt, demonstrierte ihn, indem er eine Abwandlung seiner Vorrichtung<br />
konstruierte, die funktionierte und gab seinen Rivalen Instruktionen, nach<br />
denen sie ebenfalls eine funktionsttichtige Vorrichtung aufbauen konnten. Einzelne<br />
Misserfolge sind weder uberraschend noch relevant. Die theoretischen Erklarungen<br />
des faradayschen Motors, die heute akzeptiert wurden, unterscheiden<br />
sich deutlich von denen Faradays und Amperes. Fest steht jedoch, dass Faradays<br />
Motor normalerweise lauft. Es ist kaum anzunehmen, dass zukunftige Fortschritte<br />
in der Theorie zu dem Schluss fuhren konnen, dass elektrische Motoren nicht<br />
fiinktionieren (jenseits der Tatsache, dass diese Fortschritte wiederum durch zukunftige<br />
Entdeckungen anderer experimenteller Effekte fur obsolet erklart werden<br />
konnten). Von dieser Perspektive aus betrachtet sind kontrolliert hergestellte experimentelle<br />
Effekte nicht fehlbar, sie sind von Dauer. Wenn wir wissenschaftlichen<br />
Fortschritt <strong>als</strong> Akkumulation solcher Effekte verstehen, erlangen wir daruber<br />
hinaus ein theorieunabhangiges Verstandnis seines Anwachsens.<br />
157
158<br />
Bin zweites Beispiel unterstutzt diese Sichtweise. Buchwalds (1989) detaillierte<br />
Studie der Karriere von Heinrich Hertz zeigt auf, wie stark Hertz anstrebte,<br />
neuartige experimentelle Effekte zu erlangen. Einige seiner Versuche, dies zu<br />
erreichen, fanden keine allgemeine Akzeptanz. Es ist nicht schwer festzustellen,<br />
warum dies so war. Hertz wurde mit dem Elektromagnetismus durch Helmholtz<br />
vertraut gemacht und sah Elektromagnetismus aus der Sicht der helmholtzschen<br />
Theorie, die nur eine von vielen gangigen Ansatzen zum Elektromagnetismus war<br />
(die Hauptaltemativen waren die von Weber und Maxwell). Dass die experimentellen<br />
Entdeckungen von Hertz neuartige Effekte erbrachten, konnte nur gewtirdigt<br />
und verteidigt werden, wenn auch die Details der von ihm in seinen Experimenten<br />
eingebrachten theoretischen Interpretationen gewtirdigt und verteidigt wurden.<br />
Diese Ergebnisse waren hochgradig theorieabhangig und genau darin, so mag ein<br />
neuer Experimentalist argumentieren, liegt der Grund, dass sie nicht allgemein <strong>als</strong><br />
etwas anerkannt wurden, das neuartige Effekte erbringt. Das anderte sich, <strong>als</strong><br />
Hertz seine elektrischen Wellen produziert hatte. Dass es solche Wellen gab,<br />
konnte unabhangig von einer zugrundeliegenden Theorie demonstriert werden.<br />
Hertz war in der Lage, diesen neuen Effekt kontrolliert herzustellen. Er stellte<br />
stehende Wellen her und wies nach, dass kleine Funkendetektoren an den Schwingungsbauchen<br />
maximale Funkenbildung zeigten, wahrend an den Schwingungsknoten<br />
keine Funkenbildung zu registrieren war. Wie Buchwald bei eigenen Versuchen<br />
feststellte, war dies keineswegs leicht zu erreichen, noch waren die Resultate<br />
einfach zu reproduzieren. Es wird jedoch nicht behauptet, dass Experimente<br />
einfach seien. Es soil lediglich die Tatsache festgehalten werden, dass Experimente,<br />
die die Existenz eines neuen experimentell produzierten Effekts demonstrieren,<br />
ohne RUckgriff auf die eine oder andere konkurrierende Theorie gewurdigt<br />
werden konnen. Das ergibt sich schon aus der Geschwindigkeit, mit der<br />
Hertz' Wellen akzeptiert wurden.<br />
Die Herstellung kontrollierter experimenteller Effekte und deren Wiirdigung<br />
sind ohne komplexe <strong>Theorien</strong> moglich. Ebenso kann ein Neuer Experimentalist<br />
auf Experimentatoren zur Verfiigung stehende Strategien hinweisen, die sich nicht<br />
auf komplexe <strong>Theorien</strong> beziehen. Betrachten wir zum Beispiel, welche Argumente<br />
ein Experimentator dafiir vorbringen wtirde, dass eine bestimmte Beobachtung, die<br />
mittels eines Instruments vorgenommen wurde, kein Artefakt, sondem etwas<br />
Reales ist. Hackings (1996, S. 309ff.) Schilderungen des Einsatzes des Mikroskops<br />
illustrieren dies gut. Ein kleines Gitter mit beschrifteten Quadraten wird auf<br />
ein Sttick Glas geatzt und im weiteren Verlauf fotografisch so stark verkleinert,<br />
dass es nicht mehr sichtbar ist. Wird dieses Gitter durch ein Mikroskop betrachtet,<br />
wird es mit den Beschriftungen sichtbar. Bereits das ist ein entscheidender Indikator<br />
dafiir, dass ein Mikroskop zuverlassig vergroBert - ein Argument, das iibrigens<br />
nicht auf einer Theorie beruht, wie das Mikroskop funktioniert. Stellen wir<br />
uns nun einen Biologen vor, der ein Elektronenmikroskop benutzt, um rote Blutkorperchen<br />
zu betrachten, die auf unserem Gitter aufgebracht wurden. (Hier berichtet<br />
Hacking einen aktuellen Ausschnitt aus einer Begebenheit, die ihm ein<br />
Wissenschaftler erzahlte.) Einige dichte Korper konnen innerhalb der Zelle beobachtet<br />
werden. Der Wissenschaftler fragt sich, ob diese Korper tatsachlich im Blut<br />
vorhanden sind oder ob es sich um ein Artefakt des Mikroskops handelt. (Er ver-
mutet Letzteres.) Er notiert sich, welche der markierten Zellen die Korper beinhalten.<br />
Als Nachstes betrachtet er seine Probe durch ein fluoreszierendes Mikroskop.<br />
Dieselben Korper erscheinen an denselben Stellen des Gitters. Kann es<br />
irgendeinen Zweifel daran geben, dass das Beobachtete eher Korper im Blut darstellt<br />
<strong>als</strong> ein Artefakt? Alles was benotigt wird, damit dieses Argument iiberzeugt,<br />
ist das Wissen, dass die beiden Mikroskope nach unterschiedlichen physikalischen<br />
Prinzipien arbeiten, sodass die Chance, dass beide identische Artefakte produzieren,<br />
<strong>als</strong> hochst unwahrscheinlich erachtet werden kann. Das Argument erfordert<br />
kein detailliertes theoretisches Wissen tiber die Funktionsweise der Instrumente.<br />
13.3 Deborah Mayo zum strengen experimentellen Uberpriifen<br />
Mayo (1996) ist eine Wissenschaftsphilosophin, die auf rigoros philosophischem<br />
Weg versucht hat, die Implikationen des Neuen Experimentalismus zu beschreiben.<br />
Mayo ruckt den genauen Weg, auf dem Aussagen durch das Experiment<br />
validiert werden, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und befasst sich damit,<br />
zu identifizieren, welche Aussagen wie erlangt werden konnen. Der zentrale Gedanke,<br />
der ihren Ausfuhrungen zugrundeliegt, ist, dass eine Aussage nur dann <strong>als</strong><br />
experimentell gestiitzt angesehen werden kann, wenn die verschiedenen Moglichkeiten,<br />
aufgrund derer die Aussage f<strong>als</strong>ch sein kann, untersucht und eliminiert<br />
worden sind. Von einer Aussage kann nur dann gesagt werden, dass sie sich aus<br />
einem Experiment ableiten lasst, wenn sie im Experiment einer strengen Oberprtifung<br />
unterzogen wurde, und die strenge Uberprtifung einer Aussage muss nach<br />
Mayo dergestalt sein, dass es unwahrscheinlich sei, die Aussage beizubehalten,<br />
wenn sie f<strong>als</strong>ch sei.<br />
Der Ansatz kann mittels einiger einfacher Beispiele illustriert werden. Nehmen<br />
wir an, Snells Gesetz der Lichtbrechung wird durch einige Experimente iiberprtift,<br />
die einen weiten Spielraum fur Fehler bei der Messung von Einfallswinkeln<br />
und Brechungen lassen, und nehmen wir weiter an, die Ergebnisse entsprechen<br />
auch mit diesem Spielraum dem Gesetz der Lichtbrechung. Ist das Gesetz durch<br />
Experimente bestatigt worden, die es streng uberpruft haben? Aus Mayos Perspektive<br />
ist die Antwort „nein", weil wegen der Grobheit der Messung das Gesetz der<br />
Lichtbrechung der Uberprtifung auch standgehalten hatte, wenn es f<strong>als</strong>ch ware<br />
und ein anderes Gesetz, das sich von dem Snells nicht allzu sehr unterscheidet,<br />
richtig ware. Dazu ein Beispiel aus meiner Zeit <strong>als</strong> Lehrer: Meine Schuler batten<br />
einige nicht sehr sorgfaltige Experimente zur Uberprtifung des snellschen Gesetzes<br />
durchgefuhrt. Dann stellte ich ihnen einige vor der Entdeckung von Snells<br />
Gesetz formulierte, alternative Brechungsgesetze aus der Antike und dem Mittelalter<br />
vor und forderte sie auf, sie mit denselben Messungen zu tiberprufen, die sie<br />
zur LFberprufung von Snells Gesetz benutzt batten. Wegen des groBen Spieh-aums<br />
fur Fehler, der ihren Messungen zugrundelag, uberstanden alle Gesetze die Uberprtifung.<br />
Das machte deutlich, dass die infrage stehenden Experimente keine<br />
strenge Uberprtifung von Snells Gesetz darstellten. Dieses Gesetz hatte der Uberprtifung<br />
auch standgehalten, wenn es f<strong>als</strong>ch und die historischen Altemativen<br />
richtig gewesen waren.<br />
159
160<br />
Ein zweites Beispiel soil die Logik der Position Mayos weiter verdeutlichen.<br />
Ich trank heute Morgen zwei Tassen Kaffee, und heute Nachmittag hatte ich<br />
Kopfschmerzen. Wird die Aussage „Mein morgendlicher Kaffee hat meine Kopfschmerzen<br />
verursacht" dadurch bestatigt? Mayos Position macht deutlich, warum<br />
die Antwort „nein" lautet. Bevor wir von dieser Aussage sagen konnen, dass sie<br />
einer strengen LFberprtifung unterzogen und daher bestatigt wurde, miissen wir die<br />
verschiedenen Moglichkeiten eliminieren, nach denen diese Aussage f<strong>als</strong>ch sein<br />
kann. Vielleicht liegt der Grund meiner Kopfschmerzen in dem sehr starken vietnamesischen<br />
Bier, das ich gestern getrunken hatte, in der Tatsache, dass ich heute<br />
Morgen zu friih aufgestanden bin oder darin, dass ich es besonders schwierig<br />
finde, diese Passage zu schreiben usw. Wenn eine kausale Verbindung zwischen<br />
dem Trinken von Kaffee und Kopfschmerzen hergestellt werden soil, miissen<br />
kontrollierte Experimente durchgefuhrt werden, die dazu dienen, andere mogliche<br />
Ursachen zu eliminieren. Wir miissen versuchen, Resultate zu schaffen, deren<br />
Auftreten ohne die Tatsache, dass Kaffee Kopfschmerzen verursacht, sehr unwahrscheinlich<br />
ware. Ein Experiment stiitzt eine Aussage nur dann, wenn mogliche<br />
Fehlerquellen eliminiert wurden und es sehr unwahrscheinlich ware, dass die<br />
Aussage der Uberprufung standhalt, auBer sie ware wahr. Dieser einfache Gedanke<br />
erfasst auf klare Art und Weise gangige Vorstellungen tiber das Experimentieren.<br />
Er wird von Mayo weitergefuhrt, um einige neue Einsichten zu liefern.<br />
Betrachten wir das sogenannte „Tacking-Paradox", das an einem Beispiel<br />
illustriert werden soil. Stellen wir uns vor, Newtons Theorie, T, sei durch die<br />
sorgfaltige Beobachtung der Bewegung eines Kometen bestatigt, wobei Sorge<br />
getragen wurde, dass Fehlerquellen wie die Anziehung durch nahe Planeten, die<br />
Brechung durch die Erdatmosphare usw. eliminiert wurden. Angenommen, wir<br />
konstruieren nun eine Theorie T', indem wir der Theorie Newtons Aussagen wie<br />
„Smaragde sind griin" anhangen.^^ Wird T' durch die Beobachtungen bestatigt?<br />
Wenn wir im Blick haben, dass eine Vorhersage p eine Theorie bestatigt, wenn p<br />
aus der Theorie folgt und durch Experimente bestatigt wird, dann wird auch T'<br />
(und die Mehrzahl ahnlich konstruierter <strong>Theorien</strong>), entgegen unserer Intuition,<br />
durch die fraglichen Beobachtungen bestatigt. Soweit das „Tacking-Paradox". T'<br />
wird jedoch nach Mayos Sichtweise nicht bestatigt, und das „Paradox" lost sich<br />
auf Auf der Grundlage unserer Annahme tiber die Elimination moglicher Fehlerquellen<br />
konnen wu* sagen, dass die Laufbahn des Kometen kaum der newtonschen<br />
Vorhersage entsprochen hatte, wenn Newtons Theorie nicht richtig ware. LFber T'<br />
kann das nicht gesagt werden, weil die Wahrscheinlichkeit, dass der Komet<br />
Newtons Vorhersage entspricht, vollig unverandert bleibt, wenn einige Smaragde<br />
blau waren. Damit ware T' f<strong>als</strong>ch. T' wird durch das fragliche Experiment nicht<br />
bestatigt, weil es nicht die verschiedenen Moglichkeiten erprobt, nach denen die<br />
Aussage „Smaragde sind grtin" f<strong>als</strong>ch sein konnte. Beobachtungen von Kometen<br />
stellen eine strenge Uberprufung fur T, nicht jedoch fur T' dar.<br />
^^ Im Original: „Suppose that we now construct theory T' by tacking a statement such as 'emeralds are<br />
green' onto Newton's theory" - deshalb Tacking-Vmdi&ox. (Anm. d. Hrsg.)
Mayo erweitert diesen Gedankengang auf weniger triviale Falle. Sie uberprtift<br />
theoretische Spekulationen, indem sie theoretische Schlussfolgerungen identifiziert,<br />
die weiter iiber experimentelle Beflinde hinausgehen, <strong>als</strong> es gerechtfertigt<br />
ist. Ihre Analyse der Uberprufiing von Einsteins Vorhersage der Bundelung von<br />
Licht in Gravitationsfeldem durch Eddington beschreibt dies.<br />
Eddington nutzte eine Sonnenfinsternis, um die relative Position von Sternen<br />
in einer Situation zu beobachten, in der ihr Licht auf dem Weg zur Erde die Sonne<br />
in groBer Nahe passiert. Er verglich diese relativen Positionen mit denen, die spater<br />
im Jahr beobachtet werden konnen, wenn die Sterne nicht mehr so nah an der<br />
Sonne stehen. Ein messbarer Unterschied wurde gefunden. Indem sie die Details<br />
der Sonnenfmstemis-Experimente naher betrachtet, ist Mayo in der Lage, zu<br />
argumentieren, dass Einsteins Gesetz der Schwerkraft, das sich aus seiner Allgemeinen<br />
Relativitatstheorie ergibt, durch die Experimente bestatigt wu-d, w^as fur<br />
die Allgememe Relativitatstheorie nicht der Fall ist. Wir wollen sehen, wie sie<br />
dabei vorgeht.<br />
Wenn angenommen wird, dass die Ergebnisse der Sonnenfinsternis-Experimente<br />
die Allgemeine Relativitatstheorie sttitzen, dann muss es moglich sein,<br />
Argumente dafur zu fmden, dass das Auftreten dieser Ergebnisse sehr unwahrscheinlich<br />
sei, wenn diese Theorie f<strong>als</strong>ch ist. Wir miissen in der Lage sein, f<strong>als</strong>che<br />
Verbindungen zwischen der Theorie und den Ergebnissen zu eliminieren. Das ist<br />
in diesem Fall nicht moglich, weil es tatsachlich eine ganze Klasse von <strong>Theorien</strong><br />
der Raum-Zeit-Korrelation gibt, die alle Einsteins Gesetz der Schwerkraft vorhersagen<br />
und damit auch das Ergebnis der Sonnenfinsternis-Experimente. Die Theorie<br />
von Einstein ist nur eine von ihnen. Ware eine andere <strong>als</strong> Einsteins Theorie<br />
richtig, wtirden dieselben Ergebnisse der Sonnenfmsternis-Experimente erwartet.<br />
In der Konsequenz stellen diese Experimente keine strenge Uberpruftmg von<br />
Einsteins allgemeiner Theorie dar. Sie sind nicht in der Lage, zwischen dieser und<br />
bekannten Alternativen zu unterscheiden. Zu behaupten, dass die Sonnenfinsternis-Experimente<br />
Einsteins Allgemeine Relativitatstheorie unterstutzen, geht weiter<br />
uber die experimentellen Befunde hinaus, <strong>als</strong> es gerechtfertigt ist.<br />
Die Situation stellt sich anders dar, wenn wir die etwas eingeschranktere Behauptung<br />
betrachten, die Sonnenfmsternis-Experimente bestatigten Einsteins Gesetz<br />
der Schwerkraft. Die Beobachtungen stimmten sicherlich mit diesem Gesetz<br />
Uberein. Bevor es jedoch legitim ist, dies <strong>als</strong> Bestatigung des Gesetzes zu sehen,<br />
mussen andere mogliche Ursachen ftir diese Obereinstimmung eliminiert werden.<br />
Erst dann kann gesagt werden, dass die beobachteten Veranderungen von Stemenpositionen<br />
nur dann auftreten, wenn Einsteins Gesetz stimmt. Mayo zeigt detailliert,<br />
wie Alternativen zu Einsteins Gesetz, zum Beispiel die newtonsche Alternative,<br />
in Betracht gezogen und verworfen wurden. Die klassische newtonsche<br />
Alternative fuBt dabei darauf, dass die Anziehung umgekehrt proportional dem<br />
Quadrat des Abstandes der Photonen und der Sonne ist, vorausgesetzt, die Photonen<br />
besitzen eine Masse. Einsteins Gesetz der Schwerkraft wurde durch die<br />
Sonnenfinsternis-Experimente einer strengen Uberprtifung unterzogen - ein negatives<br />
Ergebnis hatte die Allgemeine Relativitatstheorie zu Fall gebracht.<br />
Neue Experimentalisten sind ganz allgemein auf der Suche nach Gebieten<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis, die unabhangig von komplexen <strong>Theorien</strong> bestatigt<br />
161
162<br />
werden konnen. Mayos Position harmoniert gut mit diesem Bestreben. Aus ihrer<br />
Perspektive konnen experimentelle Gesetze durch eine wie oben diskutierte<br />
strenge Uberpriifung bestatigt werden. Das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis<br />
wird <strong>als</strong> Akkumulation und Erweiterung solcher Gesetze verstanden.<br />
13.4 Das Lernen aus Fehlern und das Auslosen von Revolutionen<br />
Experimentelle Resultate bestatigen eine Aussage, wenn von ihnen gesagt werden<br />
kann, dass sie frei von Fehlern sind und dass die Ergebnisse unwahrscheinlich<br />
seien, wenn die Aussage f<strong>als</strong>ch sei. Mayos Konzentration auf die Bedeutung von<br />
experimentellen Fehlern geht jedoch dartiber hinaus. Sie beschaftigt sich damit,<br />
wie gut durchgefiihrte Experimente uns lehren, aus Fehlern zu lernen. Aus diesem<br />
Blickwinkel hat ein Experiment, das dazu dient, einen Fehler in einer zuvor akzeptierten<br />
Behauptung zu entdecken, sowohl eine positive <strong>als</strong> auch eine negative<br />
Funktion. Es dient nicht nur der F<strong>als</strong>ifikation der Behauptung, sondem identifiziert<br />
auch in positiver Art und Weise einen zuvor unbekannten Effekt. Die positive<br />
Funktion der Entdeckung von Fehlern wird durch die Reformulierung des<br />
kuhnschen Begriffs der Normalwissenschaft gut illustriert.<br />
Erinnern wir uns an die Ausfuhrungen in Kapitel 8 zu den verschiedenen<br />
Antworten Poppers und Kuhns auf die Frage, warum es der Astrologie nicht gelang,<br />
sich <strong>als</strong> Wissenschaft zu qualifizieren. Nach Popper ist die Astrologie keine<br />
Wissenschaft, weil sie nicht f<strong>als</strong>ifizierbar ist. Kuhn macht dagegen deutlich, dass<br />
dies nicht richtig ist, weil die Astrologie f<strong>als</strong>ifizierbar war (und ist). Im 16. und 17.<br />
Jahrhundert, <strong>als</strong> die Astrologie „respektabel" war, machten Astrologen iiberpriifbare<br />
Vorhersagen, von denen sich viele <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch herausstellten. Auch wissenschaftliche<br />
<strong>Theorien</strong> machen Vorhersagen, die sich <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch herausstellen. Nach<br />
Kuhn liegt der Unterschied darin, dass die Wissenschaft in der Position ist, konstruktiv<br />
aus „F<strong>als</strong>ifikationen" zu lernen, wahrend das bei der Astrologie nicht der<br />
Fall ist. FUr Kuhn existiert in der Wissenschaft eine Tradition des Losens von<br />
Ratseln, die der Astrologie fehlte. Wissenschaft beinhaltet mehr <strong>als</strong> F<strong>als</strong>ifikationen.<br />
Sie beinhaltet auch ihre Uberwindung. Aus diesem Blickwinkel birgt es eine<br />
gewisse Ironie, dass Popper, der zu gewissen Zeiten seinen Ansatz mit dem Slogan<br />
„Wir lernen aus unseren Fehlern" charakterisierte, genau deshalb scheiterte,<br />
weil sein negativer f<strong>als</strong>ifikationistischer Beitrag keinen positiven Beitrag dazu<br />
umfasste, wie Wissenschaft aus Fehlern (F<strong>als</strong>ifikationen) lernt.<br />
Mayo schlieBt sich hier Kuhn an, indem sie die Normalwissenschaft mit Experimentieren<br />
gleichsetzt. Hier ein paar Beispiele far die positive Rolle, die die<br />
Entdeckung von Fehlern spielte. In Zusammenhang mit dem Hintergrundwissen<br />
der damaligen Zeit stellten die Beobachtungen problematischer Merkmale der<br />
UmlauflDahn des Uranus die Theorie Newtons vor einige Probleme. Die positive<br />
Seite des Problems lag jedoch in der Auffmdung der Quelle dieser Schwierigkeiten,<br />
die, wie bereits beschrieben, zur Entdeckung des Neptuns fuhrte. Eine andere,<br />
bereits erwahnte Episode, bezieht sich auf Hertz' Experimente zu Kathodenstrahlen,<br />
die ihn zu dem Schluss veranlassten, dass sie von einem elektrischen Feld<br />
nicht abgelenkt werden. Dass dies ein Irrtum war, konnte Thomson zeigen, indem
er berticksichtigte, in welchem Umfang die Strahlen das Gas in Entladungsrohren<br />
ionisierten, was zur Ansammlung von lonen auf Elektroden und zum Aufbau elektrische<br />
Felder fiihrte. Indem er den Druck innerhalb der Rohren verringerte und<br />
seine Elektroden besser arrangierte, entdeckte Thomson den Einfluss elektrischer<br />
Felder auf Kathodenstrahlen, der Hertz entgangen war. Er lemte jedoch auch<br />
etwas liber neue Effekte der lonisierung und das Entstehen von Raumladungen. Im<br />
Zusammenhang mit Ablenkungsexperimenten stellten diese Hindemisse dar, die<br />
beseitigt werden mussten. Auch fiir sich selbst gesehen, stellten sie sich <strong>als</strong> wichtig<br />
heraus. Die lonisierung von Gasen durch eindringende geladene Partikel war<br />
von fundamentaler Bedeutung fiir die Untersuchung geladener Partikel in Nebelkammern.<br />
Das detaillierte Wissen von Experimentatoren uber die Effekte, die bei<br />
einer bestimmten Apparatur wirksam sind, versetzt sie oder ihn in die Lage, aus<br />
Fehlern zu lemen.<br />
Mayo leistete mehr, <strong>als</strong> lediglich Kuhns Begriff der Normalwissenschaft in<br />
die experimentelle Praxis zu tibertragen. Sie wies darauf hin, dass die Moglichkeit,<br />
mittels Experimenten Fehler zu entdecken und zu beheben, ausreicht, um eine<br />
wissenschaftliche Revolution auszulosen oder zumindest dazu beizutragen - eine<br />
These, die Kuhn in keiner Weise entspricht. Mayos bestes Beispiel bezieht sich<br />
auf Experimente zur brownschen Bewegung, die Jean Perrin am Ende der ersten<br />
Dekade des 20. Jahrhunderts durchfuhrte. Perrins detaillierte und einfallsreiche<br />
Beobachtungen der brownschen Partikelbewegung lieBen keinen Zweifel mehr<br />
daran, dass diese Bewegungen regellos waren. Dies, zusammen mit der Beobachtung<br />
einer Anderung der Verteilungsdichte der Partikel in Abhangigkeit von ihrer<br />
Hohe, ermoglichte es Perrin, schliissig zu zeigen, dass die Bewegung der Partikel<br />
das zweite Gesetz der Thermodynamik verletzt, wahrend sie gleichzeitig den<br />
detaillierten Vorhersagen der kinetischen Theorie entspricht. Es gibt kaum etwas<br />
Revolutionareres in der Physik <strong>als</strong> das. Ahnliches konnte berichtet werden liber<br />
die Art, in der experimentelle Untersuchungen der Strahlung schwarzer Korper,<br />
des radioaktiven Zerfalls und des photoelektrischen Effekts die Aufgabe der klassischen<br />
Physik erzwangen und in den fruhen Dekaden des 20. Jahrhunderts wichtige<br />
Elemente der neuen Quantentheorie konstituierten.<br />
Impliziter Bestandteil des Neuen Experimentalismus ist die Ablehnung des<br />
Standpunkts, dass experimentelle Ergebnisse zwangslaufig theorie- oder paradigmenabhangig<br />
sind und daher nicht die Funktion eines Richters zwischen <strong>Theorien</strong><br />
ubernehmen konnen. Die Berechtigung zu dieser Annahme ergibt sich aus der<br />
Konzentration auf die experimentelle Praxis, darauf, wie Instrumente eingesetzt,<br />
Fehler eliminiert, Gegenproben durchgefiihrt und Proben variiert werden. In dem<br />
AusmaB, indem das Experimentieren unabhangig von spekulativen <strong>Theorien</strong> ist,<br />
konnen <strong>Theorien</strong> relativiert werden. Wissenschaftliche Revolutionen konnen insoweit<br />
rational sein, <strong>als</strong> sie uns durch experimentelle Resultate aufgezwungen<br />
werden. Die extremen Auswtichse einer theorie- oder paradigmenabhangigen<br />
Sichtweise der Wissenschaft sind sinnlos und haben den Bezug zu einer ihrer<br />
kennzeichnendsten Komponenten, dem Experiment, verloren.<br />
163
164<br />
13.5 Perspektiven des Neuen Experimentalismus<br />
Der Neue Experimentalismus hat aufgezeigt, wie experimentelle Ergebnisse untermauert<br />
werden komien und experimentelle Effekte durch eine Vielzahl von<br />
Strategien, wie praktischer Intervention, Gegenproben, Fehlerkontrolle und -elimination,<br />
auf eine Art und Weise erzielt werden konnen, die unabhangig von komplexen<br />
<strong>Theorien</strong> sein konnen und dies auch typischerweise sind. In der Folge ist er<br />
in der Lage, einen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft zu leisten, der <strong>als</strong> das<br />
Anwachsen experimentell gewonnener Erkenntnis betrachtet wird. Indem er festlegt,<br />
dass die besten <strong>Theorien</strong> diejenigen sind, die einer strengen Uberprtifung<br />
standhalten - wobei er eine strenge experimentelle Uberprtifung einer Aussage <strong>als</strong><br />
etwas versteht, das das Verwerfen dieser Aussage wahrscheinlich macht, wenn sie<br />
f<strong>als</strong>ch ist -, kann der Neue Experimentalismus zeigen, wie sich das Experiment<br />
auf den Vergleich radikal unterschiedlicher <strong>Theorien</strong> beziehen lasst und wie das<br />
Experiment der Auslosung wissenschaftlicher Revolutionen dienen kann. Sorgfaltige<br />
Aufmerksamkeit gegenuber den Details von Experimenten dient dazu, theoretische<br />
Gedankengange zu Uberprufen und unterstUtzt die Unterscheidung zwischen<br />
experimentell Untermauertem und Spekulativem.<br />
Ohne Zweifel hat der Neue Experimentalismus die Wissenschaftsphilosophie<br />
auf wertvolle Art und Weise auf den Boden der Tatsachen zuriickgefiihrt und stellt<br />
ein niitzliches Korrektiv einiger Auswiichse des theoriedominierten Ansatzes dar.<br />
Dennoch kann vermutet werden, dass es ein Fehler ware, ihn <strong>als</strong> vollstandige<br />
Antwort auf die Frage nach dem Charakter der Wissenschaft zu sehen. Das Experiment<br />
ist nicht so unabhangig von der Theorie, wie die vorangegangenen Abschnitte<br />
dieses Kapitels nahe legen. Die heilsame und informative Konzentration<br />
auf die Eigendynamik von Experimenten sollte nicht blind machen flir die Tatsache,<br />
dass auch <strong>Theorien</strong> eine gewisse Eigendynamik besitzen.<br />
Die Neuen Experimentalisten befmden sich im Recht, wenn sie darauf bestehen,<br />
dass es ein Fehler ist, in jedem Experiment einen Versuch zu sehen, eine<br />
Frage zu beantworten, die sich aus einer Theorie ergibt, und den Umfang des<br />
Eigenlebens von Experimenten zu unterschatzen. Galilei hatte keine zu tiberpriifende<br />
Theorie zu den Jupitermonden, <strong>als</strong> er sein Teleskop himmelwarts richtete,<br />
und seit dam<strong>als</strong> sind durch die neuen Instrumente und Technologien viele neuartige<br />
Phanomene entdeckt worden. Auf der anderen Seite bleibt die Tatsache bestehen,<br />
dass <strong>Theorien</strong> haufig die experimentelle Arbeit geleitet und den Weg zur<br />
Entdeckung neuer Phanomene gewiesen haben. Trotz allem war es eine Vorhersage<br />
aus Einsteins Allgemeiner Relativitatstheorie, die Eddingtons Sonnenfmsternis-Projekt<br />
motiviert hatte, und es war Einsteins Beitrag zur kinetischen Gastheorie,<br />
die Perrin dazu veranlasst hatte, die brownsche Bewegung so zu untersuchen,<br />
wie er es getan hatte. Ganz ahnlich waren es fundamentale theoretische Aspekte<br />
zur Frage, ob die Frequenz des Polarisationswechsels dielektrischer Medien<br />
magnetische Effekte haben, die Hertz veranlassten, einen experimentellen Weg zu<br />
beschreiten, der in der Herstellung von Radiowellen gipfelte. Und genauso war<br />
Aragos Entdeckung eines hellen Flecks im Mittelpunkt des Schattens einer<br />
Scheibe das Ergebnis einer Uberprufung von Fresnels Wellentheorie des Lichts.
Unabhangig davon, ob eine Theorie einem Experimentalisten manchmal die<br />
richtige Richtung aufzeigt oder nicht, sind die Neuen Experimentalisten intensiv<br />
damit beschaftigt, zu erfassen, in welchem Sinne experimentelles Wissen unabhangig<br />
von <strong>Theorien</strong> gerechtfertigt werden kann. Sicherlich hat Mayo einen detaillierten<br />
und tiberzeugenden Beitrag dazu geleistet, wie experimentelle Resultate<br />
dadurch verlasslich gewonnen werden konnen, dass sowohl eine Vielzahl von<br />
Techniken zur Elimination von Fehlem <strong>als</strong> auch Fehlerstatistiken verwendet werden.<br />
Sobald jedoch das Bedtirfnis entsteht, experimentellen Ergebnissen eine<br />
Bedeutsamkeit zuzuweisen, die iiber die experimentelle Situation hinausgeht, in<br />
denen sie produziert wurden, muss auf <strong>Theorien</strong> Bezug genommen werden.<br />
Mayo bemuht sich, zu zeigen, wie Fehlerstatistiken im Rahmen eines sorgfaltig<br />
kontrollierten Experiments eingesetzt werden konnen, damit die Schlussfolgerung<br />
moglich ist, dass Experimente diesen Typs spezifizierte Ergebnisse mit<br />
einem (genau benannten) hohen Grad an Wahrscheinlichkeit hervorbringen. Einzelne<br />
experimentelle Ergebnisse werden <strong>als</strong> Stichprobe aus alien moglichen<br />
Ergebnissen, die durch ein Experiment diesen Typs entstehen konnen, behandelt,<br />
und es konnen Fehlerstatistiken angewendet werden, um der Population auf der<br />
Basis dieser Stichprobe Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen. Ein grundlegender<br />
Aspekt ist hier die Frage, was <strong>als</strong> „Experiment des gleichen Typs" gilt. Alle Experimente<br />
unterscheiden sich in gewisser Hinsicht insofern, <strong>als</strong> sie zum Beispiel zu<br />
verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Laboratorien, unter Verwendung verschiedener<br />
Instrumente usw. durchgefuhrt wurden. Die generelle Antwort auf<br />
diese Frage ist, dass sich die Experimente in Bezug auf relevante Aspekte ahneln<br />
mussen. Urteile dariiber, was <strong>als</strong> relevant gelten kann, werden jedoch vorgenommen,<br />
indem man sich auf das gegenwartige Wissen bezieht und ist so Gegenstand<br />
von Veranderung, wenn dieses Wissen sich verbessert. Stellen wir uns zum Beispiel<br />
vor, Galilei hatte eine Reihe von Experimenten durchgefuhrt, aus deren<br />
Ergebnissen er den Schluss zieht, dass die Beschleunigung infolge der Schwerkraft<br />
eine Konstante ist (und erlauben wir Galilei entgegen den damaligen Gegebenheiten<br />
den Einsatz modemer Fehlerstatistiken, wobei wir davon ausgehen<br />
wollen, dass er der Moglichkeit, dass zuktinftige Ergebnisse gegen ihn sprechen<br />
werden, eine niedrige Wahrscheinlichkeit zuweisen kann). Vom heutigen Standpunkt<br />
aus ist es moglich, zu erkennen, dass Galileis Vertrauen in seine Wahrscheinlichkeitsschatzung<br />
enttauscht werden konnte, wenn er bei zukunftigen Gelegenheiten<br />
unter dem Wasserspiegel arbeiten wurde. Wenn man, wie Galilei dies<br />
tat, in einem Kontext arbeitet, in dem angenommen wird, dass die Tendenz zu<br />
fallen, eine schweren Objekten innewohnende Eigenschaft ist, die sie alle schon<br />
allein deswegen besitzen, weil sie materielle Objekte sind, ist nicht ersichtlich,<br />
dass die Hohe uber dem Wasserspiegel relevant ist und daher ist auch nicht ersichtlich,<br />
dass Galileis Stichprobe nicht reprasentativ war. Urteile daruber, was <strong>als</strong><br />
„Experimente ahnlichen Typs" zahlt, werden <strong>als</strong>o auf einem theoretischen Hintergrund<br />
gefallt.<br />
Unabhangig davon werden theoretische Erwagungen dann entscheidend,<br />
wenn von experimentellen Ergebnissen angenommen wird, dass ihre Bedeutung<br />
tiber die spezifischen Bedingungen, unter denen sie gewonnen wurden, hinausgehen.<br />
Das wird zum Beispiel durch die Art und Weise deutlich, in der Mayo selbst<br />
165
166<br />
argumentiert, dass die Soimenfinstemis-Experimente Einsteins Gesetz der Schwerkraft<br />
bestatigen. Wie Mayo erklart, beinhaltet dies, aufzuzeigen, dass die Ergebnisse<br />
mit den Annahmen Newtons zu diesem Phanomen genauso unvereinbar sind<br />
wie mit jeder anderen denkbaren Alternative, wie zum Beispiel Oliver Lodges<br />
Bezug auf einen Ather-Mechanismus. Diese Altemativen stellten sich eine nach<br />
der anderen <strong>als</strong> nicht befriedigend heraus. Mayo (1996, S. 291) schreibt unter<br />
Bezugnahme auf einen Artikel von Dyson und Crommelin, der in der Zeitschrift<br />
Nature erschienen ist: „Daher scheinen wir bis zur Erschopfung zum einsteinschen<br />
Gesetz <strong>als</strong> einzig befriedigende Erklarung gezwungen zu sein". Es soil hier nicht<br />
darauf eingegangen werden, dass dies zeigt, dass es zu dieser Zeit und unter diesen<br />
Bedingungen vemiinftig gewesen ist, Einsteins Theorie der Schwerkraft zu<br />
akzeptieren. Aber ein entscheidender Teil der Argumente basiert auf der Annahme,<br />
dass es in der Tat keine akzeptablen Altemativen gibt. Mayo kann nicht<br />
ausschlieBen, dass es eine noch nicht erdachte Modifikation der newtonschen oder<br />
eine Ather-Theorie gibt, die in der Lage ist, die Ergebnisse der Sonnenfmstemis-<br />
Experimente zu erklaren. Sie ist daher klug genug, nicht zu versuchen, Hypothesen<br />
Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen. Insofern reduzieren sich ihre Argumente zu<br />
wissenschaftlichen Gesetzen und <strong>Theorien</strong> auf die Aussage, dass sie strengen<br />
Uberpriifungen besser standgehalten haben <strong>als</strong> alle konkurrierenden <strong>Theorien</strong>. Der<br />
einzige Unterschied zwischen Mayo und den Anhangern Poppers besteht darin,<br />
dass sie eine bessere Version dessen entwickelt hat, was <strong>als</strong> strenge Uberprufung<br />
gelten kann. Theoretische Erwagungen spielen eine entscheidende Rolle.<br />
Die Neuen Experimentalisten bestehen darauf, dass Experimentatoren gehaltvoile<br />
Techniken zur Verfugung stehen haben, die es moglich machen, experimentelle<br />
Erkenntnisse zuverlassig abzuleiten, wobei dieser Weg relativ unabhangig<br />
von ausgearbeiteten <strong>Theorien</strong> sein kann. In dem Umfang, indem diese Aussagen<br />
abgesichert werden konnen, scheint es, dass die Auswiichse des F<strong>als</strong>ifikationismus<br />
geziigelt werden konnen und dass gleichzeitig ein kumulativer Beitrag zum wissenschaftlichen<br />
Fortschritt, verstanden <strong>als</strong> das Anwachsen verlasslicher experimenteller<br />
Erkenntnis, gerechtfertigt werden kann. Wird jedoch theoretischen<br />
Erwagungen der Art, wie sie in diesem Abschnitt diskutiert wurden, eine bedeutende<br />
Rolle zugewiesen, muss ein gewisser Umfang an Fehlerhaftigkeit eingestanden<br />
werden.<br />
Der Neue Experimentalismus konnte nicht aufzeigen, wie <strong>Theorien</strong> oder<br />
<strong>Theorien</strong>gebaude aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden konnen. Es ist in<br />
diesem Zusammenhang bedeutsam anzumerken, dass ein wichtiger Faktor einer<br />
Entscheidung tiber die Zuverlassigkeit der newtonschen Mechanik auf dem Gebiet<br />
der Raumfahrt das MaB ist, in welchem - bei gegebener Geschwindigkeit -<br />
Abweichungen davon im Lichte der Relativitdtstheorie <strong>als</strong> vemachlassigbar nachgewiesen<br />
werden konnen. Ohne Zweifel gibt es in der Wissenschaft ein wichtiges<br />
Eigenleben von <strong>Theorien</strong>. Die Prinzipien der Quantenmechanik, zum Beispiel eingesetzt<br />
zur Verbesserung von Elektronenmikroskopen oder sogar zum Erhalt von<br />
Energie, die uberall in der Wissenschaft genutzt werden, sind weitaus mehr <strong>als</strong><br />
Generalisierungen von spezifischen Experimenten. Welcher Art ist dieses Eigenleben,<br />
und in welcher Verbindung steht es zum Experiment?
Einige der Neuen Experimentalisten scheinen eine Trennungslinie zwischen<br />
gut belegter experimenteller Erkenntnis einerseits und <strong>Theorien</strong> andererseits Ziehen<br />
zu wollen. (Mayo scheint in diese Richtung zu gehen, wenn sie zwischen der<br />
Allgemeinen Relativitatstheorie auf der einen und der eingeschrankteren, von<br />
Eddingtons Experimenten gestiitzten Theorie der Schwerkraft auf der anderen<br />
Seite unterscheidet.) Einige haben diese Sichtweise so weit getrieben, dass nur<br />
noch experimentelle Gesetze <strong>als</strong> Moglichkeit gelten, iiberprtifbare Aussagen uber<br />
die Welt zu machen. <strong>Theorien</strong> werden <strong>als</strong> etwas angesehen, das eine gewisse<br />
organisatorische oder heuristische Rolle spielt, statt Aussagen tiber die Welt zu<br />
machen. Solche Erwagungen verweisen auf Aspekte, die in den letzten zwei Kapiteln<br />
diskutiert wurden.<br />
13.6 Anhang: Ein gliickliches Aufeinandertreffen von Theorie und<br />
Experiment<br />
Viele stimmen der Aussage zu, dass sich das Verdienst einer Theorie darin zeigt,<br />
in welchem Umfang sie strengen Uberprtifungen standgehalten hat. Dennoch gibt<br />
es in der Wissenschaft eine groBe Klasse von <strong>als</strong> bestatigt geltenden Aussagen, die<br />
nicht ohne weiteres in dieses Bild passen. In diesen Fallen kann eine bedeutsame<br />
Ubereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung festgestellt werden, auch<br />
wenn das Fehlen einer solchen Ubereinstimmung nicht gegen diese <strong>Theorien</strong> sprechen<br />
wurde. Verdeutlicht wird dieser Gedanke am besten an einigen Beispielen.<br />
Eine durchaus ubliche Situation in der Wissenschaft besteht darin, dass im<br />
Zusammenhang mit einigen komplizierten und vielleicht auch dubiosen Hilfsannahmen<br />
eine Vorhersage aus einer Theorie abgeleitet wird. Wird diese Vorhersage<br />
bestatigt, wird vemiinftigerweise angenommen, dass die Theorie eine bedeutsame<br />
Untersttitzung erhalten hat. Wird sie andererseits nicht bestatigt, kann das Problem<br />
sowohl in den Hilfsannahmen <strong>als</strong> auch in der Theorie liegen. In der Konsequenz<br />
mag es erscheinen, <strong>als</strong> wtirde diese Uberpriifung der Theorie keine strenge Form<br />
der Theoriepriifung darstellen. Dennoch wird die Theorie bei einer Bestatigung<br />
bedeutsam gestutzt. Thomason (1994, 1998) hat sich mit diesem Aspekt eingehend<br />
beschaftigt. Ein gutes Beispiel ist das Folgende: Die kopemikanische Theorie<br />
sagt voraus, dass die Venus Phasen aufweist, die denen des Mondes entsprechen<br />
und mit dessen sichtbarer GroBe in spezifischer Art und Weise korrelieren,<br />
vorausgesetzt, es wird angenommen, die Venus sei lichtundurchldssig. Historisch<br />
gesehen war, wie Kopemikus und Galilei beide explizit feststellten, die kursiv<br />
wiedergegebene Aussage eine offene Frage. Setzte er sein Teleskop ein, konnte<br />
Galilei die Phasen der Venus genau so bestatigen, wie es die kopemikanische<br />
Theorie vorhersagte, variierend in Abhangigkeit von der relativen Position der<br />
Erde, der Sonne und der Venus sowie der scheinbaren GroBe der Venus. In Verbindung<br />
mit der Annahme, dass die Venus lichtundurchlassig sei, wurde dies verntinftigerweise<br />
<strong>als</strong> ein Beleg angesehen, der die Theorie (und die Hilfsannahme)<br />
nachhaltig untersttitzte. Hatten die Phasen nicht beobachtet werden konnen, hatte<br />
die Schuld genauso bei der Hilfsannahme wie bei der Theorie liegen konnen,<br />
sodass das Vorgehen in diesem Sinne keine besonders strenge Uberpriifung des<br />
kopemikanischen Systems darstellte.<br />
167
168<br />
Eine verwandte und ebenfalls nicht allzu seltene Situation stellt die Untersuchung<br />
einer Theorie dar, in der die Beobachtungen mehrdeutig sind. Hier kann<br />
eine detaillierte Passung zwischen einer theoretischen Vorhersage und einer Beobachtung<br />
sowohl die Theorie <strong>als</strong> auch die Interpretation der Beobachtung bestatigen,<br />
wahrend das Nichterreichen einer solchen Passung lediglich darauf hinweist,<br />
dass noch einiges zu tun bleibt. Bin Beispiel ist der Einsatz eines Elektronenmikroskops<br />
zur Beobachtung von Dislokationen (Versetzungen) in Kristallen.<br />
Diese Dislokationen, Abweichungen von der ansonsten regelmaBigen Anordnung<br />
von Atomen in kristallinen Korpern, wurden aus theoretischen Griinden in der<br />
Mitte der 1930er Jahre vorhergesagt, um der Festigkeit, Dehnbarkeit und Plastizitat<br />
solcher Objekte Rechnung zu tragen. Waren kristalline <strong>Strukturen</strong> vollig gleichmaBig,<br />
waren die Krafte zwischen den Kristallgittem zu stark, um die bekannte<br />
Festigkeit und Formbarkeit zuzulassen.<br />
In den 1950er Jahren waren Elektronenmikroskope in ihrer Entwicklung so<br />
weit, dass einige annahmen, dass Kristallgitter und Dislokationen mit ihnen<br />
beobachtet werden konnten, obwohl die Theorie der Interaktion zwischen Elektronen<br />
und Kristallproben noch nicht ausreichend genug entwickelt war, um eine<br />
defmitive Vorhersage in die eine oder andere Richtung zu erlauben. 1956 produzierten<br />
Menter (1956) wie auch Hirsch und Mitarbeiter (1956) Bilder mit dem<br />
Elektronenmikroskop, auf denen sie Dislokationen identifizierten. Manche der<br />
Wege, die sie einschlugen, um diese Interpretation der komplexen Bilder zu<br />
rechtfertigen, erinnern stark an die Techniken, die von den Neuen Experimentalisten<br />
hervorgehoben werden. So wurden zum Beispiel die Folgen praktischer Eingriffe,<br />
wie die Biegung von Kristallen, beobachtet und festgestellt, dass sie mit der<br />
Annahme tibereinstimmten, bei den Bildern handle es sich um Darstellungen von<br />
Kristallgittem, und die Effekte verschiedener physikalischer Prozesse, wie Rontgenstrahl-<br />
und Elektronenbeugung, erbrachten sich wechselseitig untersttitzende<br />
Ergebnisse. Das AusmaB, in dem Theorie und Beobachtung tibereinstimmten,<br />
diente dazu, beide zu bestatigen. Menter wendete zum Beispiel die Theorie des<br />
Mikroskops von Abbe auf die Erzeugung von Kristallgitter-Bildem durch Elektronen<br />
an. Die signifikante Obereinstimmung zwischen seinen Vorhersagen und den<br />
zu beobachtenden Mustern zog er heran, um sowohl seine Theorie <strong>als</strong> auch die<br />
Interpretation der Bilder <strong>als</strong> Darstellungen von Kristallgittem zu bestatigen. Auch<br />
Hirsch zog die Beobachtung, dass sich Dislokationen genauso bewegten, wie es<br />
die im Moment aktuelle Theorie vorhersagte, dazu heran, um sowohl die Theorie<br />
<strong>als</strong> auch die Tatsache, dass die Darstellungen Dislokationen zeigen, zu bestatigen.<br />
In all diesen Fallen stellt die Ubereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung<br />
eine bedeutsame Unterstutzung der Theorie dar. Andererseits waren die<br />
experimentellen Situationen derart diffus und missverstandlich, dass sie andere<br />
Erklamngen des Scheitems zulieBen <strong>als</strong> die, die von der zu iiberprufenden Theorie<br />
zu Dislokationen nahe gelegt wird. Vermutlich kann von den hier beschriebenen<br />
Situationen erwartet werden, dass ihr Auftreten in der experimentellen Wissenschaft<br />
durchaus tiblich ist.
Mayos Charakterisierung von strengen Uberpnifungen lasst sich gut auf diese<br />
Beispiele anwenden.^^ ^[Q wtirde fragen, ob es wahrscheinlich sei, dass eine Bestatigung<br />
auftreten konne, wenn die Theorie f<strong>als</strong>ch sei. In beiden Fallen, dem<br />
Beispiel zu Kopemikus und dem zu Dislokationen, ist die Antwort, dass dies sehr<br />
unwahrscheinlich sei. In der Folge werden die jeweiligen <strong>Theorien</strong> durch das<br />
beobachtete Zusammentreffen von theoretischer Vorhersage und Beobachtung in<br />
bedeutsamem Umfang unterstiitzt. Mayos Konzeption einer strengen Uberpriifung<br />
befindet sich daher im Einklang mit der wissenschaftlichen Praxis.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Hackings Buch ^Einfuhrung in die Philosophie der Naturwissenschaftert' (1996,<br />
engl. Orig. 1983) stellt eine Pionierleistung des Neuen Experimentalismus dar.<br />
Andere wichtige Arbeiten zum Neuen Experimentalismus wurden von Franklin<br />
(1986, 1990), Galison (1987, 1997) und Gooding (1990) vorgelegt. Eine Zusammenfassung<br />
der Position des Neuen Experimentalismus bietet Ackermann (1989).<br />
Die anspruchsvollste Verteidigung des Ansatzes leistet Mayo (1996).<br />
^^ Urspninglich wahlte ich die Falle auch <strong>als</strong> Gegenbeispiele zu Mayos Standpunkt, aber sie uberzeugte<br />
mich in personlicher Korrespondenz vom Gegenteil.<br />
169
14.1 Einleitung<br />
14<br />
Warum soUte die Welt<br />
Gesetzen folgen?<br />
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit epistemologischen Fragen<br />
auseinandergesetzt, wie wissenschaftliche Erkenntnis durch Bezugnahme auf<br />
Evidenz gerechtfertigt werden kann und wie die Natur dieser Evidenz beschaffen<br />
ist. In diesem und dem nachsten Kapitel werden wir uns ontologischen Fragen<br />
iiber das in der Welt Existierende zuwenden. Welche Arten von Entitaten werden<br />
von der modemen Wissenschaft <strong>als</strong> in der Welt existent vermutet oder <strong>als</strong> belegt<br />
angenommen? Teilweise ist eine Antwort auf diese Frage bisher in diesem Buch<br />
<strong>als</strong> selbstverstandlich vorausgesetzt worden. Es wurde <strong>als</strong> selbstverstandlich erachtet,<br />
dass es so etwas wie Gesetze gibt, die das Verhalten der Welt leiten, und<br />
dass es Aufgabe der Wissenschaft ist, diese zu entdecken. In diesem Kapitel wird<br />
es darum gehen, welche Art von Entitat diese Gesetze sind.<br />
Die Idee, dass die Welt von Gesetzen geleitet ist, die von der Wissenschaft<br />
entdeckt werden sollen, ist banal. Dennoch ist die Frage, worauf diese Idee hinauslauft,<br />
nicht unproblematisch. Ein ftmdamentales Problem wurde im 17. Jahrhundert<br />
von Robert Boyle deutlich gemacht. Der Begriff des Gesetzes stammt aus dem<br />
sozialen Bereich, wo es eine eindeutige Bedeutung hat. Gesellschaftliche Gesetze<br />
werden von Individuen, die diese Gesetze verstehen konnen und sich der Konsequenzen<br />
ihrer Verletzung bewusst sind, beft)lgt oder nicht. Wie kann jedoch, ft)lgt<br />
man diesem Verstandnis von Gesetzen, von materiellen Systemen in der Natur gesagt<br />
werden, dass sie Gesetzen gehorchen? Bei ihnen kann schwerlich davon ausgegangen<br />
werden, dass sie die Gesetze, denen sie gehorchen sollen, verstehen.<br />
Auf jeden Fall wird von fundamentalen Gesetzen der Wissenschaft angenommen,<br />
dass sie keine Ausnahmen haben, sodass es kein Korrelat einer individuellen<br />
Verletzung von Gesetzen und der Ubemahme von Verantwortung gibt. Was ist es,<br />
das Materie dazu bringt, Gesetzen zu entsprechen. Es scheint, <strong>als</strong> ware dies eine<br />
angemessene und einfache Frage, und dennoch ist sie nicht leicht zu beantworten.<br />
Es muss festgestellt werden, dass Boyles Antwort, namlich dass Gott die Materie<br />
<strong>als</strong> etwas erschaffen hat, das den von ihm verftigten Gesetzen gehorcht, aus heutiger<br />
Sicht unbefriedigend ist. Wir wollen sehen, ob wir Besseres bieten konnen.
172<br />
14.2 Gesetze <strong>als</strong> RegelmaBigkeiten<br />
Eine tibliche Antwort auf die Frage „Was bringt Materia dazu, Gesetzen zu entsprechen?"<br />
ist, ihre Legitimitat zu leugnen. Die hier angesprochene Denkweise<br />
wurde von dem heute noch einflussreichen Philosophen David Hume vehement<br />
vertreten. Aus Humes Sicht ist es ein Fehler anzunehmen, dass gesetzmaBiges<br />
Verhalten durch irgendetwas verursacht wird. Tatsachlich stellt er das Konzept<br />
des Verursachungsprinzips in der Natur insgesamt infrage. Der Gedanke ist Folgender:<br />
Wenn wir zum Beispiel zwei Billardkugeln zusammenstoBen sehen, konnen<br />
wir ihre Bewegungen unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Zusammenprall<br />
sehen, und eventuell eine RegelmaBigkeit des Zusammenhangs zwischen den<br />
Geschv^indigkeiten vor und nach dem Au:^rall erkennen. Was wir jedoch nie<br />
sehen konnen, ist die Verursachung dieser RegelmaBigkeit. Aus dieser Perspektive<br />
ist Verursachung nichts anderes <strong>als</strong> ein regelmaBiges Zusammentreffen von Ereignissen.<br />
Gesetze konnen die Form „Ereignisse des Typs A hangen unvermeidbar<br />
zusammen mit Ereignissen des Typs B oder gehen diesen voraus" annehmen.<br />
Galileis Fallgesetz wtirde dann zum Beispiel folgendermaBen lauten: „Immer<br />
wenn ein schweres Objekt in der Nahe der Erdoberflache losgelassen wird, fallt es<br />
mit gleichbleibender Beschleunigung zur Erde". Das ist das Prinzip der Regelma<br />
Bigkeit von Gesetzen. Nichts bewegt Materie dazu, sich Gesetzen entsprechend zu<br />
verhalten, wie Gesetze nichts anderes sind <strong>als</strong> de facto auftretende RegelmaBigkeiten<br />
von Ereignissen.<br />
Ein Standardeinwand gegen das Prinzip der RegelmaBigkeit von Gesetzen ist,<br />
dass es nicht zwischen zufalligen und gesetzesartigen RegelmaBigkeiten unterscheidet.<br />
Popper zieht <strong>als</strong> Beispiel die Aussage „Kein Moa lebt langer <strong>als</strong> 50 Jahre"<br />
heran. Es ist gut moglich, dass kein Moa, eine inzwischen ausgestorbene Spezies,<br />
langer <strong>als</strong> 50 Jahre gelebt hat, aber bei einigen, die gUnstigere Umgebungsbedingungen<br />
gehabt hatten, mag dies durchaus der Fall gewesen sein, sodass wir<br />
geneigt sind, diese Generalisierung nicht <strong>als</strong> Naturgesetz gelten zu lassen. Dennoch<br />
qualifiziert sie sich durch ihre ausnahmslose RegelmaBigkeit <strong>als</strong> Gesetz. Es<br />
mag wohl sein, dass die Londoner Arbeiter immer, wenn die Fabriksirene am<br />
Ende eines Arbeitstages in Manchester heult, ihre Werkzeuge zur Seite legen.<br />
Dennoch qualifiziert sich dieser Vorgang, auch wenn er ohne Ausnahmen regelmaBig<br />
stattfmdet, kaum <strong>als</strong> Naturgesetz. Beispiele wie dieses gibt es im Uberfluss<br />
und sie legen nahe, dass Gesetze mehr sind <strong>als</strong> reine RegelmaBigkeit. Ein anderes<br />
Problem des Prinzips der RegelmaBigkeit besteht darin, dass es nicht in der Lage<br />
ist, die Richtung kausaler Abhangigkeiten zu identifizieren. Es gibt ein regelmaBiges<br />
Zusammentreffen zwischen dem Rauchen und dem Auftreten von Lungenkrebs,<br />
aber das ist so, weil Rauchen Lungenkrebs verursacht und nicht umgekehrt.<br />
Wir konnen daher hoffen, das Auftreten von Krebs zu verringern, indem wir das<br />
Rauchen verhindem. Nicht zu erhoffen ist jedoch, dass das Rauchen dadurch<br />
bekampft werden kann, dass wu* ein Mittel gegen Krebs fmden. Das Auftreten von<br />
RegelmaBigkeiten von Ereignissen ist keine hinreichende Bedingung daftir, dass<br />
RegelmaBigkeiten Gesetze darstellen, weil gesetzmaBiges Verhalten mehr ist <strong>als</strong><br />
reine RegelmaBigkeit.
Unabhangig davon, dass RegelmaBigkeit keine hinreichende Bedingung fur<br />
Gesetze ist, legen einfache Uberlegungen zu Gesetzen, wie sie sich in der Wissenschaft<br />
darstellen, den Gedanken nahe, dass RegelmaBigkeit nicht einmal eine<br />
notwendige Bedingung ist. Wtirde die Sichtweise, die Gesetze <strong>als</strong> ausnahmsloses<br />
regelmaBiges Zusammentreffen von Ereignissen beschreibt, ernst genommen,<br />
qualifizierten sich keine derjenigen Aussagen, die typischerweise <strong>als</strong> wissenschaftliche<br />
Gesetze gelten, <strong>als</strong> solches. Eines dieser Gesetze ist das oben erwahnte<br />
Fallgesetz von Galilei. Herbstlaub fallt selten mit gleichbleibender Beschleunigung<br />
zu Boden. In einer undifferenzierten Sichtweise von RegelmaBigkeit ware<br />
das Gesetz f<strong>als</strong>ch. Auf ahnliche Art wird das archimedische Prinzip, nach dem<br />
Objekte, die eine hohere Dichte <strong>als</strong> Wasser haben, sinken, durch eine auf der Wasseroberflache<br />
treibende Stecknadel widerlegt.<br />
Wtirden Gesetze <strong>als</strong> RegelmaBigkeiten ohne Ausnahmen verstanden, dann<br />
ware es mangels geeigneter RegelmaBigkeiten sehr schwer, emstzunehmende<br />
Kandidaten fiir Gesetze zu fmden. Mehr noch, die meisten Generalisierungen, die<br />
in der Wissenschaft <strong>als</strong> Gesetze angesehen werden, scheiterten daran, sich <strong>als</strong><br />
solche zu qualifizieren.<br />
Aus dem Blickwinkel wissenschaftlicher Praxis und entsprechend der allgemeinen<br />
Sichtweise dieses Sachverhaltes gibt es eine einfache Antwort auf diese<br />
Beobachtungen. Es ist allgemein verstandlich, warum Herbstlaub nicht gleichma-<br />
Big zu Boden fallt. Es wird von Luftzug und Luftwiderstand beeinflusst, die, genauso<br />
wie die Oberflachenspannung fur eine untergehende Nadel, Storvariablen<br />
darstellen. Weil Storvariablen physikalische Prozesse behindem, werden physikalische<br />
Gesetze, die solche Prozesse charakterisieren, unter kunstlichen experimentellen<br />
Bedingungen untersucht. Storungen werden dabei eliminiert oder kontrolliert.<br />
Ftir die Wissenschaft relevante RegelmaBigkeiten, die Indikatoren fiir<br />
gesetzmaBiges Verhalten sind, sind typischerweise hart erarbeitete Ergebnisse<br />
detaillierter Experimente. Denken wir zum Beispiel daran, wie lange Henry<br />
Cavendish daran arbeiten musste, um zu dem Arrangement der sich anziehenden<br />
Bleikugeln zu gelangen, die das reziprok-quadratische Gesetz der Massenanziehung<br />
demonstrieren sollte und wie es Thomson endlich gelang, regelmaBige Ablenkungen<br />
bewegter Elektronen in einem elektrischen Feld aufzuzeigen, woran<br />
Hertz gescheitert war.<br />
Eine nahe liegende Antwort, die die Verteidiger des RegelmaBigkeits-Ansatzes<br />
auf diese Beobachtungen geben konnen, ist die Neuformulierung der Sichtweise<br />
in einer konditionalen Form. In diesem Sinne konnten Gesetze folgendermaBen<br />
formuliert werden: „Ereignisse des Typs A gehen regelmaBig Ereignissen<br />
des Typs B voraus oder werden von ihnen begleitet, vorausgesetzt, es gibt keine<br />
Storfaktoren." So wtirde Galileis Fallgesetz folgendermaBen lauten: „Schwere<br />
Objekte fallen mit gleichbleibender Beschleunigung zur Erde, vorausgesetzt, sie<br />
treffen nicht auf einen Widerstand oder werden nicht durch Winde oder andere<br />
Storfaktoren abgelenkt." Der Ausdruck „andere Storfaktoren" verweist auf das<br />
generelle Problem, wie eine prazise Aussage zu den Bedingungen, auf die ein<br />
Gesetz anwendbar ist, formuliert werden kann. Diese Schwierigkeit soil jedoch<br />
nicht weiter vertieft werden, weil vermutet werden kann, dass der RegelmaBigkeits-Ansatz<br />
mit weitaus fundamentaleren Problemen konfi-ontiert ist. Wenn wir<br />
173
174<br />
die Charakterisierung von Gesetzen <strong>als</strong> konditionale RegelmaBigkeiten akzeptieren,<br />
mtissen wir auch akzeptieren, dass diese Gesetze nur angewendet werden<br />
konnen, wenn diese Konditionen erfiillt sind. Da die Erfiillung geeigneter Bedingungen<br />
normalerweise nur im Rahmen spezieller experimenteller Designs moglich<br />
ist, mussen wir folgern, dass wissenschaftliche Gesetze generell nur auf experimentelle<br />
Situationen, nicht jedoch auBerhalb von diesen angewendet werden konnen.<br />
Von Galileis Fallgesetz wird dann angenommen, dass es nur angewendet<br />
werden kann, wenn schwere Objekte unter Bedingungen fallen gelassen werden,<br />
in denen der Luftwiderstand und Ahnliches ausgeschaltet wurde. Entsprechend<br />
dieser revidierten Form des RegelmaBigkeits-Ansatzes, kann <strong>als</strong>o Galileis Fallgesetz<br />
auf Herbstlaub nicht angewendet werden. Widerspricht dies nicht unserer<br />
intuitiven Einschatzung? Wiirden wir nicht sagen wollen, dass Herbstlaub zwar<br />
dem Fallgesetz gehorcht, ebenso aber Gesetzen zum Luftwiderstand und der<br />
Aerodynamik, sodass der resultierende Fall das komplizierte Ergebnis einer Reihe<br />
ineinandergreifender Gesetze ist. Weil der RegelmaBigkeits-Ansatz in seiner konditionalen<br />
Form auf die Anwendbarkeit von Gesetzen in experimentellen Situationen<br />
beschrankt ist, kann er nichts liber Situationen auBerhalb solcher experimenteller<br />
Bedingungen aussagen. Aus diesem Blickwinkel ist die Wissenschaft nicht<br />
in der Lage, Auskunft dartiber zu geben, warum Herbstlaub tiblicherweise auf dem<br />
Boden landet.<br />
Diese Schwierigkeit entsteht, wenn der Neue Experimentalismus <strong>als</strong> etwas<br />
gesehen wird, das alles abdeckt, was iiber wissenschaftliche Erkenntnis gesagt<br />
werden kann. Im vorangegangenen Kapitel haben wu* gesehen, dass der Neue<br />
Experimentalismus im strengen Sinne Fortschritt der Wissenschaft <strong>als</strong> standiges<br />
Anwachsen experimentellen Wissens beschreibt. BelieBe man es dabei, konnte<br />
nichts dartiber ausgesagt werden, wie Wissen, das im Rahmen von Experimenten<br />
gewonnen wurde, auf Situationen auBerhalb dieser Experimente ubertragen und<br />
nutzbar gemacht werden kann. Wie konnen wir die Anwendung physikalischer<br />
Gesetze durch Ingenieure, den Einsatz radioaktiver Datierung in der historischen<br />
Geologic Oder die Anwendung der Theorie Newtons auf die Bewegung von<br />
Kometen erklaren? Wenn von wissenschaftlichen Gesetzen angenommen wird,<br />
dass sie sich genauso gut auBerhalb wie innerhalb experimenteller Situationen<br />
anwenden lassen, dann konnen sie nicht mit den RegelmaBigkeiten, die im Rahmen<br />
von Experimenten moglich sind, gleichgesetzt werden. Der RegelmaBigkeits-<br />
Ansatz von Gesetzen fiinktioniert nicht.<br />
14.3 Gesetze <strong>als</strong> Charakterisierungen von Potenzial oder Dispositionen<br />
Es gibt eine einfache Losung der bisher diskutierten Probleme der Natur von Gesetzen.<br />
Das bedeutet, etwas implizit Wissenschaftsimmanentes emstzunehmen,<br />
namlich, dass die materielle Welt aktiv ist. Dinge geschehen in der Welt aus sich<br />
selbst heraus, und sie geschehen, weil die Gegebenheiten der Welt die Kapazitat,<br />
Disposition oder Tendenz bzw. das Potenzial besitzen, sich so zu verhalten, wie<br />
sie es tun. Balle springen, weil sie elastisch sind. Wamungen auf Containem, die<br />
erklaren, dass der Inhalt giftig, brennbar oder explosiv sei, sagen etwas uber das
Potenzial des Inhalts aus. Die Spezifikation der Masse oder der Ladung eines<br />
Elektrons zeigt an, wie es auf elektrische oder magnetische Felder reagieren wird.<br />
Ein wichtiger Aspekt alles Materiellen besteht in dem, was es in der Lage ist, zu<br />
tun oder zu werden. Wie Aristoteles richtig beobachtete, miissen wir die Dinge<br />
sowohl mittels ihres Potenzi<strong>als</strong> <strong>als</strong> auch mittels dessen, was sie aktuell sind, charakterisieren.<br />
Genauso wie es ein wichtiger Aspekt der Eichel ist, zu einer Eiche<br />
heranwachsen zu konnen, ist es ein wichtiger Aspekt eines Elektrons, dass es die<br />
Moglichkeit hat, ungleiche Ladungen anzuziehen und abzustoBen oder Strahlung<br />
abzugeben, wenn es beschleunigt wird. Wir experimentieren mit Systemen, um<br />
herauszufinden, zu welchem Verhalten sie in der Lage sind.<br />
Lassen wir so etwas wie Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten<br />
<strong>als</strong> Kennzeichen materieller Systeme zu, konnen Naturgesetze herangezogen<br />
werden, um diese Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten zu charakterisieren.<br />
Galileis Fallgesetz beschreibt die Disposition schwerer Objekte, mit<br />
gleichbleibender Beschleunigung zu Boden zu fallen, und Newtons Gravitationsgesetz<br />
beschreibt die Kraft der Anziehung zwischen festen Korpern. Werden Gesetze<br />
auf diese Weise interpretiert, muss nicht mehr erwartet werden, dass Gesetze<br />
Ereignissequenzen beschreiben, well diese Ereignisse iiblicherweise das Ergebnis<br />
verschiedener Dispositionen, Tendenzen, Potenziale und Kapazitaten sind, die auf<br />
komplexe Art interagieren. Die Tatsache, dass die Tendenz von Laub, entsprechend<br />
Galileis Gesetz, zu Boden zu fallen, durch die Wirkung des Windes tiberlagert<br />
wird, ist kein Grund in Zweifel zu ziehen, dass die Tendenz zu fallen weiterhin<br />
dem Blatt innewohnt. Aus dieser Perspektive ist es einfach nachzuvollziehen,<br />
warum das Experiment wichtig ist, um die zur Identifikation eines Gesetzes relevanten<br />
Informationen zusammenzutragen. Die mit einem zu untersuchenden Gesetz<br />
korrespondierenden Tendenzen mussen von anderen Tendenzen getrennt<br />
werden. Hierfiir sind geeignete Interventionen erforderlich. Bedenkt man die UnregelmaBigkeiten<br />
der Ozeanboden sowie die Anziehung der Sonne, der Planeten<br />
und des Mondes, kann man nicht hoffen, mithilfe Newtons Theorie sowie einiger<br />
Anfangsbedingungen eine prazise Berechnung von Ebbe und Flut zu erhalten.<br />
Dennoch ist die Gravitation die Hauptursache von Ebbe und Flut, und es gibt<br />
geeignete Experimente, das Gravitationsgesetz zu identifizieren.<br />
Aus dieser Perspektive halte ich daran fest, dass Ursachen und Gesetze eng<br />
verkniipft sind. Ereignisse werden durch die Aktionen einzelner Umstande verursacht,<br />
die das Potenzial haben, <strong>als</strong> Verursacher zu wirken. Die Anziehungskraft<br />
des Mondes ist die Hauptursache fur Ebbe und Flut, geladene Teilchen verursachen<br />
die lonisierung, die fur die Spuren in Nebelkammem verantwortlich sind,<br />
und oszillierende Ladungen verursachen Radiowellen, die von einem Sender ausgehen.<br />
Beschreibungen des Verhaltens der aktiven Krafte, die in solchen Fallen<br />
involviert sind, konstituieren Naturgesetze. Das Gravitationsgesetz beschreibt<br />
quantitativ die Fahigkeit von Massen, andere Massen anzuziehen, und die Gesetze<br />
der klassischen Elektrodynamik beschreiben unter anderem die Fahigkeit geladener<br />
Korper, Materie anzuziehen und Strahlung abzugeben. Es ist das in der Natur<br />
wirkende Potenzial, das Gesetze wahr macht, wenn sie wahr sind. Damit haben<br />
wir eine Antwort auf Boyles Frage. Es ist das Potenzial und die Kapazitat alles<br />
Materiellen, das es dazu zwingt, sich in LFbereinstimmung mit Gesetzen zu ver-<br />
175
176<br />
halten. GesetzmaBiges Verhalten wird durch effiziente Verursachung hervorgemfen.<br />
Damit muss nicht, wie von Boyle, Gott zur Erklamng herangezogen werden.<br />
Die Mehrzahl der Philosophen scheint eine Ontologie, die Dispositionen oder<br />
Potenziale mit einbezieht, nur widerwillig zu akzeptieren. Ich verstehe ihren<br />
Widerwillen nicht. Die Griinde sind vielleicht zum Teil historischer Natur. Der<br />
Potenzialbegriff ist durch die mystische und unklare Art, in der er in der magischen<br />
Tradition der Renaissance verwandt wurde, in Misskredit geraten, und den<br />
Aristotelikern wurde ein etwas sorgloser Umgang mit dem Begriff vorgeworfen.<br />
Boyles Zurtickweisung von aktiven Eigenschaften im Rahmen seiner „mechanischen<br />
Philosophic" kann <strong>als</strong> Reaktion, vielleicht auch <strong>als</strong> tJberreaktion, auf die<br />
Auswuchse dieser Tradition oder auch <strong>als</strong> theologisch bedingt verstanden werden.<br />
Dennoch muss nichts Mysterioses oder epistemologisch Suspektes in der Bezugnahme<br />
auf Potenziale, Tendenzen usw. liegen. Aussagen dazu konnen genauso<br />
Gegenstand stringenter empirischer tiberprufiing sein wie jede andere Aussage.<br />
Wie wenig Philosophen auch immer geneigt sein mogen, Dispositionen anzunehmen,<br />
Wissenschaftler beziehen sich dennoch systematisch auf sie, und ihre Arbeit<br />
ware ohne sie undenkbar. Zu Boyle sei an dieser Stelle angemerkt, dass er im<br />
Gegensatz zu seiner mechanistischen Philosophic im Rahmen seiner experimentellen<br />
Arbeiten groBztigig auf Dispositionen wie Saurehaltigkeit und Elastizitat<br />
von Luft zurtickgreift. Die verschiedenen Formen der Elastizitat stellten fur die<br />
mechanistischen Philosophen des 17. Jahrhunderts eine Herausforderung dar.<br />
Hobbes beklagte, dass Boyles Annahme der Elastizitat von Luft gleichbedeutend<br />
sei mit dem Eingestandnis, dass sich Luft aus sich selbst heraus bewegen konne.<br />
Boyle und andere Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts verwendeten das Konzept<br />
der Elastizitat weiter, und es gelang ihnen nicht, es ohne Bezugnahme auf Dispositionen<br />
zu erklaren. Dies ist bis heute niemandem gelungen. Mir ist unverstandlich,<br />
aus welchen Grunden Philosophen das Bediirfnis versptiren, die allgemein<br />
ubliche, ubiquitare Nutzung von Dispositionen durch Wissenschaftler infrage zu<br />
stellen oder wegerklaren zu wollen.<br />
Die Sichtweise, dass Gesetze Dispositionen, Potenziale, Kapazitaten oder<br />
Tendenzen von Materiellem charakterisieren, hat den Vorteil, dass von Anfang an<br />
anerkannt wird, was impliziter Bestandteil jeder wissenschaftlichen Praxis ist,<br />
namlich, dass die materielle Welt aktiv ist. Sie macht deutlich, was dazu flihrt,<br />
dass sich Systeme Gesetzen entsprechend verhalten und stellt eine Verbindung<br />
zwischen Kausalitat und Gesetzen her. Sie bietet auch eine Losung der un vorausgegangenen<br />
Kapitel behandelten Probleme der Ubertragbarkeit von Wissen, das in<br />
experimentellen Situationen gewonnen wurde, auf andere Situationen. Wird angenommen,<br />
dass die Entitaten dieser Welt das sind, was sie sind, weil sie das Potential<br />
bzw. die Disposition dazu haben - und ich behaupte, dass dies impliziter<br />
Bestandteil der Wissenschaft <strong>als</strong> auch des taglichen Lebens ist - kann von den<br />
Gesetzen, welche die in experimentellen Situationen identifizierten Potentiale und<br />
Kapazitaten beschreiben, angenommen werden, dass sie auch auBerhalb dieser<br />
Situationen angewendet werden konnen. Dennoch kann ich es nicht guten Gewissens<br />
bei dieser Aussage belassen, da es wichtige wissenschaftliche Gesetze gibt,<br />
die nicht in dieses Schema passen.
14.4 Thermodynamische Gesetze und Erhaltungssatze<br />
Die im vorausgegangenen Abschnitt vorgestellte und begrtindete Sichtweise, nach<br />
der Gesetze <strong>als</strong> Charakterisierungen kausaler Potenziale verstanden werden, soil<br />
im Weiteren die kausale Sichtweise von Gesetzen genannt werden. Einige wichtige<br />
Gesetze der Physik passen nicht in dieses Schema. Dazu zahlen der erste und<br />
zweite Hauptsatz der Thermodynamik und eine Reihe von Erhaltungsgesetzen der<br />
Elementarteilchenphysik. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass<br />
die Energie eines abgeschlossenen Systems konstant ist. Der zweite Satz, nach<br />
dem die Entropie eines abgeschlossenen Systems nicht abnehmen kann, gewahrleistet,<br />
dass Warme nicht von selbst aus einem kalteren in einen warmeren Korper<br />
ubergeht und schlieBt die Moglichkeit aus, Warme zur Verrichtung von Arbeit aus<br />
dem Meer zu Ziehen, wobei lediglich das Wasser abgekuhlt wurde. Eine Maschine,<br />
der dies gelingen wtirde, ware ein Perpetuum mobile zweiter Art. Im Gegensatz<br />
dazu ware einer Maschine, die zu einem Netto-Zuwachs an Energie fuhrt,<br />
ein Perpetuum mobile erster Art. Das erste Gesetz der Thermodynamik schlieBt<br />
Perpetua mobilia der ersten Art aus, das zweite Gesetz der Thermodynamik Perpetua<br />
mobilia der zweiten Art. Diese recht allgemeinen Gesetze haben Folgen fur<br />
das Verhalten physikalischer Systeme und konnen genutzt werden, um ihr Verhalten<br />
weitgehend unabhangig von den Details der wirkenden kausalen Prozesse<br />
vorauszusagen. Sie konnen daher nicht <strong>als</strong> kausale Gesetze bezeichnet werden.<br />
Mithilfe eines Beispiels soil dieser Aspekt illustriert werden. Ist Eis hoherem<br />
Druck ausgesetzt <strong>als</strong> dem normalen atmospharischen, sinkt sein Schmelzpunkt.<br />
Das ist der Grund dafur, warum ein Draht, an dem Gewichte befestigt sind, durch<br />
einen Eisblock schneidet. Auf molekularer Ebene ist eine Erklarung dafiir nicht<br />
einfach. Da Druck Molektile naher zueinander bringt, konnte man erwarten, dass<br />
die Anziehungskrafte untereinander unter solchen Umstanden zunehmen, was<br />
dazu fuhren wtirde, dass die Warmeenergie, die benotigt wird, um die Molektile<br />
beiseite zu schieben, ansteigt, was wiederum zu einem Anstieg des Schmelzpunktes<br />
fiihren wurde. Das ist genau das, was in typischen Feststoffen nahe dem<br />
Schmelzpunkt stattfindet. Eis ist jedoch kein typischer Feststoff. Wassermolektile<br />
sind im Eis eher weniger komprimiert <strong>als</strong> im fltissigen Zustand, weswegen Eis<br />
eine niedrigere Dichte hat <strong>als</strong> Wasser. (Das ist gut so, denn andemfalls wurden<br />
Seen und Fltisse vom Grund her zufrieren, bei langeren Kalteperioden sogar vollstandig,<br />
und Fische und andere Lebewesen wtirden ausgeloscht.) Wenn die Molektile<br />
im Eis starker <strong>als</strong> normalerweise komprimiert werden, nehmen die Krafte<br />
zwischen ihnen ab, wodurch weniger Energie benotigt wu-d, um sie zu trennen,<br />
und der Schmelzpunkt fallt. Die genaue Art und Weise, in der die Krafte von<br />
molekularen Positionen abhangen, ist kompliziert und steht im Zusammenhang<br />
mit Details der Quantenmechanik, wobei Austausch- <strong>als</strong> auch Coulomb-Krafte<br />
beteiligt sind, die nicht bis ins letzte Detail geklart sind.<br />
Bei den oben beschriebenen Problemen mag es tiberraschen, dass Thomson<br />
1849 in der Lage war, das Sinken des Gefrierpunkts von Wasser unter Druck<br />
vorherzusagen und dabei die empirische Entdeckung des Phanomens vorwegzunehmen.<br />
Alles was er dazu benotigte, waren die thermodynamischen Gesetze und<br />
die empirisch wohl bekannte Tatsache, dass Wasser eine hohere Dichte hat <strong>als</strong> Eis.<br />
177
178<br />
Thomson entwarf in Gedanken einen Kreisprozess, bei dem Wasser von 0° C<br />
Warme entzogen wurde, wodurch es in Eis von 0° C uberging. Es schien so, <strong>als</strong><br />
ware eine solche Maschine in der Lage, dem Wasser Warme zu entziehen und<br />
diese vollstandig in Expansionsarbeit umzuwandeln, was einem Perpetuum mobile<br />
zweiter Art entsprache, das der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ausschlieBt.<br />
Thomson stellte fest, dass dieser inakzeptable Schluss gegenstandslos ist, wenn<br />
angenommen wird, dass der Gefrierpunkt mit ansteigendem Druck sinkt.<br />
Der Aspekt dieses Falls, der hier betont werden soil, ist, dass Thomson seine<br />
Vorhersagen in Unkenntnis der Details kausaler Prozesse auf molekularer Ebene<br />
machte. Ein charakteristisches Merkmal und eine der Hauptstarken der Thermodynamik<br />
ist, dass sie sich unabhangig von den Details der zugrundeliegenden kausalen<br />
Prozesse auf der makroskopischen Ebene anwenden lassen. Genau dieses<br />
Merkmal verhindert, dass die thermodynamischen Gesetze <strong>als</strong> kausal bezeichnet<br />
werden konnen.<br />
Die Probleme der kausalen Sichtweise horen hier nicht auf. Das Verhalten<br />
eines mechanischen Systems kann verstanden und vorhergesagt werden, indem die<br />
Krafte, die auf jede Komponente des Systems einwirken, spezifiziert und die<br />
newtonschen Gesetze genutzt werden, um die Entwicklung des Systems zu verfolgen.<br />
Im Rahmen dieses Ansatzes konnen die newtonschen Gesetze <strong>als</strong> kausale<br />
Gesetze interpretiert werden, die die Disposition von Objekten beschreiben, spezifische<br />
Krafte auszutiben oder auf sie zu reagieren. Das ist jedoch nicht die einzige<br />
Moglichkeit des Umgangs mit mechanischen Systemen. Die mechanischen Gesetze<br />
konnen auch in einer Form formuliert werden, welche die Energie statt der<br />
Kraft zur primaren GroBe macht. In der hamiltonschen und lagrangeschen Formulierung<br />
der Mechanik, wo dieser Ansatz zugrundegelegt ist, ist lediglich nach<br />
Ausdrucken fur die potenzielle und die kinetische Energie eines Systems gefragt,<br />
die unabhangig von der speziellen Wahl des Koordinatensystems sind, in dem<br />
man die Teilchen beschreibt. Die Weiterentwicklung eines Systems kann dann<br />
vollstandig vorausgesagt werden, wenn diese Ausdriicke in die hamiltonsche oder<br />
lagrangesche Bewegungsgleichung eingesetzt werden, was ohne die detaillierte<br />
Kenntnis der beteiligten kausalen Prozesse moglich ist.<br />
James Clerk Maxwell (1965, S.783f), der versuchte seiner elektromagnetischen<br />
Theorie eine Lagrange entsprechende Form zu geben, illustriert diesen<br />
Punkt auf charakteristische Weise. Stellen wir uns einen Glockenturm mit einer<br />
komplizierten, durch an den Glocken befestigte Seile betriebene Maschinerie vor,<br />
die in den weiter unten befmdlichen Raum der Person reichen, die die Glocken<br />
bedient. Nehmen wir daruber hinaus an, dass die Anzahl der Seile der Anzahl der<br />
Freiheitsgrade des Systems entspricht. Das Potenzial und die kinetische Energie<br />
des Systems, das eine Funktion der Position und Geschwindigkeit der Seile ist,<br />
kann durch Experimente mit den Seilen festgestellt werden. Haben wir diese<br />
Funktionen gefunden, konnen wir sie in die lagrangesche Formel des Systems<br />
einsetzen. Ausgehend von der Position und der Beweglichkeit der Seile zu einem<br />
beliebigen Zeitpunkt ist es dann moglich, die Position und Beweglichkeit der Seile<br />
zu einem anderen Zeitpunkt zu erhalten. Wir benotigen dazu kein Wissen tiber die<br />
Details der Kausalitaten dessen, was auf dem Glockenturm passiert. Die lagrangesche<br />
Formel stellt kein kausales Gesetz dar.
Es mag eingewandt werden, dass die Beobachtungen zu dem lagrangeschen<br />
Verstandnis der Mechanik kein serioses Gegenbeispiel zur kausalen Sichtweise<br />
darstellt. Es kann darauf hingewiesen werden, dass weim ein lagrangescher Umgang<br />
mit der Mechanik gut funktioniert, obwohl er die detaillierten Kausalitaten<br />
der Mechanik im Inneren des Glockenturms ignoriert, dennoch Kausalitaten vorhanden<br />
sind, die im newtonschen und damit in kausalem Sinne formuliert werden<br />
konnen, sobald ein geeigneter empirischer Zugang zum Glockenturm moglich ist.<br />
Nach alledem mag beobachtet werden, dass Lagranges Berechnungen aus denen<br />
Newtons ableitbar sind.<br />
Die zuletzt gemachte Behauptung ist nicht mehr richtig (wenn sie es jem<strong>als</strong><br />
war). In der modemen Physik werden die Berechnungen Lagranges allgemeiner<br />
interpretiert <strong>als</strong> in der Version, die aus Newtons Gesetzen abgeleitet werden kann.<br />
Die beteiligten Energien schlieBen alle Formen von Energie ein, nicht nur die,<br />
welche von den Bewegungen fester Korper unter dem Einfluss von Kraften stammen.<br />
Zum Beispiel kann sich die Formulierung Lagranges auf elektromagnetische<br />
Energie beziehen, die geschwindigkeitsabhangige potenzielle Energie aufweist<br />
und solche Dinge benotigt, wie den elektromagnetischen Feldimpuls, der sich von<br />
dem Impuls „Masse mal Geschwindigkeit" unterscheidet. Wenn sie in der modernen<br />
Physik bis an ihre Grenzen genutzt werden, sind diese lagrangeschen (oder -<br />
damit verbunden - die hamiltonschen) Formulierungen nicht so geartet, dass sie<br />
durch die kausalen Ketten, die ihnen zugrundeliegen, ersetzt werden konnen. Zum<br />
Beispiel sind die verschiedenen, eng mit den Symmetrien der lagrangeschen Funktion<br />
verbundenen Erhaltungssatze, wie Erhaltung der Ladung und Paritat, nicht<br />
durch die zugrundeliegenden Prozesse erklarbar.<br />
Das Ergebnis all dessen kann folgendermaBen zusammengefasst werden:<br />
Eine Vielzahl physikalischer Gesetze kann <strong>als</strong> kausale Gesetze verstanden werden.<br />
Ist dies moglich, kann Boyles Frage danach, was physikalische Systeme dazu<br />
bewegt, sich entsprechend gewisser Gesetze zu verhalten, beantwortet werden. Es<br />
sind die Operationen der kausalen Potenziale und Kapazitaten, die Gesetze charakterisieren<br />
und die Systeme dazu bringen, ihnen zu gehorchen. Wir haben<br />
jedoch gesehen, dass es in der Physik fundamentale Gesetze gibt, die nicht <strong>als</strong><br />
kausale Gesetze konstruiert werden konnen. In diesen Fallen gibt es keine rasche<br />
Antwort auf Boyles Frage. Was bringt Systeme dazu, dem Gesetz der Energieerhaltung<br />
zu folgen? Ich weiB es nicht. Sie tun es eben. Ich bm mit dieser Situation<br />
nicht vollig zufrieden, sehe aber nicht, wie sie vermieden werden kann.<br />
Weiterfuhrende Literatur<br />
Zu einer anderen Sichtweise von Gesetzen <strong>als</strong> die hier charakterisierte und zu<br />
einer detaillierten Kritik der vorherrschenden Sicht siehe Armstrong (1983). Wie<br />
Experimente die kausale Sichtweise von Gesetzen deutlich machen, zeigt Bhaskar<br />
(1978). Cartwright (1983) druckt Zweifel an der Idee aus, dass es fundamentale<br />
Gesetze gibt, modifiziert jedoch ihre Sichtweise in einem Text von 1989, um uber<br />
die kausale Sicht hinaus anderes zu rechtfertigen. Die Diskrepanz zwischen dem,<br />
wie viele Philosophen Gesetze charakterisieren, und der Auffassung von praktisch<br />
179
180<br />
tatigen Wissenschaftlem, wird anhand einiger interessanter Beispiele von Christie<br />
(1999) beschrieben. Die Materialien dieses Kapitels stammen groBtenteils aus<br />
Chalmers (1999), wo sie etwas detaillierter behandelt werden. Eine weitere Diskussion<br />
der Natur von Gesetzen, ebenfalls jtingeren Datums, findet sich bei<br />
Fraassen(1989).
15.1 Einleitung<br />
15<br />
Realismus und Anti-Realismus<br />
Etwas vollig Selbstverstandliches an wissenschaftlicher Erkenntnis ist, dass sie<br />
uns eine Menge liber die Natur der Welt mitteilt, welches weit liber das hinausgeht,<br />
was an der Oberflache sichtbar ist. Sie sagt uns etwas liber Elektronen und<br />
DNA-Moleklile, die Blindelung von Licht in Gravitationsfeldem und sogar etwas<br />
liber die Bedingungen, die auf der Erde herrschten, weit bevor es menschliche<br />
Wesen gab, die sie beobachten konnten. Es ist nicht nur das Ziel von Wissenschaft,<br />
Erkenntnisse liber solche Dinge zu liefem, sondem im Wesentlichen ist es<br />
ihr auch gelungen. Wissenschaft beschreibt nicht nur die beobachtbare Welt,<br />
sondem auch die Welt, die hinter dem direkt Beobachtbaren liegt. Dies umreiBt<br />
grob, was Realismus in Bezug auf Wissenschaft bedeutet.<br />
Warum sollte jemand den Realismus leugnen wollen? Es gibt sicher viele gegenwartige<br />
Wissenschaftsphilosophen, die das tun. Eine Quelle des Zweifels am<br />
Realismus ist, dass Aussagen liber die nicht beobachtbare Welt in dem Umfang<br />
hypothetisch sind, in dem sie liber das hinausgehen, was auf der Basis von Beobachtung<br />
<strong>als</strong> sicher festgestellt werden kann. Realismus greift in Bezug auf Wissenschaft<br />
insofern zu kurz, <strong>als</strong> sie etwas beansprucht, was vemunftigerweise nicht<br />
verteidigt werden kann. Durch die Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte konnen<br />
diese Zweifel noch verstarkt werden. Viele <strong>Theorien</strong> der Vergangenheit, die<br />
Aussagen liber nicht beobachtbare Gegebenheiten gemacht hatten, stellten sich<br />
insofern <strong>als</strong> voreilig heraus, <strong>als</strong> sie widerlegt wurden. Beispiele bieten Nev^ons<br />
Teilchentheorie des Lichts, die Warmetheorie und ebenso die elektromagnetische<br />
Theorie von Maxwell, soweit sie behauptet, dass elektrische und magnetische<br />
Felder Zustande eines materiellen Athers sind. Obwohl die theoretischen Aspekte<br />
dieser Ansatze verworfen wurden, konnen Anti-Realisten geltend machen, dass<br />
die Telle, die auf Beobachtungen basieren, beibehalten wurden. Newtons Beobachtungen<br />
von chromatischen Abweichungen und Interferenzen, Coulombs Gesetz<br />
der Anziehung und AbstoBung geladener Korper und Faradays Gesetz elektromagnetischer<br />
Induktion sind fester Bestandteil der modemen Wissenschaft geworden.<br />
Der liberdauemde Teil der Wissenschaft ist derjenige, der auf Beobachtung
182<br />
und Experiment basiert. <strong>Theorien</strong> sind nichts anderes <strong>als</strong> Gertiste, die beiseite<br />
gelegt werden konnen, wetin sie keinen Nutzen mehr erbringen. Dies ist die typische<br />
Position des Anti-Realismus.<br />
So spiegelt die Position des Realismus die unhinterfragte Einstellung der<br />
meisten Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler wider, und Realisten werden<br />
fragen: „Wie ist es moglich, dass wissenschaftliche <strong>Theorien</strong>, die sich auf nichtbeobachtbare<br />
Gegebenheiten wie Elektronen und Gravitationsfelder beziehen, so<br />
erfolgreich sein konnen, wie es der Fall ist, wenn sie das Nicht-Beobachtbare nicht<br />
wenigstens annaherungsweise richtig beschreiben?" Der Anti-Realist dagegen<br />
macht die mangelnde Schlussigkeit von Befunden fiir den theoretischen Teil der<br />
Wissenschaft deutlich und weist darauf hin, dass es verntinftig ist, anzunehmen,<br />
dass das Gleiche fiir zuktinftige <strong>Theorien</strong> angenommen werden kann, was auch fiir<br />
vergangene <strong>Theorien</strong> gait, namlich dass sie sich <strong>als</strong> erfolgreich herausgestellt<br />
haben, obwohl sie keine korrekten Beschreibungen der Realitat waren. Diese<br />
Debatte soil in diesem Kapitel ausgefuhrt werden.<br />
15.2 Globaler Anti-Realismus: Sprache, Wahrheit und Realitat<br />
Es gibt eine haufig in der gegenwartigen Literatur anzutreffende Form der Realismus-Anti-Realismus-Debatte,<br />
die wenig hilfreich ist und sich in jedem Fall von<br />
der Debatte unterscheidet, die ich und andere fuhren mochten. Leser, die die generellen<br />
und abstrakten Begriffe dieser Diskussion weniger beeindrucken, konnen<br />
diesen Abschnitt ohne weiteres iiberblattem. Der „globale Anti-Realismus", wie<br />
ich ihn nennen mochte, wirft die Frage auf, wie es irgendeiner Sprache, der wissenschaftlichen<br />
inbegriffen, moglich sein soil, die Welt zu beschreiben. Seine<br />
Verteidiger bemerken die Unmoglichkeit, der Welt mit unserer Wahmehmung<br />
Oder auf irgendeinem anderen Weg zu begegnen, um Tatsachen zu gewinnen. Wir<br />
konnen die Welt nur aus der vom Menschen geschaffenen Perspektive sehen und<br />
in der Sprache unserer <strong>Theorien</strong> beschreiben. Wir smd fiir immer in der Sprache<br />
gefangen und konnen nicht ausbrechen, um die Realitat „direkt", unabhangig von<br />
unseren <strong>Theorien</strong>, zu beschreiben. Anti-Realisten leugnen, dass wir in irgendeiner<br />
Art und Weise Zugang zur Realitat hatten, nicht nur innerhalb der Wissenschaft.<br />
Es wird gegenwartig kaum einen seriosen Philosophen geben, der sagt, dass<br />
es moglich ist, der Welt allein mit unserer Wahmehmung zu begegnen, um so<br />
unmittelbar Tatsachen iiber sie zu gewinnen. Der Leser sei daran erinnert, dass wir<br />
bereits mit dem zweiten Kapitel jede derartige Idee hinter uns gelassen haben. In<br />
diesem Sinne sind wir alle Anti-Realisten, was jedoch nichts aussagt, weil es eine<br />
zu schwache These ist. Die These wird bedeutsamer, wenn das Fehlen eines<br />
direkten, unmittelbaren Zugangs zur Welt die Konsequenz hat, dass der Wissenschaft<br />
und der Erkenntnis generell eine skeptische Einstellung entgegengebracht<br />
wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass keine Erkenntnis eine irgendwie geartete<br />
privilegierte Position einnehmen konne, weil es uns an einem Zugang zur<br />
Welt mangelt, der dies rechtfertigen wtirde. Dieser Schritt ist nicht gerechtfertigt.<br />
Auch wenn es stimmt, dass wir die Welt nicht ohne einen konzeptuellen Referenzrahmen<br />
beschreiben konnen, konnen wir doch die Angemessenheit solcher Be-
schreibungen uberprufen, indem wir mit der Welt interagieren. Wir erfahren<br />
etwas iiber die Welt nicht nur, indem wir sie beobachten und beschreiben, sondern<br />
indem wir mit ihr in Interaktion treten. Wie in Kapitel 1 beschrieben, ist die Konstruktion<br />
von notwendigerweise linguistisch formulierten Aussagen iiber die Welt<br />
etwas anderes, <strong>als</strong> die Frage, ob sie wahr oder f<strong>als</strong>ch sind. Dem Wahrheitsbegriff<br />
wird im Rahmen der Realismusdebatte oft eine entscheidende Bedeutung beigemessen,<br />
sodass die Diskussion des Begriffs erforderlich ist.<br />
Die Wahrheitstheorie, die den Bedtirfhissen von Realisten am besten dient,<br />
ist die Korrespondenztheorie der Wahrheit}^ Die generelle Idee ist einfach und<br />
kann in allgemein bekannten Begriffen dargestellt werden, was sie beinahe etwas<br />
trivial erscheinen lasst. Nach der Korrespondenztheorie ist nur das wahr, was mit<br />
Tatsachen korrespondiert. Der Satz „Die Katze liegt auf der Matratze" ist wahr,<br />
wenn die Katze auf der Matratze liegt und f<strong>als</strong>ch, wenn sie es nicht tut. Bin Satz<br />
ist wahr, wenn Dinge so sind, wie es der Satz besagt, andemfalls ist er f<strong>als</strong>ch.<br />
Eine Schwierigkeit dieses Wahrheitsbegriffes liegt in der Leichtigkeit, mit<br />
dem er zu Paradoxien ftihren kann. Ein Beispiel hierfur bietet die sogenannte<br />
Lugner-Paradoxie. Wenn ich behaupte „Ich sage nie die Wahrheit", dann ist das,<br />
was ich gesagt habe, f<strong>als</strong>ch, wenn das, was ich behauptet habe, wahr ist! Ein anderes<br />
Beispiel lautet folgendermaBen: Stellen wir uns eine Karte vor, auf deren einen<br />
Seite geschrieben steht: „Der Satz auf der Rtickseite dieser Karte ist wahr", wahrend<br />
auf der anderen Seite steht: „Der Satz auf der Rtickseite ist f<strong>als</strong>ch". Nach<br />
einer kurzen Zeit des Nachdenkens kommen wir zu dem paradoxen Schluss, dass<br />
beide Satze entweder f<strong>als</strong>ch oder wahr sind.<br />
Der Logiker Alfred Tarski demonstrierte, wie fixr ein denkbar einfaches<br />
Sprachsystem Paradoxien vermieden werden konnen. Der entscheidende Schritt<br />
bestand in seiner Betonung der sorgfaltigen Unterscheidung zwischen Satzen des<br />
Sprachsystems, die etwas iiber Objekte aussagen, die „Objektsprache", und Satzen<br />
des Sprachsy stems, in der wir etwas iiber die Objektsprache aussagen, die „Metasprache",<br />
wenn wir Aussagen iiber die „Wahrheit" oder „F<strong>als</strong>chheit" von Satzen<br />
in irgendeiner Sprache machen. Folgen wir Tarski, dann miissen wir in Bezug auf<br />
die Kartenparadoxie entscheiden, ob die Satze auf der Karte zu dem Sprachsystem<br />
gehoren, uber das man spricht, oder zu dem Sprachsystem, in dem man spricht.<br />
Folgt man der Regel, dass jeder Satz entweder der Objekt- oder der Metasprache<br />
angehort, niem<strong>als</strong> jedoch beiden, dann kann sich keiner der beiden Satze gleichzeitig<br />
auf den jeweils anderen Satz beziehen, und es entsteht keine Paradoxic.<br />
Die grundlegende Idee von Tarskis Korrespondenztheorie liegt folglich darin,<br />
dass wir, wenn wir uber die Wahrheit eines Satzes einer bestimmten Sprache<br />
sprechen, eine iibergeordnete Sprache brauchen, die Metasprache, in der wir uns<br />
sowohl auf Satze der Objektsprache <strong>als</strong> auch auf die Tatsachen, mit denen die<br />
Satze der Objektsprache korrespondieren sollen, beziehen konnen. Tarski musste<br />
daruber hinaus nachweisen konnen, wie der Korrespondenzbegriff der Wahrheit<br />
systematisch fiir alle Satze der Objektsprache so entwickelt werden kann, dass<br />
Paradoxien vermieden werden. Dies war insofern eine technisch schwierige Aufgabe,<br />
weil es in jeder Sprache, die man untersucht, eine unendliche Zahl von Sat-<br />
^^ Auch „Adaquationstheorie" (Anm. d. Hrsg.)<br />
183
184<br />
zen gibt. Tarski loste dieses Problem fur Sprachen mit einer endlichen Anzahl<br />
einzelner Pradikate, wie „ist weiB" oder „ist ein Tisch". Seine Technik setzte es<br />
<strong>als</strong> gegeben voraus, dass ein Pradikat einem Objekt x zugeordnet werden kann.^^<br />
Beispiele aus der Umgangssprache klingen trivial. Das Pradikat „ist weiB" kann<br />
zum Beispiel dem Objekt x zugeordnet werden, wenn - und nur dann - das Objekt<br />
X weiB ist. Ausgehend von einem solchen Zuordnungsbegriff fur alle Pradikate<br />
einer Sprache, zeigt Tarski auf, wie der Wahrheitsbegriff auf dieser Grundlage fur<br />
alle Satze einer Sprache entwickelt werden kann. Ausgehend von dem Begriff der<br />
„Erfullung" defmiert Tarski den Wahrheitsbegriff in einer technischen Terminologie<br />
rekursiv.<br />
Tarskis Ergebnisse waren fiir die mathematische Logik in formaler Hinsicht<br />
zweifelsfrei von groBer Bedeutung. Sie waren von fimdamentaler Bedeutung fur<br />
die Modelltheorie und hatten Auswirkungen auf die Beweistheorie. Das geht jedoch<br />
iiber den Gegenstand dieses Buchs hinaus. Tarski zeigte auch, wie Widersprtiche<br />
entstehen, wenn in der natUrlichen Sprache iiber Wahrheit diskutiert wird<br />
und wie diese Widersprtlche vermieden werden konnen. Ich denke jedoch nicht,<br />
dass er dartiber hinausging, und Tarski selbst scheint ebenso gedacht zu haben.<br />
Fur unser Anliegen vermute ich, dass von Tarskis Korrespondenztheorie der Wahrheit<br />
nicht mehr bleibt, <strong>als</strong> das, was in der trivialen Aussage, „Schnee ist weiB, ist<br />
dann wahr, wenn Schnee weiB ist", steckt: Die Tatsache, dass es Tarski gelungen<br />
ist, zu zeigen, dass eine allgemein akzeptierte Idee von Wahrheit so eingesetzt<br />
werden kann, dass sie von den Paradoxien, die sie zu gefahrden schienen, befreit<br />
ist. Aus diesem Blickwinkel ist eine wissenschaftliche Theorie iiber die Welt dann<br />
wahr, wenn die Welt so ist, wie es die Theorie besagt, und f<strong>als</strong>ch, wenn dies nicht<br />
der Fall ist. Sofem unsere Diskussion des Realismus den Begriff der Wahrheit<br />
aufgreifl, soil auf diesen Wahrheitsbegriff Bezug genommen werden.<br />
Fiir diese Art der Verteidigung des globalen Anti-Realismus gilt weiterhin,<br />
dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht, wie behauptet, ohne Sprache<br />
auskommt, in der die Beziehung zwischen Satzen und der Welt beschrieben wird.<br />
Wenn ich gefragt werde, womit eine Aussage wie „Die Katze ist auf der Matratze"<br />
korrespondiert, muss ich, wenn ich die Antwort nicht verweigem will, mit einer<br />
Aussage antworten. Ich werde antworten, die Aussage, „Die Katze liegt auf der<br />
Matratze" korrespondiert damit, dass die Katze auf der Matratze liegt. Es lieBe<br />
sich der Einwand vorbringen, dass ich mit meiner Antwort nicht das Verhaltnis<br />
zwischen einer Aussage und der Welt charakterisiert habe, sondem das Verhaltnis<br />
zwischen einer Aussage und einer anderen. Dass dieser Einwand fehlgeleitet ist,<br />
macht eine Analogic deutlich. Werde ich zu einer Landkarte von Australien gefragt,<br />
worauf sich diese bezieht, lautet die Antwort „Australien". Mit dieser Antwort<br />
sage ich nicht, dass sie sich auf das Wort „Australien" bezieht. Werde ich<br />
gefragt, worauf sich die Landkarte bezieht, gibt es keine Alternative zu einer verbalen<br />
Erwiderung. Die Landkarte ist die einer groBen Landmasse, die „Australien"<br />
genannt wird. Weder im Fall der Katze noch im Fall der Landkarte kann vemunftigerweise<br />
gesagt werden, dass die verbale Erwiderung die Aussage zulasst, dass<br />
^^ Tarski verwendet hier den Begriff der „ErfLlllung" oder „Befriedigung" (vgl. Popper, 1982, S. 219;<br />
Anm. d. Hrsg.)
ich mich im Fall des Satzes „Die Katze liegt auf der Matratze" und im Fall der<br />
Landkarte auf etwas Verbales beziehe. (Es scheint mir, dass zum Beispiel Woolgars<br />
(1988) auf die Wissenschaft bezogener „globaler Anti-Realismus" die Verwirrung<br />
enthalt, die ich hier aufzulosen versuche.) Zumindest fiir mich bezieht<br />
sich die Aussage „Die Katze liegt auf der Matratze" auf etwas, das in der Welt<br />
vorhanden ist. Dass das wahr ist, wenn sich die Katze auf der Matratze befmdet,<br />
und f<strong>als</strong>ch, wenn sie dies nicht tut, ist vollig verstandlich und trivialerweise richtig-<br />
Ein Realist wird typischerweise behaupten, dass die Wissenschaft <strong>Theorien</strong><br />
anstrebt, die flir die beobachtbare und die nicht beobachtbare Welt wahr sind,<br />
wobei Wahrheit <strong>als</strong> allgemein anerkannte Korrespondenz mit den Tatsachen interpretiert<br />
wird. Eine Theorie ist wahr, wenn die Welt so ist, wie es die Theorie sagt,<br />
andemfalls ist sie f<strong>als</strong>ch. Im Falle von Katzen auf Matratzen kann der Wahrheitsgehalt<br />
einer Aussage leicht festgestellt werden. Bei wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong><br />
ist das nicht der Fall. Ich wiederhole: Die Art von Realismus, die ich naher betrachten<br />
mochte, beinhaltet nicht die Aussage, dass wir der Welt gegenubertreten<br />
und ablesen konnen, welche Tatsachen wahr und welche f<strong>als</strong>ch sind.<br />
Die traditionelle Debatte zwischen Realisten und Anti-Realisten zum Thema<br />
Wissenschaft bezieht sich auf die Frage, ob wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> uneingeschrankt<br />
<strong>als</strong> Anwarter auf die Wahrheit gelten sollen oder ob sie <strong>als</strong> etwas gesehen<br />
werden sollen, das lediglich Aussagen iiber die beobachtbare Welt macht. Beide<br />
Seiten gehen davon aus, dass das Ziel der Wissenschaft in gewisser Weise die<br />
Wahrheit ist (die in einer Weise, wie oben diskutiert, <strong>als</strong> Korrespondenz interpretiert<br />
werden soil). So unterstiitzt keine Seite den globalen Anti-Realismus, und wir<br />
wollen ihn daher hinter uns lassen und uns Serioserem zuwenden.<br />
15.3 Anti-Realismus<br />
Der Anti-Realist geht davon aus, dass der Inhalt einer wissenschaftlichen Theorie<br />
nicht mehr ist, <strong>als</strong> eine Reihe von Aussagen, die durch Beobachtung und Experiment<br />
bekraftigt werden konnen. Viele Anti-Realisten konnen sinnvollerweise<br />
Instrumentalisten genannt werden und werden dies auch oft. Fur sie sind wissenschaftliche<br />
<strong>Theorien</strong> nichts anderes <strong>als</strong> niitzliche Instrumente, die uns dabei untersttitzen,<br />
Ergebnisse aus Beobachtungen und Experimenten in Verbindung zu bringen<br />
und vorherzusagen. Es ist nicht angemessen, <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> wahr oder f<strong>als</strong>ch zu<br />
interpretieren. Poincare (1952, S. 211) gibt ein Beispiel flir diese Position, wenn er<br />
<strong>Theorien</strong> mit dem Katalog einer Bticherei vergleicht. Kataloge konnen flir ihre<br />
Niitzlichkeit geschatzt werden, aber es ware unzutreffend, von ihnen in den Begriffen<br />
wahr oder f<strong>als</strong>ch zu denken. Genauso verhalt es sich flir Instrumentalisten<br />
mit <strong>Theorien</strong>. Sie fordem von <strong>Theorien</strong>, dass sie allgemein (d.h. sie sollen sich auf<br />
eine groBe Spannbreite von Beobachtungen beziehen lassen) und einfach sein<br />
sollen. Die Hauptforderung der Instrumentalisten besteht jedoch in ihrer Kompatibilitat<br />
mit Beobachtung und Experiment. Van Fraassen (1980) ist ein zeitgenossischer<br />
Anti-Realist, der insofern nicht gleichzeitig Instrumentalist ist, <strong>als</strong> er durchaus<br />
behauptet, dass <strong>Theorien</strong> wahr oder f<strong>als</strong>ch seien. In Bezug auf Wissenschaft<br />
185
186<br />
halt er es jedoch ftir nebensachlich, ob <strong>Theorien</strong> wahr oder f<strong>als</strong>ch sind. Der Verdienst<br />
einer Theorie ist fur ihn danach zu beurteilen, wie allgemein und wie einfach<br />
sie ist und in welchem Umfang sie auf Beobachtungen basiert bzw. zu neuartigen<br />
Beobachtungen fuhrt. Van Fraassen kennzeichnet seine Position <strong>als</strong> „konstruktiven<br />
Empirismus". Ein Verfechter des Neuen Experimentalismus, der im<br />
Wachstum von Wissenschaft nicht mehr sieht <strong>als</strong> das Anwachsen kontrollierbarer<br />
wissenschaftlicher Befunde, ist ein Anti-Realist im bereits diskutierten Sinne.<br />
Ein Beweggrund, der dem Anti-Realismus zugrunde zu liegen scheint, ist der<br />
Wunsch, Wissenschaft auf die Aussagen zu begrenzen, die mit wissenschaftlichen<br />
Mitteln gerechtfertigt werden konnen, um damit ungerechtfertigte Spekulationen<br />
zu vermeiden. Um ihre Aussage zu belegen, dass der theoretische Teil der Wissenschaft<br />
nicht gesichert ist, konnen Anti-Realisten auf die Wissenschaftsgeschichte<br />
zuriickgreifen. Nicht nur sind in der Vergangenheit <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch<br />
zuriickgewiesen worden, sondem man glaubt vielmehr heute auch nicht mehr an<br />
die Existenz vieler der von ihnen postulierten Gegebenheiten. Newtons Korpuskulartheorie<br />
des Lichts leistete der Wissenschaft viele Jahre gute Dienste. Heute<br />
betrachtet man sie nicht nur <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch, sondem man weiB, dass es die von der<br />
newtonschen Optik vermuteten Korpuskeln gar nicht gibt. Ebenfalls fallen gelassen<br />
wurde das Konzept des Athers, der im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in<br />
der optischen und der elektromagnetischen Theorie gespielt hatte. Auch die<br />
Schltisselannahme der maxwellschen Theorie, dass die elektrische Ladung nichts<br />
anderes sei <strong>als</strong> eine Diskontinuitat der Spannung des Athers, ist aus heutiger Sicht<br />
vollig f<strong>als</strong>ch. Dennoch ist es dem Anti-Realisten wichtig, darauf hinzuweisen,<br />
dass die positive Rolle dieser <strong>Theorien</strong> bei der Ordnung und der Entdeckung beobachtbarer<br />
Phanomene nicht geleugnet werden kann, auch wenn sie sich <strong>als</strong><br />
f<strong>als</strong>ch erwiesen haben. Trotz allem waren es Maxwells Spekulationen liber einen<br />
die Zustande des Athers reprasentierenden Elektromagnetismus, die ihn zu einer<br />
elektromagnetischen Theorie des Lichts und schlieBlich zur Entdeckung der Radiowellen<br />
geflihrt haben. In diesem Lichte scheint es plausibel, <strong>Theorien</strong> ausschlieBlich<br />
nach ihrer Fahigkeit, beobachtbare Phanomene zu ordnen und vorherzusagen,<br />
zu beurteilen. Damit konnen <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> solche ausgemustert werden, wenn sie<br />
nicht mehr von Nutzen sind, und die durch Beobachtung und Experiment erlangten<br />
Entdeckungen, zu denen sie geftihrt haben, konnen beibehalten werden. Dies<br />
war in der Vergangenheit bei <strong>Theorien</strong> und ihren nicht beobachtbaren Gegebenheiten<br />
der Fall, und wir konnen erwarten, dass dies auch bei den vorhandenen<br />
<strong>Theorien</strong> so sein wird. Sie sind schlicht Geriiste, die uns dabei helfen, eine Struktur<br />
der durch Beobachtung und Experiment erhaltenen Erkenntnisse aufzubauen,<br />
und konnen, wenn sie ausgedient haben, verworfen werden.<br />
15.4 Einige Standardeinwande und die Antworten des Anti-Realismus<br />
Anti-Realisten machen einen Unterschied zwischen <strong>als</strong> gesichert erachteter Erkenntnis<br />
auf der Beobachtungsebene und theoretischer Erkenntnis, die nicht abgesichert<br />
werden kann und bestenfalls <strong>als</strong> heuristisches Hilfsmittel angesehen wird.<br />
Zumindest oberflachlich betrachtet stellt die zu Beginn dieses Buches gefuhrte
Diskussion zur Theorieabhangigkeit und Fehlbarkeit von Beobachtung und Experiment<br />
diese Sichtweise vor Probleme. Wenn Beobachtungsaussagen und experimentelle<br />
Ergebnisse in dem Umfang akzeptiert werden konnen, in dem sie einer<br />
Uberprtifung standhalten, gleichzeitig jedoch in der Zukunft im Lichte geeigneterer<br />
Uberpriifungen ersetzt werden konnen, steht es Realisten frei, <strong>Theorien</strong> ebenso<br />
zu behandeln und zu leugnen, dass es die grundsatzliche oder scharfe Unterscheidung<br />
zwischen Beobachtungs- und theoretischem Wissen gibt, auf der die Position<br />
des Anti-Realisten basiert.<br />
Setzen wir uns nun mit diesem Aspekt auf der Ebene des Experiments auseinander<br />
und verlassen die Ebene der Beobachtung. Hier muss der Anti-Realist<br />
nicht leugnen, dass <strong>Theorien</strong> bei der Entdeckung neuer experimenteller Effekte<br />
eine Rolle spielen. Dennoch kann er oder sie, wie ich das im Kapitel zum Neuen<br />
Experimentalismus getan habe, betonen, dass neue experimentelle Befunde auf<br />
eine Art und Weise gewtirdigt und gehandhabt werden konnen, die unabhangig<br />
von <strong>Theorien</strong> sind und dass diese experimentelle Erkenntnis bei einem radikalen<br />
Theoriewechsel nicht verloren geht. Entsprechende Beispiele waren Faradays Entdeckung<br />
eines elektrischen Motors und Hertz' Erzeugung von Radiowellen. Solche<br />
Beispiele machen die Position des Anti-Realisten glaubwiirdig. Dennoch ist<br />
die Frage, ob alle experimentellen wissenschaftlichen Ergebnisse in dieser Art und<br />
Weise <strong>als</strong> theorie-unabhangig betrachtet werden konnen, diskussionswurdig. Das<br />
Problem soil prazisiert werden, indem wir noch einmal auf die Geschichte des<br />
Einsatzes von Elektronenmikroskopen zur Untersuchung von Dislokationen in<br />
Kristallen eingehen. Einige Aspekte der frtihen Arbeiten untersttitzen den Anti-<br />
Realismus. Die Gtiltigkeit der Beobachtungen von Dislokationen wurde durch<br />
zahlreiche Manipulationen und Gegenproben sichergestellt, die nicht auf eine<br />
detaillierte Theorie des Elektronenmikroskops und der Interaktionen von Elektronenstrahlen<br />
und Kristallen zurtickgriffen. Als die Arbeiten jedoch anspruchsvoller<br />
wurden, konnten Interpretationen der beobachtbaren Bilder nur durch die Ubereinstimmung<br />
feiner Details und theoretischer Vorhersagen erreicht und gestiitzt werden.<br />
Ohne Frage ist das Wissen uber Dislokationen zum Verstandnis der Materi<strong>als</strong>tarke<br />
und anderer Eigenschaften von Feststoffen von enormer praktischer Bedeutung<br />
gewesen. Wozu ein Anti-Realist in der Lage sein muss, ist, zu zeigen, wie<br />
der experimentell niitzliche Teil dieses Wissens unabhangig von einer Theorie<br />
formuliert und verteidigt werden kann. Das soil hier nicht geschehen, aber es steht<br />
zu vermuten, dass das Wissen uber Dislokationen in Kristallen einen sehr interessanten<br />
und informativen Testfall darstellen wurde.<br />
Einen anderen Standardeinwand stellt die Vorhersagekraft von <strong>Theorien</strong> dar.<br />
Wie ist es moglich, so der Einwand, dass <strong>Theorien</strong> so erfolgreich in der Vorhersage<br />
sind, wenn sie nicht wenigstens annahernd wahr sind. In Fallen, in denen<br />
<strong>Theorien</strong> zur Vorhersage neuer Phanomene fuhren, scheint das Argument besonders<br />
stark. Wie kann Einsteins Relativitatstheorie <strong>als</strong> bloBer Berechnungsapparat<br />
betrachtet werden, wenn sie erfolgreich die Kriimmung von Sonnenstrahlen vorhersagt?<br />
Wie kann das Argument emsthaft aufrechterhalten werden, dass die<br />
<strong>Strukturen</strong>, die organischen Molektilen zugeschrieben werden, nichts <strong>als</strong> Instrumente<br />
sind, wenn diese <strong>Strukturen</strong> heute „direkt" mittels Elektronenmikroskopen<br />
belegt werden konnen?<br />
187
Anti-Realisten konnen darauf folgendermaBen antworten. Sicherlich stimmen<br />
sie zu, dass <strong>Theorien</strong> zur Entdeckung neuer Phanomene flihren. Tatsachlich ist<br />
dies aus ihrer Sicht eines der Desiderata einer guten Theorie. (Erinnera wir uns<br />
daran, dass es nicht Teil der Position des Anti-Realisten ist, dass <strong>Theorien</strong> in der<br />
Wissenschaft keinen Platz hatten. Es ist der Status von <strong>Theorien</strong>, der fraghch ist.)<br />
Dennoch ist die Tatsache, dass eine Theorie in dieser Hinsicht produktiv ist, kein<br />
Indikator dafiir, dass sie wahr ist. Das macht die Tatsache deutlich, dass sich in<br />
der Vergangenheit <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> auBerst erfolgreich erwiesen haben, obwohl sie<br />
aus heutiger Perspektive nicht <strong>als</strong> wahr betrachtet werden konnen. Fresnels Wellentheorie<br />
des Lichts in einem elastischen Ather sagte erfolgreich den von Arago<br />
entdeckten hellen Fleck voraus, und Maxwells Spekulationen tiber die Atherwirbel<br />
fiihrten zur Vorhersage von Radiowellen. Der Realist erachtet die newtonsche<br />
Theorie im Lichte von Einsteins Theorie und Quantenmechanik <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch. Dennoch<br />
muss der Theorie Nevv1:ons, bevor sie schlieBlich verworfen wurde, ein mehr<br />
<strong>als</strong> zweihundert Jahre andauemder Erfolg bei Vorhersagen zugute gehalten werden.<br />
Zwingt die Geschichte den Realisten nicht dazu, einzugestehen, dass erfolgreiche<br />
Vorhersagen kein notwendiger Indikator fur Wahrheit sind?<br />
Zwei wichtige historische Episoden der Wissenschaftsgeschichte wurden<br />
immer wieder herangezogen, um den Anti-Realismus in Zweifel zu ziehen. Die<br />
erste bezieht sich auf die kopemikanische Revolution. Wie wir gesehen haben,<br />
hatten Kopernikus und seine Anhanger Schwierigkeiten, ihre Aussage, die Erde<br />
bewege sich, zu verteidigen. Eine Antwort auf diese Probleme bestand darin, in<br />
Bezug auf die Theorie einen anti-realistischen Standpunkt einzunehmen, und<br />
lediglich zu fordem, dass sie mit astronomischen Beobachtungen in Einklang<br />
steht. In dem Vorwort, das Osiander fur das Hauptwerk von Kopernikus' ,,Revolution<br />
der Himmlischen Sphdren" schrieb, fmdet er deutliche Worte fur diese<br />
Sichtweise:<br />
... es ist die Pflicht eines Astronomen, durch behutsame und aufmerksame<br />
Beobachtung die Geschichte der Bewegungen der himmlischen<br />
Korper zusammenzutragen. Wenn er sein Augenmerk dann<br />
auf die Ursachen dieser Bewegungen oder auf die Hypothesen tiber<br />
diese Bewegungen lenkt, ist, wenn er auf keine andere Weise zu den<br />
wahren Ursachen vordringen kann, sein Einfallsreichtum gefordert<br />
und er muss Hypothesen ersinnen, von denen er annehmen kann,<br />
dass sie in der Lage sind, sowohl die zukilnftigen <strong>als</strong> auch die Bewegungen<br />
der Vergangenheit zuverlassig aus den Prinzipien der<br />
Geometric abzuleiten. Der Autor dieses Buches [Kopernikus] erfullt<br />
beide Herausfordemngen auf hervorragende Weise. Dafiir mtissen<br />
Hypothesen weder wahr noch wahrscheinlich wahr sein, wenn sie<br />
allein Berechnungen bieten, die mit den Beobachtungen im Einklang<br />
stehen. (Kopernikus, zitiert nach Rosen, 1962, S. 125)<br />
Indem sie diesen Standpunkt einnahmen, waren Osiander und ahnlich denkende<br />
Astronomen von der Notwendigkeit befi-eit, den Schwierigkeiten ins Auge zu<br />
sehen, mit denen sie die kopemikanische Theorie, im Besonderen die Aussage,
dass sich die Erde bewegte, konfrontierte. Realisten wie Kopernikus und Galilei<br />
waren jedoch gezwungen, sich mit diesen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen<br />
und zu versuchen, sie zu beseitigen. In Galileis Fall fuhrte das zu maBgeblichen<br />
Fortschritten der Mechanik. Die Moral, die Realisten gern daraus ziehen wtirden,<br />
ist die, dass der Anti-Realismus unproduktiv sei, weil er schwierige Fragen, die<br />
aus der Perspektive der Realisten eine Losung erfordem, unter den Teppich des<br />
Anti-Realismus kehre.<br />
Der Anti-Realist kann antworten, dass dieses Beispiel eine Karikatur seiner<br />
Position darstellt. Unter den Forderungen, die ein Anti-Realist an <strong>Theorien</strong> stellt,<br />
befindet sich das Insistieren darauf, dass <strong>Theorien</strong> allgemein sein und eine Vielzahl<br />
von Phanomenen umfassen sollen. Aus dieser Perspektive muss der Anti-<br />
Realist danach streben, die Astronomic und die Mechanik unter einem theoretischen<br />
Rahmen zusammenzufassen. Daher ware er genauso wie der Realist motiviert,<br />
die mechanischen Probleme, die mit der kopernikanischen Theorie verbunden<br />
sind, in Angriff zu nehmen. Es birgt in diesem Zusammenhang eine gewisse<br />
Ironic, dass ein prominenter Anti-Realist, Pierre Duhem (1969) in seinem Buch<br />
„7b Save the Phenomena", zur Unterstiitzung seiner Position auf das Beispiel der<br />
kopernikanischen Revolution Bezug nahm.<br />
Die zweite haufig herangezogene Episode bezieht sich auf die Rechtfertigung<br />
der Atomtheorie im fhihen 20. Jahrhundert. Ende des 19. Jahrhunderts wiesen<br />
Duhem und andere namhafte Anti-Realisten wie Ernst Mach und Wilhelm<br />
Ostwald, die Idee zuruck, die Atomtheorie wortlich zu nehmen. Sie lehrten, dass<br />
nicht beobachtbare Atome entweder keinen Platz in der Wissenschaft haben oder<br />
dass sie lediglich wie nutzliche „Fiktionen" behandelt werden sollten. Die fur die<br />
Mehrheit der Wissenschaftler (Mach und Ostwald eingeschlossen, Duhem nicht)<br />
tiberzeugende Rechtfertigung der Atomtheorie im Jahre 1910 demonstriert fiir<br />
Realisten die Unangemessenheit und Unfruchtbarkeit des Anti-Realismus. Wieder<br />
haben die Anti-Realisten jedoch eine Antwort. Sie fordem, dass nur der Teil der<br />
Wissenschaft, der mittels Beobachtung und Experiment bestatigt werden kann,<br />
danach beurteilt werden soil, ob er wahr oder f<strong>als</strong>ch ist. Dennoch stimmen sie zu,<br />
dass mit dem Fortschritt der Wissenschaft und dem Zugang zu immer mehr bewahrten<br />
Instrumenten und experimentellen Techniken die Menge von experimentell<br />
bestatigten Aussagen zunimmt. Somit sieht der Anti-Realist kein Problem<br />
darin, festzustellen, dass die Atomtheorie nicht bereits Ende des 19. Jahrhunderts<br />
bestatigt wurde, sondem erst zu Beginn des zwanzigsten. Ostwald zum Beispiel<br />
macht diese Haltung sehr deutlich.<br />
Nachdem der Anti-Realismus vorgestellt und aufgezeigt wurde, wie er gegen<br />
einige Standardeinwande verteidigt werden kann, wollen wh- die Situation von<br />
einer anderen Seite aus betrachten.<br />
15.5 Wissenschaftlicher Realismus und Realismus der Vermutungen<br />
Es soil damit begonnen werden, den Realismus in einer pointierten Form darzulegen,<br />
der manche den Namen „wissenschaftlicher Realismus" gegeben haben. Entsprechend<br />
dem wissenschaftlichen Realismus ist es das Ziel der Wissenschaft, auf<br />
189
190<br />
alien Ebenen zu wahren Aussagen uber das, was in der Welt ist und wie es sich<br />
verhalt, zu kommen, nicht nur auf der Ebene der Beobachtung. Daruber hinaus<br />
wird behauptet, dass die Wissenschaft insofern Fortschritte bezuglich dieses Ziels<br />
gemacht hat, <strong>als</strong> sie zu <strong>Theorien</strong> gelangt ist, die zumindest annaherungsweise<br />
wahr sind und zumindest zu einigen Entdeckungen gefuhrt hat. So hat die<br />
Wissenschaft zum Beispiel die Existenz von Elektronen und schwarzen Lochem<br />
entdeckt, und obwohl friihere <strong>Theorien</strong> zu derartigen Untersuchungsgegenstanden<br />
verbessert wurden, waren diese zumindest annaherungsweise wahr, da man sie,<br />
wie gezeigt werden kann, <strong>als</strong> Approximationen aus gegenwartigen <strong>Theorien</strong> ableiten<br />
kann. Wir wissen nicht, ob unsere heutigen <strong>Theorien</strong> wahr sind, aber sie<br />
sind es mehr <strong>als</strong> friihere <strong>Theorien</strong> und behalten eine zumindest annaherungsweise<br />
Wahrheit, wenn sie in der Zukunft durch noch genauere <strong>Theorien</strong> ersetzt werden.<br />
Fiir wissenschaftliche Realisten kommen diese Aussagen wissenschaftlichen Aussagen<br />
selbst gleich. Es wird behauptet, dass der wissenschaftliche Realismus die<br />
beste Erklarung fur den Erfolg der Wissenschaft gibt und dass er genauso an der<br />
Geschichte der Wissenschaft bzw. der gegenwartigen Wissenschaft uberpruft werden<br />
kann, wie wissenschaftliche <strong>Theorien</strong> an der Realitat tiberpriift werden konnen.<br />
Die Behauptung von OberpruftDarkeit des Realismus an der Wissenschaftsgeschichte,<br />
rechtfertigte diese Art des Realismus „wissenschaftlich" zu nennen. Eine<br />
klare Darstellung des hier zusammengefassten wissenschaftlichen Realismus gibt<br />
Boyd (1984).<br />
Ein grundlegendes Problem dieser pointierten Version des Realismus entstammt<br />
der Wissenschaftsgeschichte sowie dem AusmaB, in dem die Geschichte<br />
zeigt, dass Wissenschaft fehlbar und revidierbar ist. Die Geschichte der Optik<br />
bietet das beste Beispiel. Die Optik hat in ihrem Fortschritt von der Korpuskulartheorie<br />
Newtons bis zu den modernen <strong>Theorien</strong> einen ftindamentalen Wandel<br />
durchgemacht. Nach Newton existierte Licht aus Strahlen materieller Korpuskeln.<br />
Fresnels Theorie, die Newtons ersetzte, fasste Licht <strong>als</strong> quer verlaufende Wellen<br />
in einem alles durchdringenden elastischen Ather auf. Maxwells elektromagnetische<br />
Theorie des Lichts reinterpretierte diese Wellen <strong>als</strong> solche, die fluktuierende<br />
elektrische und magnetische Felder enthalten, wobei die Idee des Athers beibehalten<br />
wurde. Im filihen 20. Jahrhundert wurde der Ather fallen gelassen, und es<br />
verblieben die Felder <strong>als</strong> eigenstandige Entitaten. Bald wurde es notwendig, den<br />
Wellencharakter des Lichts um den Aspekt der Partikel zu erganzen, indem das<br />
Photon eingefuhrt wurde. Es kann angenommen werden, dass Realisten wie Anti-<br />
Realisten diese Serie von <strong>Theorien</strong> von Anfang bis zum Ende <strong>als</strong> progressiv erachten.<br />
Aber wie lasst sich dieser Fortschritt mit der Sichtweise des wissenschaftlichen<br />
Realismus vereinbaren? Wie kann diese Abfolge von <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> eine<br />
Entwicklung zum Besseren und <strong>als</strong> bessere Annaherung an eine Charakterisierung<br />
der Realitat verstanden werden, wenn diese sich standig verandert. Zuerst wird<br />
Licht <strong>als</strong> Partikel charakterisiert, dann <strong>als</strong> Wellen in einem elastischen Medium,<br />
dann <strong>als</strong> fluktuierende Felder und schlieBlich <strong>als</strong> Photon.<br />
ZugegebenermaBen gibt es andere Beispiele, die dem Realismus eher entsprechen,<br />
so die Geschichte des Elektrons. Als es gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />
in der Form von Kathodenstrahlen entdeckt wurde, ist es <strong>als</strong> winziges Partikel mit<br />
einer kleinen Masse und einer elektrischen Ladung aufgefasst worden. Bohr
musste dieses Bild in seinem frtihen quantentheoretischen Atommodell modifizieren,<br />
wo Elektronen einen zentralen, positiven Kern umkreisen, ohne, wie es von<br />
kreisenden geladenen Partikeln erwartet wurde, Strahlung abzugeben. Sie werden<br />
nun <strong>als</strong> quantenmechanische Entitaten mit der Spinquantenzahl /4 angesehen,<br />
verhalten sich unter entsprechenden Bedingungen wie Wellen und gehorchen eher<br />
der Fermi-Dirac-Statistik <strong>als</strong> der klassischen Statistik. Es liegt nahe, anzunehmen,<br />
dass man sich im Laufe dieser Geschichte auf ein und dieselben Elektronen bezogen<br />
und mit ihnen experimentiert hat, dass jedoch das Wissen tiber sie bestandig<br />
verbessert und korrigiert wurde, sodass es verniinftig erscheint, das Aufeinanderfolgen<br />
der <strong>Theorien</strong> tiber die Elektronen <strong>als</strong> eine Annaherung an die Wahrheit zu<br />
sehen. Hacking (1996) hat aufgezeigt, wie die Position der Realisten aus dieser<br />
Perspektive gestarkt werden kann. Er argumentiert, dass die Anti-Realisten unangemessen<br />
hohen Wert auf das, was beobachtet bzw. nicht beobachtet werden<br />
kann, legen, aber dem zu wenig Aufmerksamkeit widmen, was in der Wissenschaft<br />
praktisch beeinflusst werden kann. Er geht davon aus, dass in der Wissenschaft<br />
Entitaten <strong>als</strong> real gelten, wenn sie auf kontrolliertem Weg gehandhabt sowie<br />
dazu eingesetzt werden konnen, Wirkungen auf etwas anderes auszuuben.<br />
Positronenstrahlen konnen hergestellt und auf Targets gerichtet werden, um auf<br />
kontrolliertem Weg Effekte zu erzeugen. Wie konnen sie <strong>als</strong>o, bis auf die Tatsache,<br />
dass sie nicht beobachtbar sind, nicht real sein? „Wenn man sie verspriihen<br />
kann, sind sie real'' (Hacking, 1996, S. 47). Wenn dieses Kriterium angelegt wird,<br />
um zu beurteilen, ob etwas real ist, spricht das Beispiel zu den Lichtpartikeln und<br />
dem Ather nicht gegen den Realismus, weil von diesen Entitaten nicht durch<br />
praktische Manipulation festgestellt wurde, dass sie real sind.<br />
Es gibt Realisten, die den wissenschaftlichen Realismus <strong>als</strong> zu pointiert erachten<br />
und versuchen, ihn auf verschiedenen Wegen einzuschranken. Die Art des<br />
Realismus, der von Popper und seinen Anhangern vertreten wird, ist von dieser<br />
Art und kann <strong>als</strong> „Realismus der Vermutungen" bezeichnet werden. Dieser Realist<br />
betont die Fehlbarkeit unseres Wissens und ist sich der Tatsache wohl bewusst,<br />
dass uberholte <strong>Theorien</strong> und ihre Aussagen uber die Natur von Entitaten der Welt<br />
f<strong>als</strong>ifiziert und durch iiberlegenere <strong>Theorien</strong> ersetzt wurden, die die Realitat auf<br />
andere Art und Weise erklaren. Man kann nicht wissen, ob unsere momentan<br />
gultigen <strong>Theorien</strong> dieses Schicksal teilen werden. Der „mutmaBende" Realist behauptet<br />
daher weder, dass sich die momentan aktuellen <strong>Theorien</strong> <strong>als</strong> annaherungsweise<br />
wahr erweisen werden, noch, dass sie schltissig die Natur von Gegebenheiten<br />
dieser Welt identifizieren. Er schlieBt die Moglichkeit nicht aus, dass es dem<br />
Elektron ebenso ergehen wird, wie dem Ather. Nichtsdestotrotz wird behauptet,<br />
dass es das Ziel von Wissenschaft ist, die Wahrheit tiber das herauszufmden, was<br />
tatsachlich existiert, und dass <strong>Theorien</strong> danach bewertet werden mtissen, in welchem<br />
Umfang von ihnen gesagt werden kann, dass es ihnen gelingt, diese Zielvorstellung<br />
zu erfullen. Der „mutmaBende" Realist wird sagen, dass allein die Tatsache,<br />
dass wir von uberholten <strong>Theorien</strong> sagen konnen, dass sie f<strong>als</strong>ch sind, zeigt,<br />
dass wir eine klare Vorstellung von einem Ideal haben, das die vergangenen <strong>Theorien</strong><br />
nicht erreichten.<br />
Obwohl „mutmaBende" Realisten die Meinung vertreten, dass ihre Position<br />
die fruchtbarste flir die Wissenschaft ist, nehmen sie davon Abstand, sie <strong>als</strong> wis-<br />
191
192<br />
senschaftlich zu beschreiben. Die wissenschaftlichen Realisten behaupten, dass<br />
ihre Position an der Wissenschaftsgeschichte uberpruft werden kann und den<br />
Erfolg der Wissenschaft erklart. Der „mutmaBende" Realist halt das fiir zu ambitioniert.<br />
Bevor eine wissenschaftliche Theorie <strong>als</strong> Erklarung einer Vielzahl von<br />
Phanomenen akzeptiert werden kann, wird verniinftigerweise gefordert, dass es<br />
fur die Theorie eine Evidenz unabhangig von den zu erklarenden Phanomenen<br />
geben muss. Wie Worrall (1989b, S. 102) deutlich gemacht hat, wird der wissenschaftliche<br />
Realismus dieser Forderung gerecht, da auBer Frage steht, dass es<br />
Evidenz unabhangig von der Wissenschaftsgeschichte gibt, die den wissenschaftlichen<br />
Realismus erklaren kann. Der generelle Punkt ist, dass es schwer zu erkennen<br />
ist, wie der wissenschaftliche Realismus durch die historischen Gegebenheiten<br />
bestatigt werden kann, wenn man die stringenten Forderungen bezuglich dessen,<br />
was in der Wissenschaft selbst <strong>als</strong> signifikante Bestatigung gelten kann, emst<br />
nimmt. Der Realismus der Vermutungen wird dagegen von seinen Vertretem eher<br />
<strong>als</strong> philosophische, denn <strong>als</strong> wissenschaftliche Position gesehen, die im Rahmen<br />
der philosophischen Probleme verteidigt werden soil, die sie losen kann.<br />
Ein Hauptproblem des Realismus der Vermutungen ist die Schwache seiner<br />
Aussagen. Er behauptet weder, dass man von den momentan aktuellen <strong>Theorien</strong><br />
weiB, dass sie wahr oder annahemd wahr sind, noch behauptet er, dass die Wissenschaft<br />
schltissig einige der Dinge, die in der Welt existieren, entdeckt hatte. Er<br />
behauptet lediglich, dass die Wissenschaft anstrebt, dies zu erreichen und dass es<br />
Wege gibt, es zu erkennen, wenn die Wissenschaft dieses Ziel nicht erreicht. Der<br />
„mutmaBende" Realist muss eingestehen, dass es selbst dann, wenn man wahre<br />
<strong>Theorien</strong> und Charakterisierungen dessen, was ist, in der Wissenschaft erreicht<br />
hatte, keinen Weg gebe, dies zu erkennen. Es kann in diesem Zusammenhang<br />
gefi*agt werden, wo der Unterschied zwischen dieser Sichtweise und der anspruchsvollster<br />
Anti-Realisten liegt, wenn die gegenwartige oder die Wissenschaft<br />
der Vergangenheit verstanden und gewurdigt werden soil.<br />
15.6 Idealisierung<br />
Ein Standardeinwand gegen den Realismus, den zum Beispiel Duhem (1978)<br />
anftihrt, ist, dass <strong>Theorien</strong> nicht <strong>als</strong> wortliche Beschreibungen der Realitat verstanden<br />
werden konnen, weil theoretische Beschreibungen eben im Gegensatz zur<br />
Welt idealisiert sind. Wir erinnem uns alle daran, dass die Wissenschaft, die wir in<br />
der Schule gelemt haben, Dinge umfasste wie reibungsfi'eie Ebenen, Massepunkte<br />
sowie nicht dehnbare Schntxre, und wir wissen alle, dass es keinen Gegenstand auf<br />
dieser Welt gibt, der diesen Beschreibungen entspricht. Auch sollte es nicht so<br />
aufgefasst werden, dass dies Vereinfachungen sind, die nur in Einftihrungstexten<br />
herangezogen werden, und dass kompliziertere Beschreibungen, die den tatsachlichen<br />
Zustand beschreiben, spater in der ft)rtgeschritteneren Wissenschaft eingefiihrt<br />
wtirden. Indem sie zum Beispiel die Planeten <strong>als</strong> Massepunkte oder <strong>als</strong> homogene<br />
kugelft)rmige Korper und Ahnliches behandelt, nimmt die newtonsche<br />
Mechanik in der Astronomic zwangslaufig Annaherungen vor. Wenn die Quantenmechanik<br />
eingesetzt wird, um Eigenschaften des Wasserstoffatoms, wie zum
Beispiel sein Spektrum, zu erhalten, wird es behandelt <strong>als</strong> ein negativ geladenes<br />
Elektron, das sich im Umfeld eines positiv geladenen Protons bewegt, ganz isoliert<br />
von seiner Umgebung. Kein reales Wasserstoffatom ist jem<strong>als</strong> von seiner<br />
Umgebung isoliert. Carnotsche Kreisprozesse und ideale Gase sind andere Idealisiemngen,<br />
die, ohne liber ein Pendant in der realen Welt zu verfugen, eine entscheidende<br />
Rolle in der Wissenschaft spielen. SchlieBlich stellen wir aus der Perspektive<br />
des Realisten fest, dass die Parameter zur Charakterisierung von Systemen<br />
dieser Welt, wie die Position und die Geschwindigkeit eines Planeten oder<br />
die Ladung eines Elektrons, bei den exakten mathematischen Berechnungen so<br />
behandelt werden, <strong>als</strong> seien sie absolut prazise. Experimentelle Messungen dagegen<br />
sind immer mit einem gewissen Fehler behaftet, sodass eine gemessene<br />
Quantitat immer <strong>als</strong> x ± dx bezeichnet wird, wobei dx den Fehlerspielraum bezeichnet.<br />
Grundsatzlich wird daher angenommen, dass theoretische Beschreibungen<br />
auf unterschiedliche Arten Idealisierungen sind, die nicht mit der realen Welt<br />
korrespondieren konnen.<br />
Meine eigene Sichtweise ist, dass Idealisierungen in der Wissenschaft den<br />
Realismus nicht - wie oft vermutet - vor Probleme stellt. Aus den ohne Zweifel<br />
vorhandenen Ungenauigkeiten aller experimentellen Messungen folgt nicht, dass<br />
die gemessenen Quantitaten keine prazisen Werte besaBen. Ich wiirde zum Beispiel<br />
behaupten, dass wir in der Physik gute Belege daftir haben, dass die Ladungen<br />
von Elektronen, abgesehen von der Ungenauigkeit der Messungen dieser<br />
Ladungen, absolut identisch sind. Viele makroskopische Eigenschaften, wie die<br />
Leitfahigkeit von Metall und die Spektren von Gasen, hangen davon ab, dass<br />
Elektronen wegen dieser deutlich ausgepragten Gleichheit vielmehr der Fermi-<br />
Dirac-Statistik <strong>als</strong> einer klassischen Boltzmann-Verteilung gehorchen. Dieses Beispiel<br />
mag zwar nicht geeignet sein, einen Anti-Realisten zu beeindrucken, der das<br />
Elektron <strong>als</strong> Fiktion betrachtet. Ich telle jedoch die Meinung von Hacking, dass<br />
die alltagliche experimentelle Beeinflussung von Elektronen den Standpunkt der<br />
Anti-Realisten ad absurdum flihrt.<br />
Im Lichte der im letzten Kapitel gefiihrten Diskussion uber die Natur von<br />
Gesetzen ergibt sich eine sehr aufschlussreiche Sichtweise von Idealisierungen.<br />
Dort wurde unterstellt, dass eine allgemeine Klasse von Gesetzen die Krafte, Tendenzen<br />
etc. einzelner Dinge beschreibt, sich auf bestimmte Art und Weise zu<br />
verhalten. Es wurde betont, dass von den beobachtbaren Sequenzen von Ereignissen<br />
nicht erwartet werden kann, dass diese das wirkliche Agieren dieser Krafte<br />
und Tendenzen widerspiegeln, weil die Systeme, in denen sie operieren, typischerweise<br />
komplex sind und die simultanen Operationen anderer Krafte und<br />
Tendenzen mit einschlieBen. Wie sorgfaltig auch immer wir zum Beispiel die<br />
Messung der Ablenkung von Kathodenstrahlen durchflihren mogen, wir werden<br />
nie imstande sein, die Gravitationseinwirkung naher Massen auf die Elektronen,<br />
den Einfluss des Erdmagnetfeldes usw. zu eliminieren. In dem MaBe, in dem<br />
akzeptiert werden kann, dass der Kausalitatsanspruch von Gesetzen dort fur wissenschaftliche<br />
Gesetze einen Sinn ergibt, wo sie keine bloBen Regeln darstellen,<br />
miissen wir Gesetze <strong>als</strong> Beschreibungen kausaler Krafte verstehen, die, kombiniert<br />
mit anderen Kraften, hinter den Erscheinungen wirken und Ereignisse oder Ereignisfolgen<br />
hervorbringen, die beobachtbar sind. Der kausale Ansatz ist damit<br />
193
194<br />
gleichzeitig der Ansatz des Realismus. Der Anti-Realist muss hingegen das Funktionieren<br />
von Gesetzen in der Wissenschaft <strong>als</strong> eine Art von Regelerfiillung verstehen.<br />
Die Schwierigkeiten, die damit einhergehen, wurden im vorangegangenen<br />
Kapitel diskutiert.<br />
15.7 Nichtreprasentativer Realismus oder struktureller Realismus<br />
Wenn wir die ausgefeiltesten Versionen des Realismus und des Anti-Realismus<br />
betrachten, scheint jeder der Ansatze etwas ftir sich zu haben. Der Realist kann auf<br />
die Vorhersageerfolge von wissenschaftlichen <strong>Theorien</strong> hinweisen und fragen, wie<br />
diese Erfolge erklart werden konnen, wenn <strong>Theorien</strong> nichts sind <strong>als</strong> bloBe Berechnungsvorschriften.<br />
Der Anti-Realist kann damit kontem, dass in der Vergangenheit<br />
<strong>Theorien</strong> Erfolg bei der Vorhersage hatten, von denen sogar Realisten zugeben<br />
mlissen, dass sie f<strong>als</strong>ch sind. Die massive Fluktuation von <strong>Theorien</strong> ist das<br />
Hauptargument fur den Anti-Realismus. Gibt es eine Theorie, die in der Lage ist,<br />
aus beiden das Beste zu vereinen? Bei frtiheren Gelegenheiten habe ich das mit<br />
einer Position versucht, die ich nichtreprasentativen Realismus genannt habe.<br />
Diese Sichtweise hat Ahnlichkeit mit einer Position, die Worrall (1989b) entwickelt<br />
hat. Meine Bezeichnung hat sich nicht durchgesetzt. Vielleicht wird<br />
Worrall mehr Gliick haben.<br />
Die Geschichte der Optik gibt uns das aus Sicht der Realisten problematischste<br />
Beispiel, weil wir hier sehen, wie, einhergehend mit einem Wechsel des Verstandnisses<br />
dessen, was Licht ist, eine zweifellos erfolgreiche Theorie verworfen<br />
wird. Wir wollen uns daher auf diesen Problemfall konzentrieren und untersuchen,<br />
in welchem Umfang die Sichtweise der Realisten gerettet werden kann. Poppersche<br />
Realisten verweisen in ihrem Eifer, die positivistische oder induktivistische<br />
Sichtweise der Wissenschaft zu bekampfen, auf die F<strong>als</strong>ifikation vorm<strong>als</strong> gut<br />
bestatigter <strong>Theorien</strong>, um ihr Argument zu unterstUtzen, dass wissenschaftliche<br />
Erkenntnis unabhangig davon, wie viele positive Belege fur sie sprechen, fehlbar<br />
bleibt. In diesem Sinne bestehen sie zum Beispiel darauf, dass sich Fresnels Theorie<br />
des Lichts <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erwiesen hat. (Es gibt keinen elastischen Ather, und die<br />
Wellentheorie wird Phanomenen, wie den photoelektrischen Effekten, bei denen<br />
das Licht seine partikelartige Natur zeigt, nicht gerecht.) Ist es jedoch hilfi-eich<br />
oder richtig, Fresnels Theorie einfach <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch zu verwerfen? Trotz allem gibt es<br />
Umstande, in denen sich Licht wie eine Welle verhalt. Fresnels Theorie leistete<br />
mehr, <strong>als</strong> lediglich erfolgreiche Vorhersagen zu treffen. Sie erfasste die wellenartige<br />
Struktur, die es unter bestimmten Bedingungen aufweist. Weil Fresnels Theorie<br />
diese Struktur erkannte, wies sie Vorhersageerfolge auf, die zu so erfolgreichen<br />
Vorhersagen wie den bertihmten hellen Fleck (s. S. 69) fiihrte. Worrall machte<br />
diesen Punkt deutlich, indem er sich auf die mathematische Struktur der Theorie<br />
Fresnels konzentrierte und zeigte, dass viele Berechnungen Fresnels, wie die zu<br />
Details von Reflexion und Brechung in den heutigen <strong>Theorien</strong> beibehalten wurden.<br />
Das bedeutet, dass Fresnels Berechnungen aus heutiger Sicht nicht f<strong>als</strong>che,<br />
sondem wahre Beschreibungen einer Vielzahl optischer Phanomene darstellen,<br />
ungeachtet der Tatsache, dass einige der seinen Berechnungen zugrundeliegenden<br />
Interpretationen der Realitat verworfen wurden.
So ist Wissenschaft im dem Sinne realistisch, <strong>als</strong> sie versucht, die Struktur<br />
der Realitat zu charakterisieren und dabei insofern bestandig Fortschritte macht,<br />
<strong>als</strong> ihr das in zunehmend akkuraterer Weise gelingt. Frtihere wissenschaftliche<br />
<strong>Theorien</strong> waren in dem MaBe erfolgreich in der Vorhersage, in dem sie zumindest<br />
annahemd die Struktur der Realitat erfassten (ihre Vorhersageerfolge sind daher<br />
kein unerklarliches Wunder). Damit wird ein Hauptproblem des Anti-Realismus<br />
vermieden. Andererseits fiihrt das bestandige Fortschreiten der Wissenschaft zu<br />
einer fortlaufenden Verfeinerung der der Realitat zugewiesenen <strong>Strukturen</strong>, wodurch<br />
die Reprasentationen, die diese <strong>Strukturen</strong> begleiten (wie zum Beispirl der<br />
elastische Ather, der Raum <strong>als</strong> ein GefaB ftir Objekte, das unabhangig von diesen<br />
Objekten ist), oft durch andere ersetzt werden. Es gibt eine Fluktuation von Reprasentationen,<br />
gleichzeitig jedoch eine bestandige Verfeinerung mathematischer<br />
<strong>Strukturen</strong>. So haben die Begriffe „nicht reprasentativer Realismus" und „struktureller<br />
Realismus" beide ihre Berechtigung.<br />
Ein wichtiges Merkmal des Fortschritts in der Physik ist das AusmaB, in dem<br />
eine Theorie den Erft)lg einer von ihr abgelosten Theorie erklaren kann, indem sie<br />
mehr leistet, <strong>als</strong> lediglich die Vorhersageerft)lge dieser Theorie zu reproduzieren.<br />
Fresnels Theorie des Lichts war erft)lgreich, weil das Licht unter bestimmten<br />
Bedingungen tatsachlich Wellencharakter hat, eine Tatsache, die von den aktuellen<br />
<strong>Theorien</strong> nicht verworfen, sondem bekraftigt wird. Ahnlich kann aus der Perspektive<br />
der Relativitatstheorie nachvollzogen werden, warum es unter einer gro-<br />
Ben Vielfalt von Bedingungen (inklusive der, dass die Masse nicht zu groB ist und<br />
die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nicht zu nahe kommt) nicht vollig<br />
f<strong>als</strong>ch ist, den Raum <strong>als</strong> ein Behaltnis anzusehen, das von der Zeit und den ihm<br />
innewohnenden Objekten unabhangig ist. Jeder Beitrag zum Fortschritt in der<br />
Physik muss in der Lage sein, solchen generellen Merkmalen gerecht zu werden.<br />
Wie eine Position, die dies leistet, genannt wird, ist von untergeordneter Bedeutung.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
Diese Diskussion bezieht sich in weiten Strecken auf die Texte Worralls aus den<br />
Jahren 1982 und 1989b. Eine Sammlung von Artikeln zum Realismus in der Wissenschaft<br />
bietet Leplin (1984). Poppers Verteidigung des Realismus gegeniiber<br />
dem Instrumentalismus fmdet sich in Kapitel 3 von „Vermutungen und Widerlegungen"<br />
(2000, engl. Orig. 1969) und bei Popper (1983). Klassische Texte zum<br />
Anti-Realismus sind die von Duhem (1978, 1969). Eine modemere Version bietet<br />
van Fraassen (1980).<br />
195
16<br />
Epilog<br />
In diesem abschlieBenden Abschnitt will ich einige Gedanken zu dem, was in den<br />
vorausgegangenen Kapiteln erreicht werden konnte, auBern. Ich werfe drei miteinander<br />
verbundene Fragen auf, die mich wahrend des Schreibens dieses Buches<br />
beschaftigt haben und noch immer beschaftigen.<br />
1. Habe ich die Frage, die im Titel dieses Buches mitschwingt, beantwortet?<br />
Was ist Wissenschaft? Was sind ihre Wege?<br />
2. Wie ist die Verbindung zwischen den in diesem Buch gegebenen<br />
historischen Beispielen und der verteidigten philosophischen These<br />
beschaffen? Belegen die Beispiele meine Argumente oder sind sie<br />
simple Illustrationen?<br />
3. In welchem Zusammenhang stehen die in den Kapiteln 12 und 13<br />
diskutierten generellen Aussagen des Bayesianismus und diejenigen<br />
der Neuen Experimentalisten zu den Argumenten „wider den Methodenzwang",<br />
wie sie in Kapitel 11 dargestellt wurden? Kann man<br />
nicht davon ausgehen, dass alle Diskussionen zu diesem Thema<br />
redundant sind, wenn es keinen allgemeinen umfassenden wissenschaftstheoretischen<br />
Ansatz gibt?<br />
Meine Antwort ist Folgende: Ich bleibe dabei, es gibt nicht den allgemeinen wissenschaftlichen<br />
Ansatz und die allgemeine wissenschaftliche Methode, die sich<br />
auf alle historischen Stufen ihrer Entwicklung anwenden lassen. Mit Sicherheit hat<br />
die Philosophic keine Ressourcen, einen solchen Beitrag zu liefern. In gewissem<br />
Sinne fuhrt der Titel dieses Buches in die Irre. Dennoch ist die Charakterisierung<br />
verschiedener Wissenschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen eine sinnvolle<br />
und wichtige Aufgabe. Im Rahmen dieses Buches habe ich versucht, dieser<br />
Aufgabe fur die Physik von der Zeit der wissenschaftlichen Revolution im 17.<br />
Jahrhundert bis heute gerecht zu werden (allerdings habe ich es unterlassen, mich<br />
mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefem Innovationen wie die Quantenmechanik<br />
und die Quantenfeldtheorie qualitativ neue Charakteristika beinhalten). Die
198<br />
Aufgabe brachte es mit sich, die Natur der Physik in der Hauptsache an geeigneten<br />
historischen Beispielen darzustellen. Diese historischen Beispiele stellen daher<br />
nicht nur Illustrationen dar, sondem sind ein wesentlicher Teil dieser Auseinandersetzung.<br />
Obwohl die Physik keine universelle Definition der Wissenschaft liefert, ist<br />
sie sicher nicht ohne Nutzen fur die Debatte daruber, was <strong>als</strong> Wissenschaft gilt<br />
und was nicht. Ein Beispiel dafiir ist die Auseinandersetzung uber die „Sch6pfungslehre".<br />
Ich nehme an, dass das Hauptziel derjenigen, die die „Schopfungslehre"<br />
unter diesem Namen verteidigen, ist, zu implizieren, dass ihr Charakter dem<br />
anerkannter Wissenschaften wie der Physik ahnlich ist. Die in diesem Buch vertretene<br />
Position ermoglicht es, sich mit dieser Behauptung auseinanderzusetzen.<br />
Indem dargestellt wird, welche Wissensinhalte in der Physik gesucht werden,<br />
welche Methoden, sie zu belegen, verfugbar sind und zu welchen Erfolgen dies<br />
gefiihrt hat, bietet sich eine Basis fur einen Vergleich mit der „Sch6pfungslehre".<br />
Sind die Ahnlichkeiten und Unahnlichkeiten der beiden Disziplinen beschrieben,<br />
haben wir alles, um sie zu beurteilen und sind in der Lage, richtig einzuschatzen,<br />
ob sich die „Schopfungslehre" legitimerweise Wissenschaft nennen kann. Ein<br />
universeller Beitrag zu Wissenschaft ist nicht notig.<br />
Im vorletzten Absatz wurde gesagt, dass das Portrat der Physik durch die Bezugnahme<br />
auf „geeignete historische Beispiele" verteidigt werden soil. Das bedarf<br />
einer Prazisierung. Geeignete Beispiele beziehen sich auf die Erkenntnisfunktion<br />
der Physik. Sie befassen sich mit den Arten von Aussagen, die in der Physik gemacht<br />
werden, sowie der Frage, wie sie auf sie bezogen und an ihr Uberpriift werden<br />
konnen. Gleichzeitig beziehen sie sich auf das, was Philosophen die Epistemologie<br />
der Wissenschaft nennen. Das Leitmotiv der Wissenschaftsphilosophie ist<br />
es, mittels historischer Beispiele die epistemologische Funktion der Wissenschaft<br />
darzustellen und zu klaren. Diese Art der Wissenschaftsgeschichte ist selektiv und<br />
sicher nicht die einzig mogliche oder wichtigste. Die Produktion wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis findet immer innerhalb eines sozialen Kontextes statt, der mit<br />
anderen Zielen im Zusammenhang steht, wie personliche und professionelle Ziele<br />
von Wissenschaftlem, okonomischen Interessen von Sponsoren, ideologischen<br />
Interessen der verschiedenen religiosen und politischen Gruppierungen und so<br />
weiter. Eine Geschichtsbetrachtung, die diese Verbindungen untersucht, ist sowohl<br />
legitim <strong>als</strong> auch wichtig. Ich behaupte jedoch, dass sie das Anliegen dieses<br />
Buches nicht beriihrt. Es gibt wissenschaftssoziologische Studien, die gegenwartig<br />
en vogue sind und die nahe legen, dass die Art epistemologischer Studie, wie ich<br />
sie in diesem Buch vorgelegt habe, nicht erfolgreich sein kann, ohne der ganzen<br />
Bandbreite sozialer Aspekte der Wissenschaft Aufmerksamkeit zu schenken. In<br />
dem vorliegenden Text habe ich mich nicht mit diesen Gedankenrichtungen auseinandergesetzt.<br />
Mein Versuch, dem Beitrag der gegenwartigen wissenschaftssoziologischen<br />
Studien gerecht zu werden, findet sich in dem Buch Grenzen der<br />
Wissenschaft (Chalmers, 1999), aus dem, wie ich hoffe, hervorgeht, dass ich Studien<br />
zu sozialen und politischen Aspekten der Wissenschaft fiir sehr wichtig halte.<br />
Der strittige Punkt ist die epistemologische Relevanz solcher Studien.<br />
Wir wollen uns nun der Frage nach dem Status des bayesschen Ansatzes und<br />
des Neuen Experimentalismus zuwenden, wie er sich im Lichte meines Leugnens
einer universellen Methode darstellt. Wie der Titel des 1989 publizierten Textes<br />
von Howson und Urbach deutlich signalisiert, erscheint der bayessche Ansatz <strong>als</strong><br />
ein Versuch, einen Beitrag zum wissenschaftlichen Denken im Allgemeinen zu<br />
liefem. Dieser Eindruck birgt jedoch noch keine Analyse. Selbst wenn wir die<br />
bayessche Strategie unhinterfragt akzeptieren, ist das, was sie uns bietet, ein genereller<br />
Weg, die Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, die tFberzeugungen im<br />
Lichte neuer Befunde zugewiesen werden mtissen. Er hebt das wissenschaftliche<br />
Denken nicht heraus und unterscheidet es nicht von anderen Bereichen. Tatsachlich<br />
liegt die ntitzlichste Anwendung des bayesschen Ansatzes eher im Bereich<br />
des Glucksspiels <strong>als</strong> in dem der Wissenschaft. In der Konsequenz muss der bayessche<br />
Ansatz dann, wenn er uns etwas zur Wissenschaft im Speziellen sagen will,<br />
um einige auf ihm beruhende Beitrage zu Oberzeugungen und Beftmden in der<br />
Wissenschaft erweitert werden. Ich behaupte, dass dies nur durch eine sorgfaltige<br />
Beriicksichtigung der Wissenschaft selbst moglich ist. Im Weiteren gehe ich davon<br />
aus, dass sich Unterschiede zwischen den verschiedenen Wissenschaften, und<br />
sogar qualitative Wechsel innerhalb der Methoden der einzelnen Wissenschaften,<br />
zeigen werden. Das bedeutet, dass der bayessche Ansatz das Leugnen einer universellen<br />
Methode nicht infrage stellt und genau die Art epistemologischer Wissenschaftsgeschichte<br />
benotigt, ftir die ich mich hier ausspreche.<br />
Der Neue Experimentalismus hat sicher einige wichtige Merkmale des Experiments<br />
und dessen, was durch das Experiment in der Physik und der Biologic<br />
erreicht werden konnte, aufgedeckt. Dennoch kann er nicht den universellen Beitrag<br />
zur Wissenschaft leisten. Durch Beispiele hat der Neue Experimentalismus<br />
die Moglichkeiten und Erft)lge von Experimenten in den Naturwissenschaften der<br />
letzten 300 Jahre aufgezeigt, und Mayo hat durch die Bezugnahme auf die Fehlertheorie<br />
und die Statistik eine ft)rmale Untermauerung des experimentellen Denkens<br />
geliefert. Aus zwei Grtinden reicht dies fur einen universellen Beitrag zur<br />
Wissenschaft jedoch nicht aus: Zum einen macht die Betonung der experimentellen<br />
Manipulation, die der Neue Experimentalismus beinhaltet, diesen Ansatz<br />
weitgehend irrelevant fur das Verstandnis von Disziplinen, in denen eine experimentelle<br />
Manipulation weitgehend unmoglich oder unangemessen ist. Das gilt vor<br />
allem ftir die Sozial- und Geschichtswissenschaften. Es ware denkbar, diese<br />
Schlussfolgerungen zu umgehen, indem man Wissenschaft mit experimenteller<br />
Wissenschaft gleichsetzt, was jedoch kaum diejenigen befi'iedigen wurde, die sich<br />
selbst zum Beispiel <strong>als</strong> Politikwissenschaftler bezeichnen. Zum anderen wurde in<br />
Kapitel 13 ins Feld geftihrt, dass der Ansatz des Neuen Experimentalismus insofem<br />
unvollstandig ist, <strong>als</strong> er keinen geeigneten Beitrag zu der entscheidenden<br />
Rolle leistet, die <strong>Theorien</strong> in der Wissenschaft spielen. Ich denke, dass Galison<br />
dies in seinem Text von 1997 sehr deutlich macht, in dem er, mit Blick auf die<br />
Moglichkeiten und Entwicklungen von Teilchendetektoren und -zahler, einen<br />
reichhaltigen deskriptiven Beitrag zum Fortschritt der Teilchenphysik des 20.<br />
Jahrhunderts liefert. Was dieses Buch offen lasst, ist die Beziehung zwischen dem<br />
experimentellen Nachweis von Teilchen und ausgefeilten <strong>Theorien</strong> uber deren<br />
Symmetric und Erhaltungsprinzipien, mittels derer Teilchen verstanden und eingeordnet<br />
werden konnen. Zum gegenwartigen Zeitpunkt halte ich es fur ein auBerordentliches<br />
und drangendes Problem der Philosophic der Naturwissenschaften,<br />
199
200<br />
die Einsichten des Neuen Experimentalismus um einen aktualisierten Beitrag zur<br />
RoUe von <strong>Theorien</strong> in den experimentellen Wissenschaften zu erweitern, der sich<br />
auf detaillierte Fallstudien bezieht.<br />
Die folgenden historischen Reflexionen illustrieren die Schwierigkeiten der<br />
Neuen Experimentalisten, einige universelle Charakteristika oder Beschreibungen<br />
von Wissenschaft zu extrahieren. Gleichzeitig machen sie die Art von Studien<br />
deutlich, die ich mir zur Klarung des Zusammenhangs zwischen Theorie und<br />
Experiment vorstelle. Zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution war die Idee, die<br />
Welt durch experimentelle Manipulation zu verstehen, keineswegs neu. Die<br />
Alchemie, im weitesten Sinne eher <strong>als</strong> Vorgangerin der modemen Chemie verstanden,<br />
die sich der Transformation von Materie widmete, im engeren Sinne <strong>als</strong><br />
Versuch, Metalle in Gold zu verwandeln, reicht zurtick bis in die Antike und erreichte<br />
ihre Bltitezeit im Mittelalter. In der Praxis war sie nicht besonders erfolgreich.<br />
Dieser mangelnde Erfolg kann jedoch nicht einfach auf das Fehlen der<br />
Theoriegeleitetheit zurtickgefuhrt werden. Eine Reihe von atomistischen und<br />
anderen <strong>Theorien</strong> zur Materie trug zur Arbeit der Alchemisten bei. Wenn man die<br />
Theorie ignoriert und einfach auf die experimentelle Praxis abhebt, kann man in<br />
der handwerklichen Tradition der Metallurgen und Hersteller von Arzneimitteln<br />
des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutende Fortschritte erkennen. Das diesbeziigliche<br />
Wissen kann jedoch <strong>als</strong> qualitativ anders <strong>als</strong> das der im spaten 17. und im 18.<br />
Jahrhundert aufkommenden Chemie betrachtet werden. Letztere beinhaltet zwar<br />
„Theorie", diese war jedoch eine sehr niedrig anzusetzende und vom Atomismus<br />
weit entfemt. Was benotigt wurde, und was zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereitgestellt<br />
wurde, ist ein Verstandnis chemischer Kombinationen und Rekombinationen<br />
von Substanzen, das die Idee beinhaltet, dass miteinander kombinierte<br />
Substanzen in der resultierenden Zusammensetzung weiter existieren und aus<br />
ihnen mittels geeigneter Manipulationen wieder extrahiert werden konnen. Die<br />
Einteilung von Substanzen in Sauren und Laugen sowie Salzen, die durch gegenseitige<br />
Neutralisation der ersten beiden entstehen, bot einen Weg, die Forschung<br />
so zu organisieren, dass ein Fortschritt ohne atomistische oder andere Materietheorien<br />
moglich war. Das 19. Jahrhundert war schon weit fortgeschritten, bevor<br />
die Zeit gekommen war, solche Spekulationen mit Experimenten zu verbinden. So<br />
ist die Frage nach der Rolle des Experiments in der Wissenschaft und seine Verbindung<br />
zur Theorie komplex und historisch gesehen relativ, selbst wenn wir die<br />
Diskussion auf die Chemie beschranken.<br />
Ich mochte mit einigen Anmerkungen zur Beziehung zwischen den hier ausgefiihrten<br />
Sichtweisen von Wissenschaft und der praktischen Arbeit von Wissenschaftlern<br />
schlieBen. Da ich abgestritten habe, dass es einen den Philosophen<br />
zuganglichen universellen Beitrag zur Wissenschaft gibt, der in der Lage ist, MaBstabe<br />
zur Beurteilung von Wissenschaft zur Verfugung zu stellen, und da ich<br />
argumentiert habe, dass ein angemessener Beitrag zu den verschiedenen Wissenschaften<br />
nur durch eine enge Bezugnahme auf die Wissenschaften selbst moglich<br />
ist, konnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Sichtweisen von Wissenschaftsphilosophen<br />
uberflussig sind und dass nur die der Wissenschaftler selbst<br />
Konsequenzen hatten. Man konnte denken, dass ich, sofem ich erfolgreich meine<br />
Sache vertreten habe, mich selbst der Arbeit beraube. Dieser Schluss ist - zum
201<br />
Gluck - unzulassig. Obwohl es richtig ist, dass Wissenschaftler selbst am besten<br />
in der Lage sind, durch ihre praktische Tatigkeit Wissenschaft voranzubringen und<br />
in dieser Hinsicht keine Ratschlage von Philosophen benotigen, sind sie doch<br />
nicht besonders erfahren darin, einen Schritt von ihrer Arbeit zuruckzutreten und<br />
die Natur ihrer Arbeit zu beschreiben und zu charakterisieren. Ublicherweise sind<br />
Wissenschaftler gut darin, der Wissenschaft zum Fortschritt zu verhelfen, aber<br />
nicht besonders gut darin, zu beschreiben, worin dieser Erfolg besteht. Das ist der<br />
Grund dafiir, dass Wissenschaftler fur Debatten uber die Natur und den Status von<br />
Wissenschaft nicht gut ausgertistet sind und sich in der Kegel nicht besonders gut<br />
schlagen, wenn es um die Natur und den Status von Disziplinen geht, wie zum<br />
Beispiel in der Beurteilung der „Schopfiingslehre". Dieses Buch soil kein Beitrag<br />
zur Wissenschaft sein, nicht einmal zur Physik, auf die ich mich vorrangig beziehe.<br />
Vielmehr habe ich, groBtenteils mithilfe historischer Beispiele, versucht,<br />
deutlich zu machen, was die Physik ist bzw. war.<br />
Weiterfiihrende Literatur<br />
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atomistischen <strong>Theorien</strong> siehe Newman (1994). Den Ansatz, Alchemic eher <strong>als</strong><br />
Chemie zu interpretieren, aber auch eine Darstellung der Entwicklung einer engeren<br />
Interpretation von „Alchemie" Ende des 17. Jahrhunderts, fmden sich bei<br />
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Salmon, W. (1966). The Foundations of Scientific Inference. Pittsburgh: University<br />
of Pittsburgh Press.<br />
Schilpp, P. A. (Hrsg.)(1974). The Philosophy of Karl Popper. La Salle, Illinois:<br />
Open Court.<br />
Shapere, D. (1982). The Concept of Observation in Science and Philosophy.<br />
Philosophy of Science 49: 485-525.<br />
Stove, D. (1973). Probability and Hume's Inductive Skepticism. Oxford: Oxford<br />
University Press.<br />
Tarski, A. (1936). Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. Studio<br />
Philosophica 1.<br />
Thomason, N. (1994). The Power of ARCHED Hypotheses: Feyerabend's Galileo<br />
as a Closet Rationalist. British Journal for the Philosophy of Science 45: 255-<br />
264.<br />
Thomason, N. (1998). 1543 - The Year That Copernicus Didn't Predict the Phases<br />
of Venus. In: A. Corones & G. Freeland (Hrsg.): 1543 and All That.<br />
Dordrecht: Reidel.<br />
Thurber, J. (1933). My Life and Hard Times. New York: Harper.<br />
Woolgar, S. (1988). Science: The Very Idea. London: Tavistock.<br />
Worrall, J. (1976). Thomas Young and the ,Refutation' of Newtonian Optics: A<br />
Case Study in the Interaction of Philosophy of Science and History. In: C.<br />
Howson (Hrsg.): Method and Appraisal in the Physical Sciences. Cambridge:<br />
Cambridge University Press, 107-179.
209<br />
Worrall, J. (1982). Scientific Realism and Scientific Change. Philosophical Quarterly<br />
32: 201-231.<br />
Worrall, J. (1985). Scientific Reasoning and Theory Confirmation. In: J. Pitt<br />
(Hrsg.): Change and Progress in Modern Science. Dordrecht: Reidel.<br />
Worrall, J. (1988). The Value of a Fixed Methodology. British Journal for the<br />
Philosophy of Science 39: 263-75.<br />
Worrall, J. (1989a). Fresnel, Poisson and the White Spot: The Role of Seccessful<br />
Predictions in Theory Acceptance. In: D. Gooding, S. Schaffer, T. Pinch<br />
(Hrsg.): The Uses of Experiment: Studies of Experiment in Natural Science.<br />
Cambridge: Cambridge University Press.<br />
Worrall, J. (1989b). Structural Realism: The Best of Both Worlds? Dialectica 43:<br />
99-124.<br />
Worrall, J. & Currie, G. (Hrsg.)( 1982a). Imre Lakatos: Philosophische Schriften,<br />
Bd. 1: Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme.<br />
Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg.<br />
Worrall, J. & Currie, G.: (Hrsg.)( 1982b). Imre Lakatos: Philosophische Schriften,<br />
Bd. 2: Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie. Braunschweig,<br />
Wiesbaden: Vieweg.<br />
Zahar, E. (1973). Why Did Einstein's Theory Supersede Lorentz's? British Journal<br />
for the Philosophy of Science 24: 95-123, 223-263.
Deutschsprachige Bibliographic<br />
zur Wissenschaftstheorie<br />
Die folgende deutschsprachige BibHographie stellt eine Zusammestellung von<br />
Werken dar, welche die Herausgeber fur eine weiterflihrende Beschaftigung mit<br />
der Thematik <strong>als</strong> niitzlich erachten. Sie tragt dem Umstand Rechnung, dass sich<br />
der Autor weitestgehend auf anglo-amerikanische Literatur bezieht; auch bleiben<br />
bei den Angaben zur „weiterfuhrenden Literatur" Entwicklungen im deutschsprachigen<br />
Raum weitgehend ausgespart. Seit der ersten deutschsprachigen Auflage ist<br />
die Zahl der hier aufgenommenen Titel mit den Auflagen des Buches deutlich<br />
angewachsen; waren es in der 1. Auflage 133 Titel, auf die hingewiesen wurde, so<br />
umfasst die aktuelle Bibliographic der vorliegenden sechsten Auflage mittlerweile<br />
iiber 300 Titel, die unter den Uberschriften Lexika, Handbucher und Standardwerke,<br />
Sammelbdnde, Allgemeine Einfuhrungswerke, Wissenschaftstheoretische<br />
Richtungen und Wissenschaftstheoretische Grundlagen einzelner Fachwissenschaften<br />
vorgestellt werden. Daruber hinaus fmden sich Hinweise auf einschlagige<br />
deutsche Zeitschriften zur Wissenschaftstheorie.<br />
I. LEXIKA<br />
Braun, E. & Rademacher, H. (Hrsg.): Wissenschaftstheoretisches Lexikon. Graz,<br />
Wien, Koln: Styria, 1978.<br />
MittelstraB, J. (Hrsg.): Enzyklopddie Philosophic und Wissenschaftstheorie:<br />
Mannheim, Wien, Zurich: Bibliographisches Institut, 1980 (Bd. 1: A-G),<br />
1984 (Bd. 2: H-0); Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 1995 (Bd. 3: P-So),<br />
1996(Bd.4:Sp-Z).<br />
Ritter, J., Griinder, K.: Historisches Worterbuch der Philosophic, Bd. 1-10.<br />
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971-1998.<br />
Sandkuhler, H. J. (Hrsg., unter Mitwirkung von D. Patzold, A. Regenbogen und<br />
P. Stekeler-Weithofer): Enzyklopddie Philosophic. Bd. 1-2. Hamburg: Felix<br />
Meiner, 1999.
212<br />
Sandkuhler, H. J. (Hrsg.): Europdische Enzyklopddie zu Philosophic und Wissenschaften,<br />
Bd. 1-4. Hamburg: Felix Meiner, 1990.<br />
Seiffert, H. & Radnitzky, G. (Hrsg.): Handlexikon der Wissenschaftstheorie.<br />
Miinchen: dtv, 19941<br />
Speck, J. (Hrsg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 1-3. Gottingen:<br />
Vandenhoeck & Ruprecht (UTB), 1980.<br />
II. HANDBUCHER UND STANDARDWERKE<br />
Essler, W. K.: Wissenschaftstheorie. Bd. I: Definition und Rcduktion (1982, 2.,<br />
bearb. und erw. Aufl.). Bd. II: Theoric und Erfahrung (1971). Bd. Ill: Wahrscheinlichkeit<br />
und Induktion (1973). Bd. IV: Erkldrung und Kausalitdt<br />
(1979). Freiburg, Munchen: Karl Alber, 1971-1982.<br />
Kutschera, F. v.: Grundlagen der Erkenntnistheorie. Berlin, New York: de Gruyter,<br />
1981.<br />
Kutschera, F. v.: Wissenschaftstheorie. Grundzuge der allgemeinen Methodologie<br />
der empirischen Wissenschaften. Bd. 1-2. Munchen: W. Fink, 1972.<br />
Lay, R.: Grundzuge einer komplexen Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Grundlagen<br />
und Wissenschaftslogik. Bd. 2: Wissenschaftsmethodik und spezielle Wissenschaftstheorie.<br />
Frankfurt/Main: J. Knecht, 1971 (Bd. 1), 1973 (Bd. 2).<br />
Oeser, E.: Wissenschaft <strong>als</strong> Information. Bd. 1: Wissenschaftstheorie und empirische<br />
Wissenschaftsforschung. Bd. 2: Erkenntnis <strong>als</strong> Informationsprozefi. Bd.<br />
3: Struktur und Dynamik erfahrungswissenschaftlicher Systeme. Wien, Munchen:<br />
R. Oldenbourg, 1976.<br />
Oeser, E.: Wissenschaftstheorie <strong>als</strong> Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte.<br />
Bd. 1: Metrisierung, Hypothesenbildung, <strong>Theorien</strong>dynamik. Bd. 2: Experiment,<br />
Erkldrung, Prognose. Wien, Munchen: R. Oldenbourg, 1979.<br />
Stegmiiller, W.: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen<br />
Philosophic. Bd. I: Erkldrung — Begriindung - Kausalitdt (1983, 2.<br />
verb. u. erw. Aufl.). Bd. II: Theorie und Erfahrung. 1. Teilband: Begriffsformen,<br />
Wissenschaftssprache, empirische Signifikanz und theoretische Begriffe<br />
(1974, verb. Neudruck). 2. Teilband: <strong>Theorien</strong>strukturen und <strong>Theorien</strong>dynamik<br />
(1985, 2. korr. Aufl.). 3. Teilband: Die Entwicklung des neuen Strukturalismus<br />
seit 1973 (1986). Bd. Ill (gemeinsam mit M. Varga v. Kibed):<br />
Strukturtypen der Logik (1984). Bd. IV: Personelle und Statistische Wahrscheinlichkeit.<br />
1. Halbband: Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale<br />
Entscheidung (1973). 2. Halbband: Statistisches Schliefien - Statistische Begriindung-<br />
Statistische Analyse {\913). Berlin, Heidelberg: Springer.<br />
Stegmiiller, W.: Hauptstromungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1 u. 2. Stuttgart:<br />
Kroner, 1978 (Bd. 1), 1979 (Bd. 2).<br />
Weingartner, P.: Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Einfuhrung in die Hauptprobleme.<br />
Bd. 2: Grundprobleme der Logik und Mathematik Stuttgart, Bad Cannstatt:<br />
Frommann-Holzboog, 1977^ (Bd. 1), 1976 (Bd. 2).
213<br />
Wiener Studien zur Wissenschftstheorie (Wien: Verlag der Osterreichischen<br />
Staatsdruckerei):<br />
Riedl, R. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 1: Entwicklung der Evolutiondren Erkenntnistheorie.<br />
1987.<br />
Oeser, G. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 2: Das Realismusproblem. 1988.<br />
Kratky, K. W. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Bd. 3: Systemtheorie und Reduktionismus.<br />
1989.<br />
III. SAMMELBANDE<br />
Albert, H. & Stapf, K. H. (Hrsg.): Theorie und Erfahrung. Beitrdge zur Grundlagenproblematik<br />
der Sozialwissenschaften. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979.<br />
Albert, H. & Topitsch, E. (Hrsg.): Werturteilsstreit. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, 1979 (2., um eine Bibliographie erw. Aufl.).<br />
Balzer, W. & Heidelberger, M. (Hrsg.): Zur Logik empirischer <strong>Theorien</strong>. Berlin,<br />
New York: de Gruyter, 1983.<br />
Bouillon, H. & Andersson, G. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und Wissenschaften.<br />
Festschrift fur Gerard Radnitzky aus Anlafi seines 70. Geburtstages, Berlin:<br />
Duncker & Humblot, 1991.<br />
Carl, W. (Hrsg.): Wahrheit und Geschichte. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht,<br />
1999.<br />
Diederich, W. (Hrsg.): <strong>Theorien</strong> der Wissenschaftsgeschichte. Beitrdge zur diachronen<br />
Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1978.<br />
Diemer, A. (Hrsg.): Der Methoden- und <strong>Theorien</strong>pluralismus in den Wissenschaften.<br />
Meisenheim/Glan: Hain, 1971.<br />
Duerr, H. P. (Hrsg.): Versuchungen. Aufsdtze zur Philosophic Paul Feyerabends.<br />
2 Bande. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1980 (Bd. 1.), 1981 (Bd. 2).<br />
Duerr, H. P. (Hrsg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Bd. 1: Beitrdge<br />
aus Ethnologic und Anthropologic, Bd. 2: Beitrdge aus Philosophic und Psychologic.<br />
Frankfurt/Main: Syndikat, 1981.<br />
Freisitzer, K. & Haller, R. (Hrsg.): Problemc des Erkenntnisfortschritts in den<br />
Wissenschaftcn. Wien: VWGO, 1977.<br />
Gesang, B. (Hrsg): Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie? Frankfurt/<br />
Main: Ontos, 2005.<br />
Hagner, M. & Laubichler, M. (Hrsg.): Der Hochsitz des Wissens. Das Allgemeine<br />
<strong>als</strong> wissenschaftlichcr Wert. Zurich: Diaphanes, 2006.<br />
Hoyningen-Huene, P., Hirsch, G. (Hrsg.): Wozu Wissenschaftsphilosophie?<br />
Positionen und Fragen zur gegenwdrtigen Wissenschaftsphilosophie. Berlin,<br />
New York: de Gruyter, 1988.<br />
Hubig, Ch. & Rahden, W. v. (Hrsg.): Konscquenzen kritischer Wissenschaftstheorie.<br />
Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1978.<br />
Jahraus, O. & Ort, N. (Hrsg.): Theorie - Prozess - Selbstreferenz. Systemtheorie<br />
und transdisziplindre Theoriebildung. Konstanz: Universitatsverlag, 2003.
214<br />
Janich, P. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung. Miinchen:<br />
C. H. Beck, 1981.<br />
Kruger, L. (Hrsg.): Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Texte zur Einfuhrung<br />
in die Philosophic der Wissenschaften. Koln, Berlin: Kiepenheuer &<br />
Witsch, 1970.<br />
Kruger, L., Stroker, E., Pilot, H., Drieschner, M. & Radnitzky, G. (Hrsg.):<br />
Tendenzen der Wissenschaftstheorie. Neue Hefte fiir Philosophie, 1974, Heft<br />
6/7.<br />
Lenk, H. (Hrsg.): Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie. Beitrage zur wissenschaftlichen<br />
Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft fiir<br />
Philosophie in Deutschland, Karlsruhe 1970. Braunschweig, Wiesbaden:<br />
Vieweg, 1971.<br />
Lenk, H. (Hrsg., unter Mitwirkung von W. Deppert, H. Fiebig, G. Gebauer & F.<br />
Rapp): Zur Kritik der wissenschaftlichen Rationalitdt. Zum 65. Geburtstag<br />
von Kurt Hubner. Freiburg, Munchen: Karl Alber, 1986.<br />
Lenk, H. & Ropohl, G. (Hrsg.): Systemtheorie <strong>als</strong> Wissenschaftsprogramm. Konigstein/Ts.:<br />
Athenaum, 1978.<br />
Mittelstrafi, J. & Riedel, M. (Hrsg.): Vernunftiges Denken. Studien zur praktischen<br />
Philosophie und Wissenschaftstheorie. Berlin, New York: de Gruyter,<br />
1978.<br />
Miiller, K., Schepers, H. & Totok, W. (Hrsg.): Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichtefur<br />
die Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Franz Steiner, 1977.<br />
Radnitzky, G. & Andersson, G. (Hrsg.): Fortschritt und Rationalitdt der Wissenschaft.<br />
Tubingen: Mohr Siebeck, 1980.<br />
Radnitzky, G. & Andersson, G. (Hrsg.): Voraussetzungen und Grenzen der<br />
Wissenschaft. Tubingen: Mohr Siebeck, 1981.<br />
Rombach, H. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Probleme und Positionen der<br />
Wissenschaftstheorie. Bd. 2: Struktur und Methode der Wissenschaften. Freiburg,<br />
Basel, Wien: Herder, 19831<br />
Schurz, G. (Hrsg.): Erkldren und Verstehen in der Wissenschaft. Wien, Munchen:<br />
R. Oldenbourg, 1990.<br />
Simon-Schaefer, R. i& Zimmerli, W. Ch. (Hrsg.): Wissenschaftstheorien der<br />
Geisteswissenschaft. Konzeptionen, Vorschldge, Entwurfe. Hamburg: Hoffmann<br />
& Campe, 1975.<br />
Stadler, F. (Hrsg.): Elemente moderner Wissenschaftstheorie. Zur Interaktion von<br />
Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften. Wien, New York:<br />
Springer, 2000.<br />
Thiede, C. P. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis. Reichweiten<br />
und Zukunftsperspektiven interdisziplindrer Forschung. Paderborn: Bonifatius,<br />
1995.<br />
Topitsch, E. (Hrsg., unter Mitarbeit von P. Payer): Logik der Sozialwissenschaften.<br />
Konigstein/Ts.: Verlagsgruppe Athenaum, Hain, Scriptor, Hanstein, 1980<br />
(10., veranderte Aufl.).
IV. ALLGEMEINE EINFUHRUNGEN<br />
215<br />
Balzer, W.: Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsdtze der Wissenschaftstheorie.<br />
Ein Lehrbuch. Freiburg, Munchen: Karl Alber, 1997.<br />
Bayertz, K.: Wissenschaftstheorie und Paradigma-Begriff. Stuttgart; J. B. Metzler,<br />
1981.<br />
Bochenski, I. M.: Die zeitgenossischen Denkmethoden. Munchen: Francke (UTB),<br />
1980^1. Aufl. 1954).<br />
Bohme, G.: Philosophieren mit Kant. Zur Rekrutierung der Kantischen Erkenntnis-<br />
und Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986.<br />
Carrier, M.: Wissenschaftstheorie zur EinfUhrung. Hamburg: Junius, 2006.<br />
Charpa, U.: Grundprobleme der Wissenschaftsphilosophie. Paderbom; Ferdinand<br />
Schoningh (UTB), 1996.<br />
Charpa, U.: Philosophische Wissenschaftshistorie. Braunschweig, Wiesbaden:<br />
Vieweg, 1995.<br />
Detel, W.: Grundkurs Philosophic, Bd. 4. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.<br />
Stuttgart: Reclam, 2007.<br />
Eberhard, K.: Einfuhrung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte<br />
und Praxis der konkurrierenden Erkenntniswege. Stuttgart: Kohlhammer<br />
(Urban-Taschenbticher, Bd. 386), 1999 (2., iiberarb. Aufl).<br />
Esser, H., Klenovits, K. & Zehnpfennig, H.: Wissenschaftheorie. Bd. 1: Grundlagen<br />
und Analytische Wissenschaftstheorie. Bd. 2: Funktionalanalyse und<br />
hermeneutisch-dialektischeAnsdtze. Stuttgart: Teubner, 1977.<br />
Essler, W. K., Labude J., Ucsnay St. : Theorie und Erfahrung. Eine Einfuhrung<br />
in die Wissenschaftstheorie. Freiburg, Munchen: Karl Alber, 2000.<br />
Flach, W.: Thesenzum Begriffder Wissenschaftstheorie. Bonn: Bouvier, 1979.<br />
Foellesdal, D., Walloee, L. & Elster, J.: Rationale Argumentation. Ein Grundkurs<br />
in Argumentation- und Wissenschaftstheorie. Berlin, New York: de<br />
Gruyter, 1988.<br />
Gadenne, V. & Visitin, A. (Hrsg.): Wissenschaftsphilosophie. Freiburg, Munchen:<br />
Karl Alber, 1999.<br />
Heller, B.: Wie entsteht Wissenschaft? Eine Reise durch die Wissenschaftstheorie.<br />
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005.<br />
Hosle, v.: Die Philosophic und die Wissenschaften. Miinchen: C. H. Beck, 1999.<br />
Hiibner, K.: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg, Munchen: Karl<br />
Alber, 1993^<br />
Johr, W. A.: Gesprdche iiber Wissenschaftstheorie. Tubingen: Mohr, 1973.<br />
Keller, A.: Allgemeine Erkenntnistheorie. Stuttgart: Kohlhammer (Urban-Taschenbticher),<br />
1990 (2., durchgesehen Aufl).<br />
Konig, G.: Was heifit Wissenschaftstheorie? Diisseldorf: Philosophia, 1971.<br />
Kriz, J., Liick, H. E. & Heidbrink, H. (mit einem Beitrag von H. Werbik & W.<br />
Zitterbarth): Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Eine Einfuhrung fUr Psychologen<br />
und Humanwissenschaftler. Opladen: Leske & Budrich, 1996 (3.,<br />
iiberarb. Aufl.).
216<br />
Lambert, K. & Brittan, G.: Eine Einfuhrung in die Wissenschaftsphilosophie.<br />
Berlin, New York: de Gruyter, 1991.<br />
Lauth, B. & Sareiter, J.: Wissenschaftliche Erkenntnis. Eine ideengeschichtliche<br />
Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie. Paderborn: Mentis, 2005 (2. iiberarb<br />
u. erganzte Aufl.).<br />
Leinfellner, W.: Einfuhrung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Mannheim,<br />
Wien, Zurich: Bibliographisches Institut, 1980^<br />
Losee, J.: Wissenschaftstheorie. Eine historische Einfuhrung. Munchen: C. H.<br />
Beck, 1977.<br />
Muller, S.: Programm fur eine neue Wissenschaftstheorie. Wiirzburg: Konigshausen<br />
& Neumann, 2004.<br />
Orth, E. W.: Philosophic, Wissenssoziologie oder Wissenschaftstheorie. Freiburg:<br />
KarlAlber, 1985.<br />
Peschl, M. F.: Reprdsentation und Konstruktion. Kognitions- und neuroinformatische<br />
Konzepte <strong>als</strong> Grundlage einer naturalisierten Epistemologie und Wissenschaftstheorie.<br />
Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1994.<br />
Poser, H.: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einfuhrung. Stuttgart: Rec-<br />
1am, 2001.<br />
Rufi, H. G.: Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und die Suche nach Wahrheit.<br />
Eine Einfuhrung. Stuttgart: Kohlhammer, 2004.<br />
Schneider, N. (Hrsg.): Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen.<br />
Stuttgart: Reclam, 1998.<br />
Schiilein, J. A. & Reitze, S.: Wissenschaftstheorie fur Einsteiger. Wien: WUV<br />
(UTB), 20051<br />
Schurz, G.: Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, 2006.<br />
Seiffert, H.: Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Sprachanalyse - Deduktion<br />
— Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. Bd. 2: Geisteswissenschaftliche<br />
Methoden: Phdnomenologie - Hermeneutik und historische<br />
Methode - Dialektik. Bd. 3: Handlungstheorie - Modallogik - Ethik -<br />
Systemtheorie. Bd. 4: Worterbuch der wissenschaftstheoretischen Terminologie.<br />
Mtinchen: C. H. Beck, 20031^ (Bd. 1), 19961^ (Bd. 2), 2001^ (Bd. 3),<br />
1997 (Bd. 4).<br />
Skirbekk, G. (Hrsg.): Wahrheitstheorien: Eine Auswahl aus den Diskussionen<br />
iiber Wahrheit im 20. Jahrhundert. Frankftirt/Main: Suhrkamp, 1977.<br />
Stachowiak, H. (Hrsg.): Pragmatische Tendenzen in der Wissenschaftstheorie.<br />
Hamburg: Meiner, 1995.<br />
Stroker, E.: Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, 1992^.<br />
Weingarten, M.: Wissenschaftstheorie <strong>als</strong> Wissenschaftskritik. Beitrdge zur kulturalistischen<br />
Wende in der Philosophic. Bonn: Pahl-Rugenstein, 1998.<br />
Zeidler, K. W.: Prolegomena zur Wissenschaftstheorie. Wiirzburg: Konigshausen<br />
& Neumann, 2000.<br />
Zimmerli, W. Ch. & Simon-Schaefer, R.: Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften.<br />
Konzeptionen, Vorschldge, Entwurfe. Hamburg: Hoffinann und<br />
Campe, 1982.
V. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE RICHTUNGEN<br />
HERMENEUTIK<br />
217<br />
Albert, H.: Krtik der reinen Hermeneutik Tubingen: Mohr Siebeck, 1994.<br />
Albert, H.: Hermeneutik und Realwissenschaft. Die Sinnproblematik und die<br />
Frage der theoretischen Erkenntnis. In: H. Albert: Pladoyerfur kritischen Rationalismus.<br />
Munchen: Piper, 1971 (S. 106-120).<br />
Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzuge einer philosophischen Hermeneutik<br />
Bd. I der Gesammelten Werke („Hermeneutik I"). Tubingen: Mohr<br />
Siebeck, 1990 (6., durchgesehene Aufl.; Erstauflage 1960).<br />
Gadamer, H.-G.: Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergdnzungen/Register.<br />
Bd. II der Gesammelten Werke. Tubingen: Mohr Siebeck, 1986.<br />
Gadamer, H.-G.: Die Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp, 1976.<br />
Gadamer, H.-G.: Hermeneutische EntwUrfe. Vortrdge und Aufsdtze. Ttibingen:<br />
Mohr Siebeck, 2000.<br />
Habermas J. (Hrsg.): Hermeneutik und Ideologiekritik Frankfurt/Main: Suhrkamp,<br />
1971.<br />
Kanitscheider, B. & Wetz, F. J. (Hrsg. unter Mitarbeit von B. Suchan): Hermeneutik<br />
und Naturalismus. Tubingen: Mohr Siebeck, 1998.<br />
Vedder, B.: Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation<br />
der Wirklichkeit. Stuttgart: Kohlhammer, 2000.<br />
POSITIVISMUS<br />
Kolakowski, L.: Die Philosophie des Positivismus. Munchen: Piper, 1971.<br />
Kon, I. S.: Der Positivismus in der Soziologie. Geschichtlicher Abrifi. Berlin:<br />
Akademie-Verlag, 1973.<br />
Mohn, E.: Der logische Positivismus. <strong>Theorien</strong> und politische Praxis seiner Vertreter.<br />
Frankfiirt/Main, New York: Campus, 1977.<br />
Schnadelbach, H.: Erfahrung, Begriindung und Reflexion. Versuch iiber den<br />
Positivismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1971.<br />
KRITISCHER RATIONALISMUS<br />
Albert, H.: Traktat fiber kritische Vernunft. Tubingen: Mohr Siebeck, (1991^,<br />
Erstaufl. 1968).<br />
Albert, H.: Plddoyerfilr Kritischen Rationalismus. MUnchen: Piper, 1971.<br />
Albert, H.: Konstruktion und Kritik Aufsdtze zur Philosophie des kritischen Rationalismus.<br />
Hamburg: Hoffinann & Campe, 1975^.<br />
Albert, H.: Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Stuttgart: Reclam, 1977.<br />
Albert, H.: Traktat iiber rationale Praxis. Tubingen: Mohr Siebeck, 1978.
218<br />
Albert, H.: Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. Tubingen: Mohr<br />
Siebeck, 1982.<br />
Albert, H.: Kritik der reinen Erkenntnislehre. Tubingen: Mohr Siebeck, 1987.<br />
Albert, H.: Kritischer Rationalismus. Vier Kapitel zur Kritik illusiondren Denkens.<br />
Tubingen: Mohr Siebeck (UTB), 2000.<br />
Albert, H., Radnitzky, G. & Andersson, G. (Hrsg.): Fortschritt und Rationalitdt<br />
der Wissenschaft. Tubingen: Mohr, J. C. B., (Paul Siebeck), 1980.<br />
Andersson, G.: Kritik und Wis sens chaffsgeschichte: Kuhns, Lakatos' und Fey erabends<br />
Kritik des Kritischen Rationalismus. Tubingen: J. C. B. Mohr (Paul<br />
Siebeck), 1988.<br />
Brinkmann, H., Bruder, K. J. & Munch, R. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und<br />
gesellschaftliche Praxis. Das Elend des kritischen Rationalismus. Giessen:<br />
Haessler Informations Gmb, 1982.<br />
Claufi, F.-J.: Synthetische Wissenschaftstheorie. Versuch einer Synthese derf<strong>als</strong>ifikationslogischen,<br />
der wahrscheinlichkeitslogischen und der transzendentallogischen<br />
Denkform. Berlin: Duncker & Humblot, 1980.<br />
Grossner, C: Verf all der Philosophic. Politik deutscher Philosophen. Reinbek<br />
bei Hamburg: Rowohlt, 1971.<br />
Gtinther, K. L.: Kritischer Rationalismus, Sozialdemokratie undpolitisches Handeln.<br />
Logische und psychologische Defizite einer kritizistischen Philosophic.<br />
Weinheim, Basel: Beltz, 1984.<br />
Keuth, H.: Realitdt und Wahrheit. Zur Kritik des kritischen Rationalismus. Tubingen:<br />
Mohr Siebeck, 1978<br />
Keuth, H. (Hrsg.): Karl Popper: Logik der Forschung. Berlin: Akademie, 1998.<br />
Nordhofen, E.: Das Bereichsdenken im kritischen Rationalismus. Zur finitistischen<br />
Tradition der Popperschule. Freiburg, Mtinchen: Karl Alber, 1976.<br />
Pies, I. & Leschke, M. (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus. Tubingen:<br />
Mohr Siebeck, 1999.<br />
Prim, R. & Tilmann, H.: Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft.<br />
Studienbuch zur Wissenschaftstheorie Karl R. Poppers. Mit einem erziehungswissenschaftlichen<br />
Anwendungsteil von Rolf Prim. Wiesbaden:<br />
Quelle & Meyer, 1997.<br />
Spinner, H.: Pluralismus <strong>als</strong> Erkenntnismodell. Studien zum Popperschen Erkenntnis-<br />
und Gesellschaftsmodell. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974.<br />
Spinner, H.: Begrundung, Kritik und Rationalitdt. Zur philosophischen Grundlagenproblematik<br />
des Rechtfertigungsmodells der Erkenntnis und der kritizistischen<br />
Alternative. Bd. 1: Die Entstehung des Erkenntnisproblems im griechischen<br />
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Spinner, H.: Popper und die Politik. Rekonstruktion und Kritik der Sozial-, Politik-<br />
und Geschichtsphilosophie des kritischen Rationalismus. Bd.l: Geschlossenheitsprobleme.<br />
Berlin, Bonn: Dietz, 1978.<br />
Spinner, H.: 1st der kritische Rationalimus am Ende? Auf der Suche nach den<br />
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und kritische Sozialwissenschaft. Weinheim, Basel: Beltz, 1982.
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und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994.<br />
Habermas, J.: Technik und Wissenschaft <strong>als</strong> „Ideologie". Frankfurt/Main: Suhrkamp,<br />
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Keuth, H.: Realitdt und Wahrheit. Zur Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.<br />
Tubingen: Mohr Siebeck, 1978.<br />
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zwischen Hans Albert undMrgen Habermas. Koln: Pahl-Rugenstein, 1971.<br />
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Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974.<br />
Kambartel, F. (Hrsg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie.<br />
Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974.<br />
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Kamlah, W. & Lorenzen, P.: Logische Propddeutik Vorschule des verniinftigen<br />
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um die konstruktive Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Spezielle Wissenschaftstheorie.<br />
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zum 60. Geburtstag. Berlin, New York: de Gruyter, 1978.<br />
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Lorenzen, P.: Methodisches Denken. Frankftirt/Main: Suhrkamp, 1974.<br />
Lorenzen, P.: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Metzler,<br />
2000l<br />
Lorenzen, P. & Schwemmer, O.: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie.<br />
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in Wissenschaft und Universitdt. Frankftirt/Main: Suhrkamp, 1982.<br />
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Frankftirt/Main: Suhrkamp, 1987.<br />
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Luhmann, N.: Erkenntnis <strong>als</strong> Konstruktion. Bern: Bcnteli, 1988<br />
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Rusch, G. & Schmidt, S. J. (Hrsg.): Konstruktivismus: Geschichte und Arm endung.<br />
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Vogel, M. & Wingert, L. (Hrsg.): Wis sen zwischen Entdeckung und Konstruktion.<br />
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Watzlawik, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Tduschung, Verstehen.<br />
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Watzlawik, P. (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wis sen wir, was wir zu<br />
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INTERAKTIONISTISCHER KONSTRUKTIVISMUS<br />
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Erkenntnis. Band 2: Beziehungen und Lebenswelt. Neuwied: Luchterhand,<br />
1998.<br />
Bolscho, D. & de Haan, G. (Hrsg.): Umweltbildung und Konstruktivismus. Opladen:<br />
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DIALEKTIK<br />
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MARXISMUS<br />
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Alter Orient, Antike. Greven: Fischer, 1979.<br />
Pazanin, A., Waldenfels, B. & Broekman, J. M.: Phanomenologie und Marxismus.<br />
Bd. 4: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Frankfiirt/Main: Suhrkamp,<br />
1979.<br />
Sandkuhler, H. J. (Hrsg.): Marxistische Wissenschaftstheorie. Studien zur Einfuhrung<br />
in ihren Forschungsbereich. Frankfurt/Main: Athenaum, 1974.<br />
Seiffert, H.: Marxismus und biirgerliche Wissenschaft. Kritik der Dialektik,<br />
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Tomberg, F.: Biirgerliche Wissenschaft: Begriff Geschichte, Kritik. Frankfurt/<br />
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ANALYTISCHE WISSENSCHAFTSTHEORIE<br />
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Hugli, A. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie. Reinbek:<br />
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Hugli, A. & Lubcke, P.: Philosophie im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Wissenschaftstheorie<br />
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Waismann, F.: Was ist logische Analyse? Gesammelte Aufsdtze. Frankfurt/Main:<br />
Athenaum, 1973.<br />
STRUKTURALISMUS<br />
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Ebneter, Th.: Strukturalismus und Transformationalismus. Einfuhrung in Schulen<br />
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Stegmuller, W.: Neue Wege der Wissenschaftsphilosophie. Berlin, Heidelberg,<br />
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Zoglauer, T.: Das Problem der theoretischen Terme. Eine Kritik an der strukturalistischen<br />
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GENETISCHE ERKENNTNISTHEORIE<br />
Piaget, J.: Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt/Main,<br />
Berlin, Wien: Ullstein, 1972.<br />
Piaget, J.: Einfuhrung in die genetische Erkenntnistheorie. Frankfixrt/Main: Suhrkamp,<br />
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Piaget, J.: Biologie und Erkenntnis. Uber die Beziehungen von organischen Regulationen<br />
und kognitiven Prozessen. Frankfurt/Main: Fischer, 1992.<br />
EVOLUTIONARE ERKENNTNISTHEORIE<br />
Engels, E. M.: Erkenntnis <strong>als</strong> Anpassung? Eine Studie zur Evolutiondren Erkenntnistheorie.<br />
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Irrgang, B.: Lehrbuch der Evolutiondren Erkenntnistheorie. Evolution, Selbstorganisation,<br />
Kognition. Miinchen, Basel: E. Reinhardt (UTB), 1993.<br />
Lorenz, K.: Die Ruckseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen<br />
Erkennens. Miinchen, Zurich: Piper, 1973.<br />
Lorenz, K. & Wuketits, F. M. (Plrsg.): Die Evolution des Denkens. Miinchen,<br />
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Poltner, G.: Evolutiondre Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit der Evolutiondren<br />
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Riedl, R.: Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der<br />
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Riedl, R.: Evolution und Erkenntnis. Antworten auf Fragen aus unserer Zeit.<br />
Miinchen, Zurich: Piper, 1982.<br />
Riedl, R.: Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erkldrens<br />
und Verstehens. Berlin, Hamburg: Parey, 1985.<br />
Riedl, R.: Begriff der Welt. Biologische Grundlagen des Erkennens und Begreifens.<br />
Berlin, Hamburg: Parey, 1987.<br />
Riedl, R. & Bonet, E. M. (Hrsg.): Entwicklung der Evolutiondren Erkenntnistheorie.<br />
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Riedl, R. & Wuketits, F. M. (Hrsg.): Die Evolutiondre Erkenntnistheorie. Bedingungen<br />
Losungen Kontroversen. Berlin & Hamburg: Parey, 1987.<br />
Schnase, A.: Evolutiondre Erkenntnistheorie und biologische Kulturtheorie. Konrad<br />
Lorenz unter Ideologieverdacht. Wurzburg: Konigshausen & Neumann,<br />
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Vollmer, G.: Wissenschaftstheorie im Einsatz. Beitrdge zu einer selbstkritischen<br />
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Vollmer, G.: Biophilosophie. Stuttgart: Reclam, 1995.<br />
Vollmer, G.: Evolutiondre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen<br />
im Kontext von Biologie, Psychologic, Linguistik, Philosophic und Wissenschaftstheorie.<br />
Stuttgart: Hirzel, 2002^.<br />
Vollmer, G.: Wicso konncn wir die Welt crkennen? Neue Beitrdge zur Wissenschaftstheorie.<br />
Stuttgart: Hirzel, 2003.<br />
Vollmer, G.: Wissenschaftstheorie im Einsatz. Beitrdge zu einer selbstkritischen<br />
Wissenschaftsphilosophie. Stuttgart: Hirzel, 2000.<br />
REALISMUS<br />
Klein, C: Konventionalismus und Realismus. Zur erkenntnistheoretischen Relevanz<br />
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Suhm, C: Wissenschaftlicher Realismus. Eine Studie zur Realismus-Antirealismus-Debatte<br />
in der neueren Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main: Ontos, 2004.<br />
FEMINISTISCHE WISSENSCHAFTSTHEORIE<br />
Harding, S.: Das Geschlecht des Wissens: Frauen denken die Wissenschaft neu.<br />
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VI. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE GRUNDLAGEN<br />
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1973^ (S. 57-102).<br />
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Eberlein, G. & Kondratowitz, H. J. (Hrsg.): Psychologic statt Soziologie? Zur<br />
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Eberlein, G., Kroeber-Riel, W. & Leinfellner, W. (Hrsg.): Forschungslogik der<br />
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Konegen, N. & Sondergeld, K.: Wissenschaftstheorie fur Sozialwissenschaftler.<br />
Eine problemorientierte Einfuhrung. Opladen: Leske & Budrich (UTB), 1985.<br />
Lenk, H.: Zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft. Frankftirt/ Main:<br />
Suhrkamp, 1986.<br />
Prim, R. & Tilmann, H.: Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft.<br />
Studienbuch zur Wissenschaftstheorie. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1977^.<br />
Schimank, U. & Greshoff, R. (Hrsg.): Was erklart die Soziologie? Berlin: LIT-<br />
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Ritsert, J.: Zur Wissenschaftslogik einer kritischen Soziologie. Frankftirt/Main:<br />
Suhrkamp, 1976.<br />
Ritsert, J.: Einfuhrung in die Logik der Sozialwissenschaften. Mtinster: Westfalisches<br />
Dampfboot, 20031<br />
Wenturis, N., van Hove, W. & Dreier, V.: Methodologie der Sozialwissenschaften.<br />
Eine Einfuhrung. Tubingen: Francke (UTB), 1992.<br />
PSYCHOLOGIE<br />
Albert, H. & Keuth, H. (Hrsg.): Kritik der kritischen Psychologic. Hamburg:<br />
Hoffmann & Campe, 1973.<br />
Autorenkollektiv Wissenschaftspsychologie: Materialistische Wissenschaft und<br />
Psychologic. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen der mater<br />
ialistischen Psychologic. Koln: Pahl Rugenstein, 1975.<br />
Breuer, F.: Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie fur Psychologen. Mtinster:<br />
Aschendorff, 1991 (5., verb. Aufl.).<br />
Brooke, B., Rohl, W. & Westmeyer, H.: Wissenschaftstheorie auf Abwegen?<br />
Probleme der Holzkampschen Wissenschaftskonzeption. Stuttgart, Berlin,<br />
Koln, Mainz: Kohlhammer, 1973.<br />
Gadenne, V.: Theorie und Erfahrung in der psychologischen Forschung. Ttibingen:<br />
Mohr Siebeck, 1984.<br />
Groeben, N.: Handeln, Tun, Verhalten <strong>als</strong> Einheiten einer verstehend-erkldrenden<br />
Psychologic. Tubingen: Francke, 1986.<br />
Groeben, N. i& Scheele, Brigitte, B.: Argumente fur eine Psychologic des reflexiven<br />
Subjekts. Paradigmawechsel vom behavioralen zum epistemologischen<br />
Menschenbild. Darmstadt: Steinkopff, 1977.<br />
Groeben, N. & Westmeyer, H.: Kriterien psychologischer Forschung. Munchen:<br />
Juventa, 1975.<br />
Hartmann, D.: Naturwissenschqftliche <strong>Theorien</strong>. Wissenschaftstheoretische Grundlagen<br />
am Beispiel der Psychologic. Mannheim, Leipzig, Wien, Zurich: Bibliographisches<br />
Institut/B.I. Wissenschaftsverlag, 1993.<br />
Hartmann, D.: Philosophische Grundlagen der Psychologic. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft, 1998.<br />
Holzkamp, H.: Kritische Psychologic. Vorbereitende Arbeiten. Frankfurt/Main:<br />
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Holzkamp, K.: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main: Campus, 1983.<br />
Lenk, H.: Zwischen Sozialpsychologie und Sozialphilosophie. Frankfurt/Main:<br />
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Munchen, Basel: Reinhardt (UTB), 1977.<br />
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des radikalen Konstruktivismus. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1989.<br />
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Walach, H.: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte<br />
der Psychologie. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlkammer, 2005.<br />
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zur psychologischen Methodenlehre. Gottingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe,<br />
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Westmeyer, H.: Kritik der psychologischen Unvernunft. Probleme der Psychologie<br />
<strong>als</strong> Wissenschaft. Stuttgart, Berlin, Koln, Mainz: Kohlhammer, 1973.<br />
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Drerup, H.: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis. Probleme der Vermittlung<br />
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Kron, F. W.: Wissenschaftstheorie fur Pddagogen. Miinchen, Basel: Reinhardt<br />
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Lassahn, R.: Grundrifi einer Allgemeinen Pddagogik. Heidelberg: Quelle & Meyer<br />
(UTB), 1983^.<br />
Ploger, W.: Grundkurs Wissenschaftstheorie fur Pddagogen. Munchen: W. Fink<br />
(UTB), 2003.<br />
Pollak, G.: Fortschritt und Kritik. Von Popper zu Feyerabend: der kritische Rationalismus<br />
in der erziehungswissenschftlichen Rezeption. Paderbom: Schonigh/Miinchen:<br />
W. Fink, 1987.<br />
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Klinkhardt, 1996 (3., erw. und uberarb. Aufl.).
Ulich, D. (Hrsg.): Theorie und Methode der Erziehungswissenschaft. Weinheim,<br />
Basel: Beltz, 1972.<br />
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Becker, J., Konig, W., Schiitte, R., Wendt, O. & Zelewski, S. (Hrsg.): Wirtschaftsinformatik<br />
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Wiesbaden: Gabler, 2002.<br />
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Wien, Munchen: R. Oldenbourg, 1991.<br />
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Betriebswirtschaftslehre. Dusseldorf: Bertelsmann Universitatsverlag, 1972.<br />
Fischer-Winkelmann, W. F. (Hrsg.): Das Theorie-Praxis-Problem der Betriebswirtschaftslehre.<br />
Tagung der Kommission Wissenschaftstheorie. Verb and der<br />
Hochschullehrer fur Betriebswirtschaft. Wiesbaden: Gabler, 1994.<br />
Frank, U. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie in Okonomie und Wirtschaftsinformatik.<br />
Theoriebildung und -bewertung, Ontologien, Wissensmanagement. Wiesbaden:<br />
Deutscher Universitatsverlag, 2004.<br />
Gerum, E. (Hrsg.): Innovation in der Betriebswirtschaftslehre. Tagung der Kommission<br />
Wissenschaftstheorie. Wiesbaden: Gabler, 2001.<br />
Haase, M.: Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie fur Wirtschaftswissenschaftler.<br />
Stuttgart: Teubner, 2006.<br />
Heinemann, E.: Sprachlogische Aspekte rekonstruierten Denkens, Redens und<br />
Handelns. Aufbau einer Wissenschaftstheorie der Wirtschaftsinformatik. Wiesbaden:<br />
Deutscher Universitatsverlag (DUV), 2006.<br />
Holleis, W.: Don Quijote und die Wirtschaftswissenschaften. Praktische Kritik an<br />
einer unpraktischen Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Streitschrift. Beitrage<br />
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Kazmierski, U.: Volkswirtschaftslehre und analytische Handlungstheorie. Zur<br />
Diagnose, Atiologie und Therapie einer Wissenschaftskrise. Berlin: Duncker<br />
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Lutge, Ch.: Okonomische Wissenschaftstheorie. Wurzburg: Konigshausen & Neumann,<br />
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Feukert, H.: Keynes' „General Theory'' aus der Sicht der Wissenschaftstheorie.<br />
Frankfurt/Main: R. G. Fischer, 1991.<br />
Porstmann, R.: Wissenschaftstheoretische Grundfragen in den Wirtschaftswissenschaften.<br />
Teil 1: Problemlage und Auswahlkriterien. Berlin: Duncker &<br />
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Porstmann, R.: Wissenschaftstheoretische Grundfragen in den Wirtschaftswissenschaften.<br />
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Bd. 2.: Dimensionen geographischen Denkens. Osnabrtick: Universitatsverlag<br />
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Stuttgart, Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog (erscheint 3 x jahrlich).<br />
Conceptus. Zeitschrift fiir Philosophic<br />
Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Osterreichs<br />
(erscheint 2 x jahrlich).<br />
Deutsche Zeitschrift fiir Philosophic<br />
Berlin: Akademie (erscheint 12 x jahrlich).<br />
Erkenntnis. An International Journal of Analytic Philosophy<br />
(Engl.-Deut.) Dordrecht, Boston: Reidel Publ. Com. & Hamburg: F. Meiner<br />
(erscheint 3 x jahrlich).<br />
Zeitschrift fiir allgemeine Wissenschaftstheorie (1970-1984)/<br />
Journal for General Philosophy of Science (seit 1985)<br />
Wiesbaden: F. Steiner (erscheint 2 x jahrlich).<br />
Zeitschrift fiir philosophische Forschung<br />
Meisenheim/Glan: Hain (erscheint 4 x jahrlich).<br />
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Arago, F. 188<br />
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95, 100, 133, 138, 175<br />
Armstrong, D. 179,201<br />
Ayer,A.J. 18,201<br />
Bamford, G. 149,201<br />
Barnes, B. 18, 106,201f.<br />
Bayes, T. 14Iff., 202<br />
Berkeley, G. 7,201,205<br />
Bhaskar, R. 179,201<br />
Blake, T. XV<br />
Block, I. 133,201<br />
Bloor, D. 18,106,201<br />
Bohr,N. 77, 191<br />
Boltzmann, L. 103, 191, 193<br />
Boyd, R. 190,201<br />
Boyle, R. 137, 140, 171, 175f, 179,<br />
202<br />
Brahe, T. 75, 83, 109, 134ff<br />
Brown, H.J. 18,201<br />
Buchwald,J. 158,201<br />
Personenverzeichnis<br />
Camap, R. 51, 127<br />
Camot, S. 193<br />
Cartwright, N. 179, 20If<br />
Cavendish, H. 110,173<br />
Chalmers, A. F. 24, 34, 72, 129,<br />
131, 139f, 180, 197,202<br />
Chang, H. 139<br />
Christie, M. 139<br />
Clavelin,M. 133,202<br />
Clavius, C. 134<br />
Cohen, R.S. 120,202,204<br />
Comte, A. 7<br />
Coulomb, A. 177<br />
Crommelin, A. 166<br />
Currie, G. 107,120,205,207<br />
Curthoys, J. XIV<br />
Dalton, J. 95<br />
Darwin, C. 3, 12<br />
Davies, J. J. 6,202<br />
Demokrit 131<br />
Descartes, R. 91,95<br />
Dickens, C. 2<br />
Dirac, P. A. M. 191,193<br />
Dorling,J. 145, 146f, 154, 202<br />
Drake, S. 22, 135, 202f<br />
Duerr, H. P. 202,211<br />
Duhem, P. 189,192,195<br />
Duncan, M.M. 17,202<br />
Dyson, E. W. 166
236<br />
Earman, J. 154,202<br />
Eddington, A. 51,161<br />
Edge, D. O. 16,202<br />
Einstein, A. 6If., 69, 175, 95, 97,<br />
99, 103, 114, 116, 131, 161,<br />
203, 206f.<br />
Faraday, M. 89, 156f.,206<br />
Fermi, E. 191,193,228<br />
Feyerabend, P. 3, 86, 103, 119f.,<br />
122ff., 13Iff., 140£, 155, 202f,<br />
207,211,215,221<br />
Franklin, A. 34, 169,203<br />
Fraassen, B. C. v. 180, 186, 195,<br />
203<br />
Fresnel, A. J. 69, 104, 116f., 151,<br />
164, 188, 190, 194f,207<br />
Freud, S. 5If., 55, 62, 85, 111<br />
Galilei 2f, 5f, 17, 2Iff, 26, 59,<br />
61, 65, 81ff., 88, 97, 103, 110,<br />
116f., 122ff, 129, 131ff, 138,<br />
140, 149, 164f, 167, 172ff,<br />
189,203<br />
Galison, P. 34, 151, 169, 198, 203<br />
Galle,J. 66,70, 111,221<br />
Gaukroger, S. 133,203<br />
Geymonat, L. 133,203<br />
Glymour, C. 49,203<br />
Goethe, J. W. V. 58,203<br />
Gooding, D. 156, 169, 203, 207<br />
Hacking, I. 24, 34, 156, 158, 169,<br />
191, 193,203<br />
Halley, E. Ill, 141f, 144<br />
Hamilton, W. R. 178f,233<br />
Hanfling, O. 18,203<br />
Hanson, N.R. 9f, 18,204<br />
Hawking, S. 138<br />
Helmholtz, H. V. 158,223<br />
Hempel, C. G. 45, 49, 127, 204<br />
Henry, J. 18,20,173,201<br />
Hertz, H. 28ff, 34, 71, 158, 162ff,<br />
173,187,204<br />
Hirsch, P. 168,204,211<br />
Hobbes,T. 176<br />
Hooke,R. 20,204<br />
Horwich,P. 154,204<br />
Howson, C. 117, 120, 145, 147ff,<br />
198, 203f, 207<br />
Hoyningen-Huene, P. 106, 204, 211<br />
Hume, D. 7, 42, 49, 128, 172, 201,<br />
204, 207<br />
Kepler, J. 56f., 68, 81, 83f, 117<br />
Klein, U. 17, 20ff., 25, 27, 29f, 59,<br />
75, 134ff, 158, 191, 200, 204,<br />
224<br />
Koertge,N. XIV<br />
Kopernikus, N. 17, 21, 69, 78ff,<br />
83, 94, 96, 108f., 114, 116,<br />
118, 123, 125, 135f, 167, 169,<br />
188f<br />
Kuhn, T. 86f, 89ff, 105ff., 113,<br />
115, 118, 120f, 125f, 129,<br />
155, 162f,201f.,204,215,224<br />
Lagrange, J. L. 178f, 229<br />
Lakatos, I. 32, 49, 75, 77, 86,<br />
106ff, 125, 127, 129, 146f,<br />
155,202,204ff,215<br />
Laudan, L. 140,205<br />
Lavoisier, A. 65, 95<br />
Lawrence, D. H. 2<br />
Leplin, J. 195,201,205<br />
Leverrier, U. J. 66, 112<br />
Locke, J. 7, 18, 128,201,205<br />
Lodge, O. 166<br />
Mach, E. 189<br />
Marx, K. 52, 62, 108<br />
Masterman, M. 90<br />
Maxwell, J. C. 29ff, 68f, 71, 77,<br />
89, 103, 158, 178, 181, 186,<br />
188, 190,205<br />
Mayo, D. 34, 86, 99, 120, 154,<br />
159ff., 165ff, 169, 198,205<br />
Menter,J. 168,205<br />
Michelson, A. A. 103<br />
Mill,LS. 126,205<br />
Morley, L. 103<br />
Mulkay, M. J. 16, 139, 202, 205
Musgrave, A. 86, 106, 115, 120ff.<br />
Nagel, E. 127<br />
Nersessian, N. 106,206<br />
Newman, W.R. 200,206<br />
Newton, I. 3, 56f., 6If., 64, 66f.,<br />
70f., 75f., 83f., 187f., 91f., 95,<br />
100, 103f., llOff., 116, 120,<br />
145, 160, 162, 166, 174f., 179,<br />
181, 186, 188, 190,205,207<br />
Nye, M.J. 16,206<br />
0'Hear,A. 72,206<br />
Oersted, H.C. 156<br />
Osiander, A. 17, 136, 188<br />
Ostwald, W. 189<br />
Pauli, W. 94<br />
Perrin, J. 163f.<br />
Platon 68<br />
Poincare, H. 185,206<br />
Poisson, S. D. 69, 104, 151, 207<br />
Polanyi, M. 10,93,206<br />
Popper, K. R. 24, 49, 51, 55ff., 62,<br />
66f., 72, 84ff., 99f., 104, 106f.,<br />
113, 116, 122, 127, 141f., 148,<br />
155, 162, 166, lk72, 191,<br />
194f.,201,205f.,215f.,221<br />
Post,H. R. XIV<br />
Powers, H. 20<br />
Price, D. J. de S. 136,206<br />
Principe, L. M. 200,206<br />
Prout, W. 31, 147f., 152<br />
Ptolemaus, C. 78, 80, 83, 115, 135f.<br />
Quine, W. v. O. 74, 147, 206<br />
Rontgen, W. C. 59<br />
Rosenkrantz, R. D. 154, 206<br />
Rowbotham, F. J. 6,206<br />
Russell, B. 38, 49, 67, 206<br />
Russell, D. XVI<br />
Salmon, W.C. 49,206<br />
Schilpp, P. A. 72, 86, 205f.<br />
Shapere, D. 24,206<br />
Snell, W. V. R. 159<br />
Soddy, F. 32<br />
Stove, D.C. 49,207<br />
Suchting, W. XV<br />
237<br />
Tarski,A. 183f.,207<br />
Thomason, N. 167,207<br />
Thomson, J. J. 29, 34, 162f., 173,<br />
177f.<br />
Thurber,J. 22,207<br />
Urbach, P. 145, 147ff., 198, 204<br />
Vetter, H. 122<br />
Wartofsky, M. W. 120,202<br />
Weber, W. 158<br />
Wittgenstein, L. 93<br />
Wolfe, A. B. 45<br />
Woolgar, S. 185,207<br />
Worrall, J. 107, 115f., 120, 132,<br />
136, 138, 192, 194f., 205, 207<br />
Young, T. 116,207<br />
Zahar, E. 114,120,205,207
Abgrenzungskriterium zwischen<br />
Wissenschaft und Nicht- bzw.<br />
Pseudowissenschaft 84f.<br />
Adaquationstheorie<br />
siehe Korrespondenztheorie<br />
Ad-hoc-Hypothese 68, lllf., 148f.<br />
Ad-hoc-Modifikation 64 ff.<br />
Alchemie 95, 199f.<br />
Allgemeine Relativitatstheorie<br />
siehe Relativitatstheorie<br />
allgemeine Satze 43f.<br />
- Aussagen 37ff., 44, 46, 53,<br />
74, 104<br />
„anarchistische" Erkenntnistheorie<br />
2, 121ff.<br />
Anfangsbedingung 47f., 74f., 108f.,<br />
112, 175<br />
Annaherung an die Wahrheit 190ff.<br />
auch Wahrheitsndhe<br />
Anomalie 92,94, 105<br />
Anti-Realismus lOlf., 184ff., 188f.,<br />
194f.<br />
„anything goes" 122,127<br />
Approximation an die Wahrheit<br />
siehe Annaherung an die Wahrheit<br />
aristotelisches Weltbild, - System<br />
16, 65, 78ff., 83, 94ff., 100,<br />
123, 125, 132, 137f.<br />
aristotelische Physik, - Theorie 6,<br />
16, 78ff., 100, 116, 13If., 175f.<br />
Sachregister<br />
Astrologie 99, 119, 126, 162<br />
Astronomie 69, 75, 78, 82ff., 91,<br />
94, 99, 108, 110, 116, 122,<br />
124ff., 131, 189, 193<br />
Ather 31, 79, 90, 95f., 166, 181,<br />
186, 188, 190f., 194ff.<br />
Atomgewichte 147f., 150, 152<br />
Atomphysik 95, 131<br />
Atomtheorie 110,189<br />
Ausgangsbedingung<br />
siehe Anfangsbedingung<br />
Axiom 6, 95<br />
Basissatz<br />
siehe Beobachtungsaussage<br />
Bayesianismus 141ff., 155ff., 197f.<br />
subjektiver- 144<br />
Bayesianer<br />
siehe Bayesianismus<br />
Bayes-Theorem 144ff.<br />
siehe auch Bayesianismus<br />
Beobachtung 2, 5ff., lOf., 13ff.,<br />
30ff., 35, 37ff., 42ff., 48, 5Iff.,<br />
56ff, 65ff, 69, 73f, 76ff, 84f,<br />
87f, 92f, 98f, 103, 107ff,<br />
124f, 132, 134ff, 149, 151,<br />
155f, 158, 160ff., 167ff., 173,<br />
179, 181, 185ff<br />
Beobachtungsaussage 13ff, 23,<br />
37f., 44, 48, 52ff, 56f, 60, 67,<br />
70, 73, 76, 87f, 103, 108, 187
240<br />
Beobachtungssatz<br />
siehe Beobachtungsaussage<br />
Bewahrung 67ff., 70ff., 111<br />
Bewegungsgleichung<br />
lagrangesche - 178f.<br />
hamiltonsche - 178f.<br />
bohrsches Atommodell 77, 110,<br />
190f.<br />
brownsche Partikelbewegungen 164<br />
Chemie 16, 32, 91, 96, 100, 138,<br />
200f., 224, 234<br />
Deduktion 35ff., 46ff., 52, 57, 60,<br />
72, 145<br />
Definition 65,88,91,93, 197<br />
ostensive - 88<br />
disziplinares System {..disciplinary<br />
matrix") 90<br />
Dutch Books 143,145<br />
Eindeutigkeit einer Theorie 56ff., 58<br />
Einfachheit einer Theorie 80, 96,<br />
101<br />
Einsteins Theorie<br />
siehe Relativitdtstheorie<br />
Einzelaussage 38, 53, 74<br />
Elektromagnetismus, elektromagnetische<br />
Theorie 30f, 77, 88,<br />
91, 157f., 186<br />
siehe auch maxwellsche Theorie<br />
Elektromotor 156<br />
Elektronenmikroskop 158, 166,<br />
168, 187<br />
Elementarteilchenphysik 151, 177<br />
Empirismus 186<br />
konstruktiver Empirismus 13 6<br />
Entitat 171, 176, 190f.<br />
Epistemologie 197<br />
Epizykel 78ff., 83, 108f., 114f.,<br />
118, 136<br />
Erfahrung 6, 8, lOff., 17, 33, 42ff.,<br />
46, 102f., 132<br />
Erfullung 184<br />
Erhaltungssatz 177ff., 199<br />
Experiment von Cavendish 110,<br />
173<br />
Experiment, experimentelle Methode<br />
2, 5f., 9, 25ff., 35, 40,45f.,<br />
51ff., 57f., 60f., 67ff., 71ff.,<br />
83f., 88ff., 92f., 98ff., 102ff.,<br />
107ff., 112, 114, 116, 119, 124,<br />
128, 137f., 140, 146, 149,<br />
15 Iff., 155ff<br />
Experimentalismus 34, 174, 186f,<br />
197ff<br />
vgl. Neuer Experimentalismus<br />
Fallstudien 119f, 140, 150, 200<br />
F<strong>als</strong>ifikationismus 5Iff, 63f, 73ff,<br />
89,92, 107, 117, 121, 166<br />
raffinierter - („sophisticated<br />
f<strong>als</strong>ificationism") 63 ff<br />
F<strong>als</strong>ifikationsmoglichkeit 56, 63<br />
F<strong>als</strong>ifizierbarkeit 53, 55f, 58, 63<br />
F<strong>als</strong>ifizierbarkeitsgrad 63ff<br />
relativer- 63 ff<br />
absoluter- 63ff<br />
Fehler, aus Fehlem lernen 57, 100,<br />
162f<br />
Fehlerstatistiken 165<br />
Fehlertheorie 199<br />
Fehlerwahrscheinlichkeit 153<br />
Feldtheorie 196<br />
Fermi-Dirac-Statistik 191, 193<br />
Fernrohr<br />
siehe Teleskop<br />
Forschungsprogramm 107ff, 111,<br />
113f, 116ff, 151, 155<br />
degeneriertes - 113<br />
progressives - 113<br />
Fortschritt der Wissenschaft 3, 16,<br />
23, 28f, 57, 59ff, 63ff, 74, 78,<br />
87, 89f, 98ff, 105, 110, 112f,<br />
116f, 119, 122, 131, 138, 151,<br />
156f, 164, 166, 174, 189f,<br />
195, 198ff,200<br />
Freiheit 126ff, 178<br />
Gedankenexperiment 83, 88f, 116<br />
Genauigkeit von <strong>Theorien</strong><br />
siehe Prdzision von <strong>Theorien</strong>
Geschichte der Wissenschaft<br />
siehe Wissenschaftsgeschichte<br />
Gesellschaftsvertrag 128<br />
Gesetz der Lichtbrechung 159<br />
Gesetz des freien Falls 84<br />
Gesetze und <strong>Theorien</strong>, wissenschaftliche<br />
- 7, 46, 48, 52, 57, 74<br />
Gestaltwandel 96, 10 If., 105<br />
Gravitationsgesetz, - theorie 42, 56,<br />
64, 70f., 75f., 84, 109f., 118,<br />
143, 175<br />
vgl. auch new tons che Theorie<br />
„harter Kern" eines Forschungsprogramms<br />
79, 108f., 113, 118<br />
Heuristik 109ff., 117<br />
positive- 109, 11 Iff., 1117<br />
negative- 109<br />
Hilfshypothesen 74f, 109f, 143,<br />
155<br />
Hintergrundwissen 16, 18, 68ff,<br />
143, 147, 155f, 162<br />
Historischer Materialismus 1, 108,<br />
119<br />
siehe auch Marxismus oder<br />
Materialismus<br />
„humanitare" Einstellung 126<br />
Individualismus 127<br />
Individualpsychologie 55<br />
Induktionsprinzip 35ff., 55<br />
Induktionsproblem 42ff.<br />
Induktivismus 35ff, 51, 67, 71, 89,<br />
98, 107, 155<br />
„naiver"- 48,59<br />
„induktivistischer Truthahn" 3 8<br />
Inkommensurabilitat 97, 125, 155<br />
Instrumentalismus 155, 195<br />
Irradiation 134f<br />
Kartenparadoxie<br />
siehe Lugnerparadoxie<br />
Kartesianismus 91, 95<br />
keplersche Gesetze, - Theorie,<br />
auch Gesetze der Planetenbewegung<br />
43, 56f,68, 81ff, 83ff<br />
241<br />
kinetische Gastheorie 77<br />
klassische Statistik 191<br />
konstruktiver Empu*ismus<br />
siehe Empirismus<br />
kopemikanische Revolution 77,<br />
78ff., 87, 188<br />
kopemikanisches Weltbild, ~ System,<br />
Theorie von Kopemikus<br />
17, 21f, 69, 73, 75, 77ff, 86f,<br />
92, 94, 96, 102, 108ff, 114ff,<br />
123ff, 135f, 167, 169, 188f<br />
Korpuskulartheorie 186, 190<br />
siehe auch Teilchentheorie des<br />
Lichts<br />
Korrespondenztheorie der Wahrheit<br />
183f<br />
auch Addquationstheorie<br />
Krise der Wissenschaft 80, 94f, 98<br />
„Kuhnheit" von Vermutungen<br />
siehe Vermutungen<br />
Letztbegrundung 13 7<br />
„Leveller" 139<br />
Logik 35ff, 42, 46, 49, 62, 72f,<br />
102, 106, 120, 125, 145, 153f,<br />
183f<br />
logischer Positivismus<br />
siehe Positivismus<br />
Lugnerparadoxie 183<br />
Magie 126<br />
Marxismus<br />
siehe Historischer Materialismus<br />
Materialismus<br />
siehe Historischer -<br />
Materie 69, 77, 95, 137, 165, 171f,<br />
174ff, 181, 190, 199<br />
Materietheorien 199<br />
maxwellsche Theorie 71, 94f, 186<br />
siehe auch Elektromagnetismus<br />
maxwellsche Gleichung 89<br />
Mechanik 75, 79, 8Iff, 88ff, 96,<br />
llOf, 114, 116, 137, 166,<br />
177ff, 188f, 193, 196<br />
mechanische Philosophic 13 7
242<br />
Messung 14, 17, 2If., 24, 27f.,<br />
30ff., 42, 77, 92, 114, 124,<br />
147f., 152, 159, 193<br />
Metasprache 183<br />
Methodologie, auch Wissenschaftsmethodologie<br />
76, 78, 107ff.,<br />
11 Iff., 125, 146f<br />
Methodologie wissenschaftlicher<br />
Forschungsprogramme 107ff<br />
Musterbeispiel („exemplar") 90<br />
Mythen 3, 127<br />
naive Mengenlehre 61<br />
neuartige Vorhersage, Neuartigkeit<br />
von Vorhersagen<br />
siehe Vorhersage<br />
Neuer Experimentalismus 155ff<br />
newtonsche Theorie, - Physik, - Bewegungsgesetze,<br />
- Mechanik,<br />
- Astronomie, newtonsches<br />
Weltbild 3, 56, 57ff, 61f, 64,<br />
66f, 70f., 75f, 78,82ff., 87f,<br />
90ff, 95, 99f, 103f., 108ff,<br />
116, 120, 124, 141f, 145,<br />
160ff, 166, 174f, 178f., 181,<br />
186, 188, 190, 192<br />
siehe auch Gravitationsgesetz<br />
Nicht-Wissenschaft 84, 91, 99, 182<br />
Normalwissenschafl, normale Wissenschaft<br />
90ff, 97f, 100, 162<br />
Funktion normaler Wissenschaft<br />
97ff<br />
Objektsprache 183<br />
Ontologie 176<br />
Optik 43, 147f, 81f, 90ff., Ill,<br />
186, 190, 194<br />
optische Tauschung 19<br />
Paradigma 90ff, 105, 107, 113,<br />
121, 138, 155<br />
Paradigmenwechsel 97f, 102, 105<br />
Paradoxie<br />
siehe Lugner- oder Kartenparadoxie<br />
Partikeltheorie des Lichts<br />
siehe Teilchentheorie d. Lichts<br />
peripatetische Physik 133<br />
Perpetuum mobile 177f<br />
Phlogistontheorie 65<br />
Positivismus 7, 18, 51, 107, 117,<br />
155<br />
logischer- 18,51<br />
Posteriorwahrscheinlichkeit 142ff.,<br />
147f., 15 Iff<br />
Prazision von <strong>Theorien</strong> 56ff, 88<br />
Primat der Theorie 60<br />
Priorwahrscheinlichkeit 140, 144f,<br />
147f, 150ff, 156<br />
Protokollsatz<br />
vgl. Beobachtungsaussage<br />
Pseudowissenschaft 84<br />
Psychoanalyse 55<br />
ptolemaisches Weltbild, - System<br />
78, 80f., 83, 94, 114f., 123, 135<br />
Quantenphysik, -theorie, -mechanik<br />
87, 114, 129, 163, 166, 177,<br />
188, 191f., 197<br />
Randbedingung<br />
siehe Anfangsbedingung<br />
Ratsel 91f, 94, 98, 105, 116, 162<br />
Realismus 18 Iff<br />
Realismus und Anti-Realismus<br />
181ff<br />
nichtreprasentativer - 194ff<br />
wissenschaftlicher - 189ff.<br />
- der Vermutungen 189ff<br />
struktureller - 194<br />
Reflexionsgesetze 30, 46f, 54<br />
„RegelmaBigkeits-Ansatz" 173 f<br />
Relativismus lOlf, 105, 118, 132,<br />
138<br />
Relativitatstheorie 2, 31, 51, 62,<br />
69, 99, 114, 152, 161, 164,<br />
166f, 187, 195<br />
Allgemeine - 51, 62, 69, 114,<br />
161, 164, 167<br />
Spezielle - 62<br />
Renaissance 99, 176<br />
Replikationsstudien 146
Revolution<br />
politische- 96, 101<br />
wissenschaftliche - 16f., 77f.,<br />
84, 86f., 89f., 94ff., lOOff.,<br />
106f., Ill, 113, 121, 129,<br />
136f., 156, 162ff., 188f, 197,<br />
200<br />
Funktion wissenschaftlicher<br />
Revolutionen 97ff.<br />
vgl. auch kopernikanische -<br />
SchopfUngslehre 2,198,201<br />
Schutzgiirtel eines Forschungsprogramms<br />
108ff., 117, 146f.<br />
Scientific community 90, 97, 99,<br />
113, 125<br />
Sonnenfmsternis-Experimente 161,<br />
166<br />
Soziologie, Sozialwissenschaften<br />
91, 106, 111, 119,214f.,220f.<br />
Spezielle Relativitatstheorie<br />
siehe Relativitatstheorie<br />
Spiel 93<br />
Sprache, Sprachsystem 97, 182ff.<br />
Standards wissenschaftlicher Arbeit<br />
48, 93, 95ff., 105, 113, 120,<br />
132, 136, 138, 153<br />
Storfaktoren, -variablen 28, 32,<br />
112, 173<br />
Subjektiver Bayesianismus<br />
siehe Bayesianismus,<br />
„Tacking-Paradox" 160<br />
Teilchentheorie des Lichts 69, 104,<br />
151, 181<br />
siehe auch Korpuskulartheorie<br />
Teleskop 17, 2Iff., 65f., 74f., 8If.,<br />
91f., 103, 109f., inf., 123ff.,<br />
123ff., 164, 167<br />
theoretische Konstrukte 105, 136,<br />
148f., 183<br />
<strong>Theorien</strong>wahl 105<br />
<strong>Theorien</strong>wechsel 78, 156<br />
Thermodynamik 163, 177f.<br />
Tragheitsgesetz 82<br />
Turmargument 79, 124<br />
243<br />
Unendlicher Regress 88<br />
universelle Methoden 13Iff., 138f.,<br />
198f.<br />
Vermutungen 5, 45, 52, 57, 60ff.,<br />
66ff., 84, 87, 99, 112, 189,<br />
191f., 195<br />
kuhne - 68ff.<br />
behutsame - 67ff.<br />
- und Widerlegungen 62, 99,<br />
112, 195<br />
Realismus der - 189ff.<br />
Versuch und Irrtum 28, 52, 57, 124<br />
Voodoo 3, 126<br />
Vorhersage 30, 43, 46, 48, 5If.,<br />
62f, 67ff., 72ff, 79, 84, 88,<br />
99f, 104, 109., 11 Iff, 120f,<br />
124, 135, 141, 143, 160ff.,<br />
167ff, 178, 187f, 194f<br />
neuartige - 63, 68ff, 113<br />
Vor-Wissenschaft 90,92,116<br />
Wahrheit 15f, 18, 36f, 43, 46, 57,<br />
67, 70ff, 132ff, 142, 146,<br />
182ff, 188, 190f<br />
siehe auch Anndherung an die<br />
Wahrheit<br />
siehe auch Korrespondenztheorie<br />
der Wahrheit<br />
Wahrheits- vs. F<strong>als</strong>chheitsgehalt<br />
einer Theorie 70<br />
Wahrheitsgehalt von Beobachtungsaussagen<br />
15f, 18, 73, 134,<br />
142<br />
Wahrheitsnahe<br />
Siehe Anndherung an die<br />
Wahrheit<br />
Wahmehmung 2, 7f, lOff, 17ff,<br />
24, 31f, 100, 103, 133, 182,<br />
233<br />
Wahrscheinlichkeit 44, 70, 140ff,<br />
160, 165f, 198<br />
Wahrscheinlichkeitstheorie 44,<br />
140f,144<br />
Wellentheorie des Lichts 69, 104,<br />
116f, 151, 164, 188, 194
244<br />
Wissenschaft vs. Nicht-Wissenschaft<br />
84,91,99, 182<br />
wissenschaftliche Revolution<br />
siehe Revolution<br />
wissenschaftliche Forschungsprogramme<br />
siehe Forschungsprogramme<br />
wissenschaftlicher Fortschritt<br />
siehe Fortschritt der Wissenschaft<br />
wissenschaftliche Methode Iff., 45,<br />
127, 132, 196<br />
wissenschaftliche Revolution<br />
siehe Revolution<br />
Wissenschaftsgeschichte 2f, 16,<br />
34, 65, 68f, 87, 89, 93, 115f,<br />
117f., 129, 181, 186, 188, 190,<br />
192, 197f<br />
Zeigehandlung<br />
siehe Definition, ostensive<br />
Ziel der Wissenschaft 70, 185, 190<br />
Zirkelschluss 33f<br />
Zusatzannahme, -hypothese 108<br />
vgl. Schutzgurtel eines Forschungsprogramms
Druck: Krips bv, Meppel<br />
Verarbeitung: Sturtz, Wurzburg