Für andere und für mich, Band 2 - Arbeitsgemeinschaft der ...
Für andere und für mich, Band 2 - Arbeitsgemeinschaft der ...
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aejn -<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
in Nie<strong>der</strong>sachsen e.V.<br />
Postfach 265 – 30002 Hannover<br />
Tel.: 0511/1241-571 • Fax: 0511/1241-492<br />
aejn.ev@kirchliche-dienste.de • www.aejn.de<br />
Gegen den Trend 2009 – <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> • <strong>Band</strong> 2<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
<strong>Band</strong> 2<br />
Gegen den<br />
Trend 2009<br />
aejn -<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Evangelischen Jugend in<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen e.V.
GEGEN DEN TREND<br />
-<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
(<strong>Band</strong> 2)<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong> Evangelischen Jugend in Nie<strong>der</strong>sachsen (aejn) e. V.<br />
Postfach 265 • 30002 Hannover •Telefon: 0511 1241-572/-571 • Fax: 0511 1241-492<br />
aejn.ev@kirchliche-dienste.de • http://www.aejn.de<br />
Redaktion:<br />
Christine Ingrid Kiem, Christin Plath, Manfred Neubauer<br />
Satzerfassung:<br />
Christine Ingrid Kiem, Christin Plath<br />
Layout:<br />
s•form<br />
Druck:<br />
Hahn-Druckerei GmbH & Co, Hannover<br />
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier, Recycling<br />
Hannover, im Januar 2009
Autorenverzeichnis<br />
Martin Bauer, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Kirchenkreisjugendwart, Nienburg<br />
Wolfgang Blaffert, Pastor im Landesjugendpfarramt<br />
Hannover, Referent<br />
<strong>für</strong> Theologie, Jugendforschung <strong>und</strong><br />
Fortbildung<br />
Andreas Hagedorn, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Dipl.-Sozialpädagoge,<br />
Stadtjugenddiakon, Bremerhaven<br />
Susanne Korf, Dipl.-Pädagogin,<br />
Schaumburg-Lippe<br />
Manfred Neubauer, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Dipl.-Supervisor, DGSv,<br />
Geschäftsführer <strong>der</strong> aejn e. V., Jugendbildungsreferent,<br />
Landesjugendpfarramt<br />
Hannover<br />
Joachim Neumann-Borutta, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Dipl.-Sozialpädagoge,<br />
Stadtjugenddiakon, Bremerhaven<br />
Sabine Richter, Dipl.-Sozialpädagogin,<br />
Referentin <strong>für</strong> Jugendsozialarbeit, Evangelische<br />
Jugend in <strong>der</strong> Ev.-luth. Landeskirche<br />
in Braunschweig<br />
Thomas Ringelmann, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Referent <strong>für</strong> Evangelische<br />
Schülerinnen- <strong>und</strong> Schülerarbeit im<br />
Landesjugendpfarramt Hannover<br />
Clarissa Schöller, Öffentlichkeitsarbeit<br />
JUGEND HILFT!, Studentin Medien<br />
<strong>und</strong> Kommunikation B. A., Universität<br />
Augsburg<br />
Daniel Tietjen, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Dipl.-Sozialpädagoge, Stadtjugenddiakon,<br />
Bremerhaven<br />
Tanja von Rüsten, Dipl.-Religionspädagogin,<br />
Dipl.-Sozialarbeiterin/-pädagogin<br />
im Anerkennungsjahr im Kirchenkreisjugenddienst<br />
Nienburg<br />
Volker Jörn Walpuski, Master of Arts in<br />
Diaconic Management, Dipl.-Religionspädagoge,<br />
Mediator<br />
Christine Ingrid Kiem, Satzerfassung<br />
Christin Plath, Satzerfassung
1_ Impressum<br />
2_ Autorenverzeichnis<br />
6_ Vorwort <strong>der</strong> Nds. Ministerin <strong>für</strong> Soziales,<br />
Frauen, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
7_ Vorwort <strong>der</strong> Redaktion<br />
Die Aktion: Manfred Neubauer<br />
9_ Die Aktion <strong>und</strong> ihr Thema<br />
10_ Die Arbeitshilfe <strong>und</strong> ihre Zielgruppen<br />
12_ Darstellung <strong>der</strong> Themen in sieben Schritten<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> –<br />
eine thematische Einführung<br />
Wolfgang Blaffert & Manfred Neubauer<br />
14_ Christliche Nächstenliebe in Abgrenzung<br />
vom pseudoromantischen Liebesverständnis<br />
15_ Kirche in Zukunft – vier Kernthemen<br />
17_ Unverzichtbare Dimensionen humaner<br />
Bildung: Religion <strong>und</strong> Ethik<br />
18_ Bildung – Schlüsselqualifikationen – soziales<br />
Lernen<br />
19_ Praktizierte christliche Nächstenliebe am<br />
Beispiel des barmherzigen Samariters<br />
24_ Literatur<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1. TEIL: LERNEN ... ALLEINE<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>:<br />
Wolfgang Blaffert<br />
28_ Erste Einfälle zum Thema<br />
29_ Was sagen <strong>an<strong>der</strong>e</strong>? (F<strong>und</strong>sachen, Assoziationen,<br />
Kontexte) / Zuspitzung – Thema<br />
entfalten unter einem Blickwinkel<br />
30_ Vom Beten. Die Witwe <strong>und</strong> <strong>der</strong> Richter.<br />
32_ Farbe bekennen (Meinungen, Überzeugungen,<br />
Ideen aus Sicht <strong>der</strong> Verfasserin/<br />
des Verfassers<br />
33_ Transfer, Vermittlung, Umsetzung, ( Projektbeschreibungen,<br />
Praxisbeispiele,<br />
Gottesdienste, Gruppenst<strong>und</strong>en, St<strong>und</strong>en-<br />
Entwürfe)<br />
Engel gesucht!: Susanne Korf<br />
36_ Sie sind überall!<br />
36_ „Aktion Schutzengel“ von Missio<br />
37_ Jugendliche <strong>und</strong> ihre Vorstellungen von<br />
Engeln<br />
39_ Engel als Vorbild<br />
40_ Die Bibel kennt verschiedene Vorstellungen<br />
von Engeln<br />
40_ Engel gesucht!<br />
45_ Literatur<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20<br />
Uhr): Volker Jörn Walpuski<br />
48_ Zukunftsprogramm: Vaterschaft<br />
48_ Aufgeschnappt!<br />
49_ Vaterschaft – ein Thema <strong>für</strong> Jungen!<br />
50_ Der neue Mann<br />
54_ Und was hat das mit dem Glauben zu tun?<br />
56_ Mehr als ich: Die Gesellschaft<br />
56_ Materialien <strong>und</strong> Literatur<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_3<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
2. TEIL: LERNEN ... MIT UND IN<br />
SCHULE<br />
Helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong><br />
Welt. Finden wir auch!: Clarissa<br />
Schöller<br />
62_ Soziales Engagement von Jugendlichen –<br />
eine Win-Win-Situation<br />
62_ Soziales Engagement von Jugendlichen<br />
– ein Thema in <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung<br />
63_ Wie kann soziales Engagement von Kin<strong>der</strong>n<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen aussehen?<br />
64_ Was versteht JUGEND HILFT! unter sozialem<br />
Engagement? Welche Projekte werden<br />
geför<strong>der</strong>t?<br />
64_ Wie kann ich <strong>mich</strong> bei JUGEND HILFT! bewerben?<br />
Was erwartet <strong>mich</strong>?<br />
66_ Verschiedenheit ist bei JUGEND HILFT! Programm<br />
66_ Wie kann ich <strong>mich</strong> als Jugendlicher sozial<br />
engagieren?<br />
66_ Studien <strong>und</strong> Initativen<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist –<br />
das Projekt”????: Thomas<br />
Ringelmann, Daniel Tietjen, Joachim<br />
Neumann-Borutta, Andreas Hagedorn<br />
70_ Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt????<br />
70_ Arbeitsseminare im Freizeitheim Drangstedt<br />
<strong>und</strong> im Ev. Jugendhof Spiekeroog – Nicht<br />
nur mit dem Kopf arbeiten<br />
72_ Arbeitsseminare im Ev. Jugendhof Sachsenhain<br />
73_ Praxisseminare im Sachsenhain<br />
4_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
3. TEIL: LERNEN ... IN DER<br />
GRUPPE<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf<br />
frisst“. Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt<br />
Nienburg: Martin Bauer<br />
78_ Die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage<br />
79_ Die haben es doch selber so gewollt ...!<br />
80_ So viel Erziehung wie möglich<br />
80_ Es ist gar nicht schlimm <strong>und</strong> macht auch<br />
noch Spaß<br />
81_ Die wöchentliche Gesprächsgruppe<br />
83_ „Du sollst nicht begehren deines Nächsten<br />
...“ – o<strong>der</strong> „Du brauchst nicht ...“<br />
85_ Wie können wir als Jugendgruppe o<strong>der</strong> als<br />
Schulklasse Kontakt zu einer Jugendarrestanstalt<br />
aufnehmen?<br />
86_ Arbeitsmaterialien, Literaturangaben,<br />
Spiele, Video „Dienstag – Gewalt in <strong>der</strong> U-<br />
Bahn“ <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Gruppenübungen<br />
Letzter Ausweg Jugendknast!?:<br />
Tanja von Rüsten<br />
92_ Erziehungswille auch im Jugendknast<br />
92_ Selber schuld?<br />
93_ Klartext: Zahlen, Daten <strong>und</strong> Fakten<br />
93_ Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit o<strong>der</strong><br />
Anpassung an die Lebenswelt „Knast“?<br />
94_ Praxisideen<br />
97_ Wer von euch ohne Sünde ist, <strong>der</strong> werfe<br />
den ersten Stein (Joh 7,53 – 8,11)<br />
98_ Immer schlimmer = immer härter!?<br />
98_ Literatur
Deutsch-indische Jugendbegegnung<br />
in Tamil Nadu/Kerala:<br />
Sabine Richter<br />
100_ Das Vorbereitungsmarathon – gespannte<br />
Erwartungen<br />
102_ Einblicke <strong>der</strong> Jugendlichen in das gelebte<br />
Christentum in Tamil Nadu<br />
108_ Die Stellung <strong>der</strong> Frau in Indien<br />
109_ „Gen<strong>der</strong>“ versus „Verhaltenskodex Manu“<br />
– eine Beobachtung<br />
110_ „Keinem von uns ist Gott fern“/Der Gottesdienstbesuch<br />
– ein Erlebnis<br />
110_ Aufschwung – ja, aber (wie) profitiert <strong>der</strong><br />
Großteil <strong>der</strong> Bevölkerung?<br />
111_ Literatur<br />
Leben! Und wie!?: Wolfgang Blaffert<br />
114_ Eine Studie mit Folgen<br />
116_ Informationen über die Arbeit <strong>der</strong> aejn e. V.<br />
118_ Veröffentlichungen „Gegen den Trend“<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_5<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Vorwort <strong>der</strong> Nds. Ministerin <strong>für</strong> Soziales, Frauen, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Mit ihrer Fastenaktion „Gegen den Trend: <strong>Für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>mich</strong>“ hat die <strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Evangelischen Jugend in Nie<strong>der</strong>sachsen ein Thema<br />
aufgegriffen, das bei den jungen Menschen auf<br />
ein vielfältiges Echo gestoßen ist. Das wird an <strong>der</strong><br />
Fülle engagierter Beiträge deutlich, die in dieser<br />
Arbeithilfe veröffentlicht werden. Sie spiegeln<br />
hohe Sensibilität gegenüber ethischen Fragen <strong>und</strong><br />
Verantwortungsbewusstsein wi<strong>der</strong>.<br />
Demgegenüber entsteht in <strong>der</strong> Öffentlichkeit allzu<br />
häufig noch <strong>der</strong> Eindruck, dass junge Menschen<br />
nicht bereit seien, sich <strong>für</strong> die Allgemeinheit<br />
einzusetzen, Verantwortung <strong>für</strong> sich selbst <strong>und</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> zu übernehmen. Tatsache ist: Die so<br />
genannte Null-Bock-Generation hat längst ausgedient.<br />
Ohne das große ehrenamtliche Engagement<br />
junger Menschen in Sportvereinen, in<br />
Jugendverbänden, bei <strong>der</strong> Freiwilligen Feuerwehr,<br />
in Kirchen, im Freiwilligen Sozialen o<strong>der</strong> Freiwilligen<br />
Ökologischen Jahr, würde in unserer Gesellschaft<br />
vieles gar nicht möglich sein.<br />
Auch Jugendstudien belegen, dass junge Menschen<br />
gerne ihre Kraft <strong>und</strong> Kenntnisse <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
Menschen einsetzen, wenn sie gezielt angesprochen<br />
werden. Gerechtigkeitssinn <strong>und</strong> das Eintreten<br />
<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> haben <strong>für</strong> die jüngere Generation einen<br />
sehr hohen Stellenwert. Im Sinne einer aktiven<br />
Bürgergesellschaft setzen sie sich ganz konkret<br />
zum Beispiel <strong>für</strong> Gleichaltrige mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
ein, kümmern sich um Menschen mit<br />
Behin<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> sozial benachteiligte Jugendliche.<br />
6_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Mit ihrem Engagement <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> tun junge Menschen<br />
gleichzeitig etwas <strong>für</strong> sich selbst. Getreu<br />
dem Motto „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>mich</strong>“, setzen sie<br />
nicht nur ein Zeichen gegen gesellschaftlichen<br />
Egoismus. Sie lernen unterschiedliche Menschen<br />
kennen <strong>und</strong> erfahren dabei neue Seiten von sich<br />
selbst. Sie werden dabei auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung,<br />
in ihrem Selbstvertrauen gestärkt<br />
<strong>und</strong> erlangen soziale Kompetenzen, die sie<br />
konflikt- <strong>und</strong> teamfähiger machen.<br />
Das F<strong>und</strong>ament hier<strong>für</strong> wird in den Familien gelegt.<br />
Sie sind <strong>der</strong> zentrale Ort, an dem Eltern ihren Kin<strong>der</strong>n<br />
durch Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Wertschätzung<br />
einen Wertekanon vermitteln können, <strong>der</strong> sie zu<br />
selbstbewussten Persönlichkeiten mit Respekt vor<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Menschen reifen lässt. Das Familienleben<br />
prägt ganz wesentlich Normen, Einstellungen,<br />
Handlungsmuster, soziale <strong>und</strong> kulturelle Kompetenzen<br />
sowie religiöse Wertvorstellungen. Deshalb<br />
unterstützt das Land mit <strong>der</strong> von Familienbildungsstätten<br />
getragenen Initiative „Kin<strong>der</strong> brauchen<br />
Werte“ Eltern <strong>und</strong> Erziehende bei <strong>der</strong> Suche nach<br />
neuen Wegen in <strong>der</strong> Erziehung. Sie sollen ganz bewusst<br />
auf die Bedeutung <strong>und</strong> Notwendigkeit einer<br />
auf feste Werte gegründeten Erziehung aufmerksam<br />
gemacht werden.<br />
Die Fastenaktion 2009 ist dazu angetan, gespeist<br />
aus christlichen Wertvorstellungen eine zivilgesellschaftliche<br />
Kultur des Zusammenhalts zu för<strong>der</strong>n,<br />
die auf wechselseitiger Achtung beruht <strong>und</strong> auf<br />
<strong>der</strong> Bereitschaft, etwas <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> damit <strong>für</strong><br />
unser Gemeinwesen zu tun.<br />
In diesem Sinne wünsche ich <strong>der</strong> <strong>Arbeitsgemeinschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Evangelischen Jugend in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
viel Erfolg <strong>und</strong> eine rege Teilnahme.<br />
Mechthild Ross-Luttmann<br />
Nie<strong>der</strong>sächsische Ministerin <strong>für</strong> Soziales,<br />
Frauen, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
Zugegeben, das haben wir zum ersten Mal gemacht.<br />
Ein Thema <strong>für</strong> eine Arbeitshilfe, das in zwei<br />
Bänden erscheint <strong>und</strong> <strong>für</strong> zwei Jahre eine inhaltliche<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung darstellt: „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>mich</strong>“. Lediglich beim Thema „Gewalt“ (1993<br />
„Gewaltfrei leben“ <strong>und</strong> 2001 „Zwischen Begeisterung<br />
<strong>und</strong> Gewalt“) haben wir in <strong>der</strong> Reihe „Gegen<br />
den Trend“ ein Thema erneut aufgenommen,<br />
aktualisiert <strong>und</strong> mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n inhaltlichen Schwerpunkten<br />
aufbereitet. Sonst gab es über die Jahre<br />
hinweg die Bearbeitung wechseln<strong>der</strong> Themen. Mit<br />
<strong>der</strong> vorliegenden Arbeitshilfe, <strong>der</strong> Achtzehnten,<br />
legen wir den zweiten <strong>Band</strong> vor, <strong>der</strong> eine Ergänzung<br />
<strong>der</strong> inhaltlichen Themen aus 2008 vornimmt,<br />
aber beileibe nicht alle Bereiche von Engagements<br />
in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend abdeckt <strong>und</strong><br />
dies auch nicht will <strong>und</strong> kann. Evangelische Jugendarbeit<br />
in den unterschiedlichen Facetten ist<br />
werteorientiert, basiert auf einem christlichen<br />
Menschenbild <strong>und</strong> übernimmt gesellschaftspolitische<br />
Verantwortung. Die Arbeit lebt von dem Engagement<br />
<strong>der</strong> Teilnehmenden, <strong>der</strong> „Produzenten,<br />
Co-Produzenten“ (vgl. „Realität <strong>und</strong> Reichweite<br />
von Jugendverbandsarbeit“), <strong>der</strong> ehrenamtlich<br />
Engagierten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Hauptberuflichen, die gemeinsam<br />
in den jeweiligen Rahmenbedingungen<br />
Vorwort <strong>der</strong> Redaktion<br />
aus Orten, Gelegenheiten <strong>und</strong> Finanzen etwas zu<br />
Wege bringen.<br />
Junge Menschen haben ein großes Interesse daran,<br />
ihr Lebensumfeld aktiv mit zu gestalten <strong>und</strong><br />
wollen sich engagieren. Laut <strong>der</strong> letzten Shell-<br />
Jugendstudie sind 33 % <strong>der</strong> Jugendlichen oft <strong>und</strong><br />
weitere 48 % gelegentlich engagiert. 1 Diese Einschätzung<br />
wird vom 2. Freiwilligen-Survey geteilt.<br />
Die Verfasser-innen dieser Studie bescheinigen,<br />
dass „junge Menschen zwischen 14 <strong>und</strong> 24 Jahren<br />
[...] eine <strong>der</strong> aktivsten Gruppen <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
mit einer stabilen Engagementquote” 2 sind <strong>und</strong><br />
dass das Engagementpotenzial in dieser Altersgruppe<br />
ganz beson<strong>der</strong>s groß ist. Im Freiwilligen-<br />
Survey wird die Erkenntnis formuliert, dass „von<br />
den bereits engagierten Jugendlichen [...] sich beson<strong>der</strong>s<br />
viele <strong>für</strong> weitere Aufgaben” 3 interessieren.<br />
Das hohe Engagement junger Menschen belegt<br />
<strong>der</strong>en Mitgestaltungswillen <strong>und</strong> ihr Interesse <strong>für</strong><br />
gesellschaftliche Prozesse.<br />
Dieses Interesse gilt auch <strong>für</strong> politische Prozesse.<br />
So kommt die Bertelsmann Stiftung in <strong>der</strong> Auswertung<br />
einer Befragung von 16.000 Jugendlichen<br />
von 12 bis 18 Jahren zu dem Ergebnis, dass fast<br />
70 % <strong>der</strong> Jugendlichen <strong>der</strong> Meinung sind, dass junge<br />
Menschen in <strong>der</strong> Politik mehr zu sagen haben<br />
sollten <strong>und</strong> sogar 78 % zu mehr Mitwirkung bereit<br />
wären. 4<br />
Bei Erwachsenen geht es häufig auch um <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
Blickwinkel: „<strong>Für</strong> das Gefühl von Wohlbefinden<br />
<strong>und</strong> Lebensqualität ist vor allem die richtige Balance<br />
zwischen Stress- <strong>und</strong> Erholungs-Phasen<br />
wichtig. Daher ist das Hauptziel eines wirksamen<br />
Work-Life-Balance Programms das Erarbeiten,<br />
1 Vgl.: Jugendwerk <strong>der</strong> dt. Shell (Hrsg.): Shell Jugendstudie 2006; Hauptergebnisse im Internet abrufbar unter: www.shell.com/home/content/de-de/<br />
society_environment/jugendstudie/2006/jugendstudie2006_engagement.html<br />
2 BMFSFJ (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004. Kurzfassung; München 2005; Seite 6<br />
3 BMFSFJ (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004. Kurzfassung; München 2005; Seite 6<br />
4 vgl.: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Junge Menschen wollen sich beteiligen; Gütersloh 2006, Seite 4; online abrufbar unter: www.bertelsmann-stiftung.de/<br />
cps/rde/xbcr/SID-0A000F0A-5053D266/bst/Jugendbericht_Internet.pdf<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_7<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Vorwort <strong>der</strong> Redaktion<br />
systematische Üben <strong>und</strong> Erfahren des individuellen,<br />
inneren Gleichgewichts. Der Schwerpunkt<br />
liegt dabei auf einem ganzheitlichen Ges<strong>und</strong>heits-<br />
Management <strong>und</strong> Lebensstil-Design, unterstützt<br />
durch mentales Training, Fitness- <strong>und</strong> Entspannungsprogramme<br />
<strong>und</strong> Ernährungstipps.“ So<br />
gelesen im Internet: „Gut <strong>für</strong> <strong>mich</strong>, gut <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>,<br />
Work-Life-Balance, Erfolgsmagazin-BLOG“.<br />
Und weiter heißt es:<br />
„Die Aufmerksamkeit wird immer wie<strong>der</strong> nach<br />
innen gelenkt, auf die Bedürfnisse von Seele <strong>und</strong><br />
Körper. Dabei wächst Kraft, Klarheit <strong>und</strong> Wohlbefinden.<br />
Mit ein bisschen Übungen kann sich ein<br />
innerer Raum von entspannen<strong>der</strong> Stille <strong>und</strong> Wohlgefühl<br />
etablieren. Ein erfrischend <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r Zugang<br />
zu sich selbst <strong>und</strong> ein neues Verständnis von innerem<br />
Gleichgewicht entstehen <strong>und</strong> das weitgehend<br />
unabhängig von externen Einflüssen. Destruktive<br />
Denkmuster <strong>und</strong> geistige Ruhelosigkeit lösen sich<br />
auf, neue Energien stehen zur Verfügung. Darüber<br />
hinaus entwickelt sich ein neues Lebensgefühl, geprägt<br />
von Kraft, Selbstbewusstsein <strong>und</strong> Vitalität.“<br />
Wie eine Umsetzung <strong>der</strong> Idee <strong>und</strong> Überzeugung<br />
„<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>mich</strong>“ in <strong>der</strong> praktischen Arbeit<br />
mit Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen aussehen kann,<br />
zeigt uns exemplarisch die Evangelische Jugend<br />
Georgsmarienhütte. In <strong>der</strong> inhaltlichen Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Sommerfreizeit entwickelten die Mitarbeitenden<br />
ein gemeinsames Gr<strong>und</strong>verständnis,<br />
das in den Teamregeln aufging.<br />
Teamregeln <strong>für</strong> die Jugendfreizeit Spanien 2008:<br />
• Wir lassen die <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n aussprechen.<br />
• Wir bieten <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Hilfe an <strong>und</strong> sind aufmerksam,<br />
um uns gegenseitig zu unterstützen.<br />
• Wir äußern untereinan<strong>der</strong> sofort Kritik – aber<br />
nicht vor den Teilnehmenden.<br />
• Wir reden miteinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> sind mit allen in Kontakt.<br />
• Wir halten uns an Absprachen.<br />
• Wir sind pünktlich.<br />
8_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
• Wir nehmen aufeinan<strong>der</strong> Rücksicht.<br />
• Wir akzeptieren die <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n <strong>und</strong> das, was sie<br />
können – <strong>und</strong> respektieren Schwächen.<br />
• Wir fassen Verbesserungsvorschläge als solche<br />
auf – <strong>und</strong> nicht als Kritik.<br />
<strong>Für</strong> den Redaktionskreis<br />
Manfred Neubauer
Die Aktion <strong>und</strong> ihr Thema<br />
Fasten ist mehr als nur Verzichten! Mit dem Fasten<br />
steigen Menschen vorübergehend aus ihren alltäglichen<br />
Gewohnheiten aus, wodurch sich ihnen<br />
neue Möglichkeiten eröffnen können, das eigene<br />
Leben zu reflektieren. Ausgelöst durch das reduzierte<br />
Konsumverhalten tut sich während des<br />
Fastenzeit eine äußere, vor allem jedoch innere<br />
Leere auf, die heilsam wirken kann, wenn sie dazu<br />
genutzt wird, sich auf das eigene Verhältnis zu<br />
Gott <strong>und</strong> <strong>der</strong> Welt zu besinnen.<br />
In <strong>der</strong> diesjährigen Fastenzeit will unsere "Gegenden-Trend-Aktion"<br />
das Thema „<strong>Für</strong> <strong>mich</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>“ in den Mittelpunkt des Nachdenkens<br />
stellen. Die einzelnen Artikel <strong>der</strong> hier vorliegenden<br />
Broschüre geben Impulse zur inhaltlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Fragen <strong>der</strong> individuellen<br />
Lebensplanung <strong>und</strong> auch mit Aspekten zur Zukunftsorientierung<br />
in unserer Gesellschaft. Mit<br />
dieser Arbeitshilfe soll beim Publikum die Bereitschaft<br />
geweckt werden, persönliche Geisteshaltungen<br />
o<strong>der</strong> auch lieb gewonnene tradierte<br />
Verhaltensmuster auf ihre Bedeutung <strong>für</strong> die<br />
eigene Lebensgestaltung zu überprüfen. So kann<br />
vielleicht sogar „ein Stein ins Rollen“ gebracht<br />
werden, die eigene Lebensführung dauerhaft<br />
(also über die Fastenzeit hinaus) positiver zu<br />
gestalten.<br />
Selbst religiös nicht engagierte Menschen<br />
können so einen Sinn darin sehen, ihre Orientierung<br />
in <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Maßstäben zu finden als in<br />
dem Schema "Nehmen ist seliger als Geben"<br />
(in Umkehr zu einer in <strong>der</strong> Christenheit verwurzelten<br />
Einstellung). Eine befriedigende Lebensgestaltung<br />
kann eben nicht durch Egoismus <strong>und</strong><br />
Kosten-Nutzen-Denken gef<strong>und</strong>en werden. In <strong>der</strong><br />
(Evangelischen) Jugend liegt das Potential zur<br />
Verän<strong>der</strong>ung, zum Ausprobieren, zum Protest.<br />
Dies lässt sich auch <strong>für</strong> solch eine Fastenaktion<br />
nutzbar machen.<br />
Die Aktion<br />
Der biblische Anknüpfungspunkt kann z. B. mit<br />
einem Text aus <strong>der</strong> Bergpredigt benannt werden:<br />
Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie<br />
die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um<br />
sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten.<br />
Wahrlich ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin.<br />
Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt <strong>und</strong><br />
wasche dein Gesicht, damit du dich nicht vor den<br />
Leuten zeigst mit deinem Fasten, son<strong>der</strong>n vor deinem<br />
Vater, <strong>der</strong> im Verborgenen ist; <strong>und</strong> dein Vater,<br />
<strong>der</strong> in das Verborgene sieht, wird’s dir vergelten.<br />
Mth.6,16-18<br />
Der christliche Gehalt des Fastens ist die Wendung<br />
nach innen. Wichtig ist das, was im Verborgenen,<br />
in <strong>der</strong> eigenen Person, geschieht: die Reflexion<br />
über die eigene Existenz, über Träume, Zukunftswünsche<br />
<strong>und</strong> die persönliche Lebensgestaltung,<br />
über all das, was hält <strong>und</strong> trägt <strong>und</strong> was die Beziehung<br />
zu Gott ausmacht. Dies ist oftmals von<br />
Unsicherheiten geprägt, gleichsam einer Art Suchbewegung.<br />
Träumen bedeutet ja zumeist, dass<br />
man seinen inneren Wünschen freien Lauf lässt,<br />
dass man die eigentlichen Gefühle allerdings nicht<br />
nach außen hin zeigt. Vielleicht kann Fasten auch<br />
als Befreiung zu einem „realen Traum“ verstanden<br />
werden, als Befreiung zu einem Selbstvertrauen,<br />
das sich nicht verstecken muss, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Zukunft mutig ins Auge sieht. Aber ohne die<br />
Besinnung auf Gott (bzw. ohne mein Akzeptieren<br />
des von Gott gegebenen Abhängig-, Geschaffen-<br />
<strong>und</strong> Geliebtseins) kann <strong>für</strong> <strong>mich</strong> nichts Positives<br />
(wie Selbstvertrauen/das Annehmen <strong>der</strong> eigenen<br />
Persönlichkeit/Freiheit) dabei herausspringen;<br />
die Befreiung zum eigenen Ich im Fasten hat ihren<br />
Gr<strong>und</strong> in Gott.<br />
1. Sich selbst verlieren im Fasten.<br />
2. Gott dabei finden.<br />
3. Daraus sich selbst ganz neu begreifen.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_9<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Die Aktion<br />
Die Arbeitshilfe (Broschüre) <strong>und</strong><br />
ihre Zielgruppen<br />
Die Arbeitshilfe versucht, die weit gestreute Bezugs -<br />
gruppe "Jugendliche" in den Blick zu nehmen; <strong>für</strong><br />
SchülerInnen ab <strong>der</strong> 5. Klasse bis hin zu AbiturientInnen<br />
sollen die Unterthemen aufgegriffen,<br />
weiterentwickelt <strong>und</strong> weitergegeben werden.<br />
Dabei sind auch Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler <strong>der</strong><br />
Berufsbildenden Schulen im Blick. Die Entfaltung<br />
<strong>der</strong> Einzelthemen geschieht jedoch nicht schematisch,<br />
so dass nacheinan<strong>der</strong> alle Schul- <strong>und</strong> Altersstufen<br />
gleichmäßig angesprochen werden.<br />
Außerdem spielt es eine Rolle, aus welchem Bereich<br />
<strong>der</strong> Jugendarbeit bzw. Schule <strong>der</strong> jeweilige<br />
Autor bzw. die jeweilige Autorin kommt. Das wie<strong>der</strong>um<br />
macht (hoffentlich auch) den Reiz dieser<br />
Arbeitshilfe aus, dass sie von verschiedenen<br />
Seiten her einen Zugang anbietet, dass sie in <strong>der</strong><br />
Auswahl des Stoffes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Methoden dementsprechend<br />
vielfältig ist. Einen Anspruch auf Vollständigkeit<br />
<strong>der</strong> Themen wie <strong>der</strong> Materialien kann<br />
<strong>und</strong> will die Broschüre nicht erheben.<br />
Das Jahresthema 2009 „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>“<br />
wurde (wie auch schon das Jahresthema 2008)<br />
in Anlehnung an die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt<br />
„Realität <strong>und</strong> Reichweite von<br />
Jugendverbandsarbeit“ gewählt, da es ein Hauptergebnis<br />
dieser Studie ist, dass Jugendliche sich<br />
vorrangig deshalb engagieren, weil sie etwas<br />
Sinnvolles <strong>für</strong> sich selbst <strong>und</strong> synchron <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
machen wollen. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Motivationskombination<br />
finden Sie hier eine Sammlung<br />
unterschiedlichster Textbeiträge.<br />
Beson<strong>der</strong>s deutlich wird das Thema „etwas <strong>für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> zu tun“ in den Artikeln über<br />
„Helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden<br />
wir auch!“, über das „Wer einmal aus dem Blechnapf<br />
frisst“ o<strong>der</strong> auch „Kin<strong>der</strong>programm (täglich<br />
07.00-20.00 Uhr)“ dokumentiert. In den Berichten<br />
10_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
über eine „Deutsch-indische Jugendbegegnung<br />
in Tamil Nadu/Kerala“, „Beten: <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>mich</strong>“ bzw. „Engel gesucht“ werden ebenfalls die<br />
zwei Seiten <strong>der</strong> Medaille sichtbar. Darüber hinaus<br />
gibt es eine Vorschau auf eine interaktive Aus-<br />
stellung „Leben. Und wie!?“, die aktuell von Jugend-<br />
gruppen zu unterschiedlichen Themen entwickelt<br />
wird <strong>und</strong> im Rahmen des Deutschen Evangelischen<br />
Kirchentages (DEKT) vom 20. - 24.05. 2009 in Bremen<br />
im Zentrum Jugend zu sehen sein wird.<br />
Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> uns vorliegenden umfangreichen<br />
Textfülle hatten wir uns dazu entschieden, das<br />
Thema „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>“ in zwei aufeinan<strong>der</strong><br />
folgenden Gegen-den-Trend-Heften aufzuarbeiten.<br />
Die Leserschaft wird bei <strong>der</strong> Betrachtung bei<strong>der</strong><br />
Broschüren feststellen, dass es den einzelnen<br />
Autoren <strong>und</strong> Autorinnen nicht nur um eine sachgemäße<br />
Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> Problematik <strong>und</strong> eine<br />
saubere Exegese <strong>der</strong> Texte geht, son<strong>der</strong>n durchaus<br />
auch darum, persönliche Ansichten zur Diskussion<br />
zu stellen. Hier <strong>und</strong> da wird es gewiss Wi<strong>der</strong>spruch<br />
geben – dies ist bewusst einkalkuliert <strong>und</strong> kann<br />
sicher auch zu weiterführen<strong>der</strong> Bearbeitung bzw.<br />
zu Diskussionen innerhalb <strong>der</strong> jeweiligen Zielgruppe<br />
führen.<br />
Natürlich ist es die Absicht sowohl Jugendliche in<br />
verschiedenen Jugendgruppen <strong>und</strong> Verbänden als<br />
auch die Interessen von Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler<br />
unterschiedlicher Schulstufen zu berücksichtigen.<br />
Allerdings konnte bei <strong>der</strong> jeweiligen Auswahl nicht<br />
nach Proportionen <strong>und</strong> Quantitäten entschieden<br />
werden (also kein einheitlicher Seitenumfang <strong>für</strong><br />
jede Alters- bzw. Zielgruppe). Vielmehr wird mit<br />
dieser Art <strong>und</strong> Weise <strong>der</strong> Darbietung vielleicht<br />
die Möglichkeit eröffnet, einen größeren Entscheidungs-<br />
<strong>und</strong> Spielraum <strong>der</strong> Verwendbarkeit<br />
zuzulassen (z. B., was zunächst <strong>für</strong> 13-/14-Jährige<br />
entworfen wurde, mag evtl. auch <strong>für</strong> 11-/12-Jährige<br />
in Frage kommen usw.).
Diese Arbeitshilfe ist vorrangig <strong>für</strong> die Hand des<br />
Gruppenleiters/<strong>der</strong> Gruppenleiterin, des Lehrers/<br />
<strong>der</strong> Lehrerin bestimmt. Natürlich – so hofft die<br />
Redaktion - werden auch interessierte Jugendliche<br />
Anregendes <strong>und</strong> Interessantes darin finden,<br />
aber die Lektüre <strong>und</strong> Bearbeitung <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Themen <strong>und</strong> ihrer Materialien erfor<strong>der</strong>t trotz aller<br />
redaktioneller Sorgfalt doch noch eine Menge<br />
an Eigenarbeit, an Reflexion <strong>und</strong> an persönlicher<br />
Entscheidung darüber, was mit welchem Material<br />
gemacht <strong>und</strong> wie es eingesetzt werden soll.<br />
Manfred Neubauer<br />
Die Aktion<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_11<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Die Aktion<br />
Darstellung <strong>der</strong> Themen<br />
in sieben Schritten<br />
In <strong>der</strong> Reihe „Gegen den Trend“ wagen sich seit<br />
mehr als einem Jahrzehnt PraktikerInnen aus <strong>der</strong><br />
außerschulischen Jugendbildung an ein jeweils aktuelles<br />
Thema heran, versuchen es unter Einbezug<br />
<strong>der</strong> Perspektive von Jugendlichen zu entfalten <strong>und</strong><br />
geben damit einen Impuls zur inhaltlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit einer bestimmten Thematik.<br />
Dabei wird auf den Praxisbezug immer beson<strong>der</strong>er<br />
Wert gelegt. Die Sichtweise zu einem Thema ist<br />
dabei stets individuell, nämlich aus dem Blickwinkel<br />
<strong>der</strong> Verfasserin o<strong>der</strong> des Verfassers.<br />
Vor vier Jahren wurde in <strong>der</strong> Projektgruppe erstmals<br />
ein Siebener-Schritt verabredet <strong>und</strong> umgesetzt,<br />
<strong>der</strong> gleichzeitig eine gemeinsame Struktur<br />
in <strong>der</strong> Bearbeitung des Themas <strong>und</strong> auch einen<br />
Wie<strong>der</strong>erkennungswert darstellt. Erfahrungen<br />
führten zu einer weiteren Verän<strong>der</strong>ung: Der Siebener-Schritt<br />
wird in den einzelnen Beiträgen nicht<br />
immer in <strong>der</strong> gleichen Abfolge umgesetzt. Manchmal<br />
ist es sinnvoll, z. B. die „Theologische Betrachtung“<br />
zu Beginn eines Artikels zu platzieren<br />
<strong>und</strong> nicht erst an <strong>der</strong> (s. u.) sechsten Stelle. Alle<br />
Beiträge haben allerdings das gleiche inhaltliche<br />
Gerüst, „Materialien <strong>und</strong> Literatur“ werden (überwiegend)<br />
außerhalb <strong>der</strong> Zählweise angegeben.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich ist <strong>der</strong> Siebener-Schritt wie folgt<br />
strukturiert:<br />
Erste Einfälle zum Thema<br />
Was sagen <strong>an<strong>der</strong>e</strong>? (F<strong>und</strong>sachen, Assoziationen,<br />
Kontexte)<br />
Zuspitzung – Thema entfalten unter einem<br />
Blickwinkel<br />
12_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Farbe bekennen (Meinungen, Überzeugungen,<br />
Ideen aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Verfasserin/des Verfassers)<br />
Transfer, Vermittlung, Umsetzung (Projektbeschreibungen,<br />
Praxisbeispiele, Gottesdienste,<br />
Gruppenst<strong>und</strong>en, St<strong>und</strong>en-Entwürfe)<br />
Theologische Betrachtung<br />
Weiterführende Fragestellungen<br />
Materialien <strong>und</strong> Literatur<br />
Ziel hierbei ist es, <strong>für</strong> die LeserInnen einen schnelle -<br />
ren Zugang zum Text <strong>und</strong> <strong>der</strong> Arbeitshilfe zu schaffen<br />
<strong>und</strong> ihnen weiterhin einen „Wie<strong>der</strong>erkennungswert“<br />
zu ermöglichen. Hintergr<strong>und</strong> da<strong>für</strong> ist beispielswei se<br />
die Erfahrung, dass einzelne Beiträge heraus -<br />
genommen <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Praxis genutzt werden –<br />
dies ist auch gut so. Wir wissen, dass ein solches<br />
Vorgehen in verschiedenen Arbeitsfel<strong>der</strong>n praktiziert<br />
wird, sei es bei einer Projektwoche, bei einem Gottes-<br />
dienst, bei einer Schulung zum Erwerb <strong>der</strong> JugendleiterInnen-Card<br />
(JuLeiCa), im Religionsunterricht<br />
o<strong>der</strong> bei einem thematischen Teil einer Freizeit. In<br />
den vergangenen Jahren konnten wir beobachten,<br />
dass gerade auf Freizeiten mit Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
die thematischen Vorschläge verstärkt<br />
eingesetzt wurden. Manchmal auch Themen, die in<br />
vergangenen Jahren bearbeitet wurden. Vielleicht<br />
auch deshalb, weil einzelne Themen weiterhin<br />
aktuell sind. Darüber haben sich die AutorInnen<br />
beson<strong>der</strong>s gefreut.<br />
Die AutorInnen dieser Arbeitshilfe wissen, dass die<br />
ausgewählten Themen inhaltlich ineinan<strong>der</strong>greifen<br />
können <strong>und</strong> manchmal nicht ganz trennscharf zu be-<br />
handeln sind. Trotzdem hat sich die Projektgruppe<br />
erneut auf dieses Experiment eingelassen <strong>und</strong> hofft,<br />
dass das Ergebnis in ähnlicher Weise angenommen<br />
wird wie die Arbeitshilfen <strong>der</strong> vergangenen Jahre.<br />
Manfred Neubauer
›› <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> -<br />
eine thematische Einführung
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Christliche Nächstenliebe in<br />
Abgrenzung vom pseudoromantischen<br />
Liebesverständnis<br />
Kürzer <strong>und</strong> verständlicher kann man wesentliche<br />
Ergebnisse <strong>der</strong> großen Studie zu Realität<br />
<strong>und</strong> Reichweite von Jugendverbandsarbeit nicht<br />
zusammenfassen. Wir verstehen den Titel „<strong>Für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>“ so, dass es um zwei Blickrichtungen<br />
geht, die sich nach außen <strong>und</strong> nach<br />
innen wenden. Außenwahrnehmung verlangt von<br />
vornherein nach Beweglichkeit. Ich muss rausgehen,<br />
um zu erfahren, um kennen zu lernen <strong>und</strong><br />
zu kommunizieren, <strong>der</strong> Titel „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>mich</strong>“ sagt uns, dass wir das nicht absichtslos<br />
tun. Wir verfolgen ein bestimmtes Ziel, nämlich<br />
<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> da zu sein. Unsere Bewegung ist also<br />
kein „beliebiges Umherstreunen“, son<strong>der</strong>n sie<br />
geschieht absichtsorientiert. <strong>Für</strong> uns gehört dazu,<br />
dass wir die Realität kritisch analysieren <strong>und</strong> uns<br />
fragen, warum bestimmte Verhältnisse, die uns<br />
nicht gefallen, so sind, wie sie sind. Im nächsten<br />
Schritt müssen wir uns fragen, was wir dagegen<br />
tun können <strong>und</strong> was wir <strong>für</strong> jene tun können, die<br />
von solchen Verhältnissen bestimmt werden.<br />
Denn unser Blick ist ja kein objektiver, son<strong>der</strong>n ein<br />
anteilnehmen<strong>der</strong> o<strong>der</strong> solidarischer. Wer etwas <strong>für</strong><br />
14_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> tun will, ergreift Partei <strong>und</strong> bezieht Stellung.<br />
Den Blick nach innen halten wir <strong>für</strong> ebenso wichtig.<br />
Denn mein Ich verschwindet ja nicht, es bleibt<br />
im Spiel <strong>und</strong> hat gleichfalls ein Recht auf Freiheit,<br />
auf Erfüllung <strong>und</strong> Glück. In <strong>der</strong> Binnenwahrnehmung<br />
spiele ich sozusagen die Hauptrolle. Es ist<br />
legitim, danach zu fragen, ob mein Engagement<br />
mir gut tut o<strong>der</strong> nur aus Pflichtgefühl auferlegt ist.<br />
Wir behaupten, dass je<strong>der</strong> Einsatz, <strong>der</strong> nicht wenigstens<br />
ein Quäntchen an persönlichem Gewinn<br />
einfährt, auf Dauer sein Ziel verfehlt <strong>und</strong> vielleicht<br />
sogar ins Gegenteil umschlägt. Es ist erlaubt, nach<br />
dem eigenen Lust- o<strong>der</strong> Spaßfaktor zu fragen.<br />
Das ist nicht blanker Egoismus, son<strong>der</strong>n unserer<br />
Ansicht nach ein ausgezeichneter Lackmustest <strong>für</strong><br />
den Sinn einer Aktion.<br />
Wir merken, je länger wir über den diesjährigen<br />
Trendtitel „<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>“ nachdenken,<br />
dass uns an ihm noch etwas fehlt: das Gemeinschaftsmoment.<br />
Darum denken wir uns im Stillen<br />
einfach eine kleine Erweiterung dazu: „Mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>mich</strong>.“ Es geht ja schließlich<br />
nicht um Einzelkämpfertum. Ich brauche Verbündete,<br />
um wirksam etwas <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> tun zu können.<br />
Also: Wenn ich rausgehe <strong>und</strong> weiß wohin, ist es<br />
gut, wenn ich Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e mitnehme<br />
o<strong>der</strong> Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, wenn also <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
meine Ziele <strong>und</strong> Absichten teilen. Mag sein, dass<br />
ich zunächst allein losziehe. Aber ich muss zusehen,<br />
dass sich <strong>an<strong>der</strong>e</strong> mir anschließen.<br />
Letzter Gedanke: Uns fiel sofort das Gebot <strong>der</strong><br />
Nächstenliebe ein (Lk. 10,27), das wir im Titel<br />
zeitgemäß übersetzt finden. Im Lukasevangelium<br />
schließt sich diesem Gebot die Geschichte vom<br />
barmherzigen Samariter an, die wenig Gefühl<br />
zeigt, da<strong>für</strong> umso mehr umsichtiges Handeln. Wir<br />
träumen davon, endlich einmal deutlich zu machen,<br />
worum es bei „Nächstenliebe“ eigentlich<br />
geht <strong>und</strong> dass <strong>der</strong> christliche Liebesbegriff absolut
nichts mit dem pseudoromantischen Liebesverständnis<br />
zu tun hat, mit dem wir seit mehr als<br />
einem Jahrh<strong>und</strong>ert berieselt werden: von Courths-<br />
Mahler bis Hollywood.<br />
Christliche Liebe hat unserer Meinung nach nichts<br />
mit Bindung zu tun. Es geht vielmehr darum,<br />
Menschen wie<strong>der</strong> in die Lage zu bringen, ihr Leben<br />
(wenigstens halbwegs) selbständig zu führen. So<br />
verstehen wir auch das „<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>“ im Titel.<br />
Kirche in Zukunft –<br />
vier Kernthemen<br />
In Kirche wird viel über die Zukunft nachgedacht.<br />
Dabei scheint nicht immer <strong>der</strong> (junge) Mensch im<br />
Mittelpunkt zu stehen, <strong>der</strong> getreu dem Motto <strong>der</strong><br />
Arbeitshilfe versucht, sich als soziales Wesen in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft zu organisieren. Im Gegensatz zur<br />
Jugendarbeit werden in verschiedenen Studien zur<br />
Zukunft <strong>der</strong> Kirche immer wie<strong>der</strong> vier Kernthemen<br />
benannt:<br />
1. Freiwilliges bzw. ehrenamtliches Engagement<br />
för<strong>der</strong>n durch Verbesserung <strong>der</strong> Kommunikation<br />
mit den (potenziell) Engagierten sowie Entwicklung<br />
engagementfre<strong>und</strong>licher Strukturen in den<br />
Kirchengemeinden <strong>und</strong> Einrichtungen.<br />
Dabei wird an Ehrenamtlichenpools, -agenturen,<br />
aber auch Eliteschulung gedacht. Wie die<br />
Gewinnung von Ehrenamtlichen, gerade auch<br />
jungen Menschen, aus <strong>der</strong> Sicht von Kirche aussehen<br />
kann, wird eher nicht formuliert. Werden<br />
junge Menschen mit ihren Bedürfnissen, Erwartungen,<br />
Sehnsüchten <strong>und</strong> Wünschen abgeholt?<br />
Hier hat die evangelische Jugendarbeit aufgr<strong>und</strong><br />
ihres Selbstverständnisses, ihres Leitbildes <strong>und</strong><br />
ihrer Praxis etwas zu bieten: Sie stellt Kin<strong>der</strong><br />
<strong>und</strong> Jugendliche in den Mittelpunkt, versucht sie<br />
als Subjekte wahrzunehmen <strong>und</strong> versteht sie im<br />
Sinne <strong>der</strong> „R&R-Studie“ („Realität <strong>und</strong> Reichweite<br />
von Jugendverbandsarbeit“) als Produzenten<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
bzw. Co-Produzenten des Geschehens im Jugendverband.<br />
2. Erschließung neuer Finanzquellen durch eine<br />
offene Kommunikation mit den Kirchenmitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>und</strong> (potenziellen) För<strong>der</strong>ern kirchlicher<br />
Arbeit.<br />
Sponsoring, Stiftungen <strong>und</strong> F<strong>und</strong>raising sind<br />
Begriffe, die Konjunktur haben, auch deshalb<br />
weil die Kirchensteuermittel rückläufig sind <strong>und</strong><br />
Arbeitsbereiche neu begründet <strong>und</strong> finanziert<br />
werden müssen. Jugendverbandsarbeit setzt<br />
allerdings auch weiterhin mehrheitlich auf die<br />
gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage, wie sie im Kin<strong>der</strong>- <strong>und</strong><br />
Jugendhilfegesetz (KJHG) beschrieben ist:<br />
Auszüge aus dem KJHG<br />
§ 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung,<br />
Jugendhilfe<br />
(1) Je<strong>der</strong> junge Mensch hat ein Recht auf För<strong>der</strong>ung<br />
seiner Entwicklung <strong>und</strong> auf Erziehung<br />
zu einer eigenverantwortlichen <strong>und</strong> gemeinschaftsfähigen<br />
Persönlichkeit.<br />
(2) Pflege <strong>und</strong> Erziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sind das<br />
natürliche Recht <strong>der</strong> Eltern <strong>und</strong> die zuvor<strong>der</strong>st<br />
ihnen obliegende Pflicht. Über ihre<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_15<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.<br />
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des<br />
Rechts nach Absatz 1 insbeson<strong>der</strong>e<br />
1. junge Menschen in ihrer individuellen <strong>und</strong><br />
sozialen Entwicklung för<strong>der</strong>n <strong>und</strong> dazu<br />
beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden<br />
o<strong>der</strong> abzubauen<br />
2. Eltern <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Erziehungsberechtigte<br />
bei <strong>der</strong> Erziehung beraten <strong>und</strong> unterstützen<br />
3. Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche vor Gefahren <strong>für</strong><br />
ihr Wohl schützen<br />
4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen<br />
<strong>für</strong> junge Menschen <strong>und</strong> ihre<br />
Familien sowie eine kin<strong>der</strong>- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>liche<br />
Umwelt zu erhalten o<strong>der</strong> zu<br />
schaffen.<br />
Evangelische Jugendarbeit versteht somit<br />
die gesamtgesellschaftliche Aufgabe in<br />
<strong>der</strong> finanziellen För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeit mit<br />
Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen sowie in Bezug<br />
auf die entsprechenden inhaltlichen Angebote<br />
<strong>und</strong> auch hinsichtlich <strong>der</strong> Strukturför<strong>der</strong>ung.<br />
3. Verstärkung <strong>der</strong> internen <strong>und</strong> externen Kommu -<br />
nikation <strong>der</strong> Anliegen <strong>der</strong> Kirche: Das Evangelium<br />
ist öffentlich <strong>und</strong> stellt Kommunikationsstrukturen<br />
in Frage, die in <strong>der</strong> Gefahr einer<br />
Milieuverengung stehen.<br />
Evangelische Jugendarbeit legt Wert auf Freiwilligkeit,<br />
Autonomie, Selbstbestimmung <strong>und</strong><br />
Selbstorganisation, auf Emanzipation <strong>und</strong><br />
Partizipation. Evangelische Jugendarbeit bietet<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Mitbestimmung in den Räumen<br />
„Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft“. Dabei ist evangelische<br />
Jugendarbeit einem zweifachen Auftrag<br />
verpflichtet: Sie achtet einerseits die Interessen<br />
junger Menschen <strong>und</strong> nimmt sie ernst <strong>und</strong> sieht<br />
sich <strong>an<strong>der</strong>e</strong>rseits als Interessensvertreterin <strong>der</strong><br />
Jugendlichen gegenüber Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />
16_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Gleichzeitig will sie Jugendlichen Werte vermitteln<br />
<strong>und</strong> ihre Fähigkeiten för<strong>der</strong>n. Evangelische<br />
Jugendarbeit ist akzeptierende Jugendarbeit <strong>und</strong><br />
somit nicht an Leistung orientiert.<br />
4. Der Glaube initiiert einen fortwährenden Prozess<br />
<strong>der</strong> Menschwerdung <strong>und</strong> Bildung. Da<strong>für</strong> Anlässe<br />
<strong>und</strong> gute Unterstützung zu bieten, ist eine <strong>der</strong><br />
wesentlichen Zukunftsaufgaben <strong>der</strong> Kirche in<br />
einer Situation vielfältigster Manipulationen.<br />
Wir haben in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend aufgr<strong>und</strong><br />
unseres christlichen Selbstverständnisses einen<br />
eigenen Bildungsauftrag. Bildung ist <strong>für</strong> uns<br />
mehr als nur etwas zu lernen. Bildung ist Teil<br />
des Alltags <strong>und</strong> <strong>der</strong> Freizeit von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />
Jugendlichen. Sie erfolgt z. B. auch in Gesprächen<br />
zwischen Tür <strong>und</strong> Angel, in Gruppen, auf
Freizeiten, bei Seminaren, Projekten <strong>und</strong> in vielen<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Situationen des täglichen Lebens.<br />
Bildung in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend meint:<br />
• religiöse Bildung, durch die die eigene Religion<br />
kennen gelernt, die Frage nach Transzendenz<br />
geweckt <strong>und</strong> die Dialogfähigkeit im<br />
Austausch mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Religionen geför<strong>der</strong>t<br />
wird,<br />
• soziale Bildung, die die Gruppenfähigkeit, die<br />
Kompromissbereitschaft <strong>und</strong> den Umgang mit<br />
Aggressionen för<strong>der</strong>t,<br />
• ethische Bildung, die Wertebewusstsein,<br />
moralisches Verhalten <strong>und</strong> ein persönliches<br />
Verantwortungsbewusstsein för<strong>der</strong>n will,<br />
• politische Bildung zum Einüben eines demokratischen<br />
Umgangs miteinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Erziehung zum Frieden <strong>und</strong> zur Gerechtigkeit,<br />
• interkulturelle Bildung, mit <strong>der</strong> die Bereitschaft<br />
zum Zusammenleben mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Kulturen unterstützt wird,<br />
• ästhetische <strong>und</strong> kulturelle Bildung, um einen<br />
Sinn in kulturellen Zeugnissen zu entdecken<br />
<strong>und</strong> zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen musisch-kreativen<br />
Gestaltungsfähigkeit,<br />
• medienkritische Bildung <strong>für</strong> einen besonnenen<br />
Umgang mit Medien,<br />
• ökologische Bildung mit ökologischen Fragestellungen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Bereitschaft zum persönlichen<br />
Handeln,<br />
• geschichtliche Bildung zum Erinnern, Gedenken<br />
<strong>und</strong> Lehren aus <strong>der</strong> Geschichte ziehen,<br />
• zukunftsfähige Bildung, mit Platz <strong>für</strong> Offenes<br />
<strong>und</strong> Unerwartetes <strong>und</strong> För<strong>der</strong>ung des kreativen<br />
Handelns.<br />
Diese vier Kernthemen <strong>und</strong> Aufgaben kommen<br />
in <strong>der</strong> kirchlichen Arbeit auf allen Ebenen immer<br />
schon vor, sind aber selten strategisch geplant <strong>und</strong><br />
konzeptionell durchdrungen. Mögliche Antworten<br />
zu den inhaltlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen aus <strong>der</strong><br />
Perspektive <strong>der</strong> Evangelischen Jugend haben eher<br />
wenig Konjunktur.<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Unverzichtbare Dimensionen<br />
humaner Bildung: Religion<br />
<strong>und</strong> Ethik<br />
EKD veröffentlicht „10 Thesen zu Religion, Werten<br />
<strong>und</strong> religiöser Bildung im Elementarbereich“<br />
"Religion <strong>und</strong> Ethik sind auch im Elementarbereich<br />
unverzichtbare Dimensionen humaner Bildung.<br />
Dort wo <strong>der</strong> Elementarbereich staatlich geprägt<br />
<strong>und</strong> institutionalisiert wird, ist darauf zu achten,<br />
dass sich vergleichbar zur Schule auch hier alle<br />
Kin<strong>der</strong> religiös <strong>und</strong> ethisch orientieren können",<br />
betont <strong>der</strong> Vorsitzende des Rates <strong>der</strong> EKD, Bischof<br />
Wolfgang Huber, im Vorwort zu "Religion, Werte<br />
<strong>und</strong> religiöse Bildung im Elementarbereich. 10 Thesen<br />
des Rates <strong>der</strong> EKD". Der Rat <strong>der</strong> EKD sieht in<br />
diesen Thesen einen spezifischen Beitrag zur vom<br />
B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen<br />
<strong>und</strong> Jugend gegründeten "Initiative Verantwortung<br />
Erziehung", die zuvor als "Bündnis <strong>für</strong> Erziehung"<br />
gemeinsam mit den Kirchen in Gang gesetzt worden<br />
war.<br />
Worte zum Tag:<br />
„Befre<strong>und</strong>e dich mit dem Bruchstück. Manches<br />
Fragment spiegelt mehr von einem Menschen als<br />
ein strahlen<strong>der</strong> Erfolg.“<br />
Oliver Kohler, Historiker <strong>und</strong> Schriftsteller<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_17<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Bildung – Schlüsselqualifikationen<br />
– soziales Lernen<br />
Jugendliche mit schlechten Bildungs- <strong>und</strong> Berufsperspektiven<br />
werden laut b<strong>und</strong>esweiter Studien<br />
weitaus häufiger krank als Gleichaltrige mit besseren<br />
Aussichten. Die verän<strong>der</strong>ten gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Bedingungen erfor<strong>der</strong>n vom<br />
Bildungssystem in Deutschland eine Orientierung,<br />
die geeignet ist, auch zukünftigen nationalen <strong>und</strong><br />
internationalen Verän<strong>der</strong>ungen gewachsen zu<br />
sein. Da<strong>für</strong> ist es notwendig, eine ausreichende<br />
finanzielle <strong>und</strong> personelle Ausstattung von Schulen<br />
<strong>und</strong> Hochschulen vorzuhalten <strong>und</strong> junge Menschen<br />
auf die Erfor<strong>der</strong>nisse des Arbeitsmarktes<br />
gut vorzubereiten: sowohl im Hinblick auf die Allgemeinbildung<br />
als auch auf das Erlernen <strong>und</strong> die<br />
Ausübung sozialer Kompetenzen. Die Realität je-<br />
doch ist eine <strong>an<strong>der</strong>e</strong>: Kürzungen im Schulbereich,<br />
Streichung <strong>der</strong> Lehrmittelfreiheit, Einführung von<br />
Studiengebühren.<br />
Die Leistungen <strong>der</strong> Jugendverbände mit ihrem<br />
Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsauftrag sind in diesem<br />
Zusammenhang häufig zu wenig im Blick. Die Vielzahl<br />
von Bildungsangeboten, Projekten, Freizeiten,<br />
Internationalen Begegnungen, die Möglichkeiten<br />
18_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
<strong>der</strong> Mitgestaltung <strong>und</strong> Verantwortungsübernahme<br />
im Jugendverband <strong>und</strong> die Teilhabe an <strong>der</strong><br />
gesellschaftlichen Weiterentwicklung unserer<br />
Demokratie skizzieren nur einen Ausschnitt aus<br />
dem Aktivitätenkanon von Jugendverbänden <strong>und</strong><br />
machen lediglich ansatzweise ihre spezifischen<br />
Leistungen deutlich.<br />
In <strong>der</strong> außerschulischen Jugendarbeit steht erfahrungsbezogenes<br />
Lernen <strong>und</strong> das Lernen am<br />
Modell im Zentrum, sei es in erlebnispädagogischen<br />
Ansätzen o<strong>der</strong> im eigenen Ausprobieren<br />
im Umgang mit Jugendlichen einer Jugendgruppe.<br />
Freude am Lernen, das Entdecken von Neuem, das<br />
„praktische Erfahrungen sammeln“ <strong>und</strong> sich auf<br />
lebenspraktische Situationen adäquat vorzubereiten,<br />
sind Gr<strong>und</strong>fel<strong>der</strong>, welche Jugendverbände<br />
bieten. Jugendliche sind dabei Subjekte ihres<br />
eigenen Lernprozesses, <strong>der</strong> mit Methoden <strong>der</strong><br />
Selbstüberprüfung des eigenen Handelns auf ein<br />
lebenslanges Lernen vorbereitet <strong>und</strong> die eigene<br />
Handlungs-, Urteils- <strong>und</strong> Reflexionsfähigkeit<br />
erhöht.<br />
In <strong>der</strong> Bildungsarbeit von Jugendverbänden wird<br />
versucht, Mädchen <strong>und</strong> Jungen, junge Frauen<br />
<strong>und</strong> junge Männer in <strong>der</strong> Entwicklung ihrer individuellen<br />
Persönlichkeit zu unterstützen <strong>und</strong> zu<br />
för<strong>der</strong>n. Dies geschieht im Sinne von § 9 Abs. 3<br />
KJHG, lt. welchem unterschiedliche Lebenslagen<br />
von Mädchen <strong>und</strong> Jungen berücksichtigt werden<br />
sollen <strong>und</strong> als Ziel <strong>der</strong> Abbau von Benachteiligung<br />
steht bei gleichzeitiger För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Gleichberechtigung<br />
von Mädchen <strong>und</strong> Jungen. Dazu ist<br />
es notwendig, geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen<br />
zu benennen <strong>und</strong> zu bearbeiten, um<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im oben genannten Geist erzielen<br />
zu können.<br />
Jugendverbände bieten Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
die Chance, eigenverantwortliches Handeln zu<br />
erlernen <strong>und</strong> umzusetzen, Verantwortung zu übernehmen<br />
<strong>und</strong> somit ihre sozialen Kompetenzen zu
erweitern <strong>und</strong> anzuwenden. Kommunikations- <strong>und</strong><br />
Kooperationsfähigkeit, Team- <strong>und</strong> Entscheidungsfähigkeit,<br />
Leitungs- <strong>und</strong> Führungsverhalten werden<br />
vermittelt <strong>und</strong> Konfliktmanagement mit dem<br />
Ziel <strong>der</strong> Kompromiss- bzw. Konsensfähigkeit eingeübt.<br />
Eine Voraussetzung da<strong>für</strong> ist das Erlernen<br />
des Umgangs mit komplexen Situationen, die u. a.<br />
Unsicherheiten <strong>und</strong> Ängste verursachen können.<br />
Partnerschaftliches Verhalten zwischen den Geschlechtern<br />
macht ebenfalls eine soziale Kompetenz<br />
aus. Die Leistungen <strong>der</strong> Jugendverbände<br />
im pädagogischen Bereich, die sowohl im Privatleben<br />
als auch insbeson<strong>der</strong>e im Beruf immer wichtiger<br />
werden <strong>und</strong> die in fortschrittlichen Bereichen<br />
<strong>der</strong> Wirtschaft inzwischen anerkannt sind, gilt<br />
es weiterhin finanziell angemessen zu för<strong>der</strong>n<br />
<strong>und</strong> sie inhaltlich zu unterstützen. In Jugendverbänden<br />
findet weiterhin <strong>der</strong> wichtige Bereich <strong>der</strong><br />
Wertorientierung statt, ein Bereich, <strong>der</strong> in den<br />
Schulen <strong>und</strong> im Elternhaus immer weniger vermittelt<br />
wird.<br />
Jugendverbände bilden außerdem eins <strong>der</strong> wenigen<br />
demokratischen Lernfel<strong>der</strong> <strong>für</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
Jugendliche, die ihnen Beteiligungsmöglichkeiten<br />
in allen Bereichen eröffnen <strong>und</strong> so die Möglichkeit<br />
bieten, Demokratie unmittelbar zu erleben.<br />
Auch da<strong>für</strong> gibt es in unserer Gesellschaft kaum<br />
Alternativen. Der Wert ehrenamtlicher Arbeit, die<br />
in Jugendverbänden geleistet <strong>und</strong> zu <strong>der</strong> motiviert<br />
wird, steht außer Frage. Diese beispielhaft genannten<br />
Bereiche gewinnen in einer Gesellschaft,<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
die immer weniger in <strong>der</strong> Lage ist, Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />
Jugendlichen ausreichende soziale Kompetenzen<br />
zu vermitteln, zunehmend an Bedeutung. Die Vermittlung<br />
sozialer Verhaltensweisen wird aus den<br />
verschiedensten Gründen sowohl in den Elternhäusern<br />
als auch in den Schulen immer schwieriger.<br />
Somit übernehmen die Jugendverbände<br />
maßgebliche Sozialisationsaufgaben. Der Erwerb<br />
dieser Schlüsselqualifikationen im Rahmen von<br />
sozialer Kompetenz, stellt eine wesentliche Ergänzung<br />
zu dem Erlernen <strong>der</strong> Kulturtechniken Lesen,<br />
Rechnen, Schreiben, verschiedene Sprachen sprechen<br />
<strong>und</strong> Umgang mit dem Computer dar.<br />
Fazit:<br />
Schule, Universität <strong>und</strong> Berufsausbildung können<br />
Jugendlichen Lernerfahrungen nur unvollständig<br />
vermitteln. Außerschulische Jugendarbeit nimmt<br />
keine Lückenbüßerfunktion ein, son<strong>der</strong>n setzt<br />
Standards. Lebenslanges Lernen braucht verschiedene<br />
Anregungsmilieus. Evangelische Jugend ist<br />
dabei nicht nur lebensabschnittsbegleitend, son<strong>der</strong>n<br />
markiert Erfahrungen <strong>für</strong> die Zukunft.<br />
Lernen am Modell ist angesagt. Evangelische Jugend<br />
arbeitet we<strong>der</strong> inhalts- noch beziehungslos.<br />
Das personale Angebot von Hauptamtlichen ist<br />
ein Pf<strong>und</strong>, mit dem wir wuchern können. Unsere<br />
pädagogischen <strong>und</strong> theologischen Zielformulierungen<br />
können sich hören <strong>und</strong> sehen lassen. Die<br />
Aussage: “ Unsere Konzeption ist unsere Konzeptionslosigkeit”<br />
trifft <strong>für</strong> die Evangelische Jugend<br />
nicht zu.<br />
Praktizierte christliche<br />
Nächstenliebe am Beispiel<br />
des barmherzigen Samariters<br />
Es findet sich im Neuen Testament kein Aufruf zu<br />
Bildung <strong>und</strong> Lernen, doch stößt man auf zahlreiche<br />
Begegnungen zwischen Lehrern <strong>und</strong> Schülern.<br />
Jesus selbst wurde von seinen Jüngern als Lehrer<br />
verstanden. Auf sehr verschiedene Weise hat er<br />
seine Botschaft unter die Menschen gebracht, in<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_19<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Geschichten, Gleichnissen, symbolischen Handlungen<br />
<strong>und</strong> Verkündigungen. Und immer wie<strong>der</strong><br />
wird dabei deutlich, dass diese Botschaft nicht<br />
einfach in die Köpfe fällt. Sie muss „erlernt“ werden,<br />
allmählich verstanden <strong>und</strong> angeeignet. Bis<br />
heute.<br />
Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück,<br />
zum Titel, <strong>der</strong> über unseren Ausführungen liegt.<br />
Und wir wählen uns ein problematisches Thema<br />
aus, das Jesus gelehrt hat: Nächstenliebe.<br />
„Nächstenliebe“ also, dieses so breit getretene<br />
<strong>und</strong> meist missverstandene Wort. Soll man es<br />
überhaupt noch gebrauchen? Wir versuchen es<br />
trotzdem, in <strong>der</strong> Hoffnung zur Klärung beitragen zu<br />
können.<br />
Zuerst die Geschichte:<br />
Lukas 10, 25-29<br />
25 Da kam ein Toralehrer <strong>und</strong> wollte Jesus prüfen;<br />
er fragte ihn: »Lehrer, was muss ich tun, um das<br />
ewige Leben zu bekommen?« 26 Jesus antwortete:<br />
»Was steht denn im Gesetz? Was liest du dort?«<br />
27 Der Toralehrer antwortete: »Liebe den Herrn,<br />
deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen<br />
<strong>und</strong> mit aller deiner Kraft <strong>und</strong> deinem ganzen<br />
20_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Verstand! Und: Liebe deinen Nächster wie dich<br />
selbst!« 28 »Du hast richtig geantwortet«, sagte<br />
Jesus. »Handle so, dann wirst du leben.«<br />
29 Aber <strong>der</strong> Toralehrer wollte seine Frage rechtfertigen,<br />
<strong>und</strong> er fragte weiter: »Wer ist denn mein<br />
Nächster?«7<br />
Die Tora umfasst die fünf Bücher Mose. „Tora“<br />
bedeutet „Lehre“, „Unterweisung“, „Gesetz“. Sie<br />
ist das F<strong>und</strong>ament des israelitischen Glaubens damals<br />
so wie des jüdischen heute. Insgesamt zählt<br />
man 613 Tora-Gebote.<br />
Jesus trifft in dieser Erzählung also nicht auf einen<br />
Laien, son<strong>der</strong>n auf einen absoluten Spezialisten,<br />
einen Lehrer, <strong>der</strong> sich genauestens auskennt.<br />
In dem folgenden Gespräch geht es ums Eingemachte.<br />
Das ist kein intellektueller small talk, wo<br />
man dem Gegenüber mal zeigt, wie schlau man<br />
ist. Nein, <strong>der</strong> Toralehrer will es wirklich wissen.<br />
Er „prüft“ Jesus aus existentiellem Interesse.<br />
Die Frage nach dem „ewigen Leben“ ist eine<br />
Frage nach Alles o<strong>der</strong> Nichts. Dabei steht das<br />
Hier im Mittelpunkt, nicht das Jenseits. Der Lehrer<br />
fragt nach dem ultimativ besten Leben, das er<br />
schon jetzt haben will, wenigstens in Anfängen.
Von Jesus erhofft er sich weiterreichende Antworten.<br />
Die Unterhaltung zwischen den beiden ist ein<br />
typisches Lehrgespräch. Jesus antwortet nicht<br />
einfach. Er bringt den Fragenden dazu, selbst zu<br />
einer Antwort zu gelangen <strong>und</strong> verweist ihn dabei<br />
an die Tora zurück. Und sofort kann <strong>der</strong> Lehrer<br />
zusammenfassend die 3 Säulen des Liebesgebots<br />
benennen: Gottesliebe, Selbstliebe, Nächstenliebe<br />
(dazu sagen wir jetzt nichts, weil das zu weit<br />
führen würde).<br />
Das heißt, eigentlich weiß er längst, wonach er<br />
Jesus fragt, weshalb <strong>der</strong> ganz simpel nachlegen<br />
kann mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, das dann auch zu praktizieren.<br />
Uups, ertappt! Hier landen wir mitten in <strong>der</strong> Gegenwart.<br />
Zwischen Erkennen <strong>und</strong> Handeln besteht<br />
ein Zusammenhang, den viele gerne übersehen. Es<br />
ist natürlich auch einfacher, schöne Einsichten zu<br />
formulieren o<strong>der</strong> flammende Appelle an wen auch<br />
immer zu richten <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> nach Hause<br />
zu fahren. Jesus macht auf trockene Art deutlich,<br />
dass Denken <strong>und</strong> Tun zusammengehören.<br />
Der Lehrer jedenfalls fühlt sich bloßgestellt <strong>und</strong><br />
versucht, sein Gesicht zu wahren, indem er weiterfragt<br />
<strong>und</strong> nun konkret wissen will: wer ist denn<br />
mein(e) Nächste(r)?<br />
Daraufhin erzählt Jesus die Geschichte vom Samaritaner:<br />
Lukas 10, 30 - 37<br />
30 Jesus nahm die Frage auf <strong>und</strong> erzählte die<br />
folgende Geschichte: »Ein Mann ging von Jerusalem<br />
nach Jericho hinab. Unterwegs überfielen ihn<br />
Räuber. Sie nahmen ihm alles weg, schlugen ihn<br />
zusammen <strong>und</strong> ließen ihn halb tot liegen. 31 Nun<br />
kam zufällig ein Priester denselben Weg. Er sah<br />
den Mann liegen <strong>und</strong> ging in großem Bogen vorbei.<br />
32 Genauso machte es ein Levit, als er an die<br />
Stelle kam: Er sah ihn liegen <strong>und</strong> ging in großem<br />
Bogen vorbei. 33 Schließlich kam ein Reisen<strong>der</strong><br />
aus Samarien. Als er den Überfallenen sah, ergriff<br />
ihn das Mitleid. 34 Er ging zu ihm hin, behandelte<br />
seine W<strong>und</strong>en mit Öl <strong>und</strong> Wein <strong>und</strong> verband sie.<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier <strong>und</strong><br />
brachte ihn in das nächste Gasthaus, wo er sich<br />
weiter um ihn kümmerte. 35 Am <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Tag zog<br />
er seinen Geldbeutel heraus, gab dem Wirt zwei<br />
Denare <strong>und</strong> sagte: Pflege ihn! Wenn du noch<br />
mehr brauchst, will ich es dir bezahlen, wenn ich<br />
zurückkomme.« 36 »Was meinst du?«, fragte Jesus.<br />
»Wer von den dreien hat an dem Überfallenen als<br />
Nächster gehandelt?« 37 Der Toralehrer antwortete:<br />
»Der ihm geholfen hat!« Jesus erwi<strong>der</strong>te:<br />
»Dann geh <strong>und</strong> mach du es ebenso!«<br />
„Nächstenliebe“ wird von Außenstehenden oftmals<br />
so begriffen, als müssten Christinnen <strong>und</strong><br />
Christen jedem Menschen dieser Welt in Sanftheit,<br />
Harmoniebedürftigkeit <strong>und</strong> weichgespülter<br />
Fre<strong>und</strong>lichkeit gegenübertreten. Schon komisch,<br />
was manche unter „Liebe“ verstehen.<br />
Aber auch, wer sich um eine Einlösung dieses Gebots<br />
bemüht, kann <strong>für</strong>chten, dabei aus <strong>der</strong> Puste<br />
zu kommen. Bereits in <strong>der</strong> Frage des Toralehrers<br />
steckt diese Angst vor Überfor<strong>der</strong>ung, die noch<br />
heute lebendig ist. Ja, wie soll das denn gehen, die<br />
ganze Welt <strong>und</strong> alle Menschen zu umarmen?<br />
„Gar nicht“, sagt Jesus.<br />
Und das wird auch nirgends gefor<strong>der</strong>t!<br />
Wir alle kennen sehr verschiedene Arten zu lieben.<br />
Wir lieben unsere(n) Partner(in) an<strong>der</strong>s als unsere<br />
Eltern, unsere Großeltern, unsere Geschwister,<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_21<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
unsere Kin<strong>der</strong>, unsere Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e.<br />
Und Nächstenliebe ist noch einmal etwas ganz<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>s!<br />
Die Frage des Toralehrers nach dem Nächsten führt<br />
auf gefährliches Gelände. Denn nach dem Hören<br />
<strong>der</strong> Geschichte vom Samariter ist es nicht mehr<br />
möglich, die drei Säulen des Liebesgebots bequem<br />
auseinan<strong>der</strong> zu halten <strong>und</strong> sich nur an eine<br />
von ihnen zu lehnen. Gottesliebe, Selbstliebe <strong>und</strong><br />
Nächstenliebe gehören zusammen. Sie lassen sich<br />
nicht trennen.<br />
Am spannendsten aber ist die Antwort, die Jesus mit<br />
<strong>der</strong> Geschichte auf die Frage nach dem Nächsten<br />
gibt.<br />
Jericho <strong>und</strong> Jerusalem liegen, je nach Wegstrecke,<br />
zwischen 30 – 40 km auseinan<strong>der</strong>. In Jericho<br />
lebten viele Priester <strong>und</strong> Leviten, die zum achttägigen<br />
Tempeldienst nach Jerusalem wan<strong>der</strong>ten.<br />
Der Weg dorthin führte aus <strong>der</strong> Jordansenke,<br />
250 m unter dem Meeresspiegel, ins 750 m hoch<br />
gelegene Jerusalem über Serpentinen <strong>und</strong> steile<br />
Anstiege. Ein ideales Gebiet <strong>für</strong> Raubüberfälle<br />
<strong>und</strong> in damaliger Zeit auch berüchtigt da<strong>für</strong>. Die<br />
Handelsstrecke Jericho – Jerusalem litt unter den<br />
zahllosen Attacken auf Kaufleute <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>, die<br />
nach Besitz aussahen.<br />
So passiert dem Mann, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Geschichte überfallen<br />
wird, das, was vielen dort real passiert ist.<br />
Er wird schwer verletzt, ausgeraubt <strong>und</strong> dann sich<br />
selber überlassen.<br />
Priester <strong>und</strong> Levit, die seinen Weg kreuzen, reagieren<br />
beide auf die gleiche Weise: sie machen<br />
einen Bogen um den Überfallenen. Sie gehen auf<br />
Distanz, um nur ja nicht in diesen Fall verwickelt zu<br />
werden. Sie verweigern sich einer Begegnung, die<br />
bindet <strong>und</strong> eine Beziehung herstellt. Sie verweigern<br />
dem Verletzten das Recht, ein Mensch zu sein<br />
(über Priester <strong>und</strong> Levit wäre noch viel mehr zu<br />
sagen, wo<strong>für</strong> hier nicht <strong>der</strong> Platz ist.).<br />
Der Reisende aus Samarien, dem nördlichen Teil<br />
des heutigen Westjordanlands, <strong>der</strong> als letzter auf<br />
den Ausgeraubten stößt, hat eigentlich am wenigsten<br />
Gr<strong>und</strong> einzuschreiten. Samaritaner waren<br />
22_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Israeliten, die sich im Laufe <strong>der</strong> Geschichte mit<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Völkern vermischt hatten <strong>und</strong> da<strong>für</strong> von<br />
den übrigen Israeliten verachtet wurden. Außerdem<br />
waren sie weniger streng im Befolgen <strong>der</strong><br />
Reinheitsgebote.<br />
Bürger zweiter Klasse also, religiöse Parias dazu.<br />
In <strong>der</strong> Gegend zwischen Jericho <strong>und</strong> Jerusalem<br />
dürften sich nicht all zu viele Samaritaner aufgehalten<br />
haben. Der Überfallene wird damit zu<br />
denen gehört haben, die auf die „Halbisraeliten“<br />
herabgesehen haben. Warum sollte man so einem<br />
auch noch beistehen? Eigentlich müsste er ihm<br />
zum Fernsten werden.<br />
Doch dem Reisenden sind solche Überlegungen<br />
in diesem Augenblick vollkommen fremd. Er lässt<br />
sich anrühren von <strong>der</strong> Situation des Hilflosen. Er<br />
setzt sich über alle nationalen, ethischen o<strong>der</strong><br />
religiösen Grenzen hinweg. Denn vor ihm liegt<br />
kein Judäer o<strong>der</strong> Galiläer o<strong>der</strong> religiöser first class<br />
man, son<strong>der</strong>n schlicht <strong>und</strong> einfach ein Mensch. Ein<br />
Mensch, <strong>der</strong> Hilfe braucht.<br />
Nach dem ersten Moment persönlicher Berührung<br />
<strong>und</strong> Erschütterung handelt <strong>der</strong> Samaritaner sehr<br />
pragmatisch <strong>und</strong> realitätsnah. Er verzichtet darauf,<br />
dem Überfallenen zu erklären, wie sehr dessen<br />
Situation ihn betroffen mache. Stattdessen greift<br />
er auf die medizinischen Gr<strong>und</strong>kenntnisse zurück,<br />
die in damaliger Zeit praktiziert wurden. Er reinigt<br />
die W<strong>und</strong>en schonend mit Öl <strong>und</strong> desinfiziert sie
dann mit Wein, um sie zuletzt zu verbinden. Anschließend<br />
bringt er den Verw<strong>und</strong>eten an einen<br />
sicheren Ort, wo er die Pflege fortsetzen kann.<br />
Falsch verstandene Nächstenliebe würde nun erwarten,<br />
dass <strong>der</strong> Mann aus Samarien seine eigenen<br />
Interessen zurückstellt <strong>und</strong> so lange bei dem<br />
Verw<strong>und</strong>eten bleibt, bis <strong>der</strong> wie<strong>der</strong> vollständig geheilt<br />
ist. Richtig verstandene Selbstliebe lässt ihn<br />
dagegen am nächsten Tag aufbrechen <strong>und</strong> seinen<br />
eigenen Geschäften nachgehen. Vorher aber regelt<br />
er die weitere Versorgung finanziell <strong>und</strong> delegiert<br />
die Hilfe an einen <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n. Nächstenliebe schließt<br />
nicht aus, dass ich <strong>mich</strong> um Mithilfe kümmere.<br />
Es ist vielleicht nicht ganz so glanzvoll <strong>und</strong> edel,<br />
wenn ich <strong>für</strong> sie bezahle, aber da<strong>für</strong> in manchen<br />
Fällen zweckmäßig. Der Samaritaner jedenfalls<br />
weiß genau, wie er den Wirt dazu bewegen kann,<br />
dem Ausgeraubten weiter<br />
beizustehen. Gewissensappelle<br />
hätten nicht geholfen.<br />
Wenn man sich die Geschichte<br />
noch einmal ansieht, kann<br />
man feststellen, dass <strong>der</strong><br />
Samaritaner an keiner Stelle<br />
etwas tun muss, das über<br />
seine Kräfte geht. Bei näherer<br />
Betrachtung lässt sich nur<br />
konstatieren: Er tut, was zu<br />
tun ist. Kein Gesülze, keine<br />
Psychoshow, son<strong>der</strong>n Handfestes.<br />
Nächstenliebe tut das<br />
Naheliegende.<br />
Jesus zeichnet hier ein Modell,<br />
das niemanden überfor<strong>der</strong>t, aber jede <strong>und</strong> jeden<br />
dazu anhält, existentiell hellwach zu bleiben.<br />
Das wichtigste Wort in <strong>der</strong> Samaritanergeschichte<br />
ist das Wort „zufällig“. Zufällig stoßen die drei<br />
Personen <strong>der</strong> Erzählung auf den Überfallenen,<br />
um sich darauf sehr unterschiedlich zu verhalten.<br />
Wer also konkret nach dem Nächsten fragt, muss<br />
wissen: wer die o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nächste ist, das ereignet<br />
sich. Wir suchen uns unseren Nächsten nicht aus.<br />
Er begegnet uns. Wir können nicht bestimmen, wer<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
unsere Nächste wird. Sie stößt uns zu. Wir haben<br />
keine Wahl, können uns nicht vorher herauspicken,<br />
wer uns am besten passen würde.<br />
Wer unsere Nächsten sind, ist unvorhersehbar <strong>und</strong><br />
überraschend. Doch es werden immer Menschen<br />
sein, die in eine Situation geraten sind, aus <strong>der</strong><br />
sie allein nicht mehr herausfinden. Nächstenliebe<br />
bedeutet, mit da<strong>für</strong> zu sorgen, dass Menschen<br />
wie<strong>der</strong> fähig werden, selbständig leben zu können.<br />
Mehr nicht, aber auch nicht weniger.<br />
Wir finden, dass sich mit einem solchen Verständnis<br />
von Nächstenliebe freier atmen lässt – <strong>und</strong><br />
schwerer nach Ausflüchten suchen, um nichts zu tun.<br />
Nächstenliebe ist immer auch ein Aufstand gegen<br />
jede Form von Nationalismus, religiöser Überheblichkeit<br />
<strong>und</strong> sozialer Deklassierung. Über<br />
alle Normen <strong>und</strong> Schranken setzt sie sich fe<strong>der</strong>-<br />
leicht hinweg. Sie ist ein Herzweg von Mensch<br />
zu Mensch <strong>und</strong> damit auch zu Gott. Denn Gottesliebe<br />
ist ohne Nächstenliebe nicht zu haben <strong>und</strong><br />
Nächs tenliebe nicht ohne Liebe zu sich selbst.<br />
„Bildung“, so verstanden, käme ohne ein System<br />
aus, das Menschen klassifiziert <strong>und</strong> von vornherein<br />
die Chancen ungleichmäßig verteilt.<br />
An dieser Stelle verzichten wir aus Gründen<br />
des Umfangs dieses Beitrages auf die Themen<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_23<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
„Transfer, Vermittlung, Umsetzung (Projektbeschreibungen,<br />
Praxisbeispiele, Gottesdienste,<br />
Gruppenst<strong>und</strong>en, St<strong>und</strong>en-Entwürfe)“ <strong>und</strong> „Weiterführende<br />
Fragestellungen“, so wie sie in dem<br />
verabredeten Raster des 7-er-Schrittes vorgesehen<br />
sind. Sie sind in den weiteren Beiträgen dieser<br />
Arbeitshilfe praxisnah dargestellt.<br />
Literaturverzeichnis<br />
• Corsa, M./Nörber, M./Sturzenhecker, B.: Realität<br />
<strong>und</strong> Reichweite von Jugendverbandsarbeit.<br />
Vorläufiger Abschlussbericht <strong>für</strong> das B<strong>und</strong>esministerium<br />
<strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong><br />
Jugend/<strong>Band</strong> 5/Bericht <strong>der</strong> Praxisentwicklung,<br />
Hannover, Berlin 2006 (unveröff.)<br />
• Fauser, Katrin & Münchmeier, Richard & Fischer,<br />
Arthur (Hrsg.) Jugendliche als Akteure<br />
im Verband Ergebnisse einer empirischen Untersuchung<br />
<strong>der</strong> Evangelischen Jugend (<strong>Band</strong><br />
1) 3-86649-065-8 Erscheinungsjahr: 10/2006<br />
354 Seiten<br />
Das Buch stellt die Ergebnisse einer umfangreichen<br />
Jugendstudie zum Thema „Jugend im<br />
Verband“ vor. Junge Menschen – so <strong>der</strong> Bef<strong>und</strong><br />
- sind nicht bloß Adressaten o<strong>der</strong> Konsumenten.<br />
<strong>Für</strong> sie ist <strong>der</strong> Jugendverband ein Ort von Sel-<br />
24_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
bermachen <strong>und</strong> aktiv sein können. Sie nutzen<br />
ihn, um „etwas <strong>für</strong> sich selber zu tun“, „an sich<br />
wachsen zu können“ <strong>und</strong> zugleich, um „etwas<br />
Sinnvolles <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>“ zu tun. Die zentralen<br />
subjektorientierten Perspektiven <strong>und</strong> Fragestellungen<br />
<strong>der</strong> Untersuchung waren: Wie erleben Jugendliche<br />
die Angebote eines Jugendverbands?<br />
Wie eignen sie sich seine Gelegenheitsstruktur<br />
an? Was machen sie aus dem Verband? Die<br />
Bef<strong>und</strong>e des aufwändigen Forschungsprojekts<br />
am Beispiel <strong>der</strong> Evangelischen Jugend erläutern<br />
die Rolle <strong>der</strong> Fre<strong>und</strong>e im Jugendverband,<br />
die zentrale Bedeutung von Gemeinschaft, die<br />
leitenden Teilnahmemotive, die Aktivitäts- <strong>und</strong><br />
Gestaltungsbedürfnisse von jugendlichen Teilnehmern.<br />
• Fauser, Katrin & Münchmeier, Richard & Fischer,<br />
Arthur (Hrsg.) "Man muss es selbst<br />
erlebt haben..." Biografische Porträts Jugendlicher<br />
aus <strong>der</strong> Evangelischen Jugend (<strong>Band</strong> 2)<br />
3-86649-066-6 Erscheinungsjahr: 10/2006 318<br />
Seiten<br />
In diesem Buch drücken Jugendliche <strong>und</strong> junge<br />
Erwachsene in Wort <strong>und</strong> Bild aus, was „ihr“<br />
Jugendverband <strong>für</strong> sie <strong>und</strong> ihre Entwicklung<br />
bedeutet. Jugendverbände können <strong>für</strong> biografisch<br />
bedeutsame Selbstbildungsprozesse<br />
überaus wichtig sein. Über diese biografischen<br />
Wirkungen ist bisher aber nur sehr wenig bekannt.<br />
Das Buch präsentiert biografische Porträts<br />
Jugendlicher <strong>und</strong> junger Erwachsener <strong>und</strong><br />
schließt damit diese Lücke: Hier werden die<br />
subjektiven lebensweltlichen <strong>und</strong> biografischen<br />
Bedeutungen sichtbar. Die Porträts vollziehen<br />
nach, wie junge Menschen das Leben <strong>und</strong> die<br />
Aktivitäten in <strong>und</strong> mit Jugendverbänden – in<br />
unserem Fall in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend – erleben<br />
<strong>und</strong> gewähren ganz konkrete <strong>und</strong> häufig<br />
überraschende Einblicke. So entsteht ein anschaulicher<br />
<strong>und</strong> einfühlbarer Bil<strong>der</strong>bogen, wie<br />
unterschiedlich <strong>und</strong> erstaunlich mannigfaltig
das sein kann, was Jugendliche dort <strong>für</strong> ihr Leben<br />
gewinnen.<br />
• Corsa, Mike (Hrsg.): Praxisentwicklung im Jugendverband<br />
Prozesse - Projekte – Module<br />
(<strong>Band</strong> 3) ISBN 978-3-86649-67-3 Erscheinungsjahr:<br />
5/2007 220 Seiten<br />
Aus <strong>der</strong> umfangreichen Jugendstudie zum<br />
Thema „Jugend im Verband“ sind drei Bände<br />
hervorgegangen. Der dritte <strong>Band</strong> liefert anhand<br />
plastischer Beispiele motivierende Impulse <strong>für</strong><br />
die subjektorientierte – also an den Ideen <strong>und</strong><br />
Bedürfnissen <strong>der</strong> Jugendlichen selbst orientierte<br />
– Praxis <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendarbeit. Der<br />
<strong>Band</strong> liefert professionelle Information über den<br />
Ansatz subjektorientierter Praxisentwicklung,<br />
Reflexionen darüber <strong>und</strong> eine anwendungsorientierte<br />
Darstellung von Instrumenten <strong>und</strong><br />
Impulsmodulen <strong>für</strong> subjektorientierte Praxisentwicklung.<br />
Ein Buch <strong>für</strong> PraktikerInnen.<br />
Aus dem Inhalt:<br />
Einführung<br />
• Mike Corsa, Was soll das Buch? Subjektorientierte<br />
Praxisentwicklung<br />
• Richard Münchmeier, Vom Sinn <strong>und</strong> Unsinn<br />
<strong>der</strong> Zusammenarbeit zwischen Forschung <strong>und</strong><br />
Praxis<br />
• Welche Impulse kann Forschung <strong>für</strong> die Praxis<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendarbeit geben?<br />
Impulsmodule aus <strong>der</strong> Praxis<br />
Vertiefende Ausführungen<br />
• Fischer: Vertiefung <strong>der</strong> Regionalstudien<br />
• Schlottau: Auswertung einer Regionalen Studie<br />
• Sturzenhecker: Gruppendiskussionen mit<br />
Ehrenamtlichen<br />
• Breer: Vom Sinn überörtlicher Zusammenarbeit<br />
• Neubauer: Aus einer Chance wird eine Bewegung<br />
– die innerverbandliche Wirkung des<br />
Projektes (...)<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> - eine thematische Einführung<br />
• „Forschungsergebnisse: Wir machen was draus!<br />
- Zur Studie: Realität <strong>und</strong> Reichweite von Jugendverbandsarbeit“<br />
Flyer <strong>der</strong> Landesjugendkammer <strong>der</strong> Evangelischen<br />
Jugend in <strong>der</strong> Evangelisch-lutherischen<br />
Landeskirche Hannovers<br />
• Mitarbeiten 2/2006: Ende offen – Praxisentwicklung<br />
in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
(Forschungsprojekt „Realität <strong>und</strong> Reichweite<br />
von Jugendverbandsarbeit“)<br />
Hrsg.: Haus kirchlicher Dienste <strong>der</strong> Evangelischlutherischen<br />
Landeskirche Hannovers (E-Mail:<br />
landesjugendpfarramt@kirchliche-dienste.de)<br />
• Materialien 9/2007: Aufgehorcht! Praxisprojekte<br />
in <strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
(Forschungsprojekt „Realität <strong>und</strong> Reichweite<br />
von Jugendverbandsarbeit“)<br />
Hrsg.: Haus kirchlicher Dienste <strong>der</strong> Evangelischlutherischen<br />
Landeskirche Hannovers (E-Mail:<br />
landesjugendpfarramt@kirchliche-dienste.de)<br />
Wolfgang Blaffert<br />
Manfred Neubauer<br />
Fotos: www.pixelio.de<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_25<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
1. TEIl:<br />
lERNEN … AllEINE
›› Beten –<br />
<strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
Erste Einfälle zum Thema<br />
Hände falten statt anpacken - Untätigkeit statt<br />
Aktion: Sollte sich da etwa ein neuer Trend abzeichnen<br />
in „Gegen den Trend“?<br />
Auf den ersten Blick scheint es ein wenig seltsam,<br />
sich in dieser Publikation ausgerechnet mit solch<br />
einem Thema auseinan<strong>der</strong> zu setzen. „Beten“ hat<br />
<strong>für</strong> viele doch eher etwas mit Problemvermeidung<br />
zu tun, mit Wirklichkeitsflucht <strong>und</strong> Weicheigehabe.<br />
An<strong>der</strong>erseits: Fast jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> besitzt Gebetserfahrungen,<br />
nicht nur kindliche. Eine beträchtliche<br />
Anzahl betet regelmäßig.<br />
Also reicht es wohl kaum aus, sich mit allgemeinen<br />
(Vor-)Urteilen zufrieden zu geben. Im Beten<br />
scheint mehr zu stecken.<br />
Das erste, was mir einfiel, waren die Gebetszeiten<br />
im katholischen Kin<strong>der</strong>garten. Wir mussten die<br />
Handflächen zusammenlegen (so wie auf dem<br />
berühmten Gemälde von Albrecht Dürer) <strong>und</strong> die<br />
Fingerspitzen nach oben richten. Wer sie erdwärts<br />
bewegte, zeigte auf den Teufel <strong>und</strong> bekam augenblicklich<br />
etwas auf die Finger. Unser mittägliches<br />
Abenteuer bestand nun darin, möglichst unbemerkt<br />
auf den Fußboden zu weisen, was beinahe<br />
nie gelang. Beten wurde zu etwas Aufregendem<br />
<strong>und</strong> Gefährlichem. Es war wie auf den höchsten<br />
Baum klettern.<br />
Was sagen <strong>an<strong>der</strong>e</strong>?<br />
(F<strong>und</strong>sachen, Assoziationen,<br />
Kontexte) / Zuspitzung –<br />
Thema entfalten unter einem<br />
Blickwinkel<br />
Im Zeitalter <strong>der</strong> permanenten Multikommunikation,<br />
die selbst vor den privatesten Bereichen nicht<br />
halt macht, son<strong>der</strong>n alles <strong>und</strong> nichts im Licht des<br />
öffentlichen Geredes verbleichen lässt, ist „Beten“<br />
beinahe die letzte Bastion des Intimen geworden.<br />
28_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Man praktiziert es, aber man redet nicht darüber.<br />
Das berührt einen Bereich <strong>der</strong> Persönlichkeit,<br />
<strong>der</strong> nicht zur Schau gestellt werden soll. Diese<br />
Tabu isierung ist ein neues Phänomen, das tiefe<br />
Auswirkungen haben wird auf das allgemeine<br />
Gebetsverständnis. Aber zugleich deutet sich hier<br />
bereits an, dass es im Beten um mehr geht als um<br />
eine Kleinkindveranstaltung. Harmlos ist echtes<br />
Beten nie! Limitiert in seinen Formen aber ebenfalls<br />
nicht:<br />
„Selbst Rauchen kann Beten sein“!<br />
(Dom Hel<strong>der</strong> Camara)<br />
„Wie man beten soll, das steht in <strong>der</strong> Bibel; <strong>und</strong><br />
was man beten soll, das steht in <strong>der</strong> Zeitung.“<br />
(Karl Barth)<br />
„Die Gabe des Betens ist nicht den beson<strong>der</strong>en religiösen<br />
Genies vorbehalten. Spiritualität ist nicht<br />
die Delikatessen-Ecke <strong>für</strong> religiöse Feinschmecker-<br />
Beter in unserer Kirche. Beten ist keine Kunst,<br />
son<strong>der</strong>n ein Handwerk. Der durchschnittliche<br />
Mensch kann es lernen, wie er lesen, schreiben<br />
<strong>und</strong> kochen lernen kann.“<br />
(Fulbert Steffensky).<br />
Beten ist einfach – <strong>und</strong> trotzdem ein Tun, das ich<br />
einüben <strong>und</strong> vertiefen kann. So wird es zu mehr
als einem spontanen Gefühlsausdruck. Es ist eine<br />
uralte Handlung. Ich greife auf Erfahrungen von<br />
Menschen zurück, die vor mir gelebt haben. Ich<br />
reihe <strong>mich</strong> ein in einen unübersehbaren Strom von<br />
Empfindungen, Gedanken <strong>und</strong> Begegnungen.<br />
Das mag gegenwärtig die größte Schwierigkeit<br />
sein, da „Tradition“ <strong>und</strong> „Geschichte“ vielfach<br />
nicht als Orientierung <strong>und</strong> Entlastung betrachtet<br />
werden, son<strong>der</strong>n als Einengung <strong>der</strong> persönlichen<br />
Freiheit.<br />
Beten ist lange etwas Selbstverständliches gewesen,<br />
elementar <strong>und</strong> alltäglich wie Brot essen o<strong>der</strong><br />
Wasser trinken . Es war etwas so Selbstverständliches,<br />
dass es in Israel ursprünglich kein eigenes<br />
Wort da<strong>für</strong> gegeben hat. Beten war Rufen, Lachen,<br />
Weinen, Schimpfen, Flehen - je nach den Umständen.<br />
Feststehende Riten, Orte o<strong>der</strong> Zeiten hat es<br />
in Israel anfangs kaum gegeben. Alles war erlaubt<br />
- das ist das wichtigste Merkmal dieses Volkes im<br />
Umgang mit seinem Gott.<br />
Beten war in je<strong>der</strong> Haltung <strong>und</strong> Tonlage möglich.<br />
Kein Wort wäre zu <strong>der</strong>b o<strong>der</strong> zu spontan gewesen.<br />
Alles war denkbar.<br />
Das ist heute meist an<strong>der</strong>s. Jahrzehntelang war<br />
das offizielle Gebet in die Hände <strong>der</strong> Tugendwächter<br />
<strong>und</strong> Wohlerzogenen gefallen, die es übel zugerichtet<br />
haben. Manches Wäldchen könnte noch<br />
stehen, wenn es nicht als unsägliches Gebetbuch<br />
hätte enden müssen. Ich schäme <strong>mich</strong> bis heute<br />
<strong>für</strong> die Gebetbücher, die mir als Vikar empfohlen<br />
wurden. Noch mehr schäme ich <strong>mich</strong> da<strong>für</strong>, dass<br />
ich sie verwendet habe. Und noch immer sind viele<br />
Kirchengebete oftmals nicht mehr als sprachliche<br />
Laubsägearbeiten, die stets brav die vorgegebene<br />
Linie einhalten, ohne das geringste Gespür da<strong>für</strong>,<br />
dass Beten sich um die Regeln <strong>der</strong> Etikette nicht<br />
zu scheren hat.<br />
Ein temperiertes Beten gibt es nicht!<br />
Vor 40 Jahren wurde in Rom die Laiengemeinschaft<br />
Sant’Egidio gegründet, ursprünglich eine Schüler-<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
<strong>und</strong> Studentenbewegung, die mittlerweile auch<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> Altersgruppen erfasst hat <strong>und</strong> in 70 Län<strong>der</strong>n<br />
vertreten ist. Im Mittelpunkt steht das Gebet,<br />
das sich aber nicht selbst genügt, son<strong>der</strong>n die<br />
Mitglie<strong>der</strong> dazu bringt, eine konkrete Solidarität<br />
mit den Armen zu leben, sich <strong>für</strong> den Frieden in<br />
<strong>der</strong> Welt einzusetzen <strong>und</strong> gegen die Todesstrafe<br />
vorzugehen <strong>und</strong> in verschiedenen afrikanischen<br />
Län<strong>der</strong>n die weitere Ausbreitung von HIV-Erkrankungen<br />
zu bekämpfen. 2003 wurde Sant’Egidio<br />
<strong>für</strong> den Friedensnobelpreis vorgeschlagen <strong>und</strong><br />
ist mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet<br />
worden. Ein Leitsatz <strong>der</strong> Arbeit von<br />
Sant’Egidio lautet: „Der Krieg ist die Mutter aller<br />
Armut.“<br />
Es gibt einen engen Zusammenhang von Beten<br />
<strong>und</strong> Engagement. Der interessiert <strong>mich</strong>!<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_29<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
Theologische Betrachtung<br />
Vom Beten. Die Witwe <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Richter.<br />
Kein <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r Evangelist ist so sehr mit <strong>der</strong> Thematik<br />
des Betens beschäftigt wie Lukas. Insgesamt<br />
widmet er dem Thema sieben zentrale Abschnitte,<br />
beginnend mit dem Vaterunser (Kapitel 11), endend<br />
mit dem Sterbegebet Jesu (Kapitel 23). Das<br />
18. Kapitel behandelt durchlaufend die Frage<br />
nach dem Verhältnis von Mensch <strong>und</strong> Gott, dies<br />
aber nicht unverbindlich-abgehoben, son<strong>der</strong>n in<br />
ständigem Bezug zu jenen Strukturen, welche die<br />
innermenschlichen Beziehungen bis in die Gegenwart<br />
hinein entscheidend prägen: Macht – Ohnmacht;<br />
Reichtum – Armut.<br />
Lukas eröffnet dieses Kapitel mit zwei Gleichnissen,<br />
die sich als generelle Gebetsanleitungen<br />
verstehen lassen, zugleich aber auch die damaligen<br />
sozialen Verhältnisse sehr klar ausleuchten,<br />
beson<strong>der</strong>s im ersten Gleichnis. Jesus erzählt eine<br />
(unmögliche) Armutsgeschichte, die seiner Zuhörerschaft<br />
in vielen Zügen vertraut gewesen sein<br />
wird:<br />
2 »In einer Stadt lebte ein Richter, <strong>der</strong> nicht nach<br />
Gott fragte <strong>und</strong> alle Menschen verachtete. 3 In<br />
<strong>der</strong> gleichen Stadt lebte auch eine Witwe. Sie kam<br />
30_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
immer wie<strong>der</strong> zu ihm gelaufen <strong>und</strong> bat ihn: Verhilf<br />
mir zu meinem Recht! 4 Lange Zeit wollte <strong>der</strong> Richter<br />
nicht, doch schließlich sagte er sich: Es ist mir<br />
zwar völlig gleichgültig, was Gott <strong>und</strong> Menschen<br />
von mir halten; 5 aber weil die Frau mir lästig wird,<br />
will ich da<strong>für</strong> sorgen, dass sie ihr Recht bekommt.<br />
Sonst kratzt sie mir noch die Augen aus.« 6 Und<br />
<strong>der</strong> Herr fuhr fort: »Habt ihr gehört, was dieser<br />
korrupte Richter sagt? 7 Wird dann nicht Gott erst<br />
recht seinen Erwählten zu ihrem Recht verhelfen,<br />
wenn sie Tag <strong>und</strong> Nacht zu ihm schreien? Wird er<br />
sie etwa lange warten lassen? 8 Ich sage euch: Er<br />
wird ihnen sehr schnell ihr Recht verschaffen.«<br />
(Lukas 18, 2-8a)<br />
Jesus greift in seinem Gleichnis auf ein Personal<br />
zurück, das in <strong>der</strong> Erzähltradition Israels geläufig<br />
ist: Witwe <strong>und</strong> Richter. Schon die Propheten haben<br />
oftmals die Korruptheit <strong>und</strong> Rechtsverdrehung <strong>der</strong><br />
Richter kritisiert, die gerade auf die Schwachen<br />
keine Rücksicht nehmen, son<strong>der</strong>n schamlos <strong>der</strong>en<br />
Ohnmacht ausnutzen. „Richter“ übernehmen in<br />
solchen Geschichten häufig die Rolle des „bad<br />
guy“, sicher ein Echo auf reale Zustände. Der<br />
Richter in dem vorliegenden Gleichnis scheint<br />
auf den ersten Blick ebenfalls solche Erwartungen<br />
zu erfüllen: er ist so mächtig, dass er sich nicht<br />
einmal vor Gott <strong>für</strong>chtet, ein Zyniker, dem menschliche<br />
Schicksale gleichgültig sind, <strong>der</strong> sich bestechen<br />
lässt <strong>und</strong> das Recht nicht nach dem Gesetz,<br />
son<strong>der</strong>n nach den finanziellen Zuwendungen<br />
an ihn auslegt. Ein eindeutiger Bösewicht <strong>und</strong><br />
Fiesling also. Aber am Ende knickt er ein <strong>und</strong> gibt<br />
sich einer Frau geschlagen, die eigentlich keine<br />
Mittel hat, ihr Recht durchzusetzen. Wie ist das<br />
möglich?<br />
Seine Wi<strong>der</strong>sacherin ist eine Witwe <strong>und</strong> damit<br />
eine, die sich am untersten Ende <strong>der</strong> sozialen<br />
Rangskala befindet. Wer als Frau seinen Ehepartner<br />
verliert, <strong>und</strong> das ist damals keine Seltenheit<br />
gewesen, auch bei Jüngeren nicht, stürzt in freiem<br />
Fall mitten ins Elend. Ein soziales Netz gibt es
nicht, irgendwelche Hilfsorganisationen ebenso<br />
wenig. Witwen sind nicht die zahnlosen Mütterchen<br />
aus irgendwelchen langweiligen Moralgeschichten,<br />
son<strong>der</strong>n oft genug junge Frauen. Sie<br />
sind die personifizierte Armut. Je jünger, desto<br />
länger wird die Zeit ihres Elends währen!<br />
Es ist eigentlich <strong>und</strong>enkbar, dass solch eine Frau<br />
sich überhaupt auf einen Rechtsstreit einlassen<br />
kann. Wie in all seinen Gleichnissen dockt Jesus<br />
bei den Alltagserfahrungen seiner Zuhörerschaft<br />
an, um sie dann im entscheidenden Moment zu<br />
brechen. So auch hier. Welche Rechtsangelegenheit<br />
hier verhandelt wird, teilt Jesus nicht mit. Es<br />
ist nicht wichtig. Entscheidend ist das Verhalten<br />
<strong>der</strong> Frau: ihre unerschrockene Beharrlichkeit, mit<br />
<strong>der</strong> sie immer wie<strong>der</strong> den Richter darum bittet, ihr<br />
Recht zu verschaffen. Er <strong>für</strong>chtet sie nicht, er wird<br />
auch nicht von Gewissensbissen geplagt. Zu solch<br />
einem zuckersüßen Ende lässt Jesus sich nicht<br />
hinreißen. Es ist viel banaler: Die Frau geht dem<br />
Richter schlichtweg auf den Geist, sie wird ihm lästig.<br />
Er will sie sich schließlich vom Hals schaffen,<br />
indem er ausnahmsweise tut, was seine Aufgabe<br />
ist - Recht zu sprechen.<br />
Im Folgeschluss fragt Jesus die Zuhörenden am<br />
Ende, ob sie Gott nicht eine stärkere Zuwendung<br />
zutrauen zu denen, die ihn fortwährend um Hilfe<br />
anrufen. Wenn es schon <strong>der</strong> Witwe gelingt, diesen<br />
Richter zu bewegen, wie sollte Gott dann unbeteiligt<br />
bleiben, <strong>der</strong> sich in nichts mit dieser Richterfigur<br />
vergleichen lässt?<br />
Wie<strong>der</strong> einmal stehen sich Alltags- <strong>und</strong> Glaubensrealität<br />
gegenüber, sieht die eine sich von <strong>der</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n provoziert. Gleichnisse Jesu sind Zumutungen<br />
– aber eben solche, die Mut machen wollen.<br />
Auffällig ist die enge Verbindung von „Beten“ <strong>und</strong><br />
dem Verb „ekdikein“, das ein Begriff aus dem<br />
juristischen Bereich ist. Es gibt drei verschiedene<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
Bedeutungen <strong>für</strong> „ekdikein“: „jemandem Rechtshilfe<br />
gewähren“, „einen Prozess durchführen“ <strong>und</strong><br />
„Rache verschaffen“. Die meisten Übersetzungen<br />
gehen in <strong>der</strong> Regel einen Schritt weiter <strong>und</strong> wählen<br />
als Bedeutung: „Jemanden zu seinem Recht<br />
verhelfen“ o<strong>der</strong> „jemandem Recht verschaffen“.<br />
Im Gr<strong>und</strong>e geht es genau darum, um die Aufhebung<br />
ungerechter Verhältnisse <strong>und</strong> die Wie<strong>der</strong>herstellung<br />
eines Zustandes, in dem die<br />
verschiedenen Kräfte so ausbalanciert sind, dass<br />
die Waage sich nicht regelmäßig nur zu einer Seite<br />
neigt. „Gerechtigkeit“ ist eine Frage des Gleichgewichts.<br />
Wo sich zu viel Macht, zu viel Reichtum<br />
in wenigen Händen konzentriert, ist dieses Gleichgewicht<br />
zerstört. Wenn Armut <strong>und</strong> Schutzlosigkeit<br />
überhand nehmen, ist das Recht gebrochen, nicht<br />
allein das Menschliche, son<strong>der</strong>n eben auch das<br />
Göttliche. Nach prophetischem <strong>und</strong> jesuanischem<br />
Verständnis müssen gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />
Verhältnisse die göttliche Ordnung wi<strong>der</strong>spiegeln,<br />
die eine beson<strong>der</strong>e Verpflichtung beinhaltet: Das<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_31<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
Stärkere muss das Schwächere unterstützen <strong>und</strong><br />
schützen. Die Realität sah (immer schon) an<strong>der</strong>s<br />
aus!<br />
Jesus redet in schwierigen Zeiten, in denen es nur<br />
wenige gibt, die vermögend sind, während <strong>der</strong> Alltag<br />
von mehr als 90% <strong>der</strong> Bevölkerung ein Leben<br />
am Existenzminimum ist. Landverlust, Verschuldung,<br />
Verelendung – das sind die drei Schlagworte,<br />
mit <strong>der</strong> sich das Leben <strong>der</strong> überwiegenden<br />
Mehrheit beschreiben lässt.<br />
Die Leute, die Jesus zuhören, wollen keine Zerstreuung.<br />
Was ihnen erzählt wird, geht ihnen<br />
buchstäblich unter die Haut. Sie sind Entrechtete,<br />
Ausgenutzte, Verachtete, an den Rand Gedrängte.<br />
Ihnen kann man nicht mit Vertröstungen kommen.<br />
In dem Gleichnis von <strong>der</strong> Witwe <strong>und</strong> dem Richter<br />
zeigt Jesus eine gr<strong>und</strong>legende Dimension des<br />
Betens auf:<br />
„Beten“ heißt in diesem Fall, Gott zu seinem<br />
Rechtsbeistand zu machen <strong>und</strong> mit seiner Hilfe<br />
gegen das Unrecht einen Prozess zu führen. „Beten“<br />
ist (auch) eine Ohnmachtserfahrung, die nicht<br />
in Resignation mündet, son<strong>der</strong>n in dem Ruf nach<br />
Gerechtigkeit die eigene Machtlosigkeit überwindet.<br />
Im Beten steht auf, wer am Boden gelegen<br />
hat, um weiter zu machen <strong>und</strong> sich einzusetzen<br />
<strong>für</strong> das, was recht ist. „Beten“ ist somit keine<br />
isolierte Handlung, son<strong>der</strong>n eingeb<strong>und</strong>en in ein<br />
umfassen<strong>der</strong>es Tun, das den ganzen Menschen<br />
betrifft.<br />
Farbe bekennen (Meinungen,<br />
Überzeugungen, Ideen aus<br />
<strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Verfasserin/des<br />
Verfassers)<br />
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das Gebet<br />
mit beson<strong>der</strong>en Augen auf die Welt schaut. Es ist<br />
niemals ein distanzierter Blick, son<strong>der</strong>n immer<br />
ein anteilnehmen<strong>der</strong>, <strong>der</strong> wahrnimmt, was nicht in<br />
32_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Ordnung ist <strong>und</strong> das nicht aushalten mag. Es geht<br />
nicht um selbstzufriedene Erbauung, nicht um ein<br />
postmo<strong>der</strong>nes upgrade <strong>der</strong> eigenen Persönlichkeit,<br />
die noch ein wenig spirituell getunt werden<br />
muss. Es geht auch nicht darum, nichts zu tun.<br />
„Beten“ ist Teil eines komplexen Engagements.<br />
Wenn ich aufhöre zu beten, stirbt etwas in meinem<br />
Leben. Es wird leerer, weil es beziehungsärmer<br />
wird; es wird geheimnisloser, weil ich Gott als<br />
Gegenüber ausblende. Beten ist kein Monolog –<br />
es ist immer ein in Verbindung treten. Im Beten<br />
wird mir bewusst, dass ich nicht allein bin, nicht<br />
vereinzelt, son<strong>der</strong>n mit Gott <strong>und</strong> <strong>der</strong> Welt zusammenhänge.<br />
Je deutlicher mir das wird, desto mehr<br />
än<strong>der</strong>t sich auch mein Leben. Es öffnet Türen in<br />
die Wirklichkeitsräume, die mir sonst verschlossen<br />
blieben. Es lässt <strong>mich</strong> tiefer ins Leben eindringen,<br />
es macht <strong>mich</strong> wacher <strong>und</strong> weniger anfällig <strong>für</strong><br />
Propaganda <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Lügen. Es verhilft mir zu<br />
einem langen Atem. Ich bin davon überzeugt, dass<br />
Beten nicht folgenlos bleibt.<br />
„Beten verän<strong>der</strong>t nicht die Welt.<br />
Aber Beten verän<strong>der</strong>t die Menschen,<br />
<strong>und</strong> Menschen verän<strong>der</strong>n die Welt.“<br />
(Albert Schweitzer)<br />
Und mehr ist nicht zu sagen!
Transfer, Vermittlung, Umsetzung (Projektbeschreibungen, Praxisbeispiele,<br />
Gottesdienste, Gruppenst<strong>und</strong>en, St<strong>und</strong>enEntwürfe)<br />
Gebetswerkstatt<br />
„Beten so einfach wie Atmen“<br />
Es gibt keine falschen Gebete. Es gibt nur ein<br />
Entwe<strong>der</strong> – O<strong>der</strong>: Entwe<strong>der</strong> man betet o<strong>der</strong> man<br />
tut es eben nicht. Manchmal ist Beten kaum mehr<br />
als ein Stammeln, manchmal ein langes Gespräch,<br />
manchmal ein Ausruf o<strong>der</strong> einfach nur andächtiges<br />
Schweigen. In dieser Gebetswerkstatt steht<br />
niemand unter Erfolgsdruck. Es geht um keinen<br />
Heiligkeitspreis, auch nicht um literarische Ehren,<br />
son<strong>der</strong>n um einfache, spontane, frische Texte,<br />
die sich ohne all zu große Mühe produzieren lassen.<br />
Beten so einfach wie Atmen – das stimmt tatsächlich!<br />
Jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> kann beten – jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong><br />
hat es sicher schon mehr als einmal im Leben<br />
getan. Das Schöne dabei ist: Ich muss <strong>mich</strong> noch<br />
nicht einmal anstrengen. Ich muss nichts leisten<br />
o<strong>der</strong> vorweisen. Es geht praktisch wie von selbst.<br />
Und auch Gebete schreiben ist nicht schwer. Das<br />
kann jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> selbst herausfinden. Einfach<br />
den Anweisungen <strong>und</strong> Vorschlägen folgen – <strong>und</strong><br />
los geht’s!<br />
Die verschiedenen Workshops<br />
I.) Workshop I<br />
Gebete zum Anfassen<br />
Verschiedene Gegenstände liegen aus (Rinde,<br />
Holz, Stein, Batterie, Muschel, Apfel, Weintraube,<br />
Papier usw.) <strong>und</strong> können „begriffen“<br />
werden. Jede/r Teilnehmer/in sucht sich einen<br />
Gegenstand aus <strong>und</strong> schreibt dazu ein Gebet.<br />
Anweisung: Such Dir einen Gegenstand aus.<br />
Nimm ihn in die Hand, ertaste <strong>und</strong> begreife<br />
ihn. Dann schreib ein Gebet dazu.<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
II.) Workshop II<br />
Bil<strong>der</strong>gebete<br />
Fotos liegen auf einem Tisch. Sie dienen als<br />
Impuls. Die TN suchen sich ihr Foto aus <strong>und</strong><br />
schreiben dazu ein Gebet.<br />
Anweisung: Such Dir ein Foto aus. Nimm Dir<br />
Zeit, betrachte es <strong>und</strong> lass Dich zu einem Gebet<br />
inspirieren.<br />
III.) Wegstation<br />
Gebetsteppich<br />
Auf einer großen Flipchart o<strong>der</strong> Endlosrolle<br />
steht als Überschrift: „Was <strong>mich</strong> im Leben<br />
trägt.“ Jede/r kann einen Satz, einen Gedanken<br />
darunter schreiben, eine Skizze zeichnen.<br />
Nach <strong>und</strong> nach füllt sich <strong>der</strong> „Teppich“ mit<br />
Ideen, Formulierungen, die später in einem<br />
Gottesdienst vorgelesen o<strong>der</strong> im Gemeindehaus<br />
/ Jugendraum ausgehängt werden.<br />
Diese Station kann immer wie<strong>der</strong> ange laufen<br />
werden.<br />
Anweisung: „Was <strong>mich</strong> im Leben trägt“. Formuliere<br />
eine Antwort <strong>und</strong> schreibe sie irgendwo<br />
auf den „Teppich“. Du kannst<br />
immer wie<strong>der</strong> dorthin zurückkehren <strong>und</strong> Deinen<br />
ersten Einfall ergänzen.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_33<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Beten – <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
IV.) Workshop IV<br />
Unvollendete Gebete<br />
Zettel liegen aus, die jeweils mit einer Kurzzeile<br />
beginnen <strong>und</strong> von den TN weitergeführt <strong>und</strong><br />
vervollständigt werden sollen.<br />
Die Kurzzeilen lauten:<br />
a) „Guter Gott, ich<br />
danke dir…<br />
b) Guter Gott, ich träume davon…<br />
c) Guter Gott, ich <strong>für</strong>chte <strong>mich</strong> vor…<br />
d) Guter Gott, hilf mir, dass…<br />
e) Guter Gott, ich sehne <strong>mich</strong> nach…<br />
Anweisung: Ergänze den begonnenen Satz<br />
<strong>und</strong> füge so viele Worte/Sätze hinzu, wie Du<br />
magst.<br />
V.) Workshop V<br />
Tischgebete<br />
Kurze, einprägsame Gebete <strong>für</strong> den täglichen<br />
Gebrauch.<br />
Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, daneben<br />
steht eine Karaffe mit Wasser.<br />
Anweisung: Essen <strong>und</strong> Trinken sind elementar.<br />
Schreibe einen kurzen, frischen Text, <strong>der</strong><br />
sich leicht merken lässt.<br />
VI.) Workshop VI<br />
Gebetselfchen<br />
Nach <strong>der</strong> Elfchen-Methode werden Gebete<br />
verfasst.<br />
Anweisung: Beten, Dichten <strong>und</strong> Spielen in<br />
einem! Ein Elfchen ist ein Spiel, ein kurzes Gedicht<br />
o<strong>der</strong> Gebet aus nur elf Worten, die sich<br />
nach einer einfachen Regel über fünf Zeilen<br />
verteilen. Elfchen müssen sich nicht reimen.<br />
Die „Elfchenmethode“ geht folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
1. Zeile: ein Wort<br />
2. Zeile: zwei Worte<br />
3. Zeile: drei Worte<br />
4. Zeile: vier Worte<br />
5. Zeile: ein Wort<br />
Wolfgang Blaffert<br />
34_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Zwei Beispiele:<br />
1.<br />
Blau<br />
Strahlen<strong>der</strong> Himmel<br />
Großes weites Meer<br />
Blick in die Unendlichkeit<br />
FREIHEIT!<br />
2.<br />
Gott,<br />
dieses Gebet,<br />
das ich spreche,<br />
ist wie eine Flaschenpost.<br />
Verborgen!<br />
VII.) Workshop VII<br />
Gebete <strong>für</strong> Fortgeschrittene<br />
Hier werden nur die Oberthemen angegeben:<br />
Eingang - Dank - <strong>Für</strong>bitte - Segen.<br />
Anweisung: Schreibe ein Gebet zu einem <strong>der</strong><br />
ausgelegten Themen.<br />
Diese Werkstatt lässt sich ohne allzu großen<br />
Aufwand durchführen. Der eigenen Fantasie sind<br />
dabei keine Grenzen gesetzt. Wer zusätzliche o<strong>der</strong><br />
alternative Ideen hat, sollte sie nach eigenem Belieben<br />
einfügen. Je nach Intensität kann man einen<br />
ganz- o<strong>der</strong> halbtägigen Workshop daraus machen.<br />
Die Ergebnisse sind in jedem Fall verblüffend <strong>und</strong><br />
absolut vorzeigbar. Es lohnt sich also!
›› Engel gesucht!
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
Sie sind überall<br />
Die Engel haben heute Einzug gehalten in die<br />
unterschiedlichsten Lebensbereiche. Sie werden<br />
in zahlreichen Popsongs besungen <strong>und</strong> sind<br />
Darsteller in Filmen. Wer kennt nicht die „Stadt<br />
<strong>der</strong> Engel“ mit Meg Ryan <strong>und</strong> Nicolas Cage? Auch<br />
in <strong>der</strong> Werbung werden sie eingesetzt, als Garant<br />
<strong>für</strong> leckeren Frischkäse o<strong>der</strong> als Schutzengel,<br />
<strong>der</strong> wie eine Versicherung vor Schaden bewahrt.<br />
Bekannt sind sie auch als blaue, weiße o<strong>der</strong> gelbe<br />
Engel.<br />
So hielt ich es <strong>für</strong> eine interessante Idee, in meiner<br />
Diplomarbeit zu untersuchen, welche Vorstellungen<br />
Jugendliche von Engeln haben <strong>und</strong> wie man<br />
diese Engelbil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> religiösen Jugendbildung<br />
einsetzen kann. Schon bei <strong>der</strong> Recherche fand ich<br />
einige Aktionen, in denen Engel als Vorbil<strong>der</strong> <strong>für</strong><br />
Hilfeleistungen <strong>und</strong> Begleitung eingesetzt werden.<br />
Ganz im Sinne von: <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong>. Zwei<br />
Beispiele:<br />
„Aktion Schutzengel“<br />
Die Idee wurde im Jahre 1997 in Dänemark geboren.<br />
Anlass waren die hohen Verkehrsunfallzahlen<br />
unter <strong>der</strong> Beteiligung von jungen Menschen. Seit<br />
2003 läuft das Schutzengelprojekt sehr erfolgreich<br />
in Soltau/Fallingbostel <strong>und</strong> seit April 2006 im<br />
Landkreis Emsland/Grafschaft Bentheim, gemeinsam<br />
mit <strong>der</strong> dortigen holländischen Grenzregion.<br />
Untersuchungen <strong>der</strong> Polizei hatten gezeigt, dass<br />
die Altersgruppe <strong>der</strong> 16- bis 24-Jährigen durch<br />
Straftaten <strong>und</strong> schwere Verkehrsunfälle beson<strong>der</strong>s<br />
belastet ist.<br />
Ziel <strong>der</strong> Aktion „Schutzengel“ ist es, den Einfluss jun-<br />
ger Frauen auf ihre männlichen Begleiter zu nutzen,<br />
um die Anzahl <strong>der</strong> schweren Verkehrsunfälle<br />
36_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
junger männlicher Verkehrsteilnehmer zu senken<br />
<strong>und</strong> von <strong>der</strong> Begehung von Straftaten abzu-<br />
halten.<br />
Weitere Infos:<br />
http://www.aktion-schutzengel.de/<br />
„Engel gesucht“<br />
Unter dem Titel "Engel<br />
gesucht" läuft seit<br />
mehreren Jahren ein<br />
Wettbewerb, dessen<br />
Zielsetzung "Hilfe <strong>für</strong><br />
Helfer" ist. Der gemeinnützige<br />
Verein start social<br />
e. V. för<strong>der</strong>t soziale <strong>und</strong><br />
im Schwerpunkt ehrenamtlich<br />
getragene Projekte<br />
durch gezielten<br />
Wissenstransfer zwischen <strong>der</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> dem<br />
sozialen Bereich. Startsocial wurde im Jahr 2001<br />
als Initiative <strong>der</strong> Wirtschaft zur För<strong>der</strong>ung sozialer<br />
Ideen <strong>und</strong> Projekte ins Leben gerufen. "Hilfe <strong>für</strong><br />
Helfer" – unter diesem Motto för<strong>der</strong>t startsocial<br />
den Wissenstransfer zwischen Wirtschaftsunternehmen<br />
<strong>und</strong> sozialen Unternehmun gen: Herausragende<br />
soziale Initiativen werden durch individuelle<br />
Beratung unterstützt <strong>und</strong> Netzwerke zwischen<br />
ihnen <strong>und</strong> Unternehmen geschaffen.<br />
(Mehr Informationen zum Wettbewerb:<br />
http://www.startsocial.de/)<br />
„Aktion Schutzengel“ von<br />
Missio (Internationales<br />
katholisches Hilfswerk)<br />
Bereits seit vielen Jahren engagiert sich das<br />
katholische Hilfswerk missio mit <strong>der</strong> Aktion<br />
Schutzengel. Die Aktionen haben zwei Themenschwerpunkte:
<strong>Für</strong> die Opfer von Sextourismus <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>prostitution<br />
Mit <strong>der</strong> Aktion Schutzengel kämpft missio gegen<br />
Sextourismus <strong>und</strong> unterstützt r<strong>und</strong> 30 Projekte<br />
<strong>der</strong> Kirche (u. a. in Thailand, Sri Lanka, Südafrika<br />
<strong>und</strong> auf den Philippinen). Die Projektpartner<br />
schützen Kin<strong>der</strong> vor sexueller Gewalt <strong>und</strong> ermöglichen<br />
ihnen den Ausstieg aus <strong>der</strong> Prostitution. Das<br />
philippinische Mädchen Pia ist ein erschütterndes<br />
(gleichzeitig aber auch ermutigendes) Beispiel:<br />
Seit ihrem achten Lebensjahr wurde sie von Erwachsenen<br />
missbraucht. Zu den Tätern gehörte<br />
ein deutscher Sextourist. Der missio-Projektpartner<br />
Shay Cullen rettete sie aus den Fängen <strong>der</strong><br />
Gewaltverbrecher <strong>und</strong> nahm sie in sein Kin<strong>der</strong>schutzzentrum<br />
auf. Wenig später gelang es sogar,<br />
den Sextouristen <strong>für</strong> seine Tat vor ein deutsches<br />
Gericht zu bringen. Heute kämpft Pia mit Hilfe von<br />
missio auch in Deutschland gegen die Täter.<br />
Aids & Kin<strong>der</strong><br />
Aids for<strong>der</strong>t<br />
mehr Tote als<br />
alle Kriege des<br />
20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Allein<br />
in Afrika leben<br />
<strong>der</strong>zeit fast 30<br />
Millionen Menschen<br />
mit dem HI-Virus. Eine aktuelle UN-Studie<br />
schätzt, dass bis zum Jahre 2010 allein in Afrika<br />
etwa 20 Millionen Aids-Waisen leben werden.<br />
Der Schrei nach Leben ist unüberhörbar. Mit dem<br />
Schwerpunkt „Aids & Kin<strong>der</strong>“ will missio hierauf<br />
eine Antwort geben. Die zentrale Botschaft lautet:<br />
Kin<strong>der</strong> sind HIV/Aids <strong>und</strong> den Folgen hilflos<br />
ausgesetzt, sie sind beson<strong>der</strong>s schutzbedürftig.<br />
Kin<strong>der</strong> brauchen einen Schutzengel <strong>und</strong> unsere<br />
Solidarität! Die Aktion bietet verschiedene Formen<br />
<strong>der</strong> Unterstützung.<br />
Engel gesucht!<br />
Missio bietet zu den Aktionen reichhaltiges Arbeitsmaterial<br />
an, das sowohl in <strong>der</strong> Gemeinde, als<br />
auch in <strong>der</strong> Schule genutzt werden kann.<br />
Infos unter:<br />
http://www.missio-aachen.de/veranstaltungenaktionen/aktion/schutzengel/<br />
Jugendliche <strong>und</strong> ihre<br />
Vorstellungen von Engeln<br />
Die Vorstellungen von Engeln sind recht vielfältig.<br />
Und unter bestimmten Voraussetzungen können<br />
eben auch Menschen als Engel gelten. Um herauszubekommen,<br />
welche Vorstellungen Jugendliche<br />
von Engeln haben, führte ich von Juni bis August<br />
2006 eine Umfrage bei 200 Jugendlichen im Alter<br />
von 12 bis 19 Jahren durch. Die Ergebnisse waren<br />
sehr umfassend <strong>und</strong> vielschichtig, so dass sie an<br />
dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden<br />
können. Das Wichtigste: Das Aussehen von Engeln<br />
verbinden 75 % <strong>der</strong> Befragten mit Flügeln <strong>und</strong><br />
einer hell leuchtenden Gestalt in weißer Kleidung.<br />
Und auch <strong>der</strong> Bezug Gott/Engel liegt <strong>für</strong> die Jugendlichen<br />
nahe: So beschreiben 80 % <strong>der</strong> Befragten<br />
Engel als Gottes Boten, Diener, Helfer o<strong>der</strong><br />
Angestellte <strong>und</strong> sprechen ihnen eine sehr gute,<br />
enge Beziehung zu Gott zu.<br />
Generell bejahen 60 % <strong>der</strong> Jugendlichen den Glauben<br />
an Engel, wobei die einen auf einen direkten<br />
Gottesbezug hinweisen, <strong>an<strong>der</strong>e</strong> die Schutzfunktion<br />
betonen, wo<strong>für</strong> ein Gottesbezug nicht notwendig<br />
ist. Die Antworten von 25 % <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
lassen darauf schließen, dass sie nicht an Engel<br />
glauben. Aus einigen Antworten jedoch klingt die<br />
Offenheit durch, sich gerne vom Gegenteil überzeugen<br />
lassen zu wollen.<br />
Menschen als Engel<br />
Eine Frage meines Interviews lautete: „Können<br />
Menschen Engel sein? Auf welche Weise?“ Sie<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_37<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
wurde lediglich von zwei <strong>der</strong> Befragten nicht<br />
beantwortet, fünf Jugendliche gaben an, dass sie<br />
es nicht wissen. Ansonsten haben Jugendliche<br />
aber recht genaue Vorstellungen, wann Menschen<br />
Engel sein o<strong>der</strong> zumindest als solche bezeichnet<br />
werden können.<br />
Können Menschen Engel sein?<br />
Aussagen Anzahl<br />
Wenn sie gute Taten vollbringen 99<br />
Wenn sie gut sind, gute Eigenschaften haben 70<br />
Nein, Menschen können keine Engel sein 33<br />
Nach dem Tod 27<br />
Menschen können nur als Engel bezeichnet<br />
werden<br />
10<br />
Menschen mit bestimmten Berufen 4<br />
An<strong>der</strong>e Aussagen 7<br />
Wenn sie gute Taten vollbringen<br />
Die Jugendlichen geben mehrere Bedingungen<br />
an, unter denen Menschen Engel sein können. Es<br />
finden sich 99 Bemerkungen, die darauf hinweisen,<br />
dass es davon abhängt, was Menschen tun, z.<br />
B. wenn sie <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n helfen, sich um <strong>an<strong>der</strong>e</strong> sorgen<br />
(32), gute Taten vollbringen, Gutes tun (19), in<br />
schwierigen Situationen <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> da sind, ihnen<br />
in Zeiten großer Not zur Seite stehen (15) o<strong>der</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n das Leben retten (10).<br />
Die Befragten äußern sich sehr individuell darüber,<br />
was gute Handlungen beinhaltet.<br />
„Menschen, die an das Gute glauben <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Menschen Kraft, Hoffnung, Glück <strong>und</strong> Freude<br />
geben!“ (19/w)<br />
„Die Bezeichnung „Engel“ steht Menschen zu, die <strong>für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> da sind <strong>und</strong> nicht egoistisch handeln.“ (18/w)<br />
„Engel gibt es, wenn überhaupt, nur in Menschenform.<br />
Menschen sind Engel, sobald sie alle Vorurteile<br />
<strong>und</strong> egoistischen Aspekte aus ihrem Leben<br />
38_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
löschen <strong>und</strong> sich mit Freude <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> aufopfern.<br />
Wahre Fre<strong>und</strong>e sind Engel.“ (18/m).<br />
Eine Siebzehnjährige meint: „Das ist die einzige<br />
Weise, auf die ich an Engel glaube. Ich glaube,<br />
dass Gott mir Menschen über den Weg laufen<br />
lässt, die mir in schweren Situationen einen<br />
Ausweg weisen. Diese Personen sind es meiner<br />
Meinung nach wert, „Engel“ genannt zu wer-<br />
den.“<br />
Wenn sie gut sind, gute Eigenschaften haben<br />
70 Eigenschaften werden genannt, die Menschen<br />
zu Engeln machen. Die meistgenannten sind: sehr<br />
hilfsbereit, hilft <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n/ist <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> da (20);<br />
fre<strong>und</strong>lich, nett (12); wenn sie die Eigenschaften<br />
von Engeln haben (8).<br />
Nach dem Tod<br />
„Ja, wenn sie gestorben sind“, meinen 14 Jugendliche.<br />
Acht <strong>an<strong>der</strong>e</strong> ergänzen die Bedingung dazu:<br />
„Ja, wenn gute Menschen gestorben sind, leben<br />
sie als Engel weiter.“<br />
Ein Fünfzehnjähriger formuliert das so: „Wenn,<br />
dann nach dem Tod. Dann werden die Besten zu<br />
Engeln „ausgebildet“.“<br />
Eine Dreizehnjährige sagt: „Ja. Wenn Menschen/<br />
Tiere sterben, leben sie als Engel weiter. Also wird<br />
je<strong>der</strong> mal ein Engel.“<br />
Eine Fünfzehnjährige überlegt: „Wenn ein Mensch<br />
gut ist, könnte er in den Himmel kommen <strong>und</strong> ein<br />
Engel sein. Ich hoffe, dass ich auch ein Engel sein<br />
werde.“<br />
Menschen können nur als Engel bezeichnet<br />
werden<br />
Immer wie<strong>der</strong> wird darauf hingewiesen, dass einem<br />
bei guten, hilfreichen Taten o<strong>der</strong> Eigenschaften
Menschen wie Engel erscheinen o<strong>der</strong> sie Engel<br />
genannt werden. Dabei schwingt dann eine feine<br />
Unterscheidung mit, ob es „wirkliche“ Engel sind<br />
o<strong>der</strong> Menschen eben „nur“ als solche bezeichnet<br />
werden o<strong>der</strong> ihnen sehr ähnlich sind.<br />
Eine Fünfzehnjährige meint: „Nein. Man hört<br />
eventuell jemanden sagen „Du bist ein Engel“,<br />
aber <strong>der</strong> Mensch hat nur gerade in einem Moment<br />
geholfen. Ich denke, diese Macht geht nicht auf<br />
Menschen über.“<br />
Ein Jugendlicher ergänzt: „Nein, sie können nur<br />
<strong>der</strong>en Aufgaben übernehmen <strong>und</strong> wie Engel erscheinen.“<br />
Eine Dreizehnjährige wirft einen <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Aspekt<br />
auf. „Ja, manchmal sagt man, dass eine <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
schön ist wie ein Engel.“<br />
Nein, Menschen können keine Engel sein<br />
19 Jugendliche meinen schlicht: „Nein, Menschen<br />
können keine Engel sein.“<br />
Eine Sechzehnjährige begründet: „Ich glaube<br />
nicht, dass Menschen Engel sein können, weil ein<br />
Engel <strong>für</strong> <strong>mich</strong> etwas Unberührbares, Übernatürliches<br />
darstellt <strong>und</strong> absolut frei von je<strong>der</strong> Schuld<br />
ist. Ein Mensch hat auch immer irgendwelche<br />
schlechte Seiten.“<br />
Ein Jugendlicher stellt fest, dass auch eine gute<br />
Handlung nicht ausschlaggebend ist: „Nicht wirklich,<br />
Menschen können zwar Gutes tun, werden<br />
aber dadurch nicht zu Engeln.“ (18/m)<br />
Ein Neunzehnjähriger kommt zum Schluss: „Ich<br />
glaube nicht. Es wird den Kin<strong>der</strong>n erzählt, die nahe<br />
Verwandte verloren haben, damit sie getröstet<br />
sind <strong>und</strong> sich besser fühlen.“<br />
„Ich verbinde damit eher die Redewendung „Du<br />
bist ein Engel“, aber ich denke nicht, dass ein<br />
Mensch wirklich ein Engel sein kann.“ (17/m)<br />
Eine Dreizehnjährige stellt klar: „Menschen können<br />
<strong>für</strong> <strong>mich</strong> keine Engel sein, da Menschen nicht<br />
alles können. Ich stelle mir vor, dass die echten<br />
Engel im Himmel keine Grenzen haben.“<br />
Menschen mit bestimmten Berufen<br />
Vier Jugendliche äußern die Vorstellung, dass<br />
Menschen mit bestimmten Berufen Engel sind.<br />
Eine Jugendliche meint: „Gerade „normale“ Menschen<br />
können <strong>für</strong> <strong>mich</strong> „wahre Engel“ sein, z. B.:<br />
Krankenschwestern, Ärzte, Altenpfleger, Wohltäter.“<br />
(15/w)<br />
Ein Fünfzehnjähriger ergänzt: „In <strong>der</strong> Art von<br />
Schutzengeln auf jeden Fall, z. B. als Sanitäter, die<br />
Menschen retten o<strong>der</strong> Ärzte, Rettungsschwimmer<br />
usw./Reanimation, Hilfeleistung in Notsituationen,<br />
Retter in Notsituationen.“<br />
Engel als Vorbild<br />
Engel gesucht!<br />
Die Frage, ob Menschen Engel sein können, wirft<br />
viele Facetten auf. Daran kann gut erarbeitet werden,<br />
was Jugendliche mit Engeln verbinden. Und<br />
ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich<br />
darauf hinweisen, dass es gr<strong>und</strong>sätzlich nur<br />
positive Eigenschaften <strong>und</strong> Tätigkeiten sind, die<br />
Engeln zugeschrieben werden. <strong>Für</strong> die Jugendlichen<br />
sind es eben auch genau diese positiven<br />
Zuschreibungen, die das Engel-Dasein <strong>für</strong> sie so<br />
interessant macht. Engel werden so zu einem<br />
Vorbild <strong>für</strong> sie. Das machen sie auch bereits an<br />
Menschen fest, die diesem Vorbildcharakter entsprechen,<br />
das heißt, wenn Mitmenschen gut <strong>und</strong><br />
fre<strong>und</strong>lich sind <strong>und</strong> sich <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> einsetzen.<br />
Warum also nicht die Frage aufgreifen, ob die<br />
Jugendlichen nicht selbst Engel sein wollen, sei<br />
es in Aktionen, durch tätige Hilfsbereitschaft o<strong>der</strong><br />
sogar im Beruf wie es ja einige Jugendliche bereits<br />
vorschlagen.<br />
Die Frage, die sich daran anschließt, ist die Frage<br />
nach Gott. Ist er <strong>der</strong> „Auftraggeber“, also <strong>der</strong>jenige,<br />
<strong>der</strong> den Anstoß gegeben hat, <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n zu helfen?<br />
O<strong>der</strong> woher kommt das Bedürfnis, <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
da zu sein?<br />
Unterscheiden sich tatsächlich „menschliche Engel“<br />
von „wahren Engeln“?<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_39<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
Die Bibel kennt verschiedene<br />
Vorstellungen von Engeln<br />
Die Bibel spricht von Engeln meist als Boten<br />
Gottes (hebr.: mal’ak, griech.: angelos). Sie spielen<br />
an zahlreichen Stellen eine entscheidende<br />
Rolle: als Verkündigende o<strong>der</strong> Beschützende, als<br />
Begleiter o<strong>der</strong> Führende, als Kämpfer o<strong>der</strong> Strafende,<br />
als <strong>Für</strong>sprecher o<strong>der</strong> Ankläger. Damit kann<br />
ein überirdisches, jenseitiges Wesen gemeint sein,<br />
damit können aber auch Menschen bezeichnet<br />
werden, die als von Gott gesandt betrachtet werden,<br />
wie z. B. Propheten.<br />
Diese doch recht unterschiedlichen Engelvorstellungen<br />
<strong>der</strong> Bibel lassen darauf schließen, dass<br />
ihre Funktion nicht an eine bestimmte Gestalt, eine<br />
Wesensart o<strong>der</strong> ihr Herkommen geb<strong>und</strong>en ist. Das<br />
Entscheidende an Engeln ist ihr Auftrag, ihr Wirken<br />
<strong>und</strong> ihre Funktion.<br />
Beispielhafte Stellen sind: Die Berufung des Mose<br />
(Exodus 3,1-12), Gott zu Gast bei Abraham (Genesis<br />
18), Elia (1. Könige 19,1-18), Daniel in <strong>der</strong> Löwengrube<br />
(Daniel 6,20-24), Kerubim <strong>und</strong> Serafim<br />
(Jesaja 6), Weihnachtserzählung (Lk 1ff.), Engel<br />
am Grab (Mt 28,1-10), Befreiung des Petrus<br />
(Apg 12).<br />
Engel gesucht!<br />
Als Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> diesen<br />
Vorschlag dient<br />
das Poster, das im<br />
Rahmen einer Werbekampagne<br />
<strong>für</strong> ein<br />
Freiwilliges Soziales<br />
Jahr konzipiert wurde.<br />
Es for<strong>der</strong>t Jugendliche dazu auf, durch soziales<br />
Engagement selbst zum Engel zu werden.<br />
So soll in <strong>der</strong> Bearbeitung thematisiert werden,<br />
dass hier ein menschliches Engelbild genutzt wird,<br />
40_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
das nicht unbedingt religiös motiviert sein muss.<br />
Darauf verweist auch das Selbstverständnis <strong>der</strong><br />
Hilfsorganisation, das anhand des Symbols „Rotes<br />
Kreuz“ erarbeitet werden kann. Jedoch können die<br />
Gr<strong>und</strong>ideen <strong>der</strong> Nächstenliebe <strong>und</strong> Menschenwürde<br />
gut auf religiöse Wurzeln zurückgeführt werden.<br />
Auch die Bibel bietet das Bild eines helfenden<br />
Engels. Im Buch Tobit findet sich die Vorstellung,<br />
dass <strong>der</strong> Engel Rafael medizinische Kenntnisse<br />
weitergeben kann, mit denen Tobias seinen Vater<br />
vor einer Erblindung rettet. Nicht umsonst gilt<br />
Rafael u. a. als Patron <strong>der</strong> Kranken <strong>und</strong> Apotheker.<br />
Hintergr<strong>und</strong>informationen<br />
Mit dem Aufruf „Engel gesucht…!“ startete <strong>der</strong><br />
Landesverband Saarland des Deutschen Roten<br />
Kreuzes (DRK) im März 2006 die Werbekampagne<br />
<strong>für</strong> ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Rettungswesen.<br />
Die Aktion richtet sich an Jugendliche,<br />
denen dieses Jahr ganz unterschiedliche Möglichkeiten<br />
bietet: Sie können sich beruflich orientieren,<br />
ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz<br />
verbessern, die Wartezeit <strong>für</strong> ein Studium überbrücken<br />
<strong>und</strong> damit ihr soziales Engagement <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
verwirklichen.<br />
Als weiterer Schwerpunkt <strong>der</strong> Kampagne wird<br />
ein geschlechtsspezifischer Aspekt aufgezeigt.<br />
Die Arbeit im Rettungswesen sei eine Männerdomäne,<br />
in <strong>der</strong> Mitarbeit bei<strong>der</strong> Geschlechter sehe<br />
man aber große Vorteile gerade <strong>für</strong> die Patienten.<br />
Deshalb seien gezielt engagierte, selbstbewusste<br />
<strong>und</strong> durchsetzungsfähige junge Frauen gesucht,<br />
die ihre eigenen Meinungen <strong>und</strong> Einstellungen<br />
haben (vgl. http://www.lv-saarland.drk.de/html/<br />
body_presse_-_download.html).<br />
Die Aufmachung des Plakates zur Werbekampagne<br />
soll an die Serie „Drei Engel <strong>für</strong> Charlie“ aus den
Siebzigern erinnern. Das sind drei junge Frauen,<br />
die als engagierte Detektivinnen den Verbrechern<br />
das Handwerk legen. Durch das Remake, das im<br />
Sommer 2003 in den Kinos war, sind die drei Engel<br />
den Jugendlichen bekannt.<br />
Didaktische Überlegungen<br />
Dieser Vorschlag richtet sich an ältere Jugendliche,<br />
die sich vielleicht demnächst entscheiden<br />
müssen, was sie nach <strong>der</strong> Schule machen wollen.<br />
Diese Entscheidung bedarf nicht unbedingt einer<br />
ethischen Reflexion. Dennoch bietet sich eine<br />
gute Gelegenheit, die Jugendlichen in ihrer Entscheidungsfindung<br />
zu unterstützen <strong>und</strong> zu begleiten.<br />
Das Engelbild dieser Werbekampagne zu thematisieren,<br />
lässt sich in zwei Richtungen entfalten.<br />
Zum einen lernen die Jugendlichen mit <strong>der</strong> Arbeit<br />
im Rettungswesen eine Möglichkeit kennen, selber<br />
durch ihr Tätigwerden <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> zu werden<br />
„wie ein Engel“. Zum <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n können sie in <strong>der</strong><br />
biblischen Erzählung entdecken, dass Gott Menschen<br />
in einem schwierigen Lebensabschnitt einen<br />
Helfer zur Seite stellen kann, von dem einem erst<br />
im Nachhinein bewusst wird, wie sehr er geholfen<br />
hat.<br />
Intentionen<br />
Dieser Vorschlag spricht mehrere Kompetenzen<br />
an:<br />
1. Die Jugendlichen lernen, Entscheidungssituationen<br />
in ihrem Leben (Was mache ich nach <strong>der</strong><br />
Schule?) religiös zu hinterfragen (Kompetenz 3).<br />
2. Die verwendeten Symbole (Rotes Kreuz, Engel)<br />
werden auf ihren religiösen Gehalt geprüft<br />
(Kompetenz 4).<br />
3. Die Jugendlichen können Nächstenliebe <strong>und</strong><br />
Menschenwürde als religiöse Gr<strong>und</strong>idee identifizieren<br />
(Kompetenz 11)<br />
4. Engel als religiöses Motiv in dieser Werbung er-<br />
kennen <strong>und</strong> die Bedeutung klären (Kompetenz 12).<br />
Die Einordnung ins Kompetenzmodell richtet sich<br />
nach:<br />
Dietlind Fischer, Volker Elsenbast (Redaktion):<br />
Gr<strong>und</strong>legende Kompetenzen religiöser Bildung.<br />
Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunter-<br />
richts durch Bildungsstandards <strong>für</strong> den Abschluss<br />
<strong>der</strong> Sek<strong>und</strong>arstufe I. Münster: Comenius-Institut,<br />
2006<br />
Überlegungen zur Umsetzung<br />
Bildbetrachtung/-analyse<br />
Engel gesucht!<br />
Über die Betrachtung des Posters können die Anhaltspunkte<br />
herausgearbeitet werden, die in den<br />
nächsten Schritten thematisiert werden können.<br />
Auf <strong>der</strong> linken Bildhälfte stehen drei Jugendliche,<br />
die leicht von oben aufgenommen sind: ein Mädchen<br />
in Zivil bzw. Alltagskleidung, ein weiteres<br />
Mädchen <strong>und</strong> ein Junge mit <strong>der</strong> Bekleidung von<br />
Rettungssanitätern, <strong>der</strong>en Jacken in knallroter Farbe<br />
mit dem Emblem vom Deutschen Roten Kreuz<br />
auf <strong>der</strong> Schulter, große Kragen, schwarze Hosen<br />
mit reflektierenden Sicherheitsstreifen. Die Jugendlichen<br />
sind so in Szene gesetzt, dass sie sehr<br />
selbstbewusst <strong>und</strong> zufrieden wirken.<br />
Ein großes rotes Kreuz dominiert die rechte obere<br />
Ecke des Bildes. Dieses Symbol ist sicherlich<br />
bekannt, doch <strong>der</strong> Bedeutungsinhalt erschließt<br />
sich erst durch die Entstehungsgeschichte. 1863<br />
wurde unter <strong>der</strong> Leitung von Henri Dunant das<br />
„Internationale Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK)<br />
in Genf gegründet. Das Rote Kreuz macht es sich<br />
zur Aufgabe, im Krieg das Los <strong>der</strong> Kriegsopfer zu<br />
mil<strong>der</strong>n <strong>und</strong> als neutraler Vermittler in allen Fragen<br />
zu wirken, die die Verw<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> Gefangenen<br />
betreffen. Bei <strong>der</strong> Schaffung des Symbols war<br />
die Flagge <strong>der</strong> Schweiz das Vorbild, allerdings<br />
in farblicher Umkehrung (also rotes Kreuz auf<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_41<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
weißem Hintergr<strong>und</strong> statt weißem Kreuz auf rotem<br />
Hintergr<strong>und</strong>). Dunant hatte dabei eher die Schweiz<br />
<strong>und</strong> ihre strikte Neutralität im Sinn, als christliche<br />
Ideale o<strong>der</strong> christliche Symbolik. In Deutschland<br />
engagiert sich das Deutsche Rote Kreuz (DRK) heute<br />
als nationale Hilfsgesellschaft <strong>und</strong> Wohlfahrtspflege.<br />
Es ist u. a. durch Unfall- <strong>und</strong> Rettungsdienst, Katas-<br />
trophenhilfe, Krankentransport, Blutspendedienst<br />
<strong>und</strong> eine breit gefächerte Sozialarbeit bekannt.<br />
Im unteren Drittel weist die Schrift „Engel gesucht…!“<br />
darauf hin, dass diese drei Jugendlichen<br />
als Engel gelten <strong>und</strong> weitere Jugendliche gesucht<br />
werden, die Interesse daran haben, eine Aufgabe<br />
beim Roten Kreuz zu übernehmen. Wie das<br />
geschehen kann, wird durch die Bildunterschrift<br />
erläutert: „Das Freiwillige Soziale Jahr – denn es<br />
gibt Menschen, die euch brauchen!“ In diesem<br />
Zusammenhang wird deutlich, welche Vorstellung<br />
von Engeln vorrangig gemeint ist: Menschen, die<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n helfen <strong>und</strong> dadurch werden wie Engel.<br />
Auch wenn diese Formulierung ohne religiösen<br />
Hintergr<strong>und</strong> genutzt wird, lässt sich daraus <strong>der</strong> Gedanke<br />
<strong>der</strong> Nächstenliebe als religiöse Gr<strong>und</strong>idee<br />
herausarbeiten.<br />
Der Hinweis auf „Drei Engel <strong>für</strong> Charlie“ erklärt<br />
dabei die Anzahl <strong>der</strong> Jugendlichen <strong>und</strong> soll weibliche<br />
Jugendliche in beson<strong>der</strong>er Weise ansprechen.<br />
Die Frage, ob das tatsächlich geschieht, wäre an<br />
die Mädchen zurück zu geben. Insgesamt wäre es<br />
interessant zu erfahren, ob dieses Poster tatsächlich<br />
das Interesse <strong>der</strong> Jugendlichen <strong>für</strong> ein mögliches<br />
soziales Engagement weckt. <strong>Für</strong> den Fall,<br />
dass das Interesse geweckt wurde, findet sich in<br />
<strong>der</strong> rechten unteren Ecke eine Kontaktmöglichkeit<br />
zum Deutschen Roten Kreuz.<br />
Zwischenergebnis<br />
Die Werbung <strong>für</strong> ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />
beim Roten Kreuz arbeitet mit Elementen <strong>und</strong><br />
42_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Symbolen, die auch ohne religiösen Hintergr<strong>und</strong><br />
unter dem Stichwort Humanität <strong>und</strong> Solidarität<br />
interpretiert werden können. Darauf weist das<br />
Symbol „Rotes Kreuz“ hin, das an die Neutralität<br />
<strong>der</strong> Schweiz erinnern soll <strong>und</strong> sich <strong>der</strong> Wahrung<br />
<strong>der</strong> Menschenwürde verpflichtet weiß. Das<br />
Engelbild nutzt die Verstehensweise, dass Menschen<br />
einan<strong>der</strong> durch ihr Tun zum Engel werden<br />
können. Dennoch sind diese Elemente auf ihren<br />
religiösen Gr<strong>und</strong>gehalt hin zu untersuchen, wie<br />
z. B. Nächstenliebe <strong>und</strong> Menschenwürde. Auch<br />
die Vorstellung von einem helfenden Engel mit<br />
Kenntnissen in Medizin lässt sich in <strong>der</strong> biblischen<br />
Erzählung „Der Engel Rafael im Buch Tobit“ wie<strong>der</strong>finden.<br />
Arbeit mit <strong>der</strong> Bibel: Der Engel<br />
Rafael im Buch Tobit<br />
Das Buch Tobit zählt zu den apokryphen Schriften<br />
<strong>der</strong> Bibel. Es ist um die 200 v. Chr. geschrieben<br />
worden <strong>und</strong> ist literarisch als Novelle o<strong>der</strong> auch<br />
erbauliche Erzählung einzuordnen.<br />
Die Zitate des Tobit-Buches folgen <strong>der</strong> Einheitsübersetzung<br />
<strong>der</strong> Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt,<br />
Stuttgart, 1980.<br />
Der Inhalt des TobitBuches<br />
Beim Buch Tobit handelt es sich um eine Familiengeschichte.<br />
Tobit, ein in die Verbannung geführter<br />
Jude aus dem Stamme Naftali, ein frommer, gesetzeseifriger,<br />
mildtätiger Mann, ist in Ninive blind<br />
geworden. Gr<strong>und</strong> da<strong>für</strong> ist nicht zuletzt sein unermüdlicher<br />
<strong>und</strong> mutiger Einsatz <strong>für</strong> das Begräbnis<br />
<strong>der</strong> Verstorbenen. Der nun blind Gewordene<br />
verzweifelt an seinem Leben <strong>und</strong> wünscht sich von<br />
Gott den Tod.<br />
Ebenso betet Sara, die Tochter eines Verwandten<br />
Tobits, nämlich des Raguëls aus Ekbatana, um den<br />
Tod. Sara war nacheinan<strong>der</strong> mit sieben Männern<br />
verlobt, die alle in <strong>der</strong> Hochzeitsnacht gestorben
Tobias <strong>und</strong> <strong>der</strong> Engel (Rembrandt)<br />
sind. Verantwortlich da<strong>für</strong> ist <strong>der</strong> Dämon Aschmodai.<br />
Sara ist von ihm besessen. Und er ist es,<br />
<strong>der</strong> am Abend <strong>der</strong> Hochzeit jeden Bräutigam ums<br />
Leben brachte. Diese beiden Schicksale sind <strong>der</strong><br />
Ausgangspunkt <strong>der</strong> Tobit-Erzählung.<br />
Das Buch erzählt nun, wie Tobias, <strong>der</strong> Sohn<br />
Tobits, von seinem Vater zu Raguël gesandt wird.<br />
Dort soll er eine alte Schuld eintreiben, die die<br />
Familie des Tobits nun dringend <strong>für</strong> ihren Lebensunterhalt<br />
braucht. Da Tobias sich nicht allein<br />
auf den Weg machen will, sucht er sich einen<br />
Begleiter. Er trifft den Engel Rafael, <strong>der</strong> sich<br />
allerdings nicht als solcher zu erkennen gibt.<br />
Als Tobias bei einer abendlichen Rast von einem<br />
großen Fisch angegriffen wird, ruft Rafael ihm<br />
zu: „Pack ihn!“ Da packte <strong>der</strong> junge Mann zu <strong>und</strong><br />
warf den Fisch ans Ufer. Und <strong>der</strong> Engel sagte zu<br />
Tobias: „Schneide den Fisch auf, nimm Herz,<br />
Leber <strong>und</strong> Galle heraus <strong>und</strong> bewahre sie gut auf!“<br />
(Tob 6,3f). Die Frage, wo<strong>für</strong> das gut sei, beantwortet<br />
Rafael mit: „Zur Herstellung von Heilmitteln.“<br />
Auf dem weiteren Weg kündigt Rafael Tobias die<br />
Hochzeit mit <strong>der</strong> klugen <strong>und</strong> schönen Sara an.<br />
Tobias weiß um den Dämon <strong>und</strong> hat Angst um sich.<br />
Entgegen aller Be<strong>für</strong>chtungen gelingt die Vertreibung<br />
des Dämons durch das Verbrennen von Herz<br />
<strong>und</strong> Leber des Fisches, worauf die Brautleute Gott<br />
danken. Auf <strong>der</strong> baldigen Heimreise erinnert Rafael<br />
Tobias an das Augenleiden seines Vaters <strong>und</strong><br />
weist ihn an: „Streich ihm die Galle auf die Augen!<br />
Sie wird zwar brennen, aber wenn er sich die Augen<br />
reibt, wird er die weißen Flecken wegwischen<br />
<strong>und</strong> wird dich wie<strong>der</strong> sehen können.“ (Tob 11,8)<br />
So geschieht es auch, <strong>und</strong> während noch gefeiert<br />
wird, gibt sich Rafael als Engel zu erkennen.<br />
Er erklärt, dass die Gebete von Sara <strong>und</strong> Tobit<br />
erhört wurden <strong>und</strong> er von Gott geschickt wurde,<br />
um sie zu heilen. „Da erschraken die beiden <strong>und</strong><br />
fielen voller Furcht<br />
vor ihm nie<strong>der</strong>. Er<br />
aber sagte zu ihnen:<br />
„<strong>Für</strong>chtet euch<br />
nicht! Friede sei mit<br />
euch. Preist Gott in<br />
Ewigkeit! Nicht, weil<br />
ich euch eine Gunst Die Heilung von Tobit (Bernardo Strozzi)<br />
erweisen wollte,<br />
son<strong>der</strong>n weil unser Gott es wollte, bin ich zu euch<br />
gekommen. Darum preist ihn in Ewigkeit!“ (Tob<br />
12,16-18)<br />
Überlegungen zum Text<br />
Engel gesucht!<br />
Der Engel Rafael übernimmt innerhalb dieser<br />
Erzählung eine ganze Reihe von Aufgaben: Er ist<br />
Heiratsvermittler, Geldbote, Reisebegleiter. In<br />
erster Linie jedoch ist er Sachverständiger in <strong>der</strong><br />
Heilmittelk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> da vor Ort, wo seine Hilfe<br />
gebraucht wird. Deshalb wird Rafael gern als<br />
Beispiel <strong>für</strong> Schutzengel genannt. Dabei darf aber<br />
nicht übersehen werden, dass Rafael eindeutig<br />
darauf verweist, dass er von Gott gesandt wurde<br />
<strong>und</strong> diesem da<strong>für</strong> gedankt werden soll. Dass Gott<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_43<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
durch ihn handelt, wird auch durch seinen Namen<br />
ausgedrückt, Rafael bedeutet „Gott heilt“.<br />
Um sich <strong>der</strong> Intention des Buches zu nähern,<br />
gilt es, sich zunächst den (Lebens-)Erfahrungen<br />
anzunähern, die sich in dieser Erzählung wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />
In welchen alltäglichen Situationen<br />
hatten Menschen Angst o<strong>der</strong> waren verzweifelt?<br />
Wie haben sie diese Begebenheiten erlebt, um<br />
sich <strong>der</strong> Gegenwart <strong>und</strong> Nähe Gottes im Nachhinein<br />
sicher zu sein? In dieser Erzählung sind<br />
es die Lebenslagen von unterschiedlichen Beteiligten<br />
(z. B. <strong>der</strong>en Verzweiflung wegen Krankheit,<br />
Furcht vor einer langen Reise, Bedenken<br />
vor <strong>der</strong> Eheschließung). Es ist zu hinterfragen,<br />
inwiefern Jugendliche diese Situationen nachvollziehen<br />
können. Es sollte aber möglich sein,<br />
Erfahrungen aus <strong>der</strong> eigenen Lebensgeschichte<br />
zu benennen, in denen man (wi<strong>der</strong> Erwarten)<br />
gut aufgehoben war o<strong>der</strong> Situationen zu formulieren,<br />
<strong>für</strong> die Hilfe wünschenswert (gewesen)<br />
wäre.<br />
Zusammenführung <strong>der</strong> Posteranalyse<br />
mit <strong>der</strong> TobitErzählung<br />
Der Ausgangsgedanke <strong>für</strong> die Beschäftigung mit<br />
dem Engel Rafael war die Frage, ob dieser Engel<br />
mit seinen medizinischen Kenntnissen als religiöses<br />
Vorbild <strong>für</strong> Rettungssanitäter dienen könnte.<br />
<strong>Für</strong> einen entsprechenden Vergleich gilt es die<br />
Parallelen, aber auch die Unterschiede herauszuarbeiten.<br />
Anruf: Ein Sanitäter reagiert auf einen Notruf <strong>und</strong><br />
wird aktiv. Rafael beginnt sein Wirken, nachdem<br />
Tobit <strong>und</strong> Sara in ihrer Not Gott angerufen haben,<br />
zu ihm gebetet haben.<br />
Auftraggeber: Der Rettungssanitäter ist Angestellter,<br />
er hat einen Chef, <strong>der</strong> regelt, wann er wie arbeiten<br />
muss. Der Engel arbeitet in Gottes Auftrag,<br />
nur so wird er handlungsfähig.<br />
44_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Wegbegleitung: Auf dem Weg ins Krankenhaus ist<br />
<strong>der</strong> Sanitäter die ganze Zeit dabei <strong>und</strong> achtet auf<br />
den Verletzten. Rafael begleitet weniger den Kranken,<br />
also Tobit, son<strong>der</strong>n er steht Tobias zur Seite,<br />
den er dabei anweist, Hilfe zu sein.<br />
Medizinische Kenntnisse: Während <strong>der</strong> Ausbildung<br />
erlernen Rettungssanitäter medizinische<br />
Gr<strong>und</strong>kenntnisse, die sie vor Ort einsetzen. Rafael<br />
besitzt ebenso medizinische Kenntnisse, wendet<br />
sie aber nicht selbst an, son<strong>der</strong>n sagt Tobias sehr<br />
genau, mit welchen Teilen des Fisches <strong>und</strong> mit welcher<br />
Anwendung er das gewünschte Ziel erreicht.<br />
Es lässt sich hier eher von „Hilfe zu Selbsthilfe“<br />
sprechen.<br />
Lohn: <strong>Für</strong> einen Sanitäter geht es nicht nur um die<br />
finanzielle Entlohnung, son<strong>der</strong>n vor allem um eine<br />
Rückmeldung, dass es dem Patienten gut geht, ist<br />
ein nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Lohn! Rafael will von<br />
Geld nichts hören, statt dessen weist er darauf hin,<br />
dass <strong>der</strong> Dank da<strong>für</strong> Gott gebührt.<br />
Natürlich ist das Auftreten Rafaels nicht eins zu<br />
eins mit dem eines Angestellten im Rettungswesen<br />
gleichzusetzen, da<strong>für</strong> ist das Aufgabengebiet<br />
viel zu komplex, die Fälle zu individuell. Es fällt<br />
aber auf, dass Sanitäter <strong>und</strong> Engel beide in Notsituationen<br />
zur Stelle sind, weil sie den Auftrag dazu<br />
erhalten haben. Sie bringen ihre medizinischen<br />
Kenntnisse zum Einsatz <strong>und</strong> bleiben eine Zeit lang<br />
Begleiter.<br />
Unterschiede gibt es jedoch bei <strong>der</strong> Motivation.<br />
Rettungssanitäter üben diese Arbeit aus, um<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n zu helfen. Der Engel hilft Menschen<br />
ebenso, handelt dabei aber nicht aus eigenem<br />
Antrieb, beansprucht auch den Dank ausdrück -<br />
lich nicht <strong>für</strong> sich. Durch den Engel hindurch wird<br />
deutlich, dass Gott selbst <strong>der</strong> Initiator <strong>für</strong> die<br />
gute Wendung ist.<br />
Und dennoch, es gibt Momente, da übersteigt die<br />
Arbeit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Einsatz eines Sanitäters das Norma-
le auf so unerwartete <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbare Weise, dass<br />
mit <strong>der</strong> Ansprache „Engel“ die (unbewusste o<strong>der</strong><br />
auch bewusste) Umschreibung <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
Gottes gemeint ist.<br />
Impulse zur Weiterarbeit<br />
Weitere Berufe/Hilfsmöglichkeiten sammeln <strong>und</strong><br />
überlegen, welche Punkte <strong>der</strong> Geschichte sich<br />
übertragen lassen.<br />
Konkrete Projekte überlegen, in denen die Jugendlichen<br />
selbst zu Engeln werden.<br />
Ausführliches Diskutieren <strong>der</strong> Frage, welche Rolle<br />
Gott o<strong>der</strong> <strong>der</strong> eigene Glaube dabei spielt, sich <strong>für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> einzusetzen <strong>und</strong> ihnen zu helfen.<br />
Unterstützend zur Arbeit mit dem Bibeltext können<br />
gut Bil<strong>der</strong> mit herangezogen werden, da die Erzählung<br />
zahlreichen Malern als Motiv diente. Eine<br />
kleine Zusammenstellung findet sich im Anhang<br />
<strong>der</strong> Arbeitshilfe (s. u.). Es lassen sich einzelne<br />
Bil<strong>der</strong> zur Bildbetrachtung herauslösen o<strong>der</strong> sie<br />
lassen sich als Impuls zu einer Nacherzählung<br />
verwenden.<br />
Literatur<br />
Zurzeit gibt es eine ganze Reihe guter Literatur <strong>für</strong><br />
Jugendliche, die zum Weiterfragen anregt <strong>und</strong> sich<br />
<strong>für</strong> den Unterricht anbietet. Darin werden Engel in<br />
ganz unterschiedlichen Facetten geschil<strong>der</strong>t. Es<br />
folgen die m. E. interessantesten Werke.<br />
Kurzgeschichten<br />
Werner Reiser: Vom Engel, <strong>der</strong> nicht mitsingen<br />
wollte. Brunnen Verlag, 3. Aufl., 2006<br />
Katharina Seidel: Engel haben keine Flügel <strong>und</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> kurze Geschichten <strong>für</strong> Gemeinde <strong>und</strong> Schule.<br />
Matthias-Grünewald-Verlag, 2002<br />
Willi Hoffsümmer: Kurzgeschichten 8. Matthias-<br />
Grünewald-Verlag, 2006. In diesem <strong>Band</strong> gibt es<br />
gleich eine ganze Reihe Geschichten, in denen Engel<br />
vorkommen. Hervorragend geeignet ist „Glauben<br />
Sie an Engel?“, erzählt nach Johannes Kuhn.<br />
Bücher <strong>für</strong> Jugendliche<br />
Karen Hesse: Hannah Gold. Zeit <strong>der</strong> Engel. Verlag<br />
Freies Geistesleben, 2002<br />
Filippas Engel. Aus den Tagebüchern von Filippa<br />
Sayn-Wittgenstein. Wilhelm Heyne Verlag, 2005<br />
Tanneke Wigersma: Acht Tage mit Engel. Sauerlän<strong>der</strong><br />
Verlag, 2005<br />
Arbeitshilfe<br />
Susanne Korf: Engelbil<strong>der</strong> als Thema religiöser<br />
Jugendbildung. Analyse, Kriterien <strong>und</strong> Bausteine<br />
<strong>für</strong> einen theologisch verantworteten Umgang.<br />
Hannover, 2007<br />
Diese Arbeitshilfe ist im Rahmen <strong>der</strong> Diplomarbeit<br />
in Ev. Theologie an <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät<br />
<strong>der</strong> Universität Hannover entstanden <strong>und</strong> kann<br />
bei <strong>der</strong> Autorin erstanden werden (susanne.korf@<br />
teleos-web.de).<br />
Susanne Korf<br />
Engel gesucht!<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_45<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Engel gesucht!<br />
46_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
›› Kin<strong>der</strong>programm<br />
(täglich 7-20 Uhr)
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
O<strong>der</strong> warum Jungen rechtzeitig<br />
über ihre Elternzeit nachdenken<br />
sollten<br />
Zukunftsprogramm: Vaterschaft<br />
Eigentlich ein ungewöhnliches Thema <strong>für</strong> Jugendliche:<br />
Elternzeit <strong>für</strong> Väter. Vater wird man im<br />
Schnitt doch erst jenseits <strong>der</strong> 30. <strong>Für</strong> Jugendliche<br />
in Jugendverbänden <strong>und</strong> Schulen also ein völlig<br />
uninteressantes Thema?! Glaub ich nicht. Auch als<br />
Jugendlicher denkt man vielleicht schon mal an<br />
eigene Kin<strong>der</strong> – irgendwann, in einer nebulösen<br />
Zukunft. Wenn man sich über die eigenen Eltern<br />
mal wie<strong>der</strong> schwarz ärgert, weiß man ganz genau,<br />
was man alles an<strong>der</strong>s machen wird – bloß nicht<br />
vergessen! Wer sich in <strong>der</strong> Jugendarbeit <strong>für</strong><br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> engagiert, will das vielleicht auch mal<br />
Zuhause tun: Um dem Kind was weiterzugeben<br />
o<strong>der</strong> damit die Partnerin auch beruflich weiterkommt.<br />
Aber Engagement ist auch hier mit<br />
Eigennutz verb<strong>und</strong>en: Endlich wie<strong>der</strong><br />
ungestraft Sandburgen bauen <strong>und</strong><br />
auf Bäume klettern. Die Welt neu<br />
entdecken. Geduld lernen. Und<br />
Verantwortung übernehmen – nicht<br />
nur <strong>für</strong> das Familieneinkommen.<br />
Wahrscheinlich sind das alles ferne<br />
Zukunftspläne <strong>für</strong> Jugendliche.<br />
Manchmal kommt die Zukunft aber<br />
auch schneller als gedacht, <strong>und</strong> Min<strong>der</strong>jährige<br />
werden selbst Eltern. Und<br />
dann?<br />
Aufgeschnappt!<br />
• „Es gibt Reis, Baby. Ich koch ein<br />
einziges Mal <strong>für</strong> Dich, dann bist<br />
Du dran… Zeig mal deine Hände,<br />
sie sind kleiner wie meine. Damit<br />
kommst du besser in die Ecken zum<br />
Putzen.“ (Helge Schnei<strong>der</strong>)<br />
48_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
• Weichei, Warmduscher, Versager, Softie, …<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
• „In Island bleiben 90 Prozent <strong>der</strong> Väter mit dem<br />
Nachwuchs zu Hause.“, behauptet ein Vater.<br />
Ob’s stimmt? In Schweden sollen es immerhin<br />
r<strong>und</strong> 18% <strong>und</strong> die Elternzeit ein männliches Statussymbol<br />
sein.<br />
• 18% <strong>der</strong> deutschen Väter sind gegen eine Verän<strong>der</strong>ung<br />
traditioneller Geschlechterrollen: Sie<br />
wollen Geld verdienen, die Frauen sollen sich<br />
um die Kin<strong>der</strong> kümmern. 28% <strong>der</strong> Väter wollen<br />
Verantwortung <strong>für</strong> ihre Kin<strong>der</strong> übernehmen,<br />
erforschten Frankfurter Soziologen 2007.<br />
• „Ich find's toll, wie er alles managt, unsere<br />
Familie, den Haushalt, <strong>und</strong> wie w<strong>und</strong>ervoll er<br />
mit <strong>der</strong> Kleinen umgeht“, sagt eine Ehefrau<br />
über ihren Mann, <strong>der</strong> 12 Monate in Elternzeit<br />
ist.<br />
• Frankreichs Schreckensbild ist die „mère poule“,<br />
die Mutterglucke, die ihr Kind überbehütet.<br />
In Deutschland ist’s die „Rabenmutter“, die ihr<br />
Kind verlässt, um zu arbeiten.<br />
Statistisches B<strong>und</strong>esamt, © F.A.Z.-Grafik Walter
• Ein neuer Begriff: R<strong>und</strong> 60 Prozent <strong>der</strong> Deutschen<br />
glauben, sehr viele o<strong>der</strong> viele Väter überließen<br />
die Erziehung allein den Müttern <strong>und</strong><br />
seien deshalb „Rabenväter“<br />
• Deutsche Männer gehen vor allem dann länger<br />
als zwei Monate in Elternzeit, wenn ihre beruflichen<br />
Perspektiven schlecht o<strong>der</strong> sie arbeitslos<br />
sind o<strong>der</strong> wenn ihre Frauen mehr verdienen.<br />
Vaterschaft – ein Thema <strong>für</strong><br />
Jungen!<br />
Mädchen denken angeblich viel intensiver über<br />
ihre spätere Mutterrolle nach als Jungen über eine<br />
Vaterschaft. Schon früh übernehmen einige Verantwortung<br />
<strong>für</strong> kleine Geschwister o<strong>der</strong> bessern<br />
ihr Taschengeld mit Babysitten auf. Entsprechend<br />
können sie sich viel besser vorstellen, was sie als<br />
Mütter erwartet. <strong>Für</strong> Jungen ist das oft viel unklarer.<br />
Sie orientieren sich an den Erfahrungen mit<br />
dem eigenen Vater, Patchwork-Ersatzvätern o<strong>der</strong><br />
an gesellschaftlichen Erwartungen.<br />
Jungen, die sich in <strong>der</strong> Arbeit mit Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />
Jugendlichen engagieren, können viel darüber<br />
lernen, wie sie mit späteren eigenen Kin<strong>der</strong>n<br />
umgehen können. Sie können lernen, was Kin<strong>der</strong><br />
brauchen <strong>und</strong> können. Wie man Kin<strong>der</strong>n etwas<br />
erklärt <strong>und</strong> wie man Verantwortung trägt <strong>und</strong> Gefahren<br />
einschätzt. Und noch viel mehr.<br />
Dass Jungen sich nicht so intensiv mit Gedanken<br />
über eine Vaterschaft auseinan<strong>der</strong>setzen, mag<br />
auch an den Gen<strong>der</strong>-Zuschreibungen liegen: Das<br />
ist einfach kein Männerthema! Dabei kann es sein,<br />
dass die individuellen Fähigkeiten eines Mannes,<br />
die <strong>für</strong> die Kleinkindsorge notwendig sind, hervorragend<br />
sind. Und dann wäre es doch nur<br />
logisch, wenn <strong>der</strong> Mann seine Fähigkeiten auch<br />
einsetzte.<br />
Die Bereitschaft, Zeit <strong>für</strong> die Familie <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong><br />
zu investieren, hängt <strong>für</strong> Jungen <strong>und</strong> Männer auch<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Materialkasten 1: Die Zeit, Mai 2008, Seite 6<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_49<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
mit ihrem Selbstbild <strong>und</strong> ihren Vorstellungen von<br />
Männlichkeit zusammen. Was zählt eigentlich im<br />
Leben eines Mannes? Woran misst man ihn <strong>und</strong><br />
woran misst er sich selbst? Am Auto, Einkommen,<br />
Haus, den Frauen, dem Sport <strong>und</strong> Erfolgen? O<strong>der</strong><br />
auch an Familienkompetenz, hauswirtschaftlichen<br />
Fähigkeiten o<strong>der</strong> darant, da gewesen zu sein wenn<br />
sein Kind ein beson<strong>der</strong>es Erlebnis hatte?<br />
Diese Früchte erntet man vermutlich erst ganz spät<br />
in seinem Leben. Aber schon früher kann man das<br />
doch eigentlich auch einem Arbeitgeber verkaufen:<br />
Ein Mann, <strong>der</strong> gelernt hat, die Bedürfnisse<br />
seiner Kin<strong>der</strong> zu erkennen, reagiert sensibler auf<br />
die Wünsche von Geschäftsk<strong>und</strong>en. Er hat gelernt,<br />
wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden. Und<br />
wer schon einmal mit dem Baby auf dem Arm kochen<br />
<strong>und</strong> bügeln musste, ist auch bei <strong>der</strong> Erwerbsarbeit<br />
flexibel. Es lebe <strong>der</strong> „Manager eines kleinen<br />
Familienunternehmens“!<br />
Manager eines Familienunternehmens. © photocase/ CarlosMurphys<br />
Der neue Mann<br />
hieß schon in den 1980ern so. Der arme, immer<br />
muss er sich neu erfinden. Wer spricht aber von<br />
neuen Frauen? Der lange Weg von Frauen-Emanzipation<br />
über Gen<strong>der</strong> Mainstreaming bis Anti-<br />
Diskriminierungsgesetz <strong>und</strong> Elterngeld sind gute<br />
Vorlagen, die Männern viele Möglichkeiten bieten<br />
50_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
<strong>und</strong> Freiräume schaffen. Als Mann muss ich nicht<br />
mehr jeden Tag zur Arbeit gehen <strong>und</strong> Geld verdienen<br />
– wo <strong>der</strong> Spaß auf <strong>der</strong> Strecke bleibt <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Herzinfarkt o<strong>der</strong> die Staublunge kommt. Ich<br />
muss mir keine harte Schale mehr umlegen <strong>und</strong><br />
meinen weichen Kern verhüllen, son<strong>der</strong>n darf (mit<br />
dem Kind) ganz emotional sein, Gefühle haben<br />
<strong>und</strong> zeigen. Ich kann Dinge an<strong>der</strong>s o<strong>der</strong> vielleicht<br />
sogar besser machen als mein Vater. Gleichzeitig<br />
muss ich aber auch aufpassen, dass ich <strong>mich</strong> nicht<br />
zwischen den Erwartungen meiner Partnerin <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Gesellschaft völlig aufreibe. Denn eins muss<br />
einfach gesagt werden: Die Sorge <strong>und</strong> Erziehung<br />
von (kleinen) Kin<strong>der</strong>n ist anstrengende Arbeit, <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Schlaf kommt in mancher Nacht zu kurz.<br />
Der neue Mann<br />
Mit Jungen über das Thema Vaterschaft zu arbeiten,<br />
ist mit Sicherheit spannend. Es kann hilfreich<br />
sein, wenn keine Mädchen in <strong>der</strong> Gruppe<br />
sind. Das befreit, auch mal Fragen zu stellen, die<br />
einem Jungen sonst noch peinlicher sind. Denn<br />
über Sexualität zu sprechen, wird sich kaum vermeiden<br />
lassen – <strong>und</strong> wenn es zunächst nur in<br />
Witzen geschieht. Bei Jugendlichen in <strong>der</strong> Gruppe<br />
ist es deshalb ratsam, vorher die Eltern zu informieren.<br />
Denn sobald es um Sexualität <strong>und</strong> Aufklärung<br />
geht, ist nicht nur viel Sensibilität <strong>und</strong> eine<br />
offene Gruppenatmosphäre gefor<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n<br />
auch Ausgewogenheit, damit es keine rechtlichen<br />
Probleme gibt.<br />
• Was würdest Du Deinem Kind beibringen o<strong>der</strong><br />
zeigen wollen? Was würdest Du an<strong>der</strong>s machen<br />
als Deine Eltern mit Dir? Was genau so?<br />
• Probier doch mal folgende Rollenspielsituationen<br />
aus: Du bist mit Deinem Kind im Kin<strong>der</strong>wagen<br />
unterwegs wie jeden Tag.<br />
- In <strong>der</strong> Straßenbahn erzählt Dir eine ältere<br />
Frau, dass das Kind doch um diese Zeit eigentlich<br />
ins Bett gehöre <strong>und</strong> die Mutter das<br />
eigentlich viel besser wüsste. Du selbst weißt<br />
aber, dass <strong>der</strong> Zug, mit dem Du von Deinen
Materialkasten 2:<br />
Franz, 23, Student,<br />
Vater von Charlotte, 9 Monate<br />
Ich studiere seit Oktober 2005 <strong>und</strong> habe gerade in<br />
meinem Studiengang Soziale Arbeit eine schriftliche<br />
Hausarbeit zum Thema „Ehe <strong>und</strong> eheähnliche<br />
Lebensgemeinschaften“ abgegeben. Nun sind<br />
Semesterferien, ich bin mit meiner Fre<strong>und</strong>in Josephine<br />
zu Hause <strong>und</strong> wir verbringen ganz viel Zeit<br />
mit unserer kleinen Tochter Charlotte.<br />
Unseren Tag gestalten wir ganz nach den Bedürfnissen<br />
von Charlotte. Sie hat einen festen<br />
Rhythmus: Frühstück, Spielen, Mittagessen. Den<br />
Mittagsschlaf verbringt sie bei mir im Tragetuch.<br />
Ein gemeinsamer Spaziergang bis zum Abend<br />
schließt sich an. Kurz vor dem Nachtschlaf spielt<br />
Charlotte eine St<strong>und</strong>e nackt auf dem Teppich,<br />
gegen 19.30 Uhr bekommt sie noch mal die Brust<br />
<strong>und</strong> dann legen wir sie in ihr Bettchen. Ich finde es<br />
schön, dass wir den ganzen Tag zusammen sind.<br />
[…]<br />
Die Geburt war neun Tage über dem Termin <strong>und</strong><br />
das Kind lag noch nicht richtig im Becken. Wir<br />
gingen ins Krankenhaus. Da ich die ganze Zeit<br />
bei Josephine im Kreißsaal war, bemerkte ich am<br />
Wehenschreiber, dass bei den Wehen die Herztöne<br />
des Kindes schwächer wurden. Ich alarmierte eine<br />
Schwester, <strong>und</strong> plötzlich war das ganze Zimmer<br />
voll Personal. Es war schrecklich, ich war auf einmal<br />
draußen <strong>und</strong> musste vor dem Kreißsaal warten,<br />
drei lange Minuten. Dann kam <strong>der</strong> Arzt <strong>und</strong><br />
erzählte von einem Kaiserschnitt <strong>und</strong> <strong>der</strong> Nabelschur<br />
vor dem Kopf.<br />
Ich bekam Charlotte auf den Arm <strong>und</strong> zerplatzte<br />
fast vor Glück. Ich traute <strong>mich</strong> nicht, <strong>mich</strong> zu rühren,<br />
weil sie so klein war, <strong>und</strong> ich hatte Angst, sie<br />
zu zerdrücken. Josephine lag noch im Kreißsaal.<br />
Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll.<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Doch als alles in Ordnung war, war ich unendlich<br />
glücklich. Von nun an ging ich nicht mehr zur<br />
Arbeit. Ich weiß nicht, was wir die ganze Zeit im<br />
Krankenhaus gemacht haben. Wir haben uns wohl<br />
die ganze Zeit Charlotte angesehen <strong>und</strong> waren<br />
überglücklich.<br />
Vater war ich gleich: Die Schwangerschaft, <strong>der</strong><br />
Geburtsvorbereitungskurs <strong>und</strong> jede Woche die<br />
Ultraschallbil<strong>der</strong> führten zu dieser Entwicklung.<br />
Ich bin jetzt viel verantwortungsbewusster, fahre<br />
an<strong>der</strong>s Auto, auch wenn Charlotte nicht dabei ist.<br />
Mein Blick hat sich verän<strong>der</strong>t. Ich merke viel eher,<br />
wenn etwas im Haushalt nicht in Ordnung ist. Ich<br />
bin auch allgemein ruhiger geworden.<br />
Meine eigene Kindheit <strong>und</strong> Erziehung finde ich<br />
durchweg positiv. <strong>Für</strong> <strong>mich</strong> war immer klar, dass<br />
ich eigene Kin<strong>der</strong> haben <strong>und</strong> sie zusammen mit<br />
<strong>der</strong> Mutter großziehen wollte. Ich möchte Charlotte<br />
eine schöne Kindheit <strong>und</strong> Familie geben <strong>und</strong><br />
wünsche mir, dass sie eine große „Toleranz im<br />
Kopf“ gegenüber <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n entwickelt.<br />
Große Angst habe ich, getrennt von Charlotte <strong>und</strong><br />
Josephine leben zu müssen. Dankbar bin ich <strong>für</strong><br />
die vielen glücklichen Momente <strong>und</strong> da<strong>für</strong>, dass<br />
ich ihre Entwicklung miterleben darf. Ich weiß,<br />
dass ich ein stolzer Vater bin.<br />
Daniel, 35, Umschüler zum Ergotherapeuten,<br />
Vater von Johanna, 13<br />
Aktuell erlebe ich das Erwachsenwerden meiner<br />
Tochter Johanna. Seit <strong>der</strong> Geburt bin ich <strong>für</strong> sie<br />
allein verantwortlich, da ihre Mutter kurz nach<br />
<strong>der</strong> Entbindung schwer krank wurde <strong>und</strong> es bis<br />
heute ist. Zunächst lebten wir als Familie, doch<br />
seit Johannas viertem Lebensjahr bin ich allein<br />
erziehen<strong>der</strong> Vater. Am Anfang hatte ich das<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_51<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Gefühl, Vater <strong>und</strong> Mutter zugleich zu sein. Jetzt bin<br />
ich mehr Vater <strong>und</strong> Gegenüber. Das verlangt viel<br />
Einfühlungsvermögen von mir.<br />
Gedanken gehen mir durch den Kopf, zum Beispiel:<br />
Wenn meine Tochter einen Fre<strong>und</strong> hat, wie<br />
begrüße ich ihn am Frühstückstisch? Ich merke,<br />
dass sie die bisherige behütete Umgebung verlässt.<br />
Das zu akzeptieren fällt mir schwer, weil ich<br />
nun nicht immer da sein kann, um sie zu beschützen,<br />
so wie es bislang <strong>der</strong> Fall war. Ich finde, Johanna<br />
ist selbstbewusster, als ich es in dem Alter<br />
war, <strong>und</strong> es ist gut, dass sie mir sagt, wenn sie<br />
„Mist gebaut“ hat. Diese Vertrauensebene gibt mir<br />
Sicherheit.<br />
Johanna war nicht geplant. Meine damalige Frau<br />
<strong>und</strong> ich wollten eigentlich in Schweden leben.<br />
In Göteborg ist Johanna auch geboren. Aber aus<br />
diesen Plänen wurde lei<strong>der</strong> nichts […]. Als junger<br />
Vater habe ich schnell den Unterschied gespürt,<br />
wie Mütter <strong>und</strong> wie Väter mit ihren Kin<strong>der</strong>n umgehen.<br />
Auf dem Spielplatz saßen die Mütter,<br />
klönten miteinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> ließen ihre Kin<strong>der</strong><br />
spielen, während ich als Vater mit meinem Kind<br />
durch die Klettergerüste krabbelte. Als Vater<br />
fühlte ich <strong>mich</strong> unter den Müttern in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />
<strong>und</strong> nicht richtig angenommen. Es ist wohl<br />
auch so, dass Männer mehr körperlich mit Kin<strong>der</strong>n<br />
spielen.<br />
Verwandten gekommen bist, viel Verspätung<br />
hatte, <strong>und</strong> bist schon ärgerlich, weil Du längst<br />
zu Hause sein wolltest.<br />
- Du ziehst Deinem Kind die Winterjacke an,<br />
weil Ihr raus gehen wollt. Eine ältere Frau<br />
kommt vorbei <strong>und</strong> sagt, sie hätte das immer<br />
ganz an<strong>der</strong>s gemacht. Du sollest das man mal<br />
lassen, sie zöge eben das Kind an.<br />
- Du spazierst an einer Bushaltestelle vorbei.<br />
Aus dem Wartehäuschen rufen Dir Jungs mit<br />
Bierflasche spöttisch hinterher, dass es auch<br />
alle Umstehenden hören.<br />
52_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Als Johanna in die Schule kam, waren die Eltern<br />
<strong>der</strong> Klassenkameraden etwa zehn Jahre älter als<br />
ich, da ich früh Vater geworden bin. Das hat aber<br />
zur Folge, dass ich heute mit 35 Jahren, einen Lebensabschnitt<br />
verlasse, den viele in meinem Alter<br />
erst beginnen. Ich bin stolz auf diese Zeit, aber<br />
auch froh, wenn Johannas Pubertät vorbei ist. Froh<br />
bin ich auch, dass meine Fre<strong>und</strong>in keinen Kin<strong>der</strong>wunsch<br />
hat.<br />
Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern.<br />
Trotzdem habe ich versucht, meine Tochter an<strong>der</strong>s<br />
zu erziehen, als meine Eltern <strong>mich</strong> erzogen haben.<br />
Ich lasse meiner Tochter möglichst viel eigenen<br />
Raum, frage natürlich, lasse ihr aber die Freiheit<br />
auszuwählen, an was ich teilnehmen darf, an was<br />
nicht. Ich rede erst mir ihr, wenn es Probleme gibt,<br />
<strong>und</strong> dann suchen wir gemeinsam nach Lösungen.<br />
Wichtig finde ich auch, dass sie auf ihren „Bauch“<br />
hört <strong>und</strong> ihre Entscheidungen dann fällt, wenn ihr<br />
Gefühl Ja dazu sagt.<br />
Ich bin Johanna dankbar da<strong>für</strong>, dass ich die kleinen<br />
Dinge im Leben entdeckt habe. Sie hat <strong>mich</strong> gelehrt,<br />
die Welt aus ihrer Perspektive zu betrachten.<br />
Aus: Thomas-Wilhelm Becker, Väter. Mehr als Männer<br />
mit Kin<strong>der</strong>n, Hildesheim 2006, Seite 16-17 <strong>und</strong><br />
92-93. Abdruck mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung des<br />
Moritzberg Verlag, Hildesheim.<br />
- Du schiebst den Kin<strong>der</strong>wagen an einer engen<br />
Stelle über den Gehweg. Plötzlich brüllt Dir<br />
ein junger Mann mit Goldkettchen <strong>und</strong> Bizeps<br />
hinterher, Du hättest seinen Wagen zerkratzt.<br />
Er scheint richtig wütend zu sein <strong>und</strong> spurtet<br />
los, um Dich einzuholen.<br />
- Du sitzt im Zug im Kleinkindabteil. Ausgerechnet<br />
dort haben sich zwei übelriechende Kerle<br />
hingesetzt, um ein Bier nach dem <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n zu<br />
trinken.<br />
- Alle Omas starren Dich an, weil normalerweise<br />
Männer nicht allein mit dem Kind unterwegs sind.
• Sprich mit Männern, die Väter sind. Die gerade<br />
kleine Kin<strong>der</strong> haben o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en große Kin<strong>der</strong><br />
schon aus dem Haus sind. Die aus Deutschland<br />
stammen o<strong>der</strong> aus einem <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Land hierher<br />
gekommen sind. Wie haben sie ihre Vaterschaft<br />
erlebt? Was konnten, durften, mussten, wollten<br />
sie gern tun? Was nicht? Eine Hilfe, welche<br />
Fragen Du stellen kannst, können Dir die beiden<br />
Gesprächsaufzeichnungen aus dem Materialkasten<br />
2 sein.<br />
• Besucht doch mal eine Hebamme o<strong>der</strong> ladet<br />
eine Ärztin <strong>für</strong> Geburtshilfe ein, damit sie Euch<br />
von einer Geburt erzählen. Vielleicht könntet Ihr<br />
auch mal einen Kreißsaal besichtigen? In vielen<br />
Krankenhäusern gibt es Termine <strong>für</strong> werdende<br />
Eltern. Mit <strong>der</strong> Jugendgruppe macht die Teilnahme<br />
bestimmt Spaß!<br />
• Beratet Euch mit einem Schwangerschaftskonfliktberater.<br />
Fragt in einer Familienberatungsstelle,<br />
welche Unterstützungen es gibt.<br />
• Sprecht mal mit <strong>der</strong> Berufsberatung <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esagentur<br />
<strong>für</strong> Arbeit. O<strong>der</strong> einem Headhunter.<br />
Fragt einen Oberarzt im Krankenhaus. Einen<br />
Banker. Einen Selbstständigen. Den Landrat<br />
(Materialkasten 1). Darf man als Mann überhaupt<br />
in Elternzeit gehen? O<strong>der</strong> ist das das Ende<br />
<strong>der</strong> Karriere? Fragt in größeren Unternehmen<br />
mal in <strong>der</strong> Personalabteilung an, welche Unterstützungsangebote<br />
es <strong>für</strong> Mütter bzw. Väter<br />
gibt. Lassen sich Unterschiede feststellen?<br />
Mutter-Kind-Zone. O<strong>der</strong> amtliches Verkehrszeichen 242?<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
In Österreich tanzen Männer mit Kin<strong>der</strong>n auf dem Asphalt.<br />
© photocase/beenator<br />
• Ist die Babyklappe, wo man anonym ein Kind<br />
abgeben kann, das man zur Adoption frei gibt,<br />
eine Lösung <strong>für</strong> überfor<strong>der</strong>te Eltern? Diskutiert<br />
das <strong>Für</strong> <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>! O<strong>der</strong> besucht eine Babyklappe,<br />
zum Beispiel im Frie<strong>der</strong>ikenstift Hannover.<br />
• Warum sind auf Verkehrsschil<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Piktogrammen<br />
eigentlich immer Mütter mit Kind<br />
abgebildet (Bild 3)? Warum sind Wickeltische<br />
fast nur auf Damentoiletten? Sucht doch mal,<br />
wo überall nur Frauen mit Kind zugelassen<br />
sind. O<strong>der</strong> entwerft selbst Mann-mit-Kind-Piktogramme.<br />
Ein Beispiel fand sich in Österreich<br />
(Bild 4).<br />
• Gründet einen Babysitterclub: Jungen entlasten<br />
Väter (<strong>und</strong> Mütter) in <strong>der</strong> Elternzeit. Vielleicht<br />
könnt Ihr gemeinsam einen Kurs machen?<br />
O<strong>der</strong> ist das eine nur <strong>für</strong> Mädchen interessante<br />
Weise, das Taschengeld aufzubessern? Warum<br />
eigentlich?<br />
• Welche Berufe sind <strong>für</strong> Dich attraktiv? Hast Du<br />
schon mal über Tagesvater (Materialkasten 6),<br />
Erzieher, Gr<strong>und</strong>schullehrer o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>krankenpfleger<br />
nachgedacht? Warum denn nicht?<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_53<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Und was hat das mit dem<br />
Glauben zu tun?<br />
• In <strong>der</strong> Bibel ist die die Frage, ob Mann o<strong>der</strong><br />
Frau <strong>für</strong> die Kin<strong>der</strong> sorgt, kein Thema. Mal<br />
werden Kin<strong>der</strong> in Begleitung von Frauen, mal in<br />
Begleitung von Männern benannt. Aus <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Quellen wissen wir, dass in den biblischen<br />
Kulturen in <strong>der</strong> Regel Frauen <strong>für</strong> die Kin<strong>der</strong>-<br />
erziehung zuständig waren. Deshalb ist es<br />
schwierig, theologisch über dieses Thema<br />
nachzudenken.<br />
• Kin<strong>der</strong> sind wichtig: Jesus ruft die Kin<strong>der</strong> zu<br />
sich <strong>und</strong> segnet sie, denn „<strong>für</strong> Menschen wie<br />
sie steht Gottes neue Welt offen“ (Mt 19,13-15).<br />
• Kin<strong>der</strong> sind schutz- <strong>und</strong> <strong>für</strong>sorgebedürftig, man<br />
könnte auch sagen: Schwach. Die Sorge um <strong>und</strong><br />
<strong>für</strong> Schwache ist ein großes Anliegen <strong>der</strong> Bibel.<br />
Jesus kümmert sich häufig um sie <strong>und</strong> hilft ihnen,<br />
darunter zum Beispiel auch kranke Kin<strong>der</strong><br />
(Mk 5,35-43; Lk 9,37-43).<br />
• Kin<strong>der</strong> sind ein Geschenk Gottes <strong>und</strong> ein W<strong>und</strong>er<br />
<strong>der</strong> Schöpfung. Wie je<strong>der</strong> Mensch sind sie<br />
Engel sein. <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>mich</strong>. © photocase/futurinka<br />
54_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
ein Ebenbild Gottes (Gen 1,26) <strong>und</strong> verdienen<br />
damit die Würdigung <strong>und</strong> Zuwendung. Je<strong>der</strong>,<br />
gleich ob Mann o<strong>der</strong> Frau ist aufgefor<strong>der</strong>t, ihnen<br />
Aufmerksamkeit zu schenken.<br />
• Theologisch lässt sich zum Beispiel vom Brief<br />
an die Kolosser Kapitel 3 losdenken: Dort wird<br />
sehr deutlich, dass es <strong>für</strong> den neuen Menschen<br />
(nach <strong>der</strong> Taufe) keine Unterschiede mehr gibt,<br />
weil <strong>für</strong> jeden Mensch nur Christus „noch zählt,<br />
<strong>der</strong> in allen lebt <strong>und</strong> <strong>der</strong> alles wirkt“ (Kol 3,11).<br />
Vor Gott sind alle gleich wichtig: Mann <strong>und</strong> Frau<br />
in ihrer offensichtlichen Verschiedenheit. Keiner<br />
<strong>der</strong> beiden ist wichtiger o<strong>der</strong> nimmt einen Vorrang<br />
ein. Und beide haben Gaben, die sie einsetzen<br />
sollen zum Wohle des <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n <strong>und</strong> des<br />
Kindes.<br />
• Kirche muss <strong>für</strong> den Patriarchalismus, den sie<br />
über Jahrh<strong>und</strong>erte gepredigt hat, Verantwortung<br />
übernehmen. Immer wie<strong>der</strong> betonen Konservative<br />
die beson<strong>der</strong>e Rolle <strong>der</strong> Frau, die in ihrem<br />
Verständnis <strong>der</strong> Schöpfungsberichte <strong>für</strong> das Gebären<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zuständig sei. 2007 hat bspw.<br />
<strong>der</strong> katholische Bischof von Augsburg, Walter<br />
Mixa, anlässlich<br />
<strong>der</strong> staatlichen<br />
Ankündigung die<br />
Krippenplätze<br />
auszubauen,<br />
davor gewarnt,<br />
Frauen zu „Gebärmaschinen“<br />
zu degradieren,<br />
indem sie mit<br />
staatlicher För<strong>der</strong>ung<br />
schnell<br />
wie<strong>der</strong> dem<br />
Arbeitsmarkt zugeführt<br />
werden.<br />
Diese <strong>und</strong> weitere<br />
Äußerungen<br />
führten zu<br />
starker öffentlicher<br />
Kritik.
Materialkasten 3<br />
Diakon Norbert Wolf ist einer <strong>der</strong> wenigen Männer<br />
in <strong>der</strong> Schwangerschaftskonfliktberatung. In seine<br />
Beratungsstelle im Diakonischen Werk Bremervörde<br />
kommen schwangere Frauen <strong>und</strong> junge Eltern.<br />
Gegen den Trend 2009 hat mit ihm über seine<br />
Arbeit gesprochen.<br />
Gegen den Trend 2009: Wie ist es, als Mann über<br />
Schwangerschaft zu beraten? Kommen Mütter zu<br />
Dir? Auch Väter? Gemeinsam?<br />
Norbert Wolf: Ich muss zugeben, dass <strong>mich</strong> die<br />
Frage, ob ich als Mann schwangere Frauen beraten<br />
kann, sehr beschäftigt hat. In meiner Beraterausbildung<br />
– da war ich <strong>der</strong> einzige Mann – haben<br />
<strong>mich</strong> die Frauen ermutigt: Männer sind in <strong>der</strong><br />
Beratung wichtig, weil ja auch Männer betroffen<br />
sind! Und wenn eine schwangere Frau nicht von<br />
einem Mann beraten werden möchte, geht sie zu<br />
einer <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Beratungsstelle. Beson<strong>der</strong>s junge<br />
Männer begleiten ihre Partnerin zu einer Schwangerschaftskonfliktberatung<br />
<strong>und</strong> wollen auch aktiv<br />
an <strong>der</strong> Beratung teilhaben. Das finde ich gut <strong>und</strong><br />
sehr verantwortlich, gerade auch deshalb, weil<br />
beide Partner die Verantwortung <strong>für</strong> diese weit<br />
reichende Entscheidung treffen wollen. Aber oft<br />
kommen auch die Frauen alleine, <strong>und</strong> das hat die<br />
verschiedensten Gründe. In meiner Tätigkeit kam<br />
es bis jetzt selten vor, dass eine Konfliktberatung<br />
ohne Kenntnis des Mannes stattfand. Noch ist<br />
es bei mir nicht vorgekommen, dass sich Männer<br />
alleine zu einem Schwangerschaftsabbruch haben<br />
beraten lassen, obwohl ich durchaus die Fragen<br />
<strong>und</strong> Probleme auch bei Männern sehe. Dazu<br />
wüsste ich gern noch mehr: Wie sieht <strong>der</strong> Konflikt<br />
einer schwangeren Partnerin bei Männern aus?<br />
Gegen den Trend 2009: Hattest Du schon Teenagereltern<br />
in <strong>der</strong> Beratung? Was sind ihre Fragen?<br />
Was rätst Du ihnen?<br />
Norbert Wolf: Hier auf dem Lande meint man ja,<br />
dass es nicht so häufig Teenagereltern gibt. Aber<br />
doch. Auch hier werden hin <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> junge<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Mädchen Mütter. Wenn sie keinen stabilen Familienhintergr<strong>und</strong><br />
haben, dann kann eine ungewollte<br />
Schwangerschaft o<strong>der</strong> Geburt eine große<br />
Angst auslösen, die sich auch gegen das neue<br />
Leben richten kann. Da versuchen wir in <strong>der</strong> Beratung,<br />
Netzwerke zu initiieren, die diese Situation<br />
stützen. In Städten ist das leichter, da die Entfernungen<br />
zu Hilfeeinrichtungen kürzer sind <strong>und</strong><br />
Familien auch leichter anonym bleiben können.<br />
Wichtig ist, dass diese sehr jungen Eltern merken,<br />
dass sie nicht alleine gelassen werden, son<strong>der</strong>n<br />
ihnen viele Menschen zur Seite stehen wollen.<br />
Gegen den Trend 2009 fragt: Berätst Du auch Väter,<br />
Elternzeit zu nehmen? Verantwortung <strong>für</strong> das<br />
Kind zu übernehmen? Wie? Was <strong>für</strong> Erfahrungen<br />
machst Du mit Vätern?<br />
Norbert Wolf: Mit dem neuen Gesetz zur Elternzeit<br />
hat sich die Sicht junger Eltern tatsächlich<br />
erweitert. Im Rahmen einer Sozial- o<strong>der</strong> Schwangerenberatung<br />
bekommt diese Frage einen beson<strong>der</strong>en<br />
Stellenwert, <strong>und</strong> ich merke, dass junge<br />
Väter ihre Rolle in <strong>der</strong> Regel auch wahrnehmen<br />
wollen. Jedoch ist <strong>der</strong> zweite Blick dann immer auf<br />
das zu erwartende Einkommen in <strong>der</strong> Elternzeit<br />
gerichtet. Und bei mittleren <strong>und</strong> niedrigen Einkommen<br />
ist es dann wirklich eine Existenzfrage, ob<br />
die junge Familie es sich leisten kann, zwei o<strong>der</strong><br />
mehr Monate auf das meist höhere Einkommen<br />
des Mannes zu verzichten. Ich stelle aber fest,<br />
dass bei ungewollten <strong>und</strong> gewollten Schwangerschaften<br />
durchaus die jungen Männer Verantwortung<br />
<strong>für</strong> das neue Leben übernehmen wollen. In<br />
meiner Beratungspraxis habe ich es kaum erlebt,<br />
dass junge Männer die Frauen <strong>der</strong>art unter Druck<br />
gesetzt haben, dass <strong>der</strong> Konflikt einen Schwangerschaftsabbruch<br />
zur Folge hatte. Jedoch ist hier<br />
mein ländlicher Beratungskontext wohl auch zu<br />
beachten. In Städten sind <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Lebensentwürfe<br />
geballter zu finden <strong>und</strong> somit auch die Probleme<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>, unter denen es zu ungewollten Schwangerschaften<br />
kommt.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_55<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Mehr als ich: Die Gesellschaft<br />
Einige <strong>der</strong> Gedankenanstöße ziehen schon weitere<br />
Kreise um meine Person herum. Sie fragen nach<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft, in <strong>der</strong> wir leben (wollen). Wie<br />
än<strong>der</strong>t sich eigentlich die Gesellschaft, wenn<br />
Väter stärker die Erziehung übernehmen? Woher<br />
stammen die stereotypen Bil<strong>der</strong> vom Vater<br />
(„Warte nur, bis Vater nach Hause kommt!“) <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Mutter (<strong>für</strong>sorgend, liebevoll, beschützend,<br />
in Schürze am Herd, …)? Wie sieht das in <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Gesellschaften <strong>und</strong> Län<strong>der</strong>n aus? Welche Unterschiede<br />
gibt es? Wie verän<strong>der</strong>n sich eigentlich<br />
unsere Kultur <strong>und</strong> unser Zusammenleben, die<br />
sich ursprünglich stark auf diese Stereotypen<br />
gründen? Wenn Gesellschaft sich verän<strong>der</strong>n soll,<br />
erfor<strong>der</strong>t das politisches Handeln. Damit sind<br />
nicht nur Gremien gemeint, son<strong>der</strong>n auch Aktionen,<br />
Leserbriefe/Online-Kommentare, Demonstrationen<br />
usw. von einzelnen. Und natürlich zählt<br />
auch, welche Partei mit welchem Programm man<br />
wählt. Und warum sind die Familienministerien<br />
seit Jahrzehnten eigentlich immer mit Frauen<br />
besetzt?<br />
Materialien <strong>und</strong> Literatur<br />
• Es gibt im Internet diverse Blogs (online-Tagebücher<br />
mit Bil<strong>der</strong>n) von Vätern, die aus ihrer<br />
Elternzeit berichten. Einfach mal die Suchmaschine<br />
bemühen!<br />
• Die Teppich- <strong>und</strong> Staubsaugerfirma Vorwerk finanziert<br />
unter http://www.familien-managerin.<br />
de eine Imagekampagne mit Familienstudien.<br />
Interessantes Material!<br />
• Statistik: Unter https://www-ec.destatis.de<br />
lassen sich mit dem Suchwort ‚Elterngeld‘ aktuelle<br />
Zahlen downloaden <strong>und</strong> auswerten. Zum<br />
Beispiel wie viel Elterngeld gezahlt wird, wie<br />
lange Väter Elterngeld beziehen, wie viele Väter<br />
überhaupt in Elternzeit gehen etc.<br />
56_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Materialkasten 4<br />
Jan-Olof Fechter lebt als Deutscher in Schweden<br />
<strong>und</strong> ist dort 2007 Vater geworden. Er erzählt:<br />
„Ich arbeite als Entwicklungsingenieur bei einem<br />
großen Möbelkonzern. Als ich um 7 Monate Elternzeit<br />
ansuchte, bekam ich sofort die Zustimmung<br />
meiner Chefin: ‚Das hat mein Mann damals auch<br />
so gemacht.‘ Ich arbeite 20%, um nicht ganz von<br />
<strong>der</strong> Entwicklung abgeschnitten zu sein. Meine<br />
Arbeit wird <strong>der</strong>weil von einem da<strong>für</strong> angestellten<br />
Diplomanden übernommen, zu dem ich einen<br />
guten Draht habe. Die älteren Kollegen waren<br />
größtenteils neidisch, sieben Monate ‚Ferien‘ im<br />
Sommerhalbjahr! Aber dass Elternzeit keine Ferien<br />
sind, habe ich mittlerweile auch erfahren: Während<br />
meine Frau wie<strong>der</strong> ihrer Arbeit nachgeht, bin<br />
ich ziemlich von unserer Tochter eingenommen,<br />
sodass ich bei einigen geplanten Bauprojekten an<br />
unserem neuen Eigenheim kräftig zurückstecken<br />
musste: Hier<strong>für</strong> war einfach keine Zeit. Unsere<br />
Tage füllen sich mit Spielen, Hausarbeit, Essen,<br />
Wickeln usw. <strong>und</strong> wir gehen auch regelmäßig zum<br />
Elternkreis <strong>und</strong> zur Krabbelgruppe. Dort war es<br />
nun schon einige Male so, dass ausschließlich<br />
Väter mit ihren Kin<strong>der</strong>n gekommen sind. Lustig,<br />
denn die Gesprächsthemen beschränkten sich<br />
dann nicht nur auf das Schlaf- <strong>und</strong> Spielverhalten<br />
<strong>der</strong> Kleinen. Insgesamt sehe ich die Vaterzeit als<br />
etwas sehr Positives, die <strong>der</strong> Mutter den beruflichen<br />
Wie<strong>der</strong>einstieg erleichtert, den eigenen<br />
Erfahrungsschatz erweitert <strong>und</strong> einfach auch eine<br />
Menge Spaß macht.“<br />
• Wissenschaft: Wenn Teenager Eltern werden…<br />
Lebenssituationen jugendlicher Schwangerer<br />
<strong>und</strong> Mütter sowie jugendlicher Paare mit Kind.<br />
Eine qualitative Studie <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong><br />
ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung, Köln 2005, kostenloser<br />
Download unter http://www.bzga.de.<br />
Dort finden sich auch zahlreiche Materialien zu<br />
Sexualität, Familienplanung <strong>und</strong> Vaterschaft.
• Nur <strong>für</strong> Fans: Von seinem Vater-Dasein singt<br />
Reinhard Mey auf dem Album „Mein Apfelbäumchen“<br />
(1989), das Lied „Aller guten Dinge sind<br />
drei“ spiegelt seinen Alltag wi<strong>der</strong>.<br />
Materialkasten 5<br />
Zum Beispiel: Ein ganz normaler Tag mit Margarete<br />
(8 Monate)<br />
Zwischen 6:30 <strong>und</strong> 7:45 wacht Margarete auf.<br />
Mal mit einem Lachen, mal mit einem Schrei.<br />
Mit Milchpulver rühre ich eine Flasche an, die sie<br />
dann auf Ex trinkt. Die Windel platzt dann fast,<br />
nach einer ganzen Nacht. Also schnell auf den<br />
Wickeltisch, waschen <strong>und</strong> wickeln. Und dann die<br />
Frage: Was ziehe ich ihr nur an?! Nachdem ich<br />
auch gefrühstückt habe, gehen wir meist raus.<br />
Manchmal erledigen wir Sachen <strong>und</strong> kaufen ein.<br />
Manchmal treffen wir uns auch mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n El-<br />
tern auf dem Spielplatz o<strong>der</strong> in einem Café. Zurück<br />
in <strong>der</strong> Wohnung ist <strong>der</strong> Haushalt dran: Die<br />
Wasch maschine läuft fast jeden Tag, <strong>und</strong> auch<br />
<strong>der</strong> Fußboden kann eigentlich jeden zweiten Tag<br />
gesaugt werden. Damit die gute Laune erhalten<br />
bleibt, gibt’s zwischendurch mal eine ganze Banane.<br />
Margarete spielt währenddessen ein bisschen<br />
allein o<strong>der</strong> macht noch mal ein kurzes Nickerchen.<br />
Aus dem Auge lassen kann ich sie nicht, weil sie<br />
überall hin krabbelt. Wer weiß, was sie findet<br />
<strong>und</strong> in den M<strong>und</strong> steckt? O<strong>der</strong> wo sie hin greift?<br />
Die Steckdosen sind zwar alle kin<strong>der</strong>sicher, aber<br />
Gefahren gibt es im Haushalt viele. Um 12:30 Uhr<br />
gibt’s den Mittagsbrei. Wenn ich kein Gläschen<br />
füttere son<strong>der</strong>n selbst koche, dann muss ich extra<br />
ohne Gewürze <strong>und</strong> Salz <strong>und</strong> ganz weich kochen,<br />
damit sie das isst. Gut, dass es Pürierstäbe gibt!<br />
Nach dem Mittagessen schläft Margarete <strong>für</strong> 1,5<br />
bis zwei St<strong>und</strong>en. Das ist meine Freizeit! Jetzt kann<br />
ich zwar nicht aus <strong>der</strong> Wohnung, aber endlich mal<br />
ein Buch lesen, Musik hören o<strong>der</strong> an den PC. Wenn<br />
sie aufgewacht ist, gibt es schon fast wie<strong>der</strong> die<br />
nächste Mahlzeit: Getreide-Obst-Brei. Den mag<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
• Immer noch nicht veraltet: Dieter Schnack/<br />
Rainer Neutzling, Kleine Helden in Not. Jungen<br />
auf <strong>der</strong> Suche nach Männlichkeit, Hamburg<br />
1990<br />
sie gern, vielleicht, weil er so fruchtig schmeckt?<br />
Danach gehen wir, wenn es nicht regnet, auf den<br />
Spielplatz. Noch kann Margarete mit dem Sand<br />
nicht so viel anfangen, weiß gar nicht, wie man die<br />
Schaufel hält. Aber größere Kin<strong>der</strong> findet sie total<br />
spannend <strong>und</strong> beobachtet sie mit großen Augen.<br />
Wenn wir unterwegs sind, dürfen wir Windeln,<br />
Tücher, einen Not-Keks, die Trinkflasche, Wechselkleidung<br />
<strong>und</strong> den Schnuller nicht vergessen, das<br />
wäre eine kleine Katastrophe! Denn ‚bald‘ o<strong>der</strong><br />
‚gleich‘ versteht Margarete noch nicht, <strong>und</strong> ein<br />
nasses Kind, das eingemacht hat <strong>und</strong> <strong>mich</strong> vollschmiert,<br />
mag ich auch nicht so gern auf den Arm<br />
nehmen. Rechtzeitig zum Abendbrei um 18:30 Uhr<br />
müssen wir wie<strong>der</strong> zu Hause sein. Danach spielt<br />
Margarete noch ein bisschen, ist manchmal richtig<br />
quirlig, so dass es schwer wird, sie um 20 Uhr ins<br />
Bett zu bekommen. Die Milchflasche hilft manchmal,<br />
sie zu beruhigen. Ich freue <strong>mich</strong> auf meinen<br />
Feierabend. Aber wehe, wenn sie nicht einschlafen<br />
kann, weil <strong>der</strong> neue Zahn, <strong>der</strong> gerade durchbricht,<br />
so schmerzt. O<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tag zu aufregend war. O<strong>der</strong><br />
überhaupt. Dann gehe ich mit Margarete manchmal<br />
ein o<strong>der</strong> zwei St<strong>und</strong>en auf dem Arm durch die<br />
Wohnung <strong>und</strong> hoffe, dass sie nachts nicht mehrmals<br />
aufwacht <strong>und</strong> ich das wie<strong>der</strong>holen muss.<br />
Denn dann bekomme ich am nächsten Morgen die<br />
Augen kaum auf. Nur, dass ich den Wecker Margarete<br />
nicht ausschalten kann…<br />
Ach, wo die Mutter ist? Bei <strong>der</strong> Arbeit natürlich!<br />
Aber ganz oft hilft sie mir <strong>und</strong> bringt Margarete<br />
ins Bett o<strong>der</strong> lässt <strong>mich</strong> morgens mal ausschlafen.<br />
Trotzdem werden die Tage wohl mal lang, <strong>und</strong> wir<br />
freuen uns, wenn Mama endlich wie<strong>der</strong> Zuhause<br />
ist.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_57<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
Materialkasten 6<br />
Familien-Managerin 2007: Wenn Heinz Bernd Bremer<br />
nach seinem Beruf gefragt wird, erntet er bei<br />
<strong>der</strong> Antwort entwe<strong>der</strong> ungläubiges Lachen o<strong>der</strong><br />
große Augen. Denn seine Antwort lautet: „Tagesmutter“.<br />
Als seine Frau Drillinge bekam, entschloss<br />
er sich, seinen Beruf als Koch aufzugeben,<br />
um <strong>für</strong> die Kin<strong>der</strong> da zu sein, während seine Frau<br />
ihre Vollzeit-Stelle behielt. Das tägliche Miteinan<strong>der</strong><br />
machte dem Vater so viel Spaß, dass er die <strong>für</strong><br />
Tagesmütter gefor<strong>der</strong>te Qualifizierung ablegte.<br />
Seitdem betreut er neben seinen quirligen Drillingen<br />
täglich noch zwei weitere Kin<strong>der</strong>. Zurück in<br />
den Beruf? „Nein! Dazu macht mir das Leben mit<br />
den Kin<strong>der</strong>n zu viel Spaß!“<br />
Ein Video-Porträt findet sich unter http://www.<br />
familien-managerin.de/presse/film_ab.php<br />
Volker Jörn Walpuski<br />
58_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
Kin<strong>der</strong>programm (täglich 7-20 Uhr)<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_59<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
2. TEIl:<br />
lERNEN … MIT<br />
UND IN SchUlE
›› helfen ist die<br />
schönste Sache<br />
<strong>der</strong> Welt.<br />
Finden wir auch!
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
Soziales Engagement von<br />
Jugendlichen – eine WinWin<br />
Situation<br />
Die Lebenswelt von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen hat<br />
sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verän<strong>der</strong>t.<br />
Die erste World Vision Kin<strong>der</strong>studie 2007<br />
zeigte, dass 17 Prozent <strong>der</strong> befragten Kin<strong>der</strong> (bis<br />
elf Jahre) nicht mit beiden Elternteilen aufwachsen.<br />
Die klassische Großfamilie, in <strong>der</strong> sich die Generationen<br />
unterstützen <strong>und</strong> schwache Mitglie<strong>der</strong><br />
von <strong>der</strong> Gemeinschaft getragen werden, existiert<br />
nur noch in Ausnahmefällen.<br />
Gleichzeitig wächst <strong>der</strong> Unterschied zwischen den<br />
sozialen Schichten. Kin<strong>der</strong> starten so unter völlig<br />
unterschiedlichen Voraussetzungen ins Leben.<br />
In einer Gesellschaft, in welcher alte Muster verschwinden<br />
<strong>und</strong> die Menschen mehr <strong>und</strong> mehr auf<br />
sich alleine gestellt sind, wächst die Rolle des<br />
sozialen Engagements eines jeden Individuums.<br />
Je früher Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche anfangen, sich<br />
sozial zu engagieren, desto selbstverständlicher<br />
werden sie soziales Engagement auch später in ihr<br />
Leben integrieren.<br />
Doch nicht nur <strong>für</strong> unsere Gesellschaft, auch <strong>für</strong><br />
die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen selbst bringt soziales<br />
Engagement viele Vorteile. In ihrem sozialen Projekt<br />
haben junge Menschen die Möglichkeit Kompetenzen<br />
zu erwerben, von denen nicht-engagierte<br />
Altersgenossen noch weit entfernt sind. Sie lernen,<br />
ein komplexes Projekt zu planen <strong>und</strong> durchzuführen,<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong> zu begeistern <strong>und</strong> zu motivieren,<br />
auf Schwierigkeiten <strong>und</strong> Probleme zu reagieren<br />
<strong>und</strong> Ideen weiterzuentwickeln.<br />
Ganze 59 Prozent <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> im Alter von 8 bis 11<br />
Jahren sind laut World Vision Kin<strong>der</strong> Studie schon<br />
einmal gesellschaftlich o<strong>der</strong> im Interesse <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r<br />
aktiv geworden sind. Bei den Jugendlichen scheint<br />
soziales Engagement einen ähnlich hohen Stel-<br />
62_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
lenwert zu haben: In <strong>der</strong> Shell-Jugendstudie 2006<br />
gaben 75 Prozent <strong>der</strong> Jugendlichen an, gelegentlich<br />
o<strong>der</strong> oft (33 Prozent) ihre Freizeit mit sozialem<br />
Engagement zu verbringen.<br />
An dieser Stelle setzt die Initiative JUGEND HILFT!<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>hilfsorganisation CHILDREN for a better<br />
World e.V. an. Sozial engagierte Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
Jugendliche können bei JUGEND HILFT! bis zu<br />
2.500 Euro jährlich <strong>für</strong> ihr soziales Projekt beantragen.<br />
Der JUGEND HILFT! Wettbewerb zeichnet<br />
die besten Projekte öffentlich aus. Workshops <strong>und</strong><br />
Tagungen unterstützen die jungen Engagierten<br />
inhaltlich bei ihrer wichtigen Arbeit.<br />
Soziales Engagement von<br />
Jugendlichen –<br />
ein Thema in <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Wahrnehmung<br />
Soziales Engagement hat Tradition, doch gerade in<br />
den letzten Jahren wurde das Thema in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
immer stärker wahrgenommen. Aktionen<br />
wie die Woche des bürgerschaftlichen Engagements,<br />
die 2008 zum vierten Mal vom B<strong>und</strong>esnetzwerk<br />
Bürgerschaftliches Engagement durchgeführt<br />
werden wird, weisen öffentlich auf die Wichtigkeit<br />
des sozialen Engagements hin <strong>und</strong> erhöhen die<br />
Sensibilität <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>für</strong> dieses Thema.<br />
Prominente Persönlichkeiten setzen sich gerne<br />
<strong>für</strong> die Sache ein: seit 2003 unterstützt die Gattin<br />
des jeweiligen B<strong>und</strong>espräsidenten JUGEND HILFT!<br />
als Schirmherrin. Bei <strong>der</strong> Preisverleihung werden
die Sieger des JUGEND HILFT! Wettbewerbs von<br />
prominenten Laudatoren geehrt. 2007 war Florian<br />
Henckel von Donnersmarck einer von ihnen. Der<br />
Oscar-Preisträger zeigte offen seine Bew<strong>und</strong>erung<br />
<strong>für</strong> die Leistungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen:<br />
„Solche Jugendlichen zeigen uns <strong>und</strong> Gleichaltrigen,<br />
dass wir wirklich die Möglichkeit haben,<br />
etwas zu verän<strong>der</strong>n.“<br />
Auch die engagierten Jugendlichen selbst können<br />
meist genau begründen, warum sie sich sozial engagieren.<br />
Die wenigsten verstehen sich dabei als<br />
Samariter, denen es einzig <strong>und</strong> allein darum geht,<br />
Gutes zu tun. Ihnen ist klar, dass sie von ihrem Engagement<br />
profitieren. JUGEND HILFT! Preisträger<br />
Cornelius Nohl, inzwischen 23 Jahre alt, engagierte<br />
sich jahrelang <strong>für</strong> das Projekt „Teens On Phone“<br />
in München. Bei „Teens On Phone“ beraten Jugendliche<br />
am Telefon ihre Altersgenossen. Inzwischen<br />
hat Cornelius in Regensburg ein ähnliches<br />
Projekt aufgebaut. Er erinnert sich gerne an seine<br />
aktiven Zeiten: „Soziales Engagement lohnt sich<br />
immer. Neben Gesprächsführung <strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit<br />
lernt man so ungeheuer viel. Vor allem<br />
sich durchzusetzen <strong>und</strong> Verantwortung zu tragen.<br />
Erfahrungen die einem die Schule gar nicht bieten<br />
kann.“<br />
Wie kann soziales Engagement<br />
von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
aussehen?<br />
Die Möglichkeiten, sich sozial zu engagieren, sind<br />
vielfältig. Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen sollte dabei<br />
viel zugetraut werden. Immer wie<strong>der</strong> bewerben<br />
sich junge Menschen mit erstaunlichen Projekten<br />
bei JUGEND HILFT!<br />
Die Schülerfirma in Freiberg (Sachsen) „Namaste<br />
Nepal“ etwa finanziert mit den Erträgen aus <strong>der</strong><br />
schuleigenen Photovoltaikanlage drei Lehrer <strong>und</strong><br />
eine Kin<strong>der</strong>gärtnerin in einem nepalesischen Dorf.<br />
Außerdem organisierten die Jugendlichen ein<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
Augencamp – 173 Nepalesen konnten vom Grauen<br />
Star befreit werden.<br />
Natürlich muss man nicht ganz so weit reisen, um<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n zu helfen. In Neuburg engagieren sich 15<br />
Jugendliche einmal pro Woche als Klinikclowns.<br />
Auf <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>station zaubern sie schwerkranken<br />
Kin<strong>der</strong>n ein Lachen ins Gesicht.<br />
Auch ganz junge Kin<strong>der</strong> können schon sozial aktiv<br />
werden: An <strong>der</strong> Regenbogenschule in Krefeld<br />
bereiten Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler <strong>der</strong> dritten <strong>und</strong><br />
vierten Klasse jeden Tag Frühstücksbrote vor – <strong>für</strong><br />
Mitschüler, die ohne Frühstück in die Schule kommen.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_63<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
An Ideen mangelt es den jungen Engagierten also<br />
wirklich nicht. Weitere inspirierende Projekte<br />
finden sich auf unserer Internetseite www.jugendhilft.de.<br />
Was versteht JUGEND HILFT!<br />
unter sozialem Engagement?<br />
Welche Projekte werden<br />
geför<strong>der</strong>t?<br />
Der JUGEND HILFT! Fonds<br />
JUGEND HILFT! för<strong>der</strong>t soziale Projekte von Jugendlichen.<br />
Unter sozialem Engagement verstehen<br />
wir, dass die ProjektteilnehmerInnen die Situation<br />
von <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Menschen in Armut, Krankheit,<br />
Not o<strong>der</strong> schwierigen Lebenslagen verbessern.<br />
Um eine För<strong>der</strong>ung zu erhalten muss das Projekt<br />
hauptsächlich von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen organisiert<br />
<strong>und</strong> durchgeführt werden. Die Arbeit an<br />
dem Projekt erfolgt ehrenamtlich.<br />
Die JUGEND HILFT! Jury entscheidet alle drei Monate<br />
über die Anträge. So können Projekte zeitnah<br />
geför<strong>der</strong>t werden.<br />
Der JUGEND HILFT! Wettbewerb<br />
Alle Projekte, die sich um eine För<strong>der</strong>ung bemühen,<br />
nehmen automatisch am JUGEND HILFT!<br />
Wettbewerb teil. Projekte, die keine finanzielle<br />
Unterstützung benötigen, können sich auch nur <strong>für</strong><br />
den Wettbewerb anmelden.<br />
Die Siegerprojekte werden von einer zehnköpfigen<br />
Jury ermittelt, <strong>der</strong> VertreterInnen aus Politik,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur angehören. Die Hälfte <strong>der</strong><br />
Juroren sind Jugendliche, die sich selbst sozial<br />
engagieren. Schließlich wissen sie am besten, was<br />
es bedeutet, ein soziales Projekt erfolgreich umzusetzen.<br />
64_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Die Jury bewertet die Projekte dabei nach folgenden<br />
Kriterien:<br />
• Beteiligung von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche im Alter von sechs<br />
bis 21 Jahre sind am Projekt maßgeblich beteiligt.<br />
Es ist „ihre" Idee, die sie gemeinsam<br />
verwirklichen. Das Projekt wird nicht von Erwachsenen<br />
dominiert, <strong>der</strong>en Rolle eher in <strong>der</strong><br />
Betreuung <strong>und</strong> einer kompetenten Begleitung<br />
liegt.<br />
• Wirksamkeit<br />
Das Projekt ist bereits in die Praxis umgesetzt<br />
worden. Dort hat es seine Wirksamkeit unter<br />
Beweis gestellt <strong>und</strong> die Situation zum Besseren<br />
verän<strong>der</strong>t. Es entspricht den konkreten Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> Zielgruppe.<br />
• Kreativität<br />
Die TeilnehmerInnen haben sich eine beson<strong>der</strong>e<br />
Idee einfallen lassen, um ihre Ziele zu erreichen.<br />
Ihre ungewöhnliche <strong>und</strong> kreative Lösung<br />
unterscheidet sich von <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n, ähnlichen <strong>und</strong><br />
bereits bekannten Projekten.<br />
• Persönlicher Einsatz<br />
Der außergewöhnliche Einsatz <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
prägt das Projekt von <strong>der</strong> Idee bis zur Umsetzung.<br />
Wie kann ich <strong>mich</strong> bei<br />
JUGEND HILFT! bewerben?<br />
Was erwartet <strong>mich</strong>?<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche, die sich bei JUGEND<br />
HILFT! bewerben wollen, besuchen am besten<br />
zuerst die Internetseite: www.jugend-hilft.de. Hier<br />
kann <strong>der</strong> Antrag online ausgefüllt <strong>und</strong> gesendet<br />
werden. Zur endgültigen Bestätigung des Antrags<br />
muss dieser ausgedruckt <strong>und</strong> in vierfacher Ausführung<br />
an uns geschickt werden. JUGEND HILFT!<br />
nimmt mit allen Bewerbern Kontakt auf – egal,
ob ihr Projekt geför<strong>der</strong>t wird o<strong>der</strong> nicht. Auch<br />
wenn die Jury eine För<strong>der</strong>ung ablehnt, bekommen<br />
die Jugendlichen ein Feedback <strong>und</strong> Tipps, wo<br />
sie sich noch um eine För<strong>der</strong>ung bemühen könnten.<br />
Ein Projekt kann bis zu 2.500 Euro von JUGEND<br />
HILFT! bekommen. Die acht besten Projekte dürfen<br />
am JUGEND HILFT! Camp teilnehmen, welches<br />
einmal im Jahr stattfindet. Im Rahmen des Camps<br />
werden die Siegerprojekte bei einer feierlichen<br />
Preisverleihung geehrt. Auch ein Empfang bei <strong>der</strong><br />
Schirmherrin Eva Luise Köhler im Schloss Bellevue<br />
steht auf dem Programm. Neben diesen Feierlichkeiten<br />
werden die Jugendlichen von Profis<br />
gecoacht: Themen wie Projektmanagement <strong>und</strong><br />
F<strong>und</strong>raising<br />
werden in<br />
Workshops erarbeitet<br />
<strong>und</strong> ermöglichen<br />
den<br />
Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />
Jugendlichen,<br />
ihr Projekt<br />
weiterzuentwickeln.<br />
Die Siegerprojekte<br />
spiegeln<br />
die Vielfalt<br />
<strong>der</strong> Bewerber<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
wi<strong>der</strong>. So unterstützt JUGEND HILFT! schon seit<br />
Jahren ein Team von Jugendlichen aus Dettingen,<br />
die komplett in Eigenregie ein Wasserkraftwerk in<br />
Rumänien bauen. Das Kraftwerk wird Strom liefern<br />
<strong>für</strong> eine Ausbildungswerkstatt <strong>für</strong> benachteiligte<br />
Jugendliche. Von Anfang an mit dabei war Martin<br />
Werz (21): „JUGEND HILFT! hat unser Projekt von<br />
Anfang an unterstützt <strong>und</strong> jetzt noch ausgezeichnet.<br />
Das ist schon toll!“<br />
Ein weiteres Beispiel ist die Nussaktion: Vier<br />
Geschwister zwischen sechs <strong>und</strong> zehn Jahren<br />
sammelten <strong>und</strong> verkauften 55 Kilogramm Walnüsse.<br />
Den Erlös spendeten sie <strong>der</strong> Stiftung SOS Familie.<br />
Als jüngste Preisträger war das JUGEND HILFT!<br />
Camp <strong>für</strong> sie eine beson<strong>der</strong>e Erfahrung. Dominik<br />
(7) „Beson<strong>der</strong>s toll fand ich die Fahrten mit dem<br />
Doppeldecker!“<br />
Im Projekt Kehrtwende aus Kehl befassen sich Ju -<br />
gendliche mit den Problemen straffällig gewordener<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_65<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
Kin<strong>der</strong>. Auch<br />
die Schüler-<br />
Richter haben<br />
von ihrer<br />
Bewerbung bei<br />
JUGEND HILFT!<br />
profitiert. Sophie<br />
von Lossau<br />
(17) gefiel<br />
beson<strong>der</strong>s das<br />
Workshop-Programm:<br />
„Das<br />
hat riesigen<br />
Spaß gemacht <strong>und</strong> uns <strong>für</strong> unser Projekt richtig<br />
viel gebracht!“<br />
Verschiedenheit ist bei<br />
JUGEND HILFT! Programm<br />
Die Idee des sozialen Engagements findet sich in<br />
allen Weltreligionen wie<strong>der</strong>. Hinter einigen <strong>der</strong> von<br />
JUGEND HILFT! geför<strong>der</strong>ten Projekte steht auch<br />
eine religiöse Motivation.<br />
<strong>Für</strong> die Bewerbung bei JUGEND HILFT! spielt das<br />
allerdings keine Rolle. Genauso verschieden wie<br />
die Projekte sind auch die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />
Gemeinsam ist ihnen ihr Wille, <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Menschen zu helfen.<br />
Wie kann ich <strong>mich</strong> als Jugendlicher<br />
sozial engagieren?<br />
Zum sozialen Engagement kommen Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
Jugendliche auf vielen Wegen: durch ein Schulprojekt,<br />
über Fre<strong>und</strong>e, die Kirche o<strong>der</strong> einen Verein.<br />
Nicht selten ergeben sich diese Wege eher zufällig.<br />
Doch was tun, wenn <strong>der</strong> Wunsch da ist, sich sozial<br />
zu engagieren, nicht aber die Idee? Am besten ist<br />
es in so einer Situation, sich erst einmal zu fragen,<br />
was man selbst am besten kann <strong>und</strong> was man gerne<br />
macht. Arbeite ich gerne direkt mit Menschen?<br />
66_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Habe ich Verkaufstalent? Macht es mir Spaß, etwas<br />
zu organisieren? Will ich alleine arbeiten o<strong>der</strong><br />
lieber im Team?<br />
Im nächsten Schritt lohnt es sich, in <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
Umgebung Ausschau zu halten nach Problemen,<br />
die gelöst werden wollen. Gibt es zum<br />
Beispiel ein Altenheim in <strong>der</strong> Nähe, in dem viele<br />
Bewohner ohne Angehörige leben? O<strong>der</strong> eine Schule,<br />
in <strong>der</strong> viele Migrantenkin<strong>der</strong> Schwierigkeiten<br />
haben mit <strong>der</strong> deutschen Sprache? Gibt es zurzeit<br />
eine Krisenregion, in <strong>der</strong> Menschen dringend Hilfe<br />
benötigen? Und schließlich: Wie kann ich dieses<br />
Problem mit meinen Fähigkeiten am besten lösen?<br />
Nicht zuletzt lohnt es sich, zu prüfen, wie <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
vorher ähnliche Problemstellungen angegangen<br />
sind. Im Internet finden sich viele Beispiele <strong>für</strong> erfolgreiche<br />
soziale Projekte. Auf www.jugend-hilft.<br />
de sind alle geför<strong>der</strong>ten Projekte mit Kontaktdaten<br />
aufgelistet. Auch <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Organisationen bieten<br />
Hilfestellung an (siehe Materialien <strong>und</strong> Literatur).<br />
Letztendlich muss man nur eines: anfangen.<br />
Studien<br />
Studien <strong>und</strong> Initiativen<br />
• World Vision – Die Studie<br />
www.worldvisionkin<strong>der</strong>studie.de<br />
• Shell Jugendstudie 2006<br />
www.shell.com/home/content/de-de/society_<br />
environment/jugendstudie/2006/dir_jugendstudie.html<br />
Initiativen<br />
• Engagement macht stark<br />
www.engagement-macht-stark.de<br />
• JUGEND HILFT! - Projektideen <strong>und</strong> Kontaktbörse<br />
www.jugend-hilft.de
• Jugendpresse - Tipps <strong>und</strong> Workshopangebote<br />
zum Thema Pressearbeit<br />
www.jugendpresse.org<br />
• Servicestelle Jugendbeteiligung – Praxistipps,<br />
Checklisten von F<strong>und</strong>raising bis Projektmanagement<br />
www.jugendbeteiligung.info<br />
• Step 21 Jugendinitiative – Praxisideen <strong>und</strong> Tipps<br />
www.step21.de<br />
Clarissa Schöller<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_67<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
helfen ist die schönste Sache <strong>der</strong> Welt. Finden wir auch!<br />
68_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
›› „Das Wichtigste<br />
am Projekt ist –<br />
das Projekt”????
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
Mit diesem Satz warb vor einigen Jahren eine<br />
große Baumarktkette. Er könnte <strong>für</strong> einige Maßnahmen<br />
stehen, die mit ähnlicher Intention an<br />
verschiedenen Orten <strong>und</strong> mit unterschiedlichen<br />
Zielgruppen in unserer Landeskirche durchgeführt<br />
werden.<br />
Vorgestellt werden sollen<br />
• Arbeitsseminare des Ev. Stadtjugenddienstes<br />
Bremerhaven im Ev.-luth. Freizeitheim Drangstedt<br />
<strong>und</strong> im Ev. Jugendhof Spiekeroog<br />
• Arbeitsseminare des Ev.-luth. Landesjugenddienstes<br />
e.V. im Ev. Jugendhof Sachsenhain in<br />
Verden<br />
• Praxisseminare <strong>der</strong> Ev. SchülerInnenarbeit<br />
Allen Projekten gemeinsam ist die Absicht, auch<br />
Jugendliche <strong>und</strong> junge Erwachsene zu erreichen,<br />
die sich von (Bildungs-)Maßnahmen mit überwiegend<br />
kognitiven Zugängen nicht o<strong>der</strong> nur begrenzt<br />
ansprechen lassen. „Arbeit“ <strong>und</strong> „Seminar“ machen<br />
gleichzeitig deutlich, dass Bildung gewollt<br />
ist <strong>und</strong> Arbeit nicht lediglich zur Legitimation<br />
gemeinsam verlebter Zeit dient. Lust am gemeinsamen<br />
Leben <strong>und</strong> am Spaß miteinan<strong>der</strong>, Stolz auf<br />
die eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Lernerfolge sollen<br />
ernst genommen werden <strong>und</strong> möglicherweise Ausgangspunkt<br />
<strong>für</strong> weitere Kontakte o<strong>der</strong> sogar ein<br />
Engagement sein.<br />
70_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Nicht nur mit dem Kopf arbeiten<br />
• Arbeitsseminare im Ev.-luth. Freizeitheim<br />
Drangstedt <strong>und</strong> im Ev. Jugendhof Spiekeroog<br />
„Sehen, was man geschafft hat.“ - „Mit Hand<br />
<strong>und</strong> Fuß arbeiten.“ - „Erschöpft <strong>und</strong> zufrieden<br />
einschlafen.“ - „Die Bereitschaft gegenseitig von<br />
einan<strong>der</strong> zu lernen.“<br />
Diese Aussagen stammen von Teilnehmern<br />
<strong>und</strong> Teilnehmerinnen von Arbeitsseminaren in<br />
Drangstedt <strong>und</strong> Spiekeroog. Seit 16 Jahren<br />
führt die Evangelische Jugend Bremerhaven<br />
Arbeitsseminare auf dem Gelände des Ev.-luth.<br />
Freizeitheims in Drangstedt <strong>und</strong> seit 2006 auch<br />
im Ev. Jugendhof auf Spiekeroog durch. Diese<br />
Seminare umfassen umfangreiche Maler- <strong>und</strong>
Renovierungsarbeiten, Entrümpelungsaktionen,<br />
Pflaster- <strong>und</strong> Schweißarbeiten, kleine Reparaturen<br />
bis hin zu aufwendigen Tischler- <strong>und</strong> Zimmermannsarbeiten.<br />
Die Teilnehmenden lernen dabei den richtigen Umgang<br />
mit elektrischen <strong>und</strong> mechanischen Werkzeugen<br />
<strong>und</strong> Geräten.<br />
Sie erlernen die Bearbeitung <strong>und</strong> Pflege verschiedener<br />
Werkstoffe wie Holz <strong>und</strong> Metall sowie die<br />
Verarbeitung unterschiedlicher Baustoffe. Sie<br />
erwerben sich dabei handwerkliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse.<br />
Die Arbeit erzeugt körperliche <strong>und</strong> seelische<br />
Befriedigung.<br />
Jugendliche mit einer handwerklichen Ausbildung<br />
geben ihre Kenntnisse an Schüler weiter. Haupt-<br />
o<strong>der</strong> Realschüler werden dadurch plötzlich<br />
zu Fachleuten, zu „Profis“, zu Anleitern in <strong>der</strong><br />
Gruppe <strong>der</strong> Ehrenamtlichen. Sie erfahren beson<strong>der</strong>e<br />
Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung. Dies<br />
stärkt das Selbstbewusstsein <strong>und</strong> verän<strong>der</strong>t ihren<br />
Status in <strong>der</strong> Gruppe. <strong>Für</strong> viele ist es das erste<br />
Mal, dass sie ein Zimmer renovieren o<strong>der</strong> mit<br />
elektrischen Werkzeugen arbeiten. Dabei kann<br />
auch mal leicht etwas schief gehen, <strong>und</strong> sie lernen<br />
dann, wie <strong>der</strong> Schaden wie<strong>der</strong> beseitigt werden<br />
kann.<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
Das gemeinsame Arbeiten schafft eine beson<strong>der</strong>e<br />
Verbindung, eine Identifikation mit dem Gelände,<br />
<strong>der</strong> Einrichtung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Natur. Eine Motivation ist,<br />
nicht nur mit dem Kopf arbeiten zu müssen, son<strong>der</strong>n<br />
mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n gemeinsam etwas zu schaffen.<br />
Ein o<strong>der</strong> mehrere klare Ziele, die es zu erreichen<br />
gilt, ist <strong>für</strong> viele Jugendliche immer wie<strong>der</strong> ein<br />
weiterer Anreiz an den Seminaren teilzunehmen.<br />
<strong>Für</strong> alle Teilnehmenden <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Leitung eines<br />
solchen Seminars stellt sich die Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
da<strong>für</strong> bereit sein zu müssen gleichzeitig Lehren<strong>der</strong><br />
<strong>und</strong> Lernen<strong>der</strong> zu sein.<br />
Über das gemeinsame praktische Tun bieten<br />
Arbeitseminare die Möglichkeit, sich mit verschiedenen<br />
Fragestellungen <strong>und</strong> Interaktionsübungen<br />
auseinan<strong>der</strong> zu setzen. Als beson<strong>der</strong>s gewinnbringend<br />
haben sich hier Fragestellungen betreffs individueller<br />
Zukunftsplanung erwiesen:<br />
• Welche Rolle spielt Arbeit in meinem bisherigen<br />
Leben?<br />
• Wie sieht meine berufliche Planung <strong>für</strong> die<br />
nächsten zwei Jahre aus?<br />
• Was will ich mit meinem Leben anfangen?<br />
Aber auch die Reflexion <strong>der</strong> eigenen Fähigkeiten<br />
bietet sich an:<br />
• Was habe ich Neues auf diesem Seminar gelernt?<br />
• Habe ich neue Fertigkeiten erlernt?<br />
• Was kann ich schon <strong>und</strong> was möchte ich mir<br />
noch aneignen?<br />
• Bin ich stolz auf das, was ich erreicht habe ?<br />
Das Zusammenspiel von praktischen Tätigkeiten,<br />
<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung damit <strong>und</strong> die Bedeutung<br />
<strong>für</strong> die persönliche Lebensentwicklung ist <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e<br />
Reiz von Arbeitsseminaren.<br />
<strong>Für</strong> Arbeitsseminare bieten sich auch Kooperationen<br />
mit Berufsschulen <strong>und</strong> überbetrieblichen<br />
Ausbildungsstätten an, um so den Jugendlichen<br />
einen beson<strong>der</strong>en Einsatzort zu ermöglichen.<br />
Dabei können sie an Orte zurück kommen, die sie<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_71<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
als Kin<strong>der</strong> schon durch Freizeitmaßnahmen kennen<br />
gelernt haben o<strong>der</strong> sie lernen Stätten mit dem<br />
beson<strong>der</strong>en Flair <strong>der</strong> evangelischen Jugendarbeit<br />
kennen.<br />
<strong>Für</strong> verschiedene begleitende Methoden als beson<strong>der</strong>en<br />
Literaturhinweis:<br />
• Sabine Fritz <strong>und</strong> Peter H. Ebner: Berufswahl<br />
(Das will ich – das kann ich – das mach ich, Lebensplanung<br />
spielerisch ausprobieren), Verlag<br />
an <strong>der</strong> Ruhr 2007, ISBN: 13: 978-3-8346-0026-4<br />
Andreas Hagedorn, Daniel Tietjen, Joachim Neumann-Borutta<br />
Stadtjugenddiakone im Kirchenkreis Bremerhaven<br />
Arbeitsseminare<br />
im Ev. Jugendhof Sachsenhain<br />
Begründet vom ehemaligen Landesjugendwart<br />
Hans Schink finden jedes Jahr in den Oster- <strong>und</strong><br />
Herbstferien seit 1964 einwöchige „Arbeitsseminare“<br />
auf dem Gelände des Ev. Jugendhofs Sachsenhain<br />
statt. Zwischen 15 <strong>und</strong> 25 Teilnehmende melden<br />
sich dazu jedes Mal an. Es ist eine bunt gemischte<br />
Gruppe von Menschen zwischen 15 <strong>und</strong> 35 Jahren,<br />
Schüler, Auszubildende, Handwerker, Studierte,<br />
Ungelernte <strong>und</strong> Meister. Wer zum ersten Mal kommt,<br />
ist oft irritiert von den „Selbstverständlichkeiten“<br />
72_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
<strong>der</strong> „alten Hasen“, vom Reden über Projekte <strong>der</strong><br />
letzten Jahre, über Kenntnisse von Kleinigkeiten<br />
auf dem Gelände <strong>und</strong> über Personen. Nach einer<br />
Woche gemeinsamen Lebens <strong>und</strong> Arbeitens reden<br />
die meisten genauso. Viele sind über etliche Jahre<br />
dabei, nehmen Urlaub, um teilnehmen zu können.<br />
Arbeitsseminare sind keine reine Männerdomäne,<br />
auch wenn Frauen in geringerer Zahl dabei sind.<br />
Angeleitet werden die Teilnehmenden von Hauptberuflichen,<br />
die über ihre eigene Verb<strong>und</strong>enheit<br />
zum Jugendhof auch <strong>für</strong> eine Kontinuität <strong>der</strong> Maßnahmen<br />
sorgen.<br />
Im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> stehen Arbeiten auf dem Gelände<br />
<strong>und</strong> an den Gebäuden des Jugendhofs. Die <strong>Band</strong>breite<br />
reicht von Waldpflege- <strong>und</strong> Pflanzmaßnahmen<br />
über Renovierungen an Wegen <strong>und</strong> Gebäuden<br />
bis zu Baumaßnahmen, vorwiegend im Außenbereich.<br />
So wurden in den letzten Jahren die Zuwege<br />
zur Kapelle gepflastert, das Sanitärgebäude am<br />
Zeltplatz gr<strong>und</strong>legend renoviert, Außenanstriche<br />
an den Häusern vorgenommen, Palisadenwände<br />
erneuert. Der R<strong>und</strong>weg um das Gelände for<strong>der</strong>t<br />
ständig das Ausforsten <strong>und</strong> Bergen von Totholz,<br />
Sichern <strong>und</strong> Aufstellen von Steinen, Laub entfernen<br />
<strong>und</strong> Wege ausbessern, Brücken <strong>und</strong> Zäune<br />
reparieren, Pflanzungen pflegen. Nicht je<strong>der</strong> fühlt<br />
sich je<strong>der</strong> Aufgabe gewachsen, aber durch fachmännische<br />
Anleitung kann das Zutrauen auch<br />
zu schwierigeren Aufgaben wachsen, sei es das<br />
Bedienen von Werkzeugen <strong>und</strong> Maschinen o<strong>der</strong><br />
die Erfahrung, eng gesteckte Leistungsgrenzen<br />
überschritten zu haben.<br />
Neben <strong>der</strong> 6 – 8-stündigen Arbeit in <strong>der</strong> Natur in<br />
kleinen Arbeitsteams darf <strong>der</strong> gesellige Teil des<br />
Tages natürlich nicht zu kurz kommen. Beim Spielen,<br />
beim gemeinsamen Singen o<strong>der</strong> Abhängen<br />
vor dem Kamin o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Feuerhütte finden viele<br />
Gespräche statt, <strong>für</strong> die am Tag <strong>der</strong> Rahmen fehlte:<br />
vom Beziehungsstress über Berufsperspektiven<br />
bis zu <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n ganz persönlichen Dingen hat hier<br />
vieles Platz <strong>und</strong> Raum.
Wer nach einer Woche wegfährt, hinterlässt etwas:<br />
eine Reparatur, eine Brennholzmiete, eine<br />
Pflanzung, etwas Gebautes o<strong>der</strong> Aufgeräumtes.<br />
Viele kommen wie<strong>der</strong>, entdecken die Spuren<br />
vergangener Arbeitsseminare, entwickeln eine<br />
Verb<strong>und</strong>enheit, die <strong>für</strong> etliche auch zu einem Stück<br />
Heimat geworden ist.<br />
Praxisseminare im Ev. Jugendhof<br />
Sachsenhain<br />
Nach gemeinsamen Seminaren mit <strong>der</strong> Ev. SchülerInnenarbeit<br />
im Ev. Jugendhof Sachsenhain entstand<br />
bei verschiedenen Lehrkräften die Frage: „Kann<br />
man an solch einem Ort nicht verschiedene Dinge<br />
zusammenbringen?“ Die verschiedenen Dinge sind<br />
schnell definiert: berufsbildende Schulen suchen<br />
gern nach Praxisfel<strong>der</strong>n <strong>für</strong> ihre SchülerInnen,<br />
die außerhalb <strong>der</strong> Schule stattfinden. Außerdem<br />
besteht häufig das Interesse, SchülerInnen im Bereich<br />
sozialen Lernens <strong>und</strong> ihrer Werteorientierung<br />
zu för<strong>der</strong>n, was sich ja auch positiv auf das Zusammenleben<br />
in <strong>der</strong> Schule auswirken kann. Dies<br />
führte zu verschiedenen „Praxisseminaren“, die<br />
eine Mischung aus diesen Elementen vereinigen.<br />
Lehrkräfte entwickeln mit interessierten SchülerInnen<br />
zunächst einen Vorschlag <strong>für</strong> ein Projekt,<br />
das handwerklich im Jugendhof umgesetzt werden<br />
soll, immer orientiert an den Fähigkeiten <strong>der</strong><br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
jeweiligen SchülerInnen. Ganz wie im Berufsalltag<br />
müssen K<strong>und</strong>enwünsche erfragt <strong>und</strong> Entwürfe<br />
vorgelegt, Arbeitszeiten <strong>und</strong> –umfang geklärt,<br />
Material <strong>und</strong> Werkzeuge bestellt bzw. organisiert<br />
werden. Fachpraxislehrkräfte unterstützen diesen<br />
Prozess.<br />
Neben den Arbeitsphasen von jeweils ca. 6 - 7<br />
St<strong>und</strong>en Dauer pro Tag muss auch das Freizeitprogramm<br />
abgestimmt werden. Angebote <strong>der</strong><br />
SchülerInnenarbeit stehen dabei ebenso auf dem<br />
Plan wie von den Jugendlichen selbst organisierte<br />
Programmpunkte. Tägliche Arbeitsplanungen<br />
<strong>und</strong> –reflexionen tauchen ebenso im Tagesablauf<br />
auf wie meditative Tagesimpulse o<strong>der</strong> ein Tagesschluss.<br />
Die meisten SchülerInnen geniessen zunächst<br />
einmal die Perspektive, eine Woche lang nicht in<br />
den schulischen Räumen zu sein. Dazu kommt die<br />
(häufig einmalige) Gelegenheit, Werkstücke in größeren<br />
Dimensionen zu bearbeiten. <strong>Für</strong> Schüler in<br />
<strong>der</strong> Farb- <strong>und</strong> Raumgestaltung bedeutet dies z.B.,<br />
nicht in einer kleinen Koje arbeiten zu müssen,<br />
son<strong>der</strong>n z.B. auf viele Quadratmeter Wandfläche<br />
zu treffen, die nicht sofort bearbeitbar sind <strong>und</strong><br />
die mitten im Wohnbereich des „K<strong>und</strong>en“ liegen,<br />
also an<strong>der</strong>s als eine Werkstatt behandelt werden<br />
müssen. Das fertige Produkt bleibt nach Fertigstellung<br />
zumindest <strong>für</strong> längere Zeit erhalten <strong>und</strong> dient<br />
nicht ausschließlich <strong>der</strong> Beurteilung durch die<br />
Lehrkräfte.<br />
Im Laufe <strong>der</strong> Woche entdecken viele SchülerInnen<br />
ihre Talente, aber auch Grenzen, an denen sie arbeiten<br />
o<strong>der</strong> die sie Stück <strong>für</strong> Stück annehmen lernen.<br />
Die Arbeit im Team unterscheidet sich von <strong>der</strong><br />
individuellen Arbeit im Fachpraxisunterricht <strong>und</strong><br />
hilft oft, Arbeit talentorientiert aufzuteilen. Unvermeidliche<br />
Konflikte müssen bearbeitet werden,<br />
um das Projekt voranzubringen. Häufig wächst <strong>der</strong><br />
Mut, selbstkritisch seine Arbeit <strong>und</strong> sein Verhalten<br />
in <strong>der</strong> Gruppe zu betrachten.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_73<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
Gemeinschaftliche Aktionen im Gelände, im<br />
Schwimmbad o<strong>der</strong> abends am Lagerfeuer o<strong>der</strong><br />
beim Spielen verbinden über die Erfahrungen<br />
des Tages hinaus. Viele entdecken den Sachsenhain<br />
auch als einen geschichtsträchtigen Ort,<br />
<strong>der</strong> provoziert <strong>und</strong> Fragen aufwirft. Lehrkräfte<br />
genießen es, überwiegend <strong>für</strong> die fachliche Begleitung<br />
<strong>der</strong> Projekte, nicht aber <strong>für</strong> das gesamte<br />
Programm zuständig sein zu müssen, auch wenn<br />
die Breite <strong>der</strong> vorhandenen Freizeitangebote am<br />
Abend überschaubar ist („Verden unterscheidet<br />
sich da eben doch etwas von Berlin…“). Hier setzt<br />
aber schnell die Selbstorganisation <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
ein.<br />
74_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Viele Lehrer kommen nach einem Projekt wie<strong>der</strong>,<br />
mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Schülern <strong>und</strong> <strong>für</strong> neue Projekte. Die<br />
wird es sicherlich auch künftig geben, denn wer<br />
hinschaut, findet viele Aufgaben, die im Alltag einfach<br />
liegen bleiben o<strong>der</strong> hinten angestellt werden<br />
Welche Erfahrungen <strong>und</strong> Eindrücke sind Schülern<br />
wichtig?<br />
„Ich habe mal etwas Größeres fertig gekriegt <strong>und</strong><br />
gemerkt, dass ich das auch schaffe.“<br />
„Wir waren ein richtig gutes Team.“<br />
„Es war gut, auch von Mitschülern etwas Positives<br />
über meine Arbeit zu hören.“<br />
„Da bleibt was, das nicht gleich wie<strong>der</strong> abgerissen<br />
wird <strong>und</strong> von dem auch <strong>an<strong>der</strong>e</strong> was haben.“<br />
„Ich war selten so platt, aber das war auch ein<br />
gutes Gefühl, weil ich was geschafft habe.“<br />
„Ich habe die <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n aus <strong>der</strong> Klasse über die<br />
Arbeit <strong>und</strong> die Freizeit ganz an<strong>der</strong>s <strong>und</strong> besser<br />
kennen gelernt. Unsere Lehrer übrigens auch!“<br />
Was sagen Lehrkräfte nach einer Woche?<br />
„Ich habe viele Schüler ganz an<strong>der</strong>s erlebt als in<br />
<strong>der</strong> Schule. Einigen hätte ich ein so hohes Engagement<br />
nicht zugetraut, <strong>an<strong>der</strong>e</strong> habe ich überschätzt.“<br />
„<strong>Für</strong> viele war dies <strong>der</strong> erste Kontakt mit „echten<br />
K<strong>und</strong>en“. Da zählt dann nicht nur die Lehrermeinung<br />
<strong>und</strong> –kritik.“<br />
„Es macht Spaß zuzusehen, wie einige Schülerinnen<br />
richtig Ehrgeiz auch <strong>für</strong> Kleinigkeiten entwickeln.“<br />
„Die meisten haben wirklich etwas zu erzählen<br />
nach dieser Woche.“<br />
„Solche Möglichkeiten, gemeinsam ein großes<br />
Projekt fertig zu stellen, gibt es in <strong>der</strong> Schule zu<br />
wenig.“<br />
Wie erleben Mitarbeitende <strong>der</strong> SchülerInnenarbeit<br />
diese Wochen?<br />
Viele Jugendliche wollen sich engagieren – mit<br />
dem was sie können. Und sie wollen etwas <strong>für</strong><br />
sich gewinnen. Beides ist durch die Praxisprojekte
möglich: die Schüler bringen ihre Fachkenntnisse<br />
<strong>und</strong> Fertigkeiten ein in einen Bereich, den <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
Jugendliche nutzen. Gleichzeitig können sie an<br />
den gemeinsamen Erfahrungen wachsen <strong>und</strong> ein<br />
Teamprodukt hinterlassen, das ihnen den Ort ein<br />
Stück näher bringt. Im Ablauf <strong>der</strong> Woche gibt es<br />
viele Möglichkeiten, Entscheidungen mit zu treffen<br />
<strong>und</strong> zu verantworten. Jugendliche, denen verbandliche<br />
o<strong>der</strong> kirchliche Jugendarbeit bisher fremd<br />
war, erleben einen Ort, an dem sich Jugendarbeit<br />
ereignet – mit ihnen <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n, die gleichzeitig<br />
hier sind. In dieser Situation entstehen auch häufig<br />
sehr tiefgehende Gespräche, <strong>für</strong> die <strong>der</strong> Schulalltag<br />
wenig Raum bietet. Dabei wird deutlich, wie<br />
wichtig auch die Zeit <strong>für</strong> die informellen Kontakte<br />
ist <strong>und</strong> dass diese Maßnahmen eine pädagogische<br />
Begleitung brauchen. Die Projekte zeigen, dass<br />
kirchliche Jugendarbeit Handlungsfel<strong>der</strong> anbieten<br />
kann, in denen sich auch Jugendliche wie<strong>der</strong>finden,<br />
denen viele etablierte Angebote evangelischer<br />
Jugend fremd sind. Sie werden nicht zum<br />
Massenandrang auf kirchliche Gruppen führen,<br />
aber die Mauern möglicherweise niedriger werden<br />
lassen, die den Blick auf ein Engagement in <strong>der</strong><br />
Jugendarbeit verstellen. Schulen, genauer gesagt:<br />
Lehrer, sind dabei wichtige Kooperationspartner<br />
in <strong>der</strong> Umsetzung. Alle Beteiligten – Jugendliche,<br />
Jugendverband <strong>und</strong> Schule – profitieren von den<br />
Projekten. Da sage noch einer, dass es Wichtigeres<br />
als das Projekt gibt ….<br />
Thomas Ringelmann<br />
„Das Wichtigste am Projekt ist – das Projekt”????<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_75<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
3. TEIl:<br />
lERNEN …<br />
IN DER GRUPPE
›› „Wer einmal aus<br />
dem Blechnapf frisst”<br />
Arbeiten in <strong>der</strong> Jugend-<br />
arrestanstalt Nienburg
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst”<br />
Vielen <strong>der</strong> Älteren ist dieser Romantitel von Hans<br />
Fallada sicher noch bekannt. Der Roman schil<strong>der</strong>t<br />
das Leben des Willi Kufalt, <strong>der</strong>, einmal mit dem<br />
Gesetz in Konflikt gekommen, immer wie<strong>der</strong> „auf<br />
die schiefe Bahn gerät“ <strong>und</strong> aus einem Teufelskreis<br />
von Problemen nicht herausfindet. Ein Buch,<br />
das sicher vielen Jugendlichen, die mit dem Gesetz<br />
in Konflikt geraten sind, aus <strong>der</strong> Seele sprechen<br />
könnte, wenn sie es denn gelesen hätten.<br />
Auch heute sind in unserer so freizügigen <strong>und</strong><br />
demokratischen Gesellschaft Stigmatisierung,<br />
Vorurteile <strong>und</strong> Vorbehalte gegenüber jugendlichen<br />
Straftätern vorhanden. Die Frage, die sich mir dabei<br />
stellt, lautet: „Wollen wir diesen Jugendlichen<br />
(in welcher Form auch immer) wirklich helfen o<strong>der</strong><br />
sperren wir sie nur einfach weg?“<br />
Im folgenden Beitrag möchte ich einige gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Dinge zum Jugendarrest sagen <strong>und</strong> von<br />
meinen Erfahrungen <strong>und</strong> meiner Arbeit im Jugendarrest<br />
Nienburg berichten.<br />
Die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage<br />
Jugendarrest<br />
aus Wikipedia, <strong>der</strong> freien Enzyklopädie<br />
Jugendarrest ist ein im deutschen Jugendstrafrecht<br />
vorgesehenes Zuchtmittel (§ 16 JGG), das als<br />
Freizeitarrest, Kurzarrest o<strong>der</strong> Dauerarrest verhängt<br />
wird.<br />
Der Freizeitarrest erstreckt sich auf die wöchentliche<br />
Freizeit des Jugendlichen <strong>und</strong> wird auf eine<br />
o<strong>der</strong> zwei Freizeiten bemessen.<br />
Der Kurzarrest wird statt des Freizeitarrestes<br />
verhängt, wenn dies aus Erziehungsgründen zweckmäßig<br />
ist <strong>und</strong> Ausbildung o<strong>der</strong> Arbeit des Jugendlichen<br />
nicht beeinträchtigt werden. Zwei Tage<br />
Kurzarrest entsprechen einer Freizeit. Der Freizeitarrest<br />
wird auch "Wochenendarrest" genannt.<br />
78_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Der nach vollen Tagen o<strong>der</strong> Wochen zu bemessende<br />
Dauerarrest beträgt mindestens eine Woche<br />
<strong>und</strong> höchstens vier Wochen.<br />
Der Jugendarrest kann nicht zur Bewährung ausgesetzt<br />
werden.<br />
Nach § 90 JGG soll <strong>der</strong> Jugendarrest im Jugendlichen<br />
das Ehrgefühl wecken <strong>und</strong> ihm ins Bewusstsein<br />
bringen, dass er <strong>für</strong> das von ihm begangene<br />
Unrecht einstehen muss. Der Jugendarrest wird in<br />
Jugendarrestanstalten vollzogen.<br />
Abweichend von § 16 JGG kann <strong>der</strong> Jugendarrest<br />
auch gemäß § 11 Abs. 3 JGG verhängt werden,<br />
wenn <strong>der</strong> Jugendliche den Weisungen des Jugendrichters<br />
nicht nachkommt. Dies wird als Ungehorsamsarrest<br />
bezeichnet.<br />
Vollstreckt wird Jugendarrest in speziellen Jugendarrestanstalten<br />
unter beson<strong>der</strong>en jugendgerechten<br />
Bedingungen. Zu unterscheiden davon<br />
sind die Jugendanstalten, in denen Jugendstrafen<br />
(Jugendfreiheitsstrafen von 6 Monaten bis<br />
10 Jahren) vollstreckt werden, auch wenn Jugendanstalten<br />
<strong>und</strong> Jugendarrestanstalten oft<br />
organisatorisch <strong>und</strong> teilweise auch baulich zusammenhängen.<br />
§ 90 JGG<br />
Jugendarrest<br />
(1) Der Vollzug des Jugendarrestes soll das Ehrgefühl<br />
des Jugendlichen wecken <strong>und</strong> ihm eindringlich<br />
zum Bewusstsein bringen, dass er <strong>für</strong> das von<br />
ihm begangene Unrecht einzustehen hat. Der<br />
Vollzug des Jugendarrestes soll erzieherisch<br />
gestaltet werden. Er soll dem Jugendlichen helfen,<br />
die Schwierigkeiten zu bewältigen, die zur<br />
Begehung <strong>der</strong> Straftat beigetragen haben.<br />
(2) Der Jugendarrest wird in Jugendarrestanstalten<br />
o<strong>der</strong> Freizeitarresträumen <strong>der</strong> Landesjustiz-
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
verwaltung vollzogen. Vollzugsleiter ist <strong>der</strong><br />
Jugendrichter am Ort des Vollzugs.<br />
Das JGG sieht in § 16 eine Unterscheidung von<br />
Freizeit-, Kurz- <strong>und</strong> Dauerarrest vor:<br />
Freizeitarrest: Ein o<strong>der</strong> zwei Arrest(e) von<br />
jeweils 48 St<strong>und</strong>en Dauer.<br />
Aufnahmetag ist Freitag.<br />
Kurzarrest: Zwei o<strong>der</strong> vier Tage.<br />
Aufnahmetag ist Freitag.<br />
Dauerarrest: Eine bis maximal vier Wochen<br />
Dauer.<br />
Aufnahmetage: Montag o<strong>der</strong><br />
Freitag<br />
Jugendarrest in Nienburg<br />
Im Jahre 1812 wurde in Nienburg am Schlossplatz<br />
ein Gefängnis errichtet. Seit 1997 wird das Gebäude<br />
als Jugendarrestanstalt genutzt <strong>und</strong> ist Außenstelle<br />
<strong>der</strong> Arrestanstalt Vechta.<br />
Die Nienburger Erziehungseinrichtung ist eine von<br />
vier Einrichtungen in Nie<strong>der</strong>sachsen. Sie verfügt<br />
über 25 Plätze <strong>für</strong> männliche Jugendliche ab 14<br />
Jahren, die sich eines Vergehens o<strong>der</strong> Verbrechens<br />
Türschild<br />
schuldig gemacht haben <strong>und</strong> zu Jugendarrest verurteilt<br />
worden sind. R<strong>und</strong> 1 000 Jugendliche durchlaufen<br />
diese Einrichtung im Laufe eines Jahres. Sie<br />
kommen aus dem nordöstlichen Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />
Die Palette ihrer Straftaten reicht dabei vom notorischen<br />
Schulschwänzen, über den einfachen<br />
Diebstahl <strong>und</strong> Raub bis hin zur schweren Körperverletzung.<br />
„Die haben es doch selber so<br />
gewollt ...!“<br />
Die Aufgaben des Jugendarrestes sind im Jugendgerichtsgesetz<br />
(JGG) <strong>und</strong> in den Richtlinien zum<br />
Jugendgerichtsgesetz festgelegt.<br />
„Der Jugendarrest ist eine Erziehungsmaßnahme<br />
nach dem JGG <strong>und</strong> dient <strong>der</strong> Sanktionierung straffällig<br />
gewordener Jugendlicher/Heranwachsen<strong>der</strong><br />
mittels kurzfristigen Freiheitsentzuges. Um<br />
den Jugendarrest sinnvoll zu gestalten, muss er<br />
erzieherische Hilfen anbieten. Damit diese Angebote<br />
genützt werden, ist es wichtig, dass sich die<br />
Jugendlichen/Heranwachsenden angenommen<br />
fühlen.<br />
Der Jugendarrest in seiner stationären Form bietet<br />
die Chance, die Arrestantinnen <strong>und</strong> Arrestanten<br />
anzusprechen, bei ihnen durch Gespräche, Beratung<br />
<strong>und</strong> Information neue Interessen zu wecken<br />
<strong>und</strong> durch feste Strukturen <strong>und</strong> lebensorientierte<br />
Aufgaben Impulse zu geben. Er hilft den Jugendlichen/Heranwachsenden,<br />
Schwierigkeiten zu<br />
bewältigen, die zur Begehung <strong>der</strong> Straftaten<br />
beigetragen haben. Der Jugendarrest ist – soweit<br />
möglich – mit den Angeboten externer Träger zu<br />
vernetzen.“<br />
So lautet die offizielle Beschreibung <strong>der</strong> Aufgaben<br />
<strong>für</strong> den Bereich des Jugendarrests. Viele Men-<br />
schen in unserer Gesellschaft, beson<strong>der</strong>s Erwachsene,<br />
haben ein wenig positives Bild von <strong>der</strong><br />
Jugend im Allgemeinen: Die Jugendlichen seien<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_79<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
faul, trinksüchtig, wenig motiviert <strong>und</strong> nicht<br />
engagiert. Wenn dieses Bild von „normalen Jugendlichen“<br />
schon so negativ ist, um wie viel<br />
schlechter ist dann das Image <strong>der</strong>er, die mit dem<br />
Gesetz in Konflikt geraten sind?<br />
„Die haben doch selber Schuld!“; „Geschieht<br />
ihnen ganz recht!“; „Die hätten noch viel mehr<br />
verdient!“; „Denen geht es noch viel zu gut im<br />
Knast!“ <strong>und</strong> ähnliche Äußerungen sind zu hören.<br />
Manche wissen gar nicht, dass es einen „Jugendknast“<br />
in Nienburg gibt, geschweige denn, was<br />
dort hinter den Mauern geschieht bzw. weswegen<br />
Jugendliche dort einsitzen. Es wird ver gessen,<br />
dass Jugendarrest kein Strafvollzug, son<strong>der</strong>n eine<br />
Erziehungsmaßnahme ist, die „das Ehrgefühl des<br />
Jugendlichen wecken <strong>und</strong> ihm eindringlich zum<br />
Bewusstsein bringen soll, dass er <strong>für</strong> das von ihm<br />
begangene Unrecht einzustehen hat.“ Das ist die<br />
vornehmliche Aufgabe des Arrestes.<br />
So viel Erziehung wie möglich<br />
Wenn die Jugendlichen nach Nienburg in den<br />
Jugendarrest kommen beginnt <strong>für</strong> sie eine „harte<br />
Zeit“. Bei <strong>der</strong> Aufnahme werden alle ihnen das Leben<br />
so angenehm machenden Dinge abgegeben.<br />
Handys, Haargel, Zeitschriften <strong>und</strong> MP3-Player<br />
wan<strong>der</strong>n in Schließfächer <strong>und</strong> werden erst bei <strong>der</strong><br />
Entlassung wie<strong>der</strong> ausgegeben. Neue Bescheidenheit<br />
ist angesagt: kein Fernsehen, kein Radio,<br />
keine Freizeit mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Insassen.<br />
Statt dessen erwartet die Jugendlichen ein straff<br />
organisierter Tagesablauf mit festen Weck-, Schlafens-<br />
<strong>und</strong> Essenszeiten. <strong>Für</strong> viele eine Umstellung,<br />
da sie es gar nicht gewohnt sind, einen regelmäßigen<br />
Tagesablauf zu haben, da sich zu Hause<br />
niemand um sie kümmert <strong>und</strong> auch niemand auf<br />
einen geregelten Tagesablauf achtet. Es gibt keine<br />
unkontrollierte Freizeit, son<strong>der</strong>n alles geschieht in<br />
<strong>der</strong> Kleingruppe <strong>und</strong> unter „Anleitung“. In einem<br />
„Erziehungsplan“, <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Aktenlage, dem<br />
80_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Eingangsgespräch, dem Aufsatz des Arrestanten<br />
über seine Tat <strong>und</strong> den Einschätzungen <strong>der</strong> Vollzugsbeamten<br />
zusammensetzt, wird auch geregelt,<br />
an welchen Freizeitaktivitäten <strong>der</strong> Jugendliche<br />
teilnehmen darf.<br />
Ein – wie ich finde - gelungenes Beispiel des<br />
erzieherischen Jugendarrestes zeigt die Jugendarrestanstalt<br />
in Berlin-Lichterfelde. Wer dort einmal<br />
reinschauen möchte, kann die Internetseite <strong>der</strong><br />
Anstalt, die auch von Arrestanten mitgestaltet<br />
wird, besuchen.<br />
http://www.berlin.de/jaa-berlin/akt.html<br />
Eingangsbereich<br />
Es ist gar nicht schlimm <strong>und</strong><br />
macht auch noch Spaß<br />
Seit mehr als drei Jahren gehe ich regelmäßig alle<br />
14 Tage <strong>für</strong> 1,5 St<strong>und</strong>en in die Jugendarrestanstalt<br />
Nienburg. Ich muss gestehen, am Anfang hatte ich<br />
ein ziemlich mulmiges Gefühl vor dem ersten Besuch<br />
...: Was erwartet <strong>mich</strong> dort? Nehmen die <strong>mich</strong><br />
überhaupt ernst? Muss ich <strong>mich</strong> vor irgend etwas<br />
schützen, in Acht nehmen? Besteht die Gefahr<br />
einer Bedrohung? Wie „kriminell“ sind die denn?<br />
Auch heute überkommen <strong>mich</strong> manchmal noch<br />
solche Gedanken. Aber wenn ich dann „drin bin“
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
<strong>und</strong> die ersten Jugendlichen den Gruppenraum<br />
betreten o<strong>der</strong> ich sie an <strong>der</strong> Zellentür mit Handschlag<br />
abhole <strong>und</strong> einlade, dann ist das Eis schnell<br />
gebrochen. Wenn wir dann alle in <strong>der</strong> gemeinsamen<br />
R<strong>und</strong>e sitzen <strong>und</strong> ich ihnen erzähle, wer<br />
ich bin <strong>und</strong> warum ich hier bin <strong>und</strong> dass ich mit<br />
ihnen ins Gespräch kommen möchte, weil sie sich<br />
die „Zeit genommen haben“ miteinan<strong>der</strong> <strong>und</strong> mit<br />
mir ins Gespräch zu kommen, dann verfliegt diese<br />
Angst <strong>und</strong> Unsicherheit <strong>und</strong> ich habe das Gefühl<br />
mit ganz normalen Jugendlichen zu reden. Es stellt<br />
sich ein Gefühl gegenseitiger Akzeptanz ein.<br />
Ich frage nicht nach ihren Straftaten, da ich<br />
keine Akteneinsicht habe <strong>und</strong> dazu keine Stellung<br />
nehmen kann, aber ich beantworte ihre Fragen<br />
zu dem weiteren Vorgehen nach ihrer Entlassung<br />
<strong>und</strong> versuche, mit ihnen Möglichkeiten <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
zu suchen <strong>und</strong> sie zu ermutigen, diese<br />
Verän<strong>der</strong>ungen später auch erfolgreich umzusetzen.<br />
Vielleicht ist diese Gesprächsr<strong>und</strong>e seit langem<br />
<strong>der</strong> erste Moment, in dem ihnen jemand zuhört,<br />
einfach nur so, ohne sie zu beurteilen o<strong>der</strong> etwas<br />
von ihnen zu verlangen. Da ist jemand, <strong>der</strong> – ganz<br />
ohne jeden Hintergedanken - kommt, um mit<br />
ihnen zu reden <strong>und</strong> zu spielen, ohne sie nach ihren<br />
Straftaten zu beurteilen, son<strong>der</strong>n einfach nur, weil<br />
sie zurzeit „hier drinnen“ sind. Da vergehen die<br />
1,5 St<strong>und</strong>en wie im Flug <strong>und</strong> manchmal werden es<br />
auch schnell 2 St<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> ich denke überhaupt<br />
nicht mehr daran „im Knast“ zu sein, son<strong>der</strong>n<br />
habe das Gefühl, mit ganz normalen Jugendlichen<br />
zu reden <strong>und</strong> frage <strong>mich</strong> „Warum sind sie überhaupt<br />
hier?“<br />
Das Einzige, was uns dann nach <strong>der</strong> gemeinsamen<br />
Zeit wie<strong>der</strong> trennt, ist, dass ich das Haus nach<br />
DRAUßEN verlassen kann, während sie zurück in<br />
ihre Zellen gehen müssen. Manchmal bedanken<br />
<strong>und</strong> verabschieden sich Einzelne noch einmal<br />
persönlich <strong>für</strong> die ganze R<strong>und</strong>e. Dann gehe ich<br />
nachdenklicher weg, als ich gekommen bin <strong>und</strong><br />
manche Biografie geht mir noch eine Weile nach<br />
<strong>und</strong> ich überlege, was ICH <strong>für</strong> den Einzelnen tun<br />
kann ... Manchmal sind es die kleinen Hinweise,<br />
wie z. B. die Tatsache, dass es auch in Cuxhaven,<br />
Stade o<strong>der</strong> Lüneburg eine evangelische Jugend-<br />
arbeit gibt, dass dort Menschen sind, die jemanden<br />
begleiten könnten, wo man sich orientieren<br />
kann.<br />
Neulich traf ich einen Jugendlichen erneut in <strong>der</strong><br />
Anstalt (nach zwei Jahren). Er erzählte mir stolz,<br />
dass er das Schlüsselband <strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
vom Street-Soccer-Turnier noch immer trage.<br />
Schön, dass es solche Momente auch gibt. Aber<br />
häufig stellt sich mir die Frage, welchen Sinn dieser<br />
verhängte Arrest <strong>für</strong> den Einzelnen macht, nur<br />
weil er seine Sozialst<strong>und</strong>en nicht abgeleistet hat ...<br />
Sozialst<strong>und</strong>en, die z. B. darin bestehen, Stühle einer<br />
Einrichtung in einem Keller abzuschleifen, die<br />
dann später verbrannt werden bzw. auf dem Müll<br />
landen o<strong>der</strong> eine 85-jährige Frau im Altenheim zu<br />
baden ... Welche Aufgaben, die Sinn machen <strong>und</strong><br />
<strong>für</strong> alle zumutbar sind, haben wir eigentlich <strong>für</strong><br />
diese Jugendlichen <strong>und</strong> welche Hilfen zum Leben<br />
brauchen sie wirklich?<br />
Auch im Arrest selbst stehen häufig personelle<br />
<strong>und</strong> sachliche Gründe dem erzieherischen Aspekt<br />
entgegen. Enge Dienstpläne <strong>und</strong> mangelnde<br />
Möglichkeiten an Freizeitangeboten (u. a. auch<br />
bedingt durch die räumlichen Gegebenheiten in<br />
<strong>der</strong> Anstalt) lassen einen erzieherischen Arrest<br />
manchmal kaum zu.<br />
Die wöchentliche<br />
Gesprächsgruppe<br />
Nach § 90 JGG ist <strong>der</strong> Arrest erzieherische Arbeit<br />
<strong>und</strong> bedarf einer pädagogischen, erzieherischen<br />
<strong>und</strong> lebensbewältigenden Begleitung <strong>der</strong> Arrestanten<br />
während ihres Aufenthaltes in <strong>der</strong> Arrestanstalt.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_81<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
In Nienburg geschieht dies - da es sich um eine<br />
kleine Anstalt mit nur 25 Plätzen handelt - in sehr<br />
bescheidenen Rahmen. So gibt es dort <strong>der</strong>zeit<br />
folgende Angebote:<br />
• eine Schulgruppe mit 3 x wöchentlich Unterricht<br />
à 3 St<strong>und</strong>en in Deutsch, Mathe <strong>und</strong> Englisch<br />
• allgemeine Haus- <strong>und</strong> Hofdienste (Alltagsarbeiten)<br />
• Ernährungsgruppe – mehr als Pommes <strong>und</strong> Döner<br />
mit praktischen Kochtipps (1x wöchentlich)<br />
• Holzwerkstatt (täglich 2 st<strong>und</strong>en)<br />
• Haushalts <strong>und</strong> Finanzberatung (1 x wöchentlich)<br />
• Sportgruppe, Fußball, Basketball (1 x wöchentlich)<br />
• Spielgruppe, Tischtennis, Gesellschaftsspiel,<br />
Kicker (2 x wöchentlich)<br />
• Gesprächsgruppe Jugenddienst (1 x wöchentlich)<br />
Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen geschieht<br />
(bis auf die Hausdienste) freiwillig, sonst<br />
bleibt <strong>der</strong> Jugendliche im Einschluss bzw. ist dies<br />
von seinem Betragen in <strong>der</strong> Arrestanstalt <strong>und</strong> in<br />
<strong>der</strong> Gruppe abhängig. Das heißt: Bei gutem Betragen<br />
gibt es auch mehr Freiraum. Wenn man jedoch<br />
von <strong>der</strong> Polizei in die Jugendarrestanstalt gebracht<br />
werden musste, fallen viele Freiräume weg, da die<br />
Freiwilligkeit <strong>und</strong> Einsicht, im eigenen Leben etwas<br />
zu verän<strong>der</strong>n, dann nicht vermutet <strong>und</strong> zugr<strong>und</strong>e<br />
gelegt werden kann.<br />
Alle 14 Tage besuche ich in meiner Eigenschaft als<br />
Kirchenkreisjugendwart im wöchentlichen Wechsel<br />
mit dem örtlichen Berufsschulpastor die Jugendarrestanstalt<br />
<strong>und</strong> biete eine Gesprächsgruppe <strong>für</strong> 10<br />
bis 15 Jugendliche an. In dieser Gesprächsgruppe<br />
erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit, über<br />
ein Thema ihrer Wahl zu sprechen o<strong>der</strong> sich an<br />
einem von mir ausgewählten Thema zu beteiligen.<br />
Im Folgenden gebe ich einen Überblick über einen<br />
solchen Gesprächsverlauf:<br />
82_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
14:45 Uhr Eintreffen in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt-<br />
Kurze Absprachen mit den Bediensteten<br />
(Gruppengröße, beson<strong>der</strong>e Teilnehmer<br />
o. Ä.)<br />
14.55 Uhr Herrichten des Gruppenraumes<br />
15:00 Uhr Abholen <strong>der</strong> Teilnehmer (TN) aus ihrer<br />
Zelle o<strong>der</strong> Eintreffen im Gruppenraum<br />
sowie Begrüßung <strong>der</strong> Einzelnen per Hand-<br />
schlag <strong>und</strong> Vorstellungsr<strong>und</strong>e meinerseits<br />
mit Klärung/Benennung verschie-<br />
dener Regeln (Anrede: Du o<strong>der</strong> Sie, Frei-<br />
willigkeit <strong>der</strong> Teilnahme, Vertraulichkeit)<br />
15:15 Uhr Namensr<strong>und</strong>e mit Vornamen <strong>und</strong> Sitzplan<br />
zur besseren Anrede<br />
15:20 Uhr Allgemeine Fragen zum Befinden, <strong>der</strong><br />
Stimmung untereinan<strong>der</strong>, Fragen nach<br />
Streit, Ärger mit dem Personal (Vermittlerrolle),<br />
Antworten auf aktuelle Fragen<br />
„was draußen passiert ist“ (Fußballergeb-<br />
nisse, <strong>an<strong>der</strong>e</strong> politische Ereignisse o. Ä.).<br />
15:30 Uhr Suchen eines Themas: z. B. etwas aus<br />
dem zuvor Benannten o<strong>der</strong> ein <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r<br />
Stoff, <strong>der</strong> die Gruppe interessiert <strong>und</strong><br />
manchmal auch eine von mir vorbereitete<br />
mitgebrachte Angelegenheit:<br />
z. B.: - Wie das Leben so spielt...<br />
- Mit 250 Euro durch den Monat<br />
- Gewalt in <strong>der</strong> U–Bahn<br />
- Was mache ich, wenn ich ...<br />
- Gewalt – keine Gewalt<br />
- Was brauche ich zum Leben?<br />
- Wie verbringe ich meinen Tag?<br />
- Spielt Gott in meinem Leben<br />
eine Rolle?<br />
(Näheres hierzu s. u.<br />
„Materialien/Literatur“)<br />
16:30 Uhr Verabschiedung
Zelle<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
Der Ablauf des Gesprächs ist stark abhängig von<br />
<strong>der</strong> Gruppengröße, den Teilnehmenden, ihrer<br />
Herkunft (verschieden Nationalitäten) <strong>und</strong> den<br />
damit verb<strong>und</strong>enen sprachlichen Kenntnissen.<br />
Beson<strong>der</strong>s schwierig ist es mit Jugendlichen, die<br />
wegen eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz<br />
einsitzen, da ihr Denken <strong>und</strong> Reden<br />
stark von Drogenbeschaffung (Preisvergleiche,<br />
„Stoffqualität“ usw.) geprägt ist. Selten hingegen<br />
kommt es zu einem sachlichen Gespräch <strong>und</strong> entsprechenden<br />
Fragen über Drogen <strong>und</strong> Drogenkonsum,<br />
z. B. zur Legalisierung von Haschisch (wie in<br />
den Nie<strong>der</strong>landen).<br />
In solchen Fällen kommt es dann auch schon<br />
einmal vor, dass ich ihnen die Frage nach ihrem<br />
bevorzugten Verbleib stelle: „Möchtest du jetzt in<br />
dieser Gesprächsgruppe sein o<strong>der</strong> wärst du lieber<br />
in deiner Zelle?“<br />
In <strong>der</strong> Regel ziehen die Arrestanten jedoch die<br />
Freiheit in <strong>der</strong> Gruppe dem Einschluss in ihrer Zelle<br />
vor.<br />
„Du sollst nicht begehren<br />
deines Nächsten ...“ o<strong>der</strong><br />
„Du brauchst nicht ...<br />
Die 10 Gebote gehören zu den Gr<strong>und</strong>standards<br />
christlichen Glaubens <strong>und</strong> auch das BGB stützt<br />
sich in seinen Aussagen zu den Gr<strong>und</strong>rechten auf<br />
das in den 10 Geboten geregelte Miteinan<strong>der</strong> zwischenmenschlicher<br />
Beziehungen. <strong>Für</strong> viele stehen<br />
die Gebote unter dem Gesichtspunkt von Verboten<br />
<strong>und</strong> dem starken „Du sollst nicht ...“ Ich <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
versuche sie immer eher unter dem Blickwinkel zu<br />
sehen von „Du brauchst nicht ...“ o<strong>der</strong> „Ich möchte<br />
nicht, dass mir ...“<br />
Zum Hintergr<strong>und</strong>:<br />
Das Volk Israel war endlich aus <strong>der</strong> Sklaverei in<br />
Ägypten entkommen <strong>und</strong> machte sich unter <strong>der</strong><br />
Leitung Moses auf den Weg in das gelobte Land.<br />
Ein ganzes Volk unterwegs auf <strong>der</strong> Flucht, beim<br />
Einzug in ein neues vielversprechendes Land, in<br />
ein Land voller Wünsche <strong>und</strong> Erwartungen <strong>und</strong><br />
voller Hoffnung auf ein geregeltes, besseres <strong>und</strong><br />
freies Leben.<br />
Zurückgelassen hatten sie die Sklaverei, die<br />
Strafen, die eindeutigen Verbote <strong>und</strong> Regeln <strong>der</strong><br />
Unterdrücker. Jede/r wusste dort, was sie/er zu<br />
tun o<strong>der</strong> zu lassen hat. Der gesamte Alltag, das<br />
Miteinan<strong>der</strong>, das soziale Umfeld - alles war klar<br />
geregelt. Aber hier „auf <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>schaft“, ohne<br />
festen Tagesablauf? Die vielen Verunsicherungen,<br />
die großen körperlichen Anstrengungen, das<br />
enge Miteinan<strong>der</strong> ... Das war ein <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r Alltag.<br />
Kein W<strong>und</strong>er, dass Probleme im Miteinan<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
Streitigkeiten um umherlaufendes Vieh, um Hab<br />
<strong>und</strong> Gut aufkamen. Vielleicht nahm einer dem<br />
<strong>an<strong>der</strong>e</strong>n etwas weg, erzählte schlechte Dinge über<br />
jemanden o<strong>der</strong> verstand sich mit dessen Frau „zu<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_83<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
gut“ <strong>und</strong> die Spannungen eskalierten sogar bis hin<br />
zu „Mord <strong>und</strong> Totschlag“ ... Und dann war da noch<br />
die alle verunsichernde Frage: „Gibt es diesen Gott<br />
<strong>und</strong> das gelobte Land überhaupt?“ <strong>und</strong> vor allem:<br />
„Wie <strong>und</strong> wann kommen wir da hin?“<br />
Dann folgte die Abwesenheit Moses, <strong>der</strong> in<br />
einem Zwiegespräch mit Gott auf dem Berg<br />
Sinai nach einer Lösung all dieser sozialen<br />
<strong>und</strong> existentiellen Probleme suchte. Das<br />
Volk indessen unten im Tal baute sich aus<br />
allem vorhandenen Gold das „Goldene<br />
Kalb“, einen Gott, den es sehen konnte,<br />
dem es Glauben schenken konnte, dem sie<br />
vertrauten. Als Mose von dem Berg herunterkam<br />
<strong>und</strong> die 10 Gebote mitbrachte, war<br />
er sehr verärgert, zerstörte das goldene<br />
Kalb <strong>und</strong> legte ihnen seine bzw. Gottes<br />
10 Gebote vor. Ich glaube, die Verärgerung<br />
lag vor allem in <strong>der</strong> Enttäuschung,<br />
die Mose durch sein Volk erfuhr. In dem<br />
Misstrauen ihm <strong>und</strong> Gott gegenüber, in dem<br />
Misstrauen, dass sie es ihm nicht mehr zutrauten,<br />
dass er sie, wie es ihnen verheißen war, in das<br />
gelobte Land führen könne.<br />
Wir können <strong>und</strong> sollen Gott vertrauen. In diesem<br />
„Urvertrauen“ liegt <strong>für</strong> <strong>mich</strong> <strong>der</strong> Schlüssel zu den<br />
10 Geboten. Gott vertraut mir schon in dem ersten<br />
Gebot, in dem er sagt: „Ich bin <strong>der</strong> Herr, dein<br />
Gott“. <strong>Für</strong> <strong>mich</strong> heißt das übersetzt: „Ich halte zu<br />
dir, du kannst mir vertrauen <strong>und</strong> ich vertraue dir.“<br />
Wenn ich <strong>mich</strong> in meinem Leben umschaue, dann<br />
erlebe ich häufig Stress, Angst, Hunger, Hetze,<br />
Leid <strong>und</strong> Unterdrückung, Unrecht <strong>und</strong> Unfreiheit,<br />
Tod <strong>und</strong> Sterben. Ich könnte <strong>mich</strong> davon anstecken<br />
<strong>und</strong> runterziehen lassen. Dann würde sich meine<br />
Lebenseinstellung ganz schnell verän<strong>der</strong>n <strong>und</strong><br />
ich wäre genauso unzufrieden mit mir, meinem<br />
Leben <strong>und</strong> meinem sozialen Umfeld wie viele<br />
Menschen um <strong>mich</strong> herum es sind. Aber ich kann<br />
auch genauer hinschauen <strong>und</strong> in vielen Dingen<br />
84_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Gruppenraum<br />
des Alltags, in vielen Begegnungen mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Menschen, mit <strong>der</strong> Natur <strong>und</strong> mit mir selbst Gottes<br />
Gegenwart spüren <strong>und</strong> sein Vertrauen erfahren.<br />
Dann finde ich Zeit, gewinne Vertrauen <strong>und</strong> kann<br />
mein Leben gelassen ausrichten. Dann kann ich<br />
zur Ruhe zu kommen <strong>und</strong> den Freiertag heiligen<br />
<strong>und</strong> muss nicht nur auf meinen Vorteil schauen, z.<br />
B. um besser dazustehen als mein Nachbar. Dann<br />
höre ich die Zusage des Vertrauens ganz klar: “Ich<br />
bin dein Gott, <strong>der</strong> zu dir hält.“ Dann kann ich die<br />
Gebote an<strong>der</strong>s sehen, dann höre ich nicht „Du<br />
sollst nicht ...“, son<strong>der</strong>n ich höre: „Du brauchst<br />
nicht ...“ Dann sind die Gebote etwas, das mir hilft,<br />
meine Persönlichkeit zu schützen. Sie schützen<br />
<strong>mich</strong> <strong>und</strong> mein Hab <strong>und</strong> Gut vor <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n <strong>und</strong> vor<br />
mir selbst. Dann heißt „Du sollst nicht stehlen“<br />
vielleicht eher „Ich möchte nicht, dass sich jemand<br />
auf meine Kosten bereichert <strong>und</strong> ich <strong>mich</strong> auf<br />
Kosten <strong>an<strong>der</strong>e</strong>r“ o<strong>der</strong> „Du sollst nicht begehren,<br />
was deinem Nächsten gehört“ könnte dann heißen<br />
„Ich möchte nicht, dass mir jemand etwas neidet<br />
<strong>und</strong> ich brauche auch nicht auf <strong>an<strong>der</strong>e</strong> neidisch<br />
zu sein“ <strong>und</strong> „Du sollt nicht töten“ meint dann<br />
„Ich möchte nicht, dass <strong>mich</strong> jemand klein macht<br />
<strong>und</strong> ich brauche auch <strong>an<strong>der</strong>e</strong> nicht klein zu<br />
machen.“
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
Vielleicht gelingt es uns, in <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n ein neues Verständnis<br />
<strong>für</strong> das Miteinan<strong>der</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> 10 Gebote zu entwickeln, von einem „Du sollst<br />
nicht ...“ hin zu einem „Ich möchte nicht ...“ o<strong>der</strong><br />
”Ich brauche nicht ...“.<br />
Vielleicht ist diese Sichtweise eine Chance, Jugendlichen<br />
im Arrest die Sucht, „das haben zu<br />
wollen, was <strong>an<strong>der</strong>e</strong> auch haben“, ein wenig zu<br />
nehmen <strong>und</strong> ihnen deutlich zu machen, dass nicht<br />
das Materielle den gr<strong>und</strong>sätzlichen „Wert“ eines<br />
Menschen (<strong>und</strong> auch den eigenen!) ausmacht, son-<br />
<strong>der</strong>n das menschliche miteinan<strong>der</strong> Umgehen, die<br />
Achtung <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en <strong>und</strong> auch die Selbstachtung.<br />
„Ich bin <strong>der</strong> Gott, <strong>der</strong> zu dir hält ...“ zieht sich wie<br />
ein Roter Faden durch die 10 Gebote <strong>und</strong> durch<br />
mein Leben. Gott sagt: „Ich halte zu dir, egal, was<br />
du auch tust. Ich traue dir zu, dass dein Leben gelingen<br />
kann, wenn du es möchtest. Dann gehen wir<br />
gemeinsam durch dieses Leben mit seinen Höhen<br />
<strong>und</strong> Tiefen.“<br />
Vielleicht haben viele dieser jungen Männer im Arrest<br />
die Zusage „Ich halte zu dir“ schon lange nicht mehr<br />
o<strong>der</strong> überhaupt noch nie in ihrem Leben gehört.<br />
Ihre Nächsten haben sie - vielleicht im Zusammenhang<br />
mit ihrer Straftat ... - verlassen, haben sie<br />
„ausgestoßen“ o<strong>der</strong> bekennen sich nicht mehr zu<br />
ihnen als ihre Eltern, Geschwister o<strong>der</strong> Fre<strong>und</strong>e.<br />
Dass wir die 10 Gebote nicht immer einwandfrei<br />
einhalten, wissen wir alle. Aber wir leben aus <strong>der</strong><br />
Zusage <strong>der</strong> Vergebung, wenn uns ein Vergehen<br />
aufrichtig Leid tut o<strong>der</strong> wir es z. B. ehrlichen Herzens<br />
bereuen, unseren Nächsten verletzt o<strong>der</strong><br />
gekränkt zu haben. Dann können wir uns darauf<br />
verlassen, dass uns unsere Schuld von Gott vergeben<br />
worden ist, wie auch wir selbst <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n vergeben<br />
sollen.<br />
Wenn Jugendliche „Mist gebaut haben“ <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />
ihre Tat einstehen (wie z. B. im Arrest), dann ist<br />
ihnen auch vergeben <strong>und</strong> sie können, ja müssen,<br />
wie<strong>der</strong> neu anfangen. Sie können voller Hoffnung<br />
hinausgehen <strong>und</strong> sagen: „Ich brauche nicht zu<br />
stehlen <strong>und</strong> ich möchte auch nicht, dass mir<br />
jemand etwas wegnimmt, denn ich habe einen<br />
Gott, <strong>der</strong> zu mir hält, <strong>der</strong> mir vertraut <strong>und</strong> dem ich<br />
<strong>mich</strong> <strong>und</strong> mein Leben anvertrauen kann.“<br />
Wie können wir als<br />
Jugendgruppe o<strong>der</strong> als<br />
Schulklasse Kontakt zu<br />
einer Jugend arrestanstalt<br />
aufnehmen?<br />
Im Rahmen des Schulunterrichts gibt es die<br />
Möglichkeit, zum Lernstoff Bürgerliches Gesetzbuch<br />
(BGB) <strong>und</strong> Strafgesetzbuch (StGB) Kontakte<br />
zum örtlichen Amtsgericht herzustellen. Auch<br />
kann in den schulischen Projekt- <strong>und</strong> Praktikumsphasen<br />
ein Praktikum beim Amtsgericht mit dem<br />
Schwerpunkt „Jugendstrafrecht“ absolviert werden<br />
o<strong>der</strong> die Schulklasse/Jugendgruppe könnte an<br />
einer Jugendgerichtsverhandlung teilnehmen. In<br />
Nienburg besteht darüber hinaus die Möglichkeit,<br />
die Jugendarrestanstalt zu besuchen <strong>und</strong> in einem<br />
Gespräch mit <strong>der</strong> Sozialoberinspektorin Frau<br />
Meyer (Tel. 05021 601861) Hintergründe zum<br />
Thema Jugendarrest <strong>und</strong> auch die damit gemachten<br />
Erfahrungen kennen zu lernen. Vielleicht ist<br />
dort sogar ein Gespräch mit den Jugendlichen<br />
selbst möglich. Außerdem bietet die Jugendarrestanstalt<br />
Nienburg eine „Mobile Arrestzelle“ als<br />
Anschauungsmaterial <strong>für</strong> Projektpräsentationen<br />
an. Ein spannendes <strong>und</strong> interessantes Feld könnte<br />
es auch sein, sich über mögliche Tätigkeitsbereiche<br />
zu informieren, in denen man sich <strong>für</strong><br />
Jugendliche nach dem Arrest selbst sozial engagieren<br />
könnte.<br />
Kontakte zu <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Jugendarrest- o<strong>der</strong> Strafanstalten<br />
bekommt man über das zuständige Amtsgericht<br />
o<strong>der</strong> über das Internet.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_85<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
Arbeitsmaterialien,<br />
Literatur angaben, Spiele,<br />
Video „Dienstag – Gewalt<br />
in <strong>der</strong> UBahn“ <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
Gruppenübungen<br />
Arbeitsmaterialen zu den Gesprächsst<strong>und</strong>en<br />
in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
• Wie das Leben so spielt ... - Ein Brettspiel <strong>für</strong><br />
Jugendliche zur Lebensplanung<br />
• Mit 250 Euro durch den Monat - Ein Brettspiel zu<br />
Hartz IV<br />
• Gewalt in <strong>der</strong> U-Bahn - Ein Videomitschnitt aus<br />
einer U-Bahn in Frankfurt<br />
• Was mache ich, wenn ich ... - Arbeitsblatt zu<br />
Situationen des Alltags<br />
• „Gewalt - keine Gewalt“/Einschätzungsfragen<br />
zu „Gewalt - keine Gewalt“<br />
• Was brauche ich zum Leben? - Arbeitsblatt mit<br />
24 Vorschlägen zum Leben/Gesprächsimpuls<br />
• Wie verbringe ich meinen Tag?- Arbeitsblatt zur<br />
Tageseinteilung/Gesprächsimpuls<br />
• Spielt Gott in meinem Leben eine Rolle? - Tischzeitung<br />
zum Thema „Gott“<br />
Inhaltsangabe zu „Wer einmal aus dem Blechnapf<br />
frisst“ - Hans Fallada<br />
Willi Kufalt kommt nach 5 Jahren Qual aus dem<br />
Gefängnis. Er ist noch nicht sehr alt, Mitte 20<br />
etwa <strong>und</strong> kein bisschen dumm. Im Gegenteil! Er<br />
schafft es, die Wärter <strong>und</strong> Direktoren, sogar den<br />
86_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Pastor, untereinan<strong>der</strong> auszuspielen, sodass<br />
<strong>für</strong> ihn das Leben im Bau nicht sehr unangenehm<br />
ist.<br />
Und trotzdem entschließt er sich nach seiner Entlassung,<br />
ein ehrbarer Bürger zu werden, nie mehr<br />
zu klauen o<strong>der</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> „Dinger zu drehen“. Er<br />
weiß, dass das hart werden wird <strong>und</strong> dass ihm <strong>der</strong><br />
Ruf „im Knast gewesen zu sein“ folgen <strong>und</strong> ihm<br />
das Leben schwer machen wird. Aber immerhin<br />
hat er schon eine Arbeit. Er wird in Friedensheim<br />
Adressen tippen <strong>und</strong> dort davon leben können<br />
<strong>und</strong>, wenn er fleißig ist, sein Geld sogar vermehren<br />
können. Doch dort findet er nur Hass <strong>und</strong> Unterdrückung<br />
von den Aufsehern. Auch den Mitarbeitern,<br />
die alle wie Gefangene gehalten werden,<br />
kann er nicht viel abgewinnen.<br />
Als sich dann endlich ein guter Job auftut, gibt es<br />
Probleme <strong>für</strong> Kufalt <strong>und</strong> seine engsten Fre<strong>und</strong>e.<br />
Es droht die Untersuchungshaft, wie<strong>der</strong> das Gefängnis.<br />
An<strong>der</strong>e Fre<strong>und</strong>e aus dem ehemaligen Bau<br />
begegnen ihm, versuchen ihn von <strong>der</strong> richtigen<br />
Bahn abzubringen.<br />
Der Roman zeigt deutlich den Kampf ums Überleben,<br />
thematisiert Verfolgung <strong>und</strong> Unterdrückung.<br />
Er ist spannend geschrieben, sodass man richtig<br />
mitfiebert, wie es nun mit dem Willi Kufalt weiter<br />
geht. Wird er es schaffen neu anzufangen o<strong>der</strong><br />
wird ihn seine Vergangenheit doch wie<strong>der</strong> einholen?<br />
Das Buch liest sich schnell weg <strong>und</strong> wenn man<br />
zuerst dachte, dass es einfach sei, ein normales<br />
Leben zu führen, merkt man schnell, dass man<br />
sich da unter Umständen irrt. Mich begeistert, wie<br />
Hans Fallada klar verständlich <strong>und</strong> nachvollziehbar<br />
die Probleme <strong>und</strong> Gedanken <strong>der</strong> Hauptfigur darstellt.<br />
Der/Die LeserIn wird richtig hineingenommen<br />
in das Geschehen <strong>und</strong> denkt selbst darüber<br />
nach, was er/sie in so einem Moment wohl tun<br />
würde.
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
Flurtrakt<br />
Zudem ist es, wie ich finde, ein Buch, das einen<br />
wirklich nachdenken lässt über die schnelle Vorverurteilung<br />
von Menschen - auch heute noch, in<br />
unserer Welt. Ich kann nur empfehlen, es zu lesen!<br />
„Wie das Leben so spielt ...“<br />
Ein Kennenlern- <strong>und</strong> Begegnungsspiel <strong>für</strong> Jugendliche<br />
<strong>und</strong> junge Erwachsene<br />
Entscheidungen <strong>für</strong> das Leben treffen, Pleiten,<br />
Pech <strong>und</strong> Pannen, aber auch glückliche Zufälle<br />
erleben.<br />
Eine Spielidee <strong>für</strong> große <strong>und</strong> kleine Gruppen zum<br />
Thema „Leben“.<br />
Hrsg.: Evangelisches Jugendwerk in Württemberg,<br />
Haeberlinstr. 1 – 3, 70563 Stuttgart, Tel.: 0711<br />
9781410<br />
„Was mache ich, wenn …“<br />
„Was mache ich, wenn ...“ ist ein Spiel, mit dem<br />
ihr euch selbst <strong>und</strong> alle <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Mitspieler besser<br />
kennen lernen könnt.<br />
Die Gruppe sitzt im Kreis <strong>und</strong> die Karten liegen in<br />
<strong>der</strong> Mitte auf einem Stapel.<br />
SpielerIn A zieht die erste Karte, die z. B. heißt:<br />
„Wenn ich Wut habe …“<br />
SpielerIn A überlegt sich jetzt, ob ihr/ihm aus seinem<br />
Alltag dazu ein Erlebnis einfällt ...<br />
SpielerIn A könnte erzählen: „Wenn ich Wut habe,<br />
dann gehe ich immer in mein Zimmer, knalle die<br />
Tür beson<strong>der</strong>s laut zu <strong>und</strong> drehe meine Anlage<br />
auf. So wie letzte Woche, als ich Streit mit meinem<br />
Bru<strong>der</strong> hatte, weil er mir sein Fahrrad nicht leihen<br />
wollte, als meins kaputt war. Ich war total sauer<br />
<strong>und</strong> wütend <strong>und</strong> habe dann den ganzen Nachmittag<br />
Musik gehört.“<br />
(An<strong>der</strong>e können jetzt von ihren Erlebnissen bzw.<br />
Verhaltensweisen berichten)<br />
SpielerIn A legt anschließend die Karte vor sich<br />
<strong>und</strong> SpielerIn B nimmt die nächste Karte vom<br />
Stapel.<br />
Anbei ein paar Anregungen <strong>für</strong> solche Spielsituationen;<br />
ihr könnt euch aber auch noch eigene ausdenken:<br />
Was mache ich, wenn …<br />
... ich ausgelassen bin?<br />
... ich gut gelaunt bin?<br />
... ich zufrieden bin?<br />
... ich von <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n bew<strong>und</strong>ert werde?<br />
... ich etwas Aufregendes erleben will?<br />
... ich <strong>mich</strong> schäme?<br />
... ich Angst habe?<br />
... ich Langeweile habe?<br />
... ich enttäuscht bin?<br />
... ich traurig bin?<br />
... ich eifersüchtig bin?<br />
... ich neidisch bin?<br />
... ich unsicher bin?<br />
... ich erschöpft bin?<br />
... ich <strong>mich</strong> ausgeschlossen fühle?<br />
... ich <strong>mich</strong> missverstanden fühle?<br />
... ich im Stress bin?<br />
... ich Wut habe?<br />
... ich Probleme habe?<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_87<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
Mit 250 Euro durch den Monat<br />
(Ausführliche Beschreibung siehe „Gegen den<br />
Trend 2006“.)<br />
Zu beziehen beim Diakonischen Werk Kirchenkreis<br />
Syke/Diepholz, Herrlichkeit 24, 28857 Syke, Tel.<br />
04242 16870.<br />
Was brauche <strong>für</strong> mein Leben?<br />
(Ausführliche Beschreibung siehe „Gegen den<br />
Trend 2006“.)<br />
Vorlage ebenda o<strong>der</strong> „Kursbuch Konfirmandenarbeit“.<br />
„Dienstag – Gewalt in <strong>der</strong> U-Bahn“<br />
Quelle: Das Video „Dienstag – Gewalt in <strong>der</strong> U-<br />
Bahn“, B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> politische Bildung,<br />
Bonn 1995, Bildquelle: Hessischer R<strong>und</strong>funk, kann<br />
in örtlichen Landesbildstellen bzw. direkt bei <strong>der</strong><br />
B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> politische Bildung ausgeliehen<br />
bzw. bestellt werden.<br />
Aufgabe: In sechs Szenen werden unterschiedliche<br />
Reaktionen <strong>der</strong> von einer versteckten Kamera<br />
gefilmten Passanten gezeigt <strong>und</strong> mit den SchülerInnen<br />
anhand eines Positionsbarometers gemeinsam<br />
ausgewertet.<br />
Ziel: Wenn die SchülerInnen eine ähnliche Szene<br />
bereits selbst zuvor in einem Rollenspiel erlebt <strong>und</strong><br />
besprochen haben, wird im Video deutlich, wie<br />
auch in <strong>der</strong> Realität ganz unterschiedliche Reaktionsweisen<br />
möglich sind <strong>und</strong> die Situation deutlich<br />
verän<strong>der</strong>n. Dabei wird beson<strong>der</strong>s Wert darauf<br />
gelegt, ermutigende Reaktionsweisen zu verdeutlichen,<br />
die deeskalierende Wirkung haben können.<br />
Einführung: Zwei Männer steigen in eine mit Passagieren<br />
besetzten U-Bahn. ‚Deutschland zuerst’<br />
88_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Graffiti Innnhof<br />
brüllt <strong>der</strong> eine. Kurz darauf gehen beide zielstrebig<br />
auf einen jungen Schwarzen zu. ‚Eh Nigger, haste<br />
Feuer?’ wird dieser angepöbelt. Die beiden setzen<br />
sich neben den jungen Mann, werden aggressiver.<br />
Die Situation wirkt äußerst bedrohlich. Wird jemand<br />
eingreifen?“ Die SchülerInnen äußern ihre<br />
Vermutungen.<br />
„Ihr werdet jetzt eine solche Anmache (wie ihr<br />
sie vorhin im Rollenspiel selbst dargestellt habt)<br />
in sechs verschiedenen Varianten in Wirklichkeit<br />
sehen. Sie ist in einer U-Bahn in Frankfurt gedreht<br />
<strong>und</strong> mit unterschiedlichen Passanten von<br />
einer versteckten Kamera aufgenommen worden.<br />
Sowohl die beiden Täter als auch das Opfer sind<br />
Schauspieler. Aber alle übrigen Personen in <strong>der</strong> U-<br />
Bahn (mit Ausnahme <strong>der</strong>jenigen, die die jeweilige<br />
Szene abbrechen werden) wissen nicht, dass es<br />
sich hier um eine gespielte Szene handelt.“<br />
Es folgt <strong>der</strong> Arbeitsauftrag. Die Folie „Positionsbarometer<br />
„Dienstag – Gewalt in <strong>der</strong> U-Bahn“ wird<br />
dazu auf den Overheadprojektor gelegt.<br />
Nachdem ihr eine Szene angeschaut habt, markiert<br />
ihr mit einem Stift auf diesem Positionsbarometer<br />
(das wir gleich austeilen), wie ihr die<br />
Reaktionen <strong>der</strong> Passanten einschätzt. Dabei gibt<br />
es drei Möglichkeiten:
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
a) Angriff – die Passanten werden aktiv. Aber sie<br />
greifen so ein, dass die Situation bedrohlicher<br />
wird, <strong>und</strong> zwar <strong>für</strong> alle Beteiligten.<br />
b) Flucht – die Passanten bleiben passiv. Sie tun<br />
nichts, greifen nicht ein, zeigen Fluchtverhalten.<br />
Dadurch wächst die Gewalt ebenfalls, beson<strong>der</strong>s<br />
<strong>für</strong> das Opfer.<br />
c) Eingreifen – die Passanten werden aktiv. Allerdings<br />
reagieren sie so, dass die Gewalt abnimmt<br />
<strong>und</strong> ein gute Lösung <strong>für</strong> das Opfer sichtbar wird.<br />
Weitergehende Differenzierung: „Ihr könnt auch<br />
Positionen zwischen den unterschiedlichen Punkten<br />
eintragen, z. B. wenn ihr meint, dass eine Szene<br />
Anteile von Flucht, aber auch positiver Lösung<br />
hatte.“<br />
Abschluss <strong>der</strong> Erläuterungen: „Nach je<strong>der</strong> Szene<br />
werde ich das Video stoppen, um euch Gelegenheit<br />
zu geben, eure Einschätzung einzutragen. Anschließend<br />
sprechen wir über die Szene <strong>und</strong> zwar<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> folgen<strong>der</strong> Fragestellungen:<br />
a) Welche Verhaltensweisen (Sprache <strong>und</strong> Körpersprache)<br />
fandest du beson<strong>der</strong>s schlecht? Warum?<br />
b) Welche Verhaltensweisen (Sprache <strong>und</strong> Körpersprache)<br />
fandest du beson<strong>der</strong>s gut? Warum?“<br />
Positions-Barometer „GEWALT – KEINE GEWALT“<br />
Dies ist eine Übung, um die unterschiedliche<br />
Wahrnehmung von Gewalt festzustellen. Im Raum<br />
wird an eine Wand ein DIN-A4-Blatt geheftet mit<br />
<strong>der</strong> Aufschrift „GEWALT“, an die gegenüberliegende<br />
Wand ein leeres DIN-A4-Blatt. (Die Zettel<br />
können auch auf den Boden gelegt werden).<br />
Zunächst wird die Frage diskutiert, was das Gegenteil<br />
von Gewalt ist. Ist es „keine Gewalt“,<br />
„Gewaltlosigkeit“, „Wi<strong>der</strong>stand“, „Stärke“ o<strong>der</strong><br />
...? Eine o<strong>der</strong> mehrere Möglichkeiten werden nun<br />
auf das leere Blatt geschrieben.<br />
Nun kann man verschieden vorgehen:<br />
a) Man schreibt die folgenden Gewaltsituationen<br />
auf je einen DIN-A4-Zettel (evtl. laminieren,<br />
wenn man sie mehrmals verwenden möchte). Es<br />
werden zwei Gruppen gebildet. Jede Gruppe bekommt<br />
acht Situationen. Beide Gruppen müssen<br />
alle ihre Situationen unabhängig voneinan<strong>der</strong><br />
links <strong>und</strong> rechts von einer gedachten Barometer-<br />
Linie zwischen den Polen sinnvoll anordnen.<br />
Dann werden alle Situationen noch einmal<br />
diskutiert <strong>und</strong> in einer Linie angeordnet. Alternativ<br />
könnte die Gruppe auch in noch kleinere<br />
Einheiten unterteilt werden.<br />
b) Der Gruppenleiter liest eine Situation vor. Einige<br />
o<strong>der</strong> alle TeilnehmerInnen müssen sich entscheiden,<br />
an welche Stelle zwischen den Polen<br />
sie sich stellen wollen. Unterschiedliche Einschätzungen<br />
werden deutlich. Diejenigen, die<br />
die „extremste“ Position eingenommen haben,<br />
werden zu ihrer Meinung befragt.<br />
16 Gewaltsituationen<br />
• Eine Zuschauerin, die klatscht, wenn Auslän<strong>der</strong><br />
beleidigt <strong>und</strong> angegriffen werden.<br />
• Eine Firma, die ihren Giftmüll in Entwicklungslän<strong>der</strong><br />
schickt.<br />
• Ein Vater, <strong>der</strong> sein Kind ohrfeigt, weil es ein Glas<br />
umgekippt hat.<br />
• Ein Kind, das aus <strong>der</strong> Klassenkasse 5 Euro klaut.<br />
• Ein Berufssoldat.<br />
• Ein Mädchen, das ihrem Fre<strong>und</strong> einen Knutschfleck<br />
macht.<br />
• Eine Mutter, die ihr Kind weg von einem LKW<br />
von <strong>der</strong> Straße reißt <strong>und</strong> ihm dabei sehr weh tut.<br />
• Eine Mutter, die zu ihrer Tochter sagt: „Du bist<br />
eine Versagerin. Aus dir wird nie etwas.“<br />
• Ein/e Mitschüler/in wird ständig gehänselt, weil<br />
er/sie sehr dick ist.<br />
• Kai schnallt die Frage des Lehrers nicht. Die<br />
ganze Klasse macht sich über ihn lustig.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_89<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
„Wer einmal aus dem Blechnapf frisst” – Arbeiten in <strong>der</strong> Jugendarrestanstalt Nienburg<br />
• Benjamin trägt keine Markenklamotten <strong>und</strong> wird<br />
deswegen geärgert.<br />
• Sven fasst Alina an den Hintern.<br />
• Ein junges Mädchen wird ungewollt schwanger.<br />
Ihre Eltern zwingen sie, den Vater des Kindes zu<br />
heiraten.<br />
• Eine Schülerin darf nur „ohne Kopftuch“ ein<br />
Praktikum in einem Kin<strong>der</strong>garten machen.<br />
• Ein Demonstrant blockiert den Atommüll-Transport.<br />
• Jemand wird von <strong>der</strong> Clique vor die Wahl gestellt,<br />
eine Zigarette mitzurauchen o<strong>der</strong> sich<br />
eine <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Clique zu suchen.<br />
Wie verbringe ich meinen Tag? Wo bleibt meine<br />
Zeit?<br />
Erstellen eines „Zeitkuchens“<br />
Alle erhalten eine Zeitscheibe mit einer 24-St<strong>und</strong>en-Einteilung.<br />
Die Teilnehmenden sollen in Einzelarbeit ihren<br />
Ablauf eines 24-St<strong>und</strong>en-Tages einzeichnen bzw.<br />
schreiben. Dabei können folgende Fragestellungen<br />
helfen:<br />
• Zeit mit Ungeliebtem verbracht? Womit, wie viel,<br />
mit wem?<br />
• Zeit nutzlos vergeudet? Womit, wie viel, warum?<br />
• Zeit mit Notwendigem gefüllt? Womit, wie viel?<br />
• Zeit mit <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n geteilt? Mit wem, wie viel, wobei?<br />
Anschließend wird ein „Uhrenvergleich“ in <strong>der</strong><br />
Gruppe gemacht. Dabei könnten folgende Fragestellungen<br />
vorkommen:<br />
• Wo gibt es Gemeinsamkeiten, den Tag zu verbringen<br />
<strong>und</strong><br />
• wo sind gravierende Unterschiede zu entdecken?<br />
• Womit verbringen wir die meiste Zeit?<br />
Martin Bauer<br />
90_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
›› letzter Ausweg<br />
Jugendknast!?
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
Erziehungswille auch im<br />
Jugendknast<br />
Wenn Erwachsene strafrechtlich verurteilt werden,<br />
dann dient dies dem Gedanken <strong>der</strong> Abschreckung,<br />
<strong>der</strong> Sühne <strong>und</strong> <strong>der</strong> Genugtuung. Bei <strong>der</strong> Verurteilung<br />
von Jugendlichen <strong>und</strong> Heranwachsenden<br />
spielt hingegen <strong>der</strong> Erziehungsgedanke eine große<br />
Rolle, so auch im Vollzug <strong>der</strong> Jugendstrafe – in<br />
<strong>der</strong> Jugendstrafanstalt. Das Jugendgerichtsgesetz<br />
(JGG) bietet eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten<br />
bei <strong>der</strong> Sanktionierung von straffällig<br />
gewordenen Jugendlichen. Sie reichen von <strong>der</strong><br />
richterlichen Ermahnung, über Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />
o<strong>der</strong> soziale Trainingskurse bis zum Jugendarrest.<br />
Eine Jugendstrafe ist unter diesen Möglichkeiten<br />
die härteste, freiheitsentziehendste Maßnahme<br />
<strong>und</strong> soll auch als solche gesehen werden – als<br />
letzter Ausweg. Sie tritt dann ein, wenn <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen o<strong>der</strong> die<br />
Schwere <strong>der</strong> Schuld eine solche Strafe notwendig<br />
werden lässt.<br />
Eine Jugendstrafe kann von 6 Monaten bis zu 5<br />
Jahren dauern (bei schweren Verbrechen wie Raub,<br />
Vergewaltigung o<strong>der</strong> Mord, gar bis zu 10 Jahre).<br />
Die Länge einer Jugendstrafe wird vom jeweiligen<br />
Richter nach <strong>der</strong> „erfor<strong>der</strong>lichen erzieherischen<br />
Einwirkung“ (Weipert 2003, S. 20) bemessen, die<br />
hier zugr<strong>und</strong>e gelegten Kriterien bleiben jedoch im<br />
Einzelfall oft unklar.<br />
Das Ziel des Vollzuges, die Erziehung <strong>der</strong> jungen<br />
Verurteilten zu einem künftigen Legalverhalten,<br />
wird mit verschiedenen Erziehungsmitteln zu<br />
erreichen versucht (§ 91 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 JGG). So<br />
soll es Möglichkeiten <strong>der</strong> schulischen <strong>und</strong> beruflichen<br />
(Weiter-)Qualifikation, neben sinnvollen<br />
Freizeitbeschäftigungen <strong>und</strong> „Leibesübungen“<br />
geben. Auch die Gewährleistung <strong>der</strong> seelsorgerlichen<br />
Betreuung ist gesetzlich verankert.<br />
Jugendliche StraftäterInnen sollen so innerhalb<br />
eines klar geregelten Tagesablaufs Abstand<br />
92_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
gewinnen <strong>und</strong> <strong>für</strong> ein späteres Leben außer-<br />
halb <strong>der</strong> Gefängnismauern neue Anstöße be-<br />
kommen.<br />
Selber schuld!?<br />
Wer ist denn eigentlich Schuld, wenn die Jugendkriminalität<br />
scheinbar immer brisanter wird, o<strong>der</strong><br />
wenn ein Jugendlicher/eine Jugendliche es sich<br />
schwer tut mit <strong>der</strong> staatlichen (Zwangs-)Erziehung<br />
<strong>und</strong> immer wie<strong>der</strong> straffällig wird? Seine/Ihre<br />
Eltern, die ihn/sie nicht hart genug rangenommen<br />
haben' <strong>und</strong> ihm/ihr nicht beigebracht haben, dass<br />
es im Leben einfach Handlungsgrenzen gibt? Die<br />
Schule, die ihm/ihr vieles durchgehen ließ? O<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Jugendtreff? Ist es gar die Justizpolitik, die<br />
endlich mal härter durchgreifen müsste? Wie wäre<br />
es also mit <strong>der</strong> Herabsetzung des straffähigen<br />
Alters auf 6 Jahre?<br />
Schuld haben immer die <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n. Das ist doch am<br />
einfachsten. Aber was mit den kriminellen Jugendlichen<br />
tun? Am liebsten einfach loswerden – also<br />
wegsperren. Da werden dann auch nicht unnötig<br />
Steuergel<strong>der</strong> verschleu<strong>der</strong>t. Soziale Trainingskurse<br />
= Teuer! Bringt sowieso nichts!<br />
Es ist schon nicht einfach, gegen die große<br />
Spannbreite <strong>der</strong> Vorurteile zum Thema Jugendkriminalität<br />
zu argumentieren. Die Medien tun<br />
durch ihre hetzenden Berichte zurzeit ihr Übriges<br />
dazu. Doch im Verlauf dieses Artikels soll versucht<br />
werden, diese Vorurteile zu entkräften. Fakt<br />
ist, dass es „die Kriminellen“ gar nicht gibt.<br />
Vielmehr hat jede/r „Knacki“ seine/ihre eigene<br />
Vergangenheit, seine/ihre individuelle Familien-<br />
<strong>und</strong> Lebensgeschichte. Wenn man sich den Ursachen<br />
von Jugendkriminalität wirklich zuwenden<br />
möchte, hilft keine einseitige Ursachenforschung,<br />
son<strong>der</strong>n eine Untersuchung aller Lebensbedingungen<br />
<strong>und</strong> vielfältigen Umstände des Aufwachsens:<br />
Familie, Freizeit, Schule, Peergroup,<br />
Gesellschaft ...
Zahlen, Daten <strong>und</strong> Fakten<br />
An dieser Stelle soll anhand von verschiedenen<br />
Statistiken <strong>und</strong> Forschungen überprüft werden,<br />
ob es wirklich stimmt, was alle sagen <strong>und</strong> was<br />
vor allem durch die Medien signalisiert wird:<br />
Werden Jugendliche immer brutaler <strong>und</strong> krimineller?<br />
Im Jahr 2002 wurden in Deutschland 7.500 junge<br />
Menschen gezählt, die ihre Jugendstrafe verbüßen,<br />
hierbei liegt <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> jungen Frauen<br />
bei nur ca. 3,3 % (Weipert 2003, S. 23). Das<br />
bedeutet, dass auf 1.000 junge Menschen in<br />
Deutschland ungefähr ein/e inhaftierte/r Jugendliche/r<br />
kommt. Im Jahr 1992 gab es 3.898 inhaftierte<br />
junge Menschen. Bei <strong>der</strong> Betrachtung<br />
dieser Zahlen fällt auf, dass sich anscheinend<br />
innerhalb von 8 Jahren die Anzahl <strong>der</strong> inhaftierten<br />
Jugendlichen <strong>und</strong> Heranwachsenden nahezu<br />
verdoppelt hat. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen,<br />
dass die starke Zunahme auch in Zusammenhang<br />
mit einer schnelleren Verurteilung einer<br />
Straftat zum Vollzug ohne Bewährung stehen<br />
könnte.<br />
Fakt ist, dass auch die Zahl <strong>der</strong> jungen Tatverdächtigen<br />
in den letzten Jahren stetig steigt, sodass <strong>der</strong><br />
Anteil <strong>der</strong> unter 21-jährigen Tatverdächtigen an <strong>der</strong><br />
Gesamtkriminalität heute bei etwa 30% liegt. In<br />
diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen,<br />
dass Delikte junger Menschen im Vergleich<br />
zu denen von Erwachsenen überwiegend unprofessioneller<br />
<strong>und</strong> ungeplanter ablaufen, so dass<br />
sie <strong>für</strong> polizeiliche Ermittlungen einfacher zu überprüfen<br />
sind. Auch bei den Gewaltdelikten handelt<br />
es sich bei jungen Menschen oft um Rauferein inner-<br />
halb <strong>der</strong> gleichen Altersgruppe, welche - bedingt<br />
durch ein sensibleres Anzeigeverhalten - zusätzlich<br />
in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> treten.<br />
Obwohl die Kriminalitätsrate bei jungen Menschen<br />
also recht hoch ist, darf sie nicht ohne die eben<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
genannten Bedingungen betrachtet werden. Die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> registrierten Jugendkriminalität<br />
wird in <strong>der</strong> Literatur nicht als beson<strong>der</strong>s auffällig<br />
angesehen. Demnach gäbe es kein Horrorszenario,<br />
wenn genau dies uns nicht durch Medien oftmals<br />
suggeriert werden würde. Nichts desto trotz gibt<br />
es eine kleine Gruppe von jungen MehrfachtäterInnen<br />
(5 - 10 % pro Geburtsjahr), die einen<br />
überproportionalen Anteil an Delikten verüben<br />
(50 - 65 %).<br />
Interessant erscheint es mir, noch einmal einen<br />
Blick auf die Rückfallstatistik zu werfen. Mehr als<br />
die Hälfte aller Jugendlichen, die strafrechtlich<br />
sanktioniert werden, werden rückfällig. Auffällig<br />
ist die Rückfälligkeitsrate bei <strong>der</strong> Jugendstrafe<br />
ohne Bewährung mit 'stolzen' 77,8 % (Spiess<br />
2004). Das Vollzugsziel 'künftiges Legalverhalten'<br />
wird somit nur in seltenen Fällen erreicht. Auch<br />
die Rückfallquote beim Jugendarrest ist mit<br />
70,0 % relativ hoch. Bei ambulanten Sanktionen,<br />
wie z. B. Geldstrafen o<strong>der</strong> sozialen Trainingskursen<br />
gibt es hingegen eine mit 33,4 % auffällig<br />
niedrige Rückfallquote. Diese Daten belegen, dass<br />
weniger intensive <strong>und</strong> eingreifende Sank-tionen,<br />
den harten Strafen des Vollzugs vorzuziehen sind.<br />
Haftstrafen sollten wirklich nur als letzter Ausweg<br />
betrachtet werden – dann, wenn <strong>an<strong>der</strong>e</strong> erzieherische<br />
Maßnahmen nicht mehr greifen <strong>und</strong> die<br />
Gesellschaft durch schwere Verbrechen in Gefahr<br />
steht.<br />
Erziehung zur Gesellschafts <br />
fähigkeit o<strong>der</strong> Anpassung<br />
an die Lebenswelt 'Knast'?<br />
Ich stelle in Frage, ob das Ziel (Erziehung zu<br />
einem künftigen Legalverhalten) unter den aktuellen<br />
Vollzugsbedingungen erreicht werden kann<br />
... Wie kann durch einen Vollzug das 'korrigiert'<br />
werden, was unter Umständen im Leben des jungen<br />
Menschen über Jahre hinweg schiefgelaufen<br />
ist?<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_93<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
Nirgendwo sonst als im Jugendvollzug gibt es<br />
eine solche Zusammenballung von beson<strong>der</strong>s<br />
gefährdeten Jugendlichen. Auf engstem Raum<br />
herrscht eine hohe Konzentration von Gewalt.<br />
Jugendliche tauschen ihre Erfahrungen aus <strong>und</strong><br />
prahlen damit herum, statt sich mit ihrer Strafe<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Schuld auseinan<strong>der</strong> zu setzen. Hier zählen<br />
Werte wie Männlichkeit, Stärke <strong>und</strong> Dominanz,<br />
im Gegensatz zu Einfühlungsvermögen o<strong>der</strong><br />
Mitleid. Der Einfluss dieser Subkultur ist mächtig.<br />
So entwickeln sich leicht eigene Gesetze,<br />
Werte <strong>und</strong> Verhaltensmuster unter den Gefangenengruppen.<br />
Weipert erkennt in diesem Zusammenhang<br />
den Affekt <strong>der</strong> sog. 'Prisonisierung'.<br />
Dies bedeutet, dass inhaftierte Jugendliche eher<br />
diese informellen Regeln lernen <strong>und</strong> sich an ihre<br />
neue Umwelt anpassen, statt hier zu lernen, sich<br />
in die Gesellschaft zu integrieren <strong>und</strong> legal zu<br />
leben.<br />
Ich möchte hier nicht alle inhaftierten Jugendlichen<br />
im Vollzug über einen Kamm scheren (immerhin<br />
gelingt es 22 % <strong>der</strong> Jugendlichen, nach<br />
einem Vollzug ein legales Leben zu führen). Mit<br />
Sicherheit kann ein Knast-Schock produktiv sein.<br />
Wahrscheinlich gibt es auch Jugendliche, die sich<br />
aus Einflüssen von verschiedenen Gefangenengruppen<br />
relativ gut heraushalten können <strong>und</strong> sich<br />
während ihrer Gefängniszeit schulisch o<strong>der</strong> beruflich<br />
weiterbilden, aber es gibt einfach eine Vielzahl<br />
von Bedingungen, die eine Resozialisierung nicht<br />
begünstigen <strong>und</strong> för<strong>der</strong>n!<br />
Praxisideen<br />
1. Texte <strong>und</strong> Gedichte<br />
In <strong>der</strong> Literatur <strong>und</strong> im Internet gibt es eine Fülle<br />
von biografischen Texten <strong>und</strong> Gedichten von inhaftierten<br />
Jugendlichen. Viele von ihnen eignen sich,<br />
um auf die ‚Lebenswelt Gefängnis‘ einzustimmen.<br />
So zum Beispiel die beiden folgenden Gedichte<br />
aus Nolle: „Wir sagen aus“ (2002).<br />
94_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Hab ich dazu gelernt? (Christian B.)<br />
Ganz oben o<strong>der</strong> ganz unten sein ist eine Antwort,<br />
keine Frage.<br />
Und doch hab ich versucht, zu än<strong>der</strong>n.<br />
Ich wollte es riskieren.<br />
Ich dachte, ich hätte nichts zu verlieren.<br />
Aber wie weit würde ich gehen, um ganz oben zu<br />
stehen?<br />
Zu weit, wie ich feststellen musste.<br />
Wie ein wildes Tier sperrte man <strong>mich</strong> ein.<br />
Jetzt bin ich hinter Gittern.<br />
Ich verfluche die ganze Welt.<br />
Vielleicht ein stiller Ruf <strong>der</strong> Einsamkeit.<br />
Gedankenspiele machen <strong>mich</strong> verrückt.<br />
Alles nur ein Augenblick <strong>der</strong> Ewigkeit.<br />
Die Jahre vergehen, mit läuft die Zeit davon.<br />
Wie es morgen wird, weiß ich heute schon.<br />
8 1 /2 Jahre (Michael Z.)<br />
Der Schmerz, <strong>der</strong> <strong>mich</strong> begleitet auf meinem langen<br />
Weg.<br />
Der nicht zu beschreiben ist, <strong>der</strong> an mir zerrt <strong>und</strong><br />
<strong>mich</strong> jeden Tag aufs neue beißt.<br />
Die unbeschreibliche Leere in mir, die <strong>mich</strong> wahnsinnig<br />
macht.<br />
Das Verlangen nach Dingen, die ich hier nicht<br />
bekomme.<br />
Der Entzug <strong>der</strong> Realität.<br />
Das ferngesteuerte Leben, das <strong>mich</strong> so anwi<strong>der</strong>t,<br />
keine eigenen Entscheidungen treffen zu<br />
können.<br />
Die kleinen Dinge,<br />
die je<strong>der</strong> als selbstverständlich ansieht, haben sie<br />
mir genommen.<br />
Sogar die Natur ist mir genommen worden.<br />
Nicht einmal im Regen darf ich laufen o<strong>der</strong> barfuss<br />
aus dem Hause gehen.<br />
Ich darf Leute, die mir wichtig sind, nur dann<br />
sehen, wenn es <strong>an<strong>der</strong>e</strong> erlauben.<br />
Ich bin 23 Jahre <strong>und</strong> darf kein Bier trinken.<br />
Was ist das <strong>für</strong> ein Leben?
2. Kontaktgruppen<br />
Im Bereich <strong>der</strong> Jugendvollzugsanstalten bieten<br />
sich Möglichkeiten <strong>der</strong> „Knastarbeit“. Im Vollzug<br />
sind so genannte Knast-Kontakt o<strong>der</strong> -Besuchsgruppen<br />
- an<strong>der</strong>s als im erzieherischen Arrest<br />
- erlaubt. In <strong>der</strong> Justizvollzugsanstalt in Hameln/<br />
Tün<strong>der</strong>n besteht eine solche Knast-Kontaktgruppe<br />
zwischen Schulklassen <strong>und</strong> Häftlingen. Man trifft<br />
sich regelmäßig innerhalb <strong>der</strong> Anstalt zu Spielangeboten,<br />
Gesprächsr<strong>und</strong>en o<strong>der</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Aktivitäten.<br />
Auskünfte <strong>und</strong> Kontakt erteilt <strong>der</strong> Anstaltspastor<br />
Karsten Brüggemann unter <strong>der</strong> Telefonnummer<br />
05151 904631.<br />
Kontakte zu <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Jugendarrest- o<strong>der</strong> Strafanstalten<br />
bekommt man aber auch über das zuständige<br />
Amtsgericht o<strong>der</strong> über das Internet.<br />
3. Rollenspiele <strong>für</strong> eine Gerichtsverhandlung<br />
zur „Akte Felix“<br />
Fallbeispiel „Akte Felix“ (Übernommen aus: Nolle<br />
2002):<br />
Felix wächst gut behütet in einer Familie auf,<br />
zusammen mit seiner drei Jahre älteren Schwester<br />
Melanie. Eines Tages fährt die Mutter mit <strong>der</strong><br />
Schwester zum Erdbeerpflücken. Der dreijährige<br />
Felix möchte gerne mit, darf aber nicht, er wird<br />
statt dessen zu seiner Oma gebracht.<br />
Auf dem Weg verunglücken Mutter <strong>und</strong> Schwester<br />
tödlich. Aufgr<strong>und</strong> seines Berufes möchte <strong>der</strong><br />
Vater die erzieherische Verantwortung <strong>für</strong> seinen<br />
Sohn nicht weiter übernehmen. Er gibt ihn in eine<br />
Pflege familie.<br />
Der Pflegevater Werner K., 44 Jahre, ist freiberuflicher<br />
Versicherungsvertreter <strong>und</strong> verbringt seine<br />
Freizeit als aktives Mitglied im Männergesangs-<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
verein. Die Pflegemutter Gabi K., 43 Jahre, hat ein<br />
eigenes Dessousgeschäft. Aus <strong>der</strong> Ehe gingen<br />
zwei Kin<strong>der</strong> hervor, Moritz <strong>und</strong> Max. Als Felix in die<br />
Familie kommt, sind die Söhne 16 <strong>und</strong> 18 Jahre alt.<br />
Felix fühlt sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre als Nutztier <strong>der</strong><br />
Familie, da er sehr viele Hausarbeiten erledigen<br />
muss. In <strong>der</strong> Schule war sein Lieblingsfach Geschichte.<br />
Und wenn er zu Hause etwas gelesen<br />
hat, dann waren es Geschichtsbücher. Felix hat<br />
zwar durch die Schule Fre<strong>und</strong>e gewonnen, darf sie<br />
aber nicht mit nach Hause bringen. Er hat wegen<br />
<strong>der</strong> vielen ihm auferlegten Hausarbeiten wenig<br />
Zeit <strong>für</strong> sie. Er fühlt sich ungerecht behandelt, weil<br />
Moritz <strong>und</strong> Max ihre Freizeit frei gestalten dürfen<br />
<strong>und</strong> keine Arbeiten im Haushalt erledigen müssen.<br />
Als Felix ca. 6 1 /2 Jahre ist, beginnt <strong>der</strong> Pflegevater<br />
ihn sexuell zu missbrauchen, immer dann, wenn er<br />
mit Felix alleine zu Hause ist. Felix ist noch sehr<br />
jung <strong>und</strong> versteht die sexuellen Übergriffe nicht als<br />
solche. Er weiß nicht, was da vor sich geht <strong>und</strong><br />
glaubt es sei normal. Der Pflegevater sagt ihm immer<br />
wie<strong>der</strong>, dass es ihr Geheimnis sei <strong>und</strong> wenn er <strong>der</strong><br />
Pflegemutter etwas sage, dann müsse er ins Heim.<br />
Kurz vor dem 13. Geburtstag kann Felix mit seinen<br />
Gefühlen nicht mehr umgehen, die sexuellen<br />
Übergriffe des Pflegevaters werden ihm als solche<br />
bewusst. Sein Schmerz wird so groß, dass er sein<br />
Zuhause verlässt. Zunächst wohnt er abwechselnd<br />
bei Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ab seinem 15. Lebensjahr ausschließlich<br />
auf <strong>der</strong> Strasse. Seinen Lebensunterhalt<br />
versucht er mit kleinen Straftaten zu decken.<br />
Sporadisch meldet er sich in all den Jahren immer<br />
mal wie<strong>der</strong> telefonisch bei seiner Pflegemutter,<br />
um ihr mitzuteilen, dass er noch lebt. Durch das<br />
Überlebenstraining auf <strong>der</strong> Strasse wurde er<br />
selbstbewusster <strong>und</strong> hat gelernt seine Interessen<br />
durchzusetzen.<br />
Mit 18 Jahren versucht er wie<strong>der</strong>, seine Mutter<br />
telefonisch zu erreichen <strong>und</strong> erfährt von seinem<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_95<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
Bru<strong>der</strong> Moritz, dass die Mutter wegen eines Unfalls<br />
im Krankenhaus liegt. Da er zu <strong>der</strong> Mutter<br />
immer guten Kontakt hatte <strong>und</strong> sie ihn immer sehr<br />
liebevoll behandelt hat, bekommt er Angst, sie<br />
nicht mehr sehen zu können <strong>und</strong> fährt nach Hause.<br />
Gemeinsam mit seinem Bru<strong>der</strong> Moritz besucht er<br />
die Mutter im Krankenhaus. Anschließend bittet<br />
ihn <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong>, mit nach Hause zu kommen, damit<br />
er sich erholen kann <strong>und</strong> die Mutter noch einmal<br />
besuchen könne. Zu Hause angekommen, berichtet<br />
Felix seinem Bru<strong>der</strong> die Erlebnisse <strong>der</strong> vergangenen<br />
Jahre. Der Bru<strong>der</strong> beschließt Felix von<br />
<strong>der</strong> Straße zu holen <strong>und</strong> bietet ihm Übergangsweise<br />
ein Zimmer in seiner Wohnung an. Er verspricht<br />
ihm einen Ausbildungsplatz in seiner Computerfirma.<br />
Felix ist hoch erfreut über die plötzliche Nähe<br />
seines Bru<strong>der</strong>s. Er geht früh schlafen, da ihn die<br />
Eindrücke dieses Tages mitgenommen haben.<br />
Als <strong>der</strong> Pflegevater nach Hause kommt, teilt Moritz<br />
ihm mit, dass Felix die Mutter im Krankenhaus<br />
besucht hat <strong>und</strong> nun in seinem alten Zimmer<br />
schläft. Der Vater wartet bis Moritz im Bett ist <strong>und</strong><br />
geht dann zu Felix ins Zimmer. Er hebt die Bettdecke<br />
hoch <strong>und</strong> berührt Felix im Genitalbereich.<br />
Felix wacht auf, erkennt, was <strong>der</strong> Vater tut, ist<br />
völlig außer sich <strong>und</strong> spürt in Sek<strong>und</strong>en den erlittenen<br />
Schmerz des sexuellen Missbrauchs <strong>der</strong><br />
vergangenen Jahre. Felix rastet völlig aus, stößt<br />
den Vater weg <strong>und</strong> schlägt panisch auf ihn ein. Der<br />
Vater weicht zurück. Felix schlägt weiter zu <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Vater stürzt die Treppe hinunter, die gleich von<br />
<strong>der</strong> Zimmertür von Felix ins Erdgeschoss führt.<br />
Moritz stürzt aus seinem Zimmer, weil er den Lärm<br />
gehört hat, sieht den Vater untern an <strong>der</strong> Treppe<br />
liegen <strong>und</strong> alarmiert sofort den Notarzt. Dieser<br />
stellt den Tod des Vaters durch Genickbruch fest.<br />
Urteilsspruch beim Landgericht:<br />
Der Angeklagte wird freigesprochen. Die Kosten<br />
des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des<br />
96_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Angeklagten werden <strong>der</strong> Staatskasse auferlegt.<br />
Mit Anklage vom 24.09.2001 hat die Staatsanwaltschaft<br />
Frankfurt dem Angeklagten vorgeworfen,<br />
seinen Pflegevater <strong>der</strong>art körperlich misshandelt<br />
<strong>und</strong> an <strong>der</strong> Ges<strong>und</strong>heit geschädigt zu haben, dass<br />
er in Folge <strong>der</strong> Verletzung zu Tode kam.<br />
Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass <strong>der</strong> Angeklagte<br />
zwar den objektiven Tatbestand <strong>der</strong><br />
Körperverletzung mit Todesfolge verwirklicht hat,<br />
es stand ihm jedoch zum einen das Notwehrrecht<br />
des § 32 StGB zur Seite, da er mit <strong>der</strong> Tathandlung<br />
zunächst einen gegenwärtigen rechtswidrigen<br />
Angriff des Geschädigten auf seine sexuelle<br />
Selbstbestimmung abgewehrt hat, soweit <strong>der</strong> Angeklagte<br />
die erfor<strong>der</strong>liche Notwehrhaltung überschritten<br />
<strong>und</strong> die Körperverletzung fortgesetzt hat,<br />
war er gemäß § 33 StGB nicht zu bestrafen, da <strong>der</strong><br />
Angeklagte diesen Tatteil im Zustand <strong>der</strong> Verwirrung<br />
begangen hat.<br />
Der Angeklagte war mit <strong>der</strong> Kostenfolge nach<br />
§ 459 StPO zu Lasten <strong>der</strong> Staatskasse freizusprechen.<br />
Zur Handlung:<br />
Dieses Fallbeispiel schil<strong>der</strong>t die Lebensgeschichte<br />
von Felix bis zu dem Punkt, an dem durch sein<br />
Agieren ein Mensch ums Leben kommt. Die Geschichte<br />
hilft, um zu verstehen, dass es sich bei<br />
jugendlichen StraftäterInnen eben nicht einfach<br />
nur um Kriminelle handelt, son<strong>der</strong>n jede/r Jugendliche<br />
seine/ihre eigene Vergangenheit, seine/ihre<br />
ganz individuelle Familien- <strong>und</strong> Lebensgeschichte<br />
hat. Laut <strong>der</strong> Quelle dieser Geschichte ist dieser<br />
Fall real geschehen, alle Namen <strong>und</strong> örtlichen Angaben<br />
sind aber selbstverständlich fiktiv.<br />
Mögliche Perspektiven <strong>und</strong> Fragestellungen zum<br />
Fallbeispiel:<br />
• Jede/r jugendliche Straftäter/in hat seine/ihre<br />
eigene, individuelle Geschichte – egal, wie die<br />
Gerichtsverhandlung ausgeht.
• Was ist Gerechtigkeit?<br />
• Ist es gerecht, dass Felix auf die Straße „musste“?<br />
• Wer hat Schuld an dem sexuellen Missbrauch?<br />
Die Familie – weil die Mutter nichts mitbekommen<br />
hat?<br />
Das Jugendamt – weil sie die Pflegefamilie <strong>für</strong> Felix<br />
ausgesucht hat?<br />
Felix leiblicher Vater – weil er sich davor „drückte“,<br />
<strong>für</strong> seinen eigenen Sohn Verantwortung zu übernehmen?<br />
• Rechtfertigt <strong>der</strong> sexuelle Missbrauch an Felix<br />
eine solche Tat?<br />
• Felix hat einen Menschen umgebracht. Selbstjustiz?<br />
• Je<strong>der</strong> hat eine zweite Chance verdient?! (Der Vater<br />
hat keine Möglichkeit mehr dazu, er ist tot.)<br />
Variante 1:<br />
Felix wird vor Gericht gebracht. Die Klasse/Gruppe<br />
soll sich als RichterInnen versuchen <strong>und</strong> durch<br />
Diskussion ein einstimmiges Urteil fällen.<br />
Variante 2:<br />
Das Fallbeispiel wird als Sachlage zu einer Gerichtsverhandlung<br />
genutzt. Diese soll als Rollenspiel<br />
mit verteilten Rollen nachgespielt werden.<br />
Hilfreich wäre es sicherlich, wenn die Klasse/Gruppe<br />
schon Informationen zum (Jugend-)Justizsystem<br />
hat <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> schon einmal eine Gerichtsverhandlung<br />
„live“ miterlebt hat. Mögliche Rollen: Richter/in,<br />
Staatsanwalt/wältin, Rechtsanwalt/wältin,<br />
Angeklagter Felix, Gutachten von Expert/innen<br />
(z. B. Psychologe/in: Auswirkungen von sexuellen<br />
Missbrauch auf den Menschen), Notarzt/ärztin,<br />
(mehrere) Schöff/innen (?), Zeug/innen (Moritz,<br />
Max, Mutter).<br />
Wer von euch ohne Sünde<br />
ist, <strong>der</strong> werfe den ersten Stein<br />
(Joh 7,53 – 8,11)<br />
Schriftgelehrte <strong>und</strong> Pharisäer brachten einmal<br />
eine Frau zu Jesus, sie wurde beim Ehebruch erwi-<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
scht, was nach dem Mose-Gesetz die Steinigung<br />
zur Folge hatte. Sie wollen Jesus damit eine Falle<br />
stellen, denn sollte Jesus nein zur Todesstrafe<br />
sagen, würde er sich damit gegen das Gesetz des<br />
Mose stellen <strong>und</strong> könnte öffentlich angeklagt werden.<br />
Würde er ja sagen, würde er seine eigenen<br />
proklamierten Ziele <strong>der</strong> Rettung des Menschen<br />
verleugnen. Jesus sagte erst einmal gar nichts,<br />
denn er ahnte die Falle <strong>der</strong> Schriftgelehrten. Nach<br />
weiterem Drängen schließlich, antwortete er mit<br />
dem Satz: „Wer von euch ohne Sünde ist, <strong>der</strong> werfe<br />
den ersten Stein“. Daraufhin schwiegen die Pharisäer<br />
<strong>und</strong> Schriftgelehrten <strong>und</strong> verließen betreten<br />
einer nach dem <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n den Schauplatz. Damit<br />
gestanden sie unausgesprochen ihre Schuld ein,<br />
auch sie waren nicht völlig frei von Sünde. Keiner<br />
warf den ersten Stein, die Frau wurde nicht gesteinigt.<br />
Jesus konnte sich aus <strong>der</strong> ihm gestellten Falle<br />
befreien, ohne die Frau schuldfrei zu sprechen. Er<br />
sagte zu ihr: „Sündige von nun an nicht mehr“ <strong>und</strong><br />
entließ sie in ein selbstverantwortliches <strong>und</strong> freies<br />
Leben.<br />
In dieser biblischen Geschichte legt Jesus die<br />
wirkliche Situation eines jeden Menschen offen:<br />
Niemand ist wirklich unschuldig, je<strong>der</strong> müsste im<br />
Gericht Gottes verurteilt werden. An vielen Stellen<br />
<strong>der</strong> Bibel wendet sich Jesus den Sün<strong>der</strong>n zu <strong>und</strong><br />
versucht damit, <strong>der</strong>en gesellschaftlicher Missachtung<br />
entgegen zu wirken.<br />
Je<strong>der</strong> Mensch sündigt o<strong>der</strong> hat gesündigt, außer<br />
Jesus. Durch die Gnade Gottes, behält aber jede/r<br />
Sündiger/in die Fähigkeit, die Sünde zu erkennen,<br />
Reue zu empfinden, um so schließlich Vergebung<br />
erfahren zu können.<br />
Was bedeutet das <strong>für</strong> unser Thema?<br />
Jede/r Straftäter/in muss mit ihrer/seiner verwirklichten<br />
Schuld umgehen können <strong>und</strong> damit lernen<br />
zu leben. Da<strong>für</strong> muss sie allerdings erst einmal<br />
wahrgenommen werden. So hat die christliche<br />
Seelsorge StraftäterInnen, Menschen darin zu<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_97<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
letzter Ausweg Jugendknast!?<br />
unterstützen, ihre Schuld als Würde <strong>und</strong> Bürde<br />
wahr- <strong>und</strong> anzunehmen <strong>und</strong> sich darüber klar zu<br />
werden, ob sie Vergeltung erbitten bzw. gewähren<br />
wollen (Evers 2005, S. 92). Christliche Seelsorge<br />
ist somit ein sinnvoller Beitrag zur Resozialisierung.<br />
Es muss ein geschützter Raum geschaffen<br />
werden, in dem sich mit <strong>der</strong> eigenen Schuld auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />
werden kann, denn so kann eine<br />
wirkliche Umkehr in Tat <strong>und</strong> Lebensein-stellung<br />
ermöglicht werden – eine nächste Chance nutzbar<br />
gemacht werden.<br />
Immer schlimmer = immer<br />
härter!?<br />
In den politischen Instanzen wird immer wie<strong>der</strong><br />
laut diskutiert, ob nicht angesichts <strong>der</strong> steigenden<br />
Kriminalitätsrate von Jugendlichen eine härtere<br />
Gangart im Bereich des Jugendkriminalrechts<br />
eingeschlagen werden müsste. Hierzu sage ich:<br />
Nein! Angesichts <strong>der</strong> Rückfallrate <strong>und</strong> <strong>der</strong> intensiven<br />
lebenseinschränkenden Eingriffe in das<br />
Leben eines jungen Menschen müssten meiner<br />
Meinung nach eher noch die ambulanten Maßnahmen<br />
<strong>und</strong> Sanktionen ausgebaut werden. Einer<br />
Jugendhilfe-Politik, die sich auf Sparzwänge beruft,<br />
muss sich klar machen, dass auch Haftplätze<br />
teuer sind, ein Hafttag kostet ca. 100 3 (Weipert<br />
2003, S. 104).<br />
Wir müssen uns überlegen an welchen Stellen wir<br />
kriminelle Jugendliche 'zur Umkehr' bewegen wollen.<br />
Erst im Vollzug, wenn vermutlich schon viele<br />
Handlungsabläufe festgefahren sind? Es gibt sie<br />
ja, die präventiven Maßnahmen, an vielen Stellen<br />
funktioniert <strong>und</strong> fruchtet die Arbeit, aber bitte ein<br />
bisschen mehr davon – anstatt hilflos die Gewaltsituation<br />
zu beklagen.<br />
Literatur<br />
• Evers, Ralf/Kleinert, Ulfried (Hrsg.): Wenn keiner<br />
den ersten Stein wirft – mit Schuld <strong>und</strong> Vergebung<br />
98_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
leben. Anstöße <strong>und</strong> Analysen aus Recht, Psychologie<br />
<strong>und</strong> Theologie. Leipzig 2005.<br />
• Nolle, Reinhard (Hrsg.): Wir sagen aus. Biografische<br />
Geschichten <strong>und</strong> Gedichte jugendlicher<br />
Gefangener. Kassel 2002.<br />
• Schimmel, Kerstin (Hrsg.): „So was macht doch<br />
je<strong>der</strong> mal...“. Jugend <strong>und</strong> Kriminalität. Dokumentation<br />
einer Tagung <strong>der</strong> Evangelischen<br />
Akademie Meißen. Frankfurt/Main 2000.<br />
• Spiess, Gerhard: Jugendkriminalität in Deutschland.<br />
Kriminalstatistische <strong>und</strong> kriminologische<br />
Bef<strong>und</strong>e. Münster 2004.<br />
Link: http://www.uni-konstanz.de/rtf/gs/G.<br />
Spiess-Jugendkriminalitaet.pdf<br />
Letzter Zugriff: 08.08.2007<br />
• Weipert, Thomas: Lebenswelt Gefängnis. Einblick<br />
in den Jugendstrafvollzug mit Berichten<br />
junger Gefangener. Herbolzheim 2003.<br />
Tanja von Rüsten
›› Deutsch-indische<br />
Jugendbegegnung<br />
in Tamil Nadu/Kerala
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Das Vorbereitungsmarathon <br />
gespannte Erwartungen!<br />
Die Entscheidung <strong>der</strong> Evangelischen Jugend <strong>der</strong><br />
Propstei Seesen, in den Sommerferien nicht nach<br />
Frankreich o<strong>der</strong> Italien zu fahren, son<strong>der</strong>n sich <strong>für</strong><br />
Indien zu entscheiden, reifte ein Jahr vor Antritt<br />
<strong>der</strong> Reise. „Indien ist aber nicht Mallorca“, stellte<br />
die 13-köpfige Vorbereitungsgruppe fest, denn es<br />
galt nicht nur den Flug <strong>und</strong> das Hotel zu buchen.<br />
Das Ziel war nicht nur, Indien als Land kennen zu<br />
lernen, son<strong>der</strong>n vor allem, mit indischen Jugendlichen<br />
gemeinsam die Zeit zu verbringen.<br />
Wie so oft stellte sich bei <strong>der</strong> Vorbereitung heraus,<br />
dass es an Geld fehlte. Die sieben weiblichen<br />
<strong>und</strong> sechs männlichen Mitarbeitenden nutzten<br />
die vorweihnachtliche Zeit, verkauften auf dem<br />
Weihnachtsmarkt in Seesen Waffeln, Kakao <strong>und</strong><br />
indischen Tee, um zum ersten Mal auf sich <strong>und</strong> ihr<br />
Anliegen aufmerksam zu machen.<br />
Im Februar begann dann das Vorbereitungsmarathon<br />
<strong>für</strong> diese außergewöhnliche Reise (in<br />
Deutschland herrschten noch eisige Temperaturen).<br />
Beim ersten Vorbereitungswochenende<br />
in Dransfeld bei Göttingen lernte sich die Gruppe<br />
näher kennen. Auftrag <strong>für</strong> alle Teilnehmenden war,<br />
über ein bestimmtes „indisches Thema“ zu referieren,<br />
über das sich jede/r im Vorfeld zu informieren<br />
hatte. So informierten „die Seesener“ sich gegenseitig<br />
über das Land, die Bevölkerungszahlen <strong>und</strong><br />
die indische Kultur <strong>und</strong> Lebensweise.<br />
Pragmatisch wie Evangelische Jugend ist, wurde<br />
aber auch über die benötigten Impfungen Auskunft<br />
gegeben. Bei vielen Schutzimpfungen ist <strong>der</strong><br />
Vorteil des Impfschutzes durch die diese Impfung<br />
begleitenden Nebenwirkungen geschwächt, so<br />
dass sich jede/r Gedanken machen musste, ob er<br />
sich <strong>für</strong> drei Wochen Indien einer Tollwutimpfung<br />
o<strong>der</strong> einer Malaria-Vorsorge unterzieht (egal, wie<br />
100_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
sich die/<strong>der</strong> Einzelne entschieden hat, alle sind<br />
ges<strong>und</strong> heimgekehrt).<br />
Einige Fakten:<br />
Republik Indien (IND); Bharatiya Ganaraiya (Hindi;<br />
Republik of India (Englisch)I<br />
Fläche: 3.287.365 km 2 , davon sind 78.114 km 2 mit<br />
Pakistan umstritten<br />
Einwohner: (2005) 1.080.264.388<br />
Bevölkerungsdichte: 328 pro km 2<br />
Hauptstadt: New Delhi (2005: 14 Mio. Einwohner)<br />
Amtssprachen: Hindi sowie 17 weitere offizielle<br />
Sprachen<br />
BSP/Einsw.: (2004) 640 $ Währung: 1 Indische<br />
Rupie (NR) = 100 Paise<br />
Land<br />
Lage: Südasien, angrenzend an das Arabische<br />
Meer <strong>und</strong> die Bucht von Bengalen, zwischen Pakistan<br />
im Westen <strong>und</strong> Bangladesch <strong>und</strong> Myanmar im<br />
Osten, Nordgrenzen im Himalaja mit Bhutan, China<br />
<strong>und</strong> Nepal<br />
Nachbarstaaten (Länge <strong>der</strong> gemeinsamen Grenze):<br />
Pakistan (2.912 km), China (3.380 km), Nepal<br />
(1.690 km), Bhutan (605 km), Myanmar (1.463 km)<br />
Bangladesch (4.053 km)<br />
Weitere wichtige Städte (2005): Mumbai, ehemals<br />
Bombay (16,4 Mio.); Bangalore (5,8 Mio.); Hy<strong>der</strong>abad<br />
(5,5 Mio.); Ahmedabad (4,8 Mio.)<br />
Klima: gemäßigt im Norden bis zu tropischem<br />
Monsunklima im Süden.<br />
Bevölkerung<br />
Ethnien: In<strong>der</strong> <strong>und</strong> kleine Min<strong>der</strong>heiten von Tibetern,<br />
Chinesen <strong>und</strong> Europäern, etwa 300 indigene<br />
Völker (7 %)<br />
Sprachen: (1994) Etwa 24 Sprachen werden von<br />
mindestens einer Mio. Menschen gesprochen <strong>und</strong><br />
englisch ist weit verbreitete Verkehrssprache. U. a.<br />
Hindi (350 Mio. Sprecher), Telugu (72 Mio.), Bengali<br />
(68 Mio.), Marathi (66 Mio.), Tamil (59 Mio.),<br />
Urdu (47 Mio.), Gujarati (44 Mi.), Kannada (36<br />
Mio.), Malayalam (34 Mio.), Oriya (30 Mio.).
Daneben zahlreiche weitere Sprachen <strong>und</strong> Dialekte.<br />
Religion: (2001) Hindus 80,5 %, Muslime 13,4 %,<br />
Christen 2,3 %, Sikhs 19,9 %, sowie Buddhisten,<br />
Jains, Parsen <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>.<br />
Altersstruktur: (2001) unter 15 Jahren 31,2 %, 15 –<br />
64 Jahre 63,9 %, 65 Jahre <strong>und</strong> mehr 4,9 .<br />
Bevölkerungswachstum (jährlich): 1,4 % (2004,<br />
Weltbank)<br />
Geschlechterverhältnis: (2001) 933 Frauen / 1000<br />
Männer<br />
Lebenserwartung: (2003) 63,4 Jahre<br />
Verstädterungsquote: (2004) 28 %<br />
Staat <strong>und</strong> Politik<br />
Staatsform: Parlamentarische B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Staatsoberhaupt: A.P.J. Abdul KALAM (seit 25. Juli<br />
2002)<br />
Regierungschef: Dr. Mammohan SINGH (seit 22.<br />
Mai 2004)<br />
Parlament: Unionsparlament (Parlament) mit zwei<br />
Kammern<br />
Verwaltung: 28 Unionsstaaten sowie sechs zentral<br />
verwaltete Unionsterritorien <strong>und</strong> die Unionshauptstadt<br />
New Delhi mit Son<strong>der</strong>status<br />
Unabhängigkeit: 15. August 1947<br />
Nationalfeiertag: 26. Januar (Tag <strong>der</strong> Republik –<br />
Inkrafttreten <strong>der</strong> Verfassung 1950)<br />
Wirtschaft<br />
BSP: (2004) 691 Mrd. $<br />
Wachstum des BSP (jährlich): 6,9 % GDP (2004,<br />
Weltbank)<br />
Zusammensetzung des PSP nach Sektoren: (2004)<br />
Dienstleistung <strong>und</strong> öffentlicher Dienst 51,8 %, Industrie<br />
27,0 %, Landwirtschaft 21,2 %, Produktion<br />
16,1 %<br />
Tätigkeit in Erwerbsbranchen: (1999) Landwirtschaft<br />
60 %, Industrie 17 %, Dienstleistung 23 %<br />
Die Vorbereitungstage wurden auch dazu genutzt,<br />
eine Übersicht über die erfor<strong>der</strong>lichen Finanzen zu<br />
bekommen <strong>und</strong> es wurde schnell deutlich, dass<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
noch einige Spenden gebraucht wurden, um das<br />
Vorhaben umzuzusetzen. Auf <strong>der</strong> Suche nach weiteren<br />
Einnahmequellen (da <strong>der</strong> Gewinn <strong>der</strong> Weihnachtsmarktaktion<br />
lediglich <strong>für</strong> ein Mittagessen<br />
gereicht hätte), bewarb sich das Team anschließend<br />
bei Quizsendungen, die einen hohen Gewinn<br />
in Aussicht stellten, verkauften allerhand Aussortiertes<br />
bei ‚ebay‘, boten einen Zeltverleih- <strong>und</strong><br />
Zeltaufbauservice an <strong>und</strong> planten den ‚Indientag‘<br />
mit einer Sponsorenrallye.<br />
Es verging die Zeit bis zum Mai mit Hoffen auf<br />
eine Zusage <strong>der</strong> Stiftungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Quizsendung,<br />
mit einigen Zeltaufbaueinsätzen <strong>und</strong> Impfungen.<br />
Im Mai stand dann das zweite Vorbereitungswochenende<br />
an, diesmal in Rhüden am Harz. Es<br />
gab nochmals Referate „r<strong>und</strong> um Indien“. Aber<br />
viel wichtiger: Es kam Besuch vom Indienbeauftragten<br />
des Evangelisch-lutherischen Missionswerkes<br />
„Manhoran“, <strong>der</strong> das Team bei <strong>der</strong> Arbeit<br />
unterstützte <strong>und</strong> in Indien die Jugendbegegnung<br />
organisierte. Er bereitete die Gruppe auf einen<br />
Kulturschock vor <strong>und</strong> gab einen Einblick in die indische<br />
Welt. Die Packliste wurde besprochen <strong>und</strong><br />
dann ging es in die heiße Phase <strong>der</strong> Vorbereitung,<br />
denn <strong>der</strong> Indientag im Juli rückte immer näher.<br />
Nun galt es, einen Gottesdienst, indisches Essen,<br />
eine Tombola <strong>und</strong> die Sponsorenrallye vorzubereiten.<br />
Um dies alles zu bewältigen ging es erst mal<br />
auf die Suche nach freiwilligen Helferinnen <strong>und</strong><br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_101<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Helfern innerhalb <strong>der</strong> Evangelischen Jugend. Auch<br />
diese Herausfor<strong>der</strong>ung wurde gemeistert, sodass<br />
nur noch Preise <strong>für</strong> die Tombola, ein vorbereiteter<br />
Gottesdienst <strong>und</strong> Sponsoren fehlten. <strong>Für</strong> die<br />
Tombola wurden b<strong>und</strong>esweit Firmen angeschrieben,<br />
von denen viele auch Werbegeschenke o<strong>der</strong><br />
Sachpreise <strong>für</strong> die Tombola schickten - so viele,<br />
dass die Tombola in Seesen eine <strong>der</strong> wenigen war,<br />
bei <strong>der</strong> es keine Nieten gab. Und auch <strong>der</strong> Gottesdienst<br />
war pünktlich zum Indientag vorbereitet,<br />
immerhin war in den Reihen <strong>der</strong> Indienreisenden<br />
<strong>der</strong> Propsteijugendpfarrer, <strong>der</strong> hier seine vielfältigen<br />
Talente einsetzen konnte.<br />
<strong>Für</strong> das Herzstück des Indientages, die Sponsorenrallye,<br />
war die Vorbereitung etwas intensiver.<br />
Die Fahrradfahrerinnen <strong>und</strong> -fahrer sollten einen<br />
Parcours um die Seesener St.Andreas Kirche<br />
abstrampeln, um <strong>für</strong> jeden gefahrenen Kilometer<br />
einen bestimmten Betrag von ihren Sponsoren<br />
zu bekommen. Die zeitaufwändige Suche nach<br />
FahrerInnen <strong>und</strong> Sponsoren begann. Innerhalb<br />
<strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Teammitglie<strong>der</strong> war es vielleicht<br />
noch einfach, Sponsoren zu finden, aber bei Unternehmen<br />
<strong>und</strong> Bekannten wurde es schon etwas<br />
schwieriger. „Klinken wurden geputzt“ <strong>und</strong> es wurde<br />
immer wie<strong>der</strong> aufs Neue „das Vorhaben Indien“<br />
erklärt. Bis zum Indientag hatte sich dann aber<br />
eine respektable Anzahl an För<strong>der</strong>nden gef<strong>und</strong>en,<br />
nicht zuletzt, weil manche Fahrerinnen <strong>und</strong> Fahrer<br />
ihre gesamten Verwandten b<strong>und</strong>esweit um Mithilfe<br />
gebeten hatten. Der Indientag wurde ein voller<br />
Erfolg <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 4.400 Euro <strong>für</strong> das Projekt ‚Unterstützung<br />
eines Kin<strong>der</strong>heimes‘ wurden „zusammengeradelt“.<br />
Die Reise konnte also beginnen.<br />
Einblicke <strong>der</strong> Jugendlichen in<br />
das gelebte Christentum in<br />
Tamil Nadu<br />
Auf <strong>der</strong> Studienfahrt durch die südindischen B<strong>und</strong>esstaaten<br />
Tamil Nadu <strong>und</strong> Kerale hat das Team<br />
102_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
in erster Linie Christen kennen gelernt, die <strong>der</strong><br />
Evangelisch Lutherischen Kirche (T.E.L.C.) angehören.<br />
Neben den Lutheranerinnen/Lutheranern<br />
sind aber auch Katholikinnen/Katholiken <strong>und</strong><br />
weitere evangelische Strömungen in Südindien zu<br />
finden. Christen bilden an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />
Indiens gemessen einen verschwindend geringen<br />
Anteil von 2,3 %. Der Großteil <strong>der</strong> indischen Bevölkerung,<br />
nämlich 83 %, gehört dem Hinduismus<br />
an, 12 % sind Moslems (hier sind die drei größten<br />
Religionen genannt, die übrigen gehören kleinen<br />
Gruppen an). Im B<strong>und</strong>esstaat Kerala sieht die Verteilung<br />
etwas an<strong>der</strong>s aus. Dort gibt es eine starke<br />
Gruppe <strong>der</strong> so genannten Thomaschristen, sodass<br />
das Verhältnis zwischen Moslems <strong>und</strong> Christen<br />
ausgeglichen bei jeweils 20 % liegt, wobei die<br />
Hindus nur noch 60 % <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />
Keralas ausmachen.<br />
Im B<strong>und</strong>esstaat Tamil Nadu mit seinen ca. 56 Millionen<br />
Einwohnern ist die T.E.L.C. mit ca. 100.000<br />
Mitglie<strong>der</strong>n eine sehr kleine Kirche. Die meisten<br />
Mitglie<strong>der</strong> sind kastenlose LandbewohnerInnen<br />
<strong>und</strong> teilen sich in 521 Gemeinden mit 116 Pastoren<br />
in 100 Pastorate auf. Die Gemeinden sind nach<br />
ihrer Finanzstärke in A, B, C <strong>und</strong> D eingeteilt. A<br />
heißt „finanziell unabhängig“, d. h., hier handelt<br />
es sich um reichere Gemeinden. Die D-Gemeinden<br />
benötigen hingegen finanzielle Unterstützung. A-<br />
Gemeinden finden sich vor allem in den Städten.
In <strong>der</strong> kleinen Kirche von Tranquebar, wo die Jugend-<br />
begegnung stattfand, war überraschen<strong>der</strong>weise<br />
ein Text auf Deutsch über dem Altar geschrieben.<br />
Diese Kirche wurde von dem (in Deutschland weitestgehend<br />
unbekannten) deutschen Missionar<br />
Bartholomäus Ziegenbalg aus Pulsnitz gegründet.<br />
Er missionierte in Tamil Nadu <strong>für</strong> Dänemark, da<br />
Deutschland zu dieser Zeit noch nicht an Mission<br />
interessiert war. Im Jahre 1706 kam er nach Tran-<br />
quebar <strong>und</strong> gründete dort zunächst eine Schule<br />
<strong>und</strong> versorgte die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln,<br />
bevor er begann, das Evangelium zu verkünden.<br />
Durch sein soziales Engagement schuf er eine Basis,<br />
auf <strong>der</strong> die Verkündigung Früchte tragen konnte.<br />
Da Ziegenbalg ebenfalls die deutsche Bibel in die<br />
dortige Sprache Tamil übersetzte, steht er in Indien<br />
auf einer Stufe mit Luther. Darüber hinaus brachte<br />
er durch zahlreiche Aufsätze die Tamikultur auch<br />
nach Deutschland. Zu seinen Lebzeiten interessierte<br />
sich noch niemand <strong>für</strong> dieses „heidnische Volk“,<br />
erst im 19. Jh. fanden seine Arbeiten über die Kultur<br />
seines Missionsortes in Deutschland Anerkennung.<br />
In <strong>der</strong> Tamilkirche wird Ziegenbalg auf Gr<strong>und</strong><br />
seiner herausragenden Leistungen sehr verehrt.<br />
Dieses Jahr hatte er 300-jähriges Jubiläum, sodass<br />
überall große Plakate <strong>und</strong> in Tranquebar eine lebensgroße<br />
Statue von ihm zu finden waren.<br />
Die Kirche wird vom Bischof geleitet, <strong>der</strong> zusammen<br />
mit drei Pastoren <strong>und</strong> fünf Laien den Kirchenrat<br />
bildet, vergleichbar mit <strong>der</strong> Kirchenregierung<br />
<strong>der</strong> Evangelisch-lutherischen Landeskirche in<br />
Braunschweig. Die Synode als oberstes Entscheidungsgremium<br />
trifft sich nur alle drei Jahre.<br />
Gesetze zwischen den Jahren verabschiedet ein<br />
jährlich tagendes Synodalgremium, <strong>der</strong> SCC.<br />
Die Aufgaben dieser indischen Kirche glie<strong>der</strong>n<br />
sich nach bestimmten Sparten:<br />
Erziehung/Ausbildung: Zuständig da<strong>für</strong> ist das<br />
Schulbüro.<br />
Medizinische Einrichtungen: Dabei handelt es sich<br />
vor allem um Krankenhäuser.<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Arbeit/Industrie: Diese Sparte bietet jungen Menschen<br />
Ausbildungsmöglichkeiten.<br />
Jugendbüro: Hatte seinen Sitz in Madurai, wurde<br />
aber 2006 aufgelöst.<br />
Schwestern/Frauenarbeit: Hier kümmert man sich<br />
um die Stärkung <strong>der</strong> Frauenrolle <strong>und</strong> die Ausbildung<br />
von Diakonissen.<br />
Liegenschaftsbüro: Dieses Büro verwaltet Gr<strong>und</strong>stücke<br />
<strong>und</strong> Häuser.<br />
Entwicklungsbüro SEDB: Die Arbeit dieses Büros<br />
wollen wir mit den gesammelten Spendengel<strong>der</strong>n<br />
unterstützen, da die Mitarbeiter von <strong>der</strong><br />
Kirche kaum noch Geld zur Verfügung gestellt<br />
bekommen. Hier kümmert man sich um soziale<br />
Kleinprojekte wie Brunnenbohrungen o<strong>der</strong> AIDS-<br />
Aufklärungskampagnen.<br />
Über all diesen Sparten <strong>und</strong> in allen Gremien vertreten<br />
ist <strong>der</strong> Bischof, dadurch erhält er eine große<br />
Macht über die kirchliche Arbeit. Die Einflussnahme<br />
<strong>der</strong> Gesamtsynode hingegen ist relativ gering.<br />
Durch die lange Sitzungspause werden schnelle<br />
Entscheidungen verhin<strong>der</strong>t, Verän<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong><br />
neue Gedanken können nur langsam verwirklicht<br />
werden.<br />
Im Jahre 1994 begann <strong>der</strong> Kirchenstreit über die<br />
Ausrichtung <strong>der</strong> Kirche <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Arbeit. Der<br />
damalige Bischof Johnson wollte eine mehr missionarische<br />
Kirche. Bei dem Versuch, dies zu<br />
verwirklichen, stellte sich vor allem das mächtige<br />
Schulbüro mit dem damaligen Generalsekretär<br />
<strong>der</strong> Kirche quer. Dieser Streit eskalierte <strong>und</strong> führte<br />
1995 zur Proklamation eines Gegenbischofs. Mehrere<br />
Jahre war die T.E.L.C. in <strong>der</strong> Krise, <strong>der</strong> Geldhahn<br />
<strong>der</strong> unterstützenden Missionsgesellschaften<br />
versiegte, sodass in Indien keine Gehälter gezahlt<br />
werden konnten. Erst durch eine langwierige Vermittlung<br />
konnte sich die T.E.L.C. 1998/99 wie<strong>der</strong><br />
aus <strong>der</strong> <strong>für</strong> sie misslichen Lage befreien. Ein neuer<br />
Bischof mit dem Namen Aruldos ist im Amt, <strong>der</strong><br />
die Leitungsgremien <strong>der</strong> Kirche mit seinen eigenen<br />
Leuten besetzte. Es entsteht <strong>der</strong> Eindruck, das die<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_103<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Kirchenleitung sich beim Voranbringen von Neuerungen<br />
selbst im Weg steht.<br />
Nach neuester Einschätzung des Evangelischlutherischen<br />
Missionswerkes findet hervorragende<br />
Arbeit in den Kirchengemeinden statt.<br />
Hinduismus<br />
Knapp über 82 % <strong>der</strong> Bevölkerung in Indien sind<br />
Hindus (820 Millionen). Nach dem Christentum <strong>und</strong><br />
dem Islam ist <strong>der</strong> Hinduismus die drittgrößte Welt-<br />
religion. Dabei handelt es sich bei dem aus dem<br />
Ausland stammenden Namen „Hinduismus“ mehr<br />
um eine Sammelbezeichnung <strong>für</strong> die Richtungen<br />
auf dem indischen Subkontinent, die nicht Muslime,<br />
Christen, Juden, Buddhisten o<strong>der</strong> Jainas waren.<br />
Das Wort „Hinduismus“ ist von <strong>der</strong> Bezeichnung<br />
„Hindu“ abgeleitet, die im Mittelalter von den<br />
Muslimen zur Bezeichnung <strong>der</strong> im Gebiet des<br />
Flusses Sindu (Indus) lebenden Bevölkerung<br />
verwendet wurde. Daraus entstand letztendlich<br />
<strong>der</strong> Oberbegriff <strong>für</strong> alle auf dem indischen Subkontinent<br />
lebenden Völker. Der Hinduismus ist heute<br />
weltweit verbreitet. Doch trotz <strong>der</strong> Ausbreitung<br />
über die ganze Erde bleibt <strong>der</strong> Hinduismus untrennbar<br />
mit <strong>der</strong> Kultur Südasiens verknüpft, <strong>und</strong><br />
je<strong>der</strong> Versuch, die hinduistische Tradition zu verstehen,<br />
muss in Indien ansetzen.<br />
Geschichte<br />
Die Zivilisation des Industals wird als die früheste<br />
bekannte Zivilisation Indiens bezeichnet. Die<br />
Induskultur entwickelte sich ab ungefähr 2500 v.<br />
Chr. <strong>und</strong> erreichte ihren Höhepunkt gegen 2300 -<br />
2000 v. Chr.<br />
Etliche erhaltene Kunstzeugnisse lassen darauf<br />
schließen, dass die religiösen Praktiken ähnlich<br />
104_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
denjenigen waren, wie sie sich in den späteren<br />
südasiatischen Traditionen finden. So gibt es zum<br />
Beispiel Siegel mit einer Gestalt in einer Sitzhaltung,<br />
die man als Yoga-Haltung deuten könnte.<br />
Zwischen 2000 <strong>und</strong> 1500 v. Chr. setzte in <strong>der</strong> Bevöl-<br />
kerung Zentralasiens eine starke Migrationsbewegung<br />
ein. Zu dieser Bewegung zählten auch die<br />
„Arier“, die sich im heutigen Iran <strong>und</strong> im Norden<br />
Indiens nie<strong>der</strong>ließen <strong>und</strong> dort zur dominierenden<br />
Kraft wurden. Diese brachten neue Götter <strong>und</strong><br />
Kulte mit ins Land. Die frühesten religiösen Textschöpfungen<br />
in Indien sind indoeuropäische Sans-<br />
krit-Texte <strong>der</strong> Veden. Diese frühe vedische Religion<br />
kannte keine Tempel o<strong>der</strong> Götterbil<strong>der</strong>. Die Götter<br />
wurden durch Feueropfer angebetet, man bot Opfer-<br />
gaben des heiligen Safts Shoma, Thee (Butterschmalz),<br />
Milch, Brot <strong>und</strong> manchmal Fleisch <strong>der</strong><br />
Tiere dar. In <strong>der</strong> nächsten Entwicklungsstufe (ca.<br />
800 v. Chr.) erhielten die Brahmanen durch komplizierte<br />
Rituale einen hohen Grad an Einfluss. Eine<br />
Neuausrichtung beginnt in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Upanischaden<br />
(philosophische Schriften des Brahmanismus).<br />
Sie umfassen etwa 250 Schriften, die über mehrere<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte entstanden sind <strong>und</strong> Themen<br />
wie Wie<strong>der</strong>geburt, Yoga <strong>und</strong> Karma ansprechen.<br />
Als Gegenbewegung zu dem Vedismus <strong>und</strong> Brahmanismus<br />
setzten sich im 5. <strong>und</strong> 6. Jahrh<strong>und</strong>ert v.<br />
Chr. <strong>der</strong> Buddhismus sowie <strong>der</strong> Janismus ab.<br />
Die nächste Epoche wird „<strong>der</strong> klassische Hinduismus“<br />
genannt. Das Ende <strong>der</strong> Upanishadenzeit
wird oft als ein Einschnitt angesehen. Die Zeit<br />
davor wird in <strong>der</strong> Indologie gewöhnlich Brahmanismus<br />
genannt <strong>und</strong> Hinduismus bezeichnet dann<br />
ausschließlich die nachfolgende Zeit. Seit 500 v.<br />
Chr. erfuhr <strong>der</strong> Hinduismus wahrscheinlich seine<br />
bis heute überlieferte wesentliche Ausgestaltung.<br />
Die Sprache <strong>der</strong> Überlieferung war Sanskrit, eine<br />
indogermanische Sprache, verwandt mit den europäischen<br />
Sprachen. Als Hauptgötter galten nun<br />
Brahma, Vishnu <strong>und</strong> Shiva <strong>und</strong> es wurden Tempel<br />
gebaut, Götterstatuen aufgestellt <strong>und</strong> viele Kult-<br />
<strong>und</strong> Weihehandlungen entstanden. Das Ramayana<br />
<strong>und</strong> das Mahabharata sind umfangreiche <strong>und</strong> noch<br />
heute viel gelesene Dichtungen dieser Periode.<br />
Der wichtigste Teil des Mahabharata ist das Lehrgedicht<br />
Bhagavad Gita. In diese Zeit fällt auch<br />
die Ausformung einer Vielzahl von Glaubensrichtungen,<br />
die einzelne Götter speziell verehren<br />
(beispielsweise Shivaismus <strong>und</strong> Vishnuismus).<br />
Seit dem 4. Jh. v. Chr. verloren die hinduistischen<br />
Religionen durch den Buddhismus zwar Anhänger,<br />
sie gingen jedoch nie ganz unter <strong>und</strong> wurden erst<br />
im 4. Jh. von den damaligen Königen wie<strong>der</strong> bevorzugt.<br />
Seit dem 8. Jh. drangen immer wie<strong>der</strong> muslimische<br />
Eroberer nach Indien vor, vom 13. bis zum 18. Jh.<br />
regierten in Indien muslimische Herrscher. Ab<br />
Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts nahm <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong><br />
Briten immer mehr zu: 1857 wurde Indien britische<br />
Kronkolonie. Im neohinduistischen Rückblick<br />
erschienen die Jahrh<strong>und</strong>erte <strong>der</strong> muslimischen<br />
Fremdherrschaft als Epoche <strong>der</strong> Stagnation. Zwar<br />
war es gelungen, vom 9. bis 13. Jh. den Buddhismus<br />
zurück zu drängen – schon im 10. Jh. war <strong>der</strong><br />
Hinduismus wie<strong>der</strong> zur vorherrschenden Religion<br />
des gesamten Subkontinents geworden. Unter<br />
muslimischer Herrschaft begann er jedoch, sich<br />
politisch zurück zu ziehen. Als Ausdruck dieser säkularen<br />
Ohnmacht kann gelten, dass die Zahl <strong>der</strong><br />
Sannyasin, <strong>der</strong> Weltentsager, immer größer wurde.<br />
Dennoch brachte die Zeit auch Neuerungen. Die<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Verbreitung des Islam etwa führte dazu, dass <strong>der</strong><br />
Hinduismus Schriftreligion wurde. Zwar blieb das<br />
Sanskrit als die „Sprache <strong>der</strong> Götter“ die Domäne<br />
<strong>der</strong> Brahmanen, aber ab dem 11. Jh. beginnt mit<br />
<strong>der</strong> Übersetzung <strong>und</strong> den Adaptionen <strong>der</strong> traditionellen<br />
Texte in so genannte Volkssprachen eine<br />
neue Epoche. In Punjab entstand in dieser Zeit <strong>der</strong><br />
Sikhismus.<br />
Durch den Kontakt mit <strong>der</strong> westlichen Welt – vor<br />
allem durch die britische Kolonisation ab Mitte<br />
des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem westlichen Denken – entstanden ab<br />
1800 mehrere Reformbewegungen, die unter <strong>der</strong><br />
Bezeichnung Neohinduismus zusammengefasst<br />
werden. Dieser interpretierte den Hinduismus im<br />
Licht <strong>der</strong> Ideen <strong>der</strong> europäischen Aufklärung, in<br />
<strong>der</strong> Begegnung mit dem Christentum <strong>und</strong> den mo<strong>der</strong>nen<br />
Wissenschaften <strong>und</strong> er stellte die „große“<br />
brahmanische, schriftliche <strong>und</strong> gelehrte Tradition<br />
in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>.<br />
Lehren:<br />
Der Hinduismus ist eine Religion, die aus verschiedenen<br />
Richtungen mit recht unterschiedlichen<br />
Schulen <strong>und</strong> Ansichten besteht. Es gibt kein gemeinsames<br />
<strong>für</strong> alle gleichermaßen gültiges Glaubensbekenntnis.<br />
Nur einzelne Richtungen gehen<br />
auf einen bestimmten Begrün<strong>der</strong> zurück. Da es<br />
sich beim Hinduismus um unterschiedliche religiöse<br />
Traditionen handelt, gibt es auch keine zentrale<br />
Institution, die Autorität <strong>für</strong> alle Hindus hätte.<br />
Die Lehren über spirituelle Belange <strong>und</strong> sogar die<br />
Gottesvorstellungen sind in den einzelnen Strömungen<br />
sehr verschieden, selbst die Ansichten<br />
über Leben, Tod <strong>und</strong> Erlösung stimmen nicht<br />
überein. Die meisten Gläubigen jedoch gehen<br />
davon aus, dass Leben <strong>und</strong> Tod einen sich ständig<br />
wie<strong>der</strong>holen<strong>der</strong> Kreislauf bilden, sie glauben an<br />
die Reinkarnation. <strong>Für</strong> den persönlichen Glauben<br />
haben religiöse Lehrer (Gurus) oft einen großen<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_105<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Stellenwert. Trotz aller Unterschiede können Hindus<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Richtungen weitgehend gemein-<br />
sam feiern <strong>und</strong> beten, wenn auch ihre Theologie<br />
<strong>und</strong> Philosophie nicht übereinstimmt. „Einheit in<br />
<strong>der</strong> Vielfalt“ ist eine oft verwendete Redewendung<br />
zur Selbstdefinition im mo<strong>der</strong>nen Hinduismus.<br />
Das Kastensystem:<br />
Die Zugehörigkeit zu einer Kaste hat <strong>für</strong> indische<br />
Hindus trotz Abschaffung des Kastensystems in<br />
<strong>der</strong> Verfassung weiterhin große soziale Relevanz.<br />
Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Kastenordnung ist, dass die Lebe-<br />
106_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Brahmanen<br />
wesen von Geburt an nach Aufgaben, Rechten,<br />
Pflichten <strong>und</strong> Fähigkeiten streng voneinan<strong>der</strong> getrennt<br />
sind. <strong>Für</strong> die einzelnen Kasten (Varnas) gibt<br />
es unterschiedliche spezielle religiöse <strong>und</strong> kultische<br />
Vorschriften, die sich in allen Bereichen des<br />
Lebens äußern. Die Durchführung <strong>der</strong> Pflichten,<br />
die je<strong>der</strong> Kaste in ihrem spezifischen Lebensstadium<br />
obliegt, ist ihre unbedingte Pflicht (Dharma);<br />
Übertretungen werden als Versäumnis <strong>der</strong> Pflichten<br />
<strong>und</strong> folglich als schlecht angesehen. Was von<br />
jedem Menschen erwartet wurde, war, dass er den<br />
spezifischen Pflichten seiner Kaste folgte, seine<br />
Lebenswünsche befriedigte <strong>und</strong> die Freuden des<br />
Lebens genoss. Die Gesellschaft war in vier Kasten<br />
eingeteilt, <strong>der</strong>en Aufgaben folgende waren:<br />
Sie studierten die heiligen Schriften <strong>der</strong> Veden, erteilten geistliche Unterweisung <strong>und</strong> führten rituelle<br />
Opfer aus.<br />
Kshatriyas<br />
Die Kriegerkaste. Sie sollten die Schwachen schützen, als Könige gerecht<br />
regieren <strong>und</strong> den Brahmanen Schutz <strong>und</strong> Ermunterung bei ihren gelehrten<br />
<strong>und</strong> priesterlichen Arbeiten gewähren.<br />
Vaishyas<br />
Die Kaste <strong>der</strong> Händler <strong>und</strong> Hirten sollte den Reichtum<br />
des Landes durch Handel <strong>und</strong> Landwirtschaft vermehren.<br />
Shudras<br />
Die dienende Kaste<br />
Diese Einteilung <strong>der</strong> Menschenklassen wird mit<br />
dem Mythos von <strong>der</strong> Opferung des Urriesen Purusa<br />
begründet. Aus ihm seien demnach die vier<br />
varna bzw. Kasten entsprungen; aus dem M<strong>und</strong><br />
die Priester bzw. Brahmanen, aus <strong>der</strong> Schulter die<br />
Krieger bzw. Kshartriya, aus einem Schenkel die<br />
Händler bzw. Vaishya <strong>und</strong> schließlich aus <strong>der</strong> Fußsohle<br />
die Bediensteten bzw. Shudra.
Unterhalb <strong>der</strong> vier Hauptkasten sind die Dalits<br />
(früher als Unberührbare bezeichnet), die <strong>für</strong><br />
min<strong>der</strong>wertige Arbeiten wie Toilettenreinigung <strong>und</strong><br />
Straßenkehren zuständig sind. Um die Stellung<br />
<strong>der</strong> Dalits zu verbessern, hat die Regierung ihnen<br />
eine beträchtliche Anzahl von Arbeitsplätzen im<br />
öffentlichen Sektor vorbehalten.<br />
Obwohl das Kastenwesen im Hinduismus entstanden<br />
ist, wird es dort auch von <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Religionen<br />
praktiziert. So hat die Christianisierung das Kastenwesen<br />
nicht immer überw<strong>und</strong>en. Noch heute<br />
müssen in vielen Kirchen Indiens Angehörige <strong>der</strong><br />
unteren Kasten hinten sitzen. Die Wurzeln <strong>der</strong><br />
traditionellen Kastenordnung Indiens reichen zurück<br />
bis 1500 v. Chr., als die Nomadengruppen <strong>der</strong><br />
indogermanischen Sprachgruppe aus dem Norden<br />
nach Indien einwan<strong>der</strong>ten. 1949 wurde auf Mahatma<br />
Gandhis Drängen hin das Verbot des Kastenwesens<br />
aufgenommen. Durch Jahrtausende lange<br />
Handhabung wird dieses Verbot von <strong>der</strong> indischen<br />
Gesellschaft, vor allem in ländlichen Regionen,<br />
aber weitgehend ignoriert.<br />
Exkurs: Jainismus, Parsismus <strong>und</strong> Sikhismus<br />
Jainismus<br />
Der Jainismus mit seinen r<strong>und</strong> 3 Millionen Anhängern<br />
entstand gleichzeitig mit dem Buddhismus<br />
als eine Art Reformbewegung gegen die autoritären<br />
Strukturen des Brahmanismus. Begrün<strong>der</strong><br />
dieser Lehre war Jinas, wie <strong>der</strong> historische Buddha<br />
ein Prinz aus <strong>der</strong> Kaste <strong>der</strong> Kshatriyas.<br />
Vereinfacht gesagt, glauben die Jains nicht an<br />
Gott. Göttlichkeit wohnt vielmehr in je<strong>der</strong> Seele.<br />
Diese Religion, die keine Kasten kennt, wird durch<br />
Karma <strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>geburt bestimmt. „Befreiung“<br />
wird durch rechten Glauben, rechte Erkenntnis<br />
<strong>und</strong> rechtes Verhalten erlangt. Dazu zählt in erster<br />
Linie die Achtung aller Lebewesen. Mönche<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
<strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> fromme Jains tragen deshalb einen<br />
M<strong>und</strong>schutz, <strong>der</strong> sie vor dem versehentlichen<br />
Verschlucken eines Insekts bewahren soll. Selbstverständlich<br />
sind alle frommen Jains strenge Vegetarier.<br />
Die Hochburgen <strong>der</strong> Jains liegen in Gujarat<br />
<strong>und</strong> Rajasthan.<br />
Parsismus<br />
Die Parsen stammen ursprünglich aus Persien. Sie<br />
stellen mit höchstens noch 80.000 Angehörigen<br />
eine <strong>für</strong> indische Verhältnisse sehr kleine, da<strong>für</strong><br />
aber sehr einflussreiche Gemeinschaft dar.<br />
Parsen folgen <strong>der</strong> Lehre Zarathustras: Ahura<br />
Mazda ist <strong>der</strong> einzige Gott, ewiger Kämpfer<br />
gegen das Böse. Alle Elemente sind den Parsen<br />
heilig <strong>und</strong> sie legen ihre Toten auf so genannten<br />
„Türmen des Schweigens“ den Geiern zum Fraß<br />
vor.<br />
In <strong>der</strong> indischen Wirtschaft spielen die Parsen eine<br />
entscheidende Rolle. Der Tata-Clan, zu dem Stahlwerke,<br />
Lastwagen-Fabriken <strong>und</strong> Hotels gehören,<br />
ist das größte Privatunternehmen im Lande. Fast<br />
alle Parsen leben in Bombay <strong>und</strong> sind in ihrem<br />
Lebensstil sehr westlich geprägt.<br />
Sikhismus<br />
Insbeson<strong>der</strong>e durch die Ermordung Indira Gandhis<br />
durch Sikhs ist diese Glaubensrichtung stark<br />
in Verruf geraten. Plötzlich galten Sikhs als beson<strong>der</strong>s<br />
gewalttätig. Dabei war die Religion<br />
entstanden, um hinduistische mit islamischen Auffassungen<br />
zu versöhnen. Ihr Grün<strong>der</strong> Guru Nanak<br />
setzte sich im 15. Jh. <strong>für</strong> mehr Toleranz zwischen<br />
dem monotheistischen Islam <strong>und</strong> dem poly- o<strong>der</strong><br />
pantheistischen (das Göttliche existiert in allen<br />
Dingen <strong>der</strong> Welt o<strong>der</strong> ist mit <strong>der</strong> Welt identisch)<br />
Glauben <strong>der</strong> Hindus ein.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_107<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Sikhs sind auch schon früh <strong>für</strong> die Besserstellung<br />
<strong>der</strong> Frau eingetreten. Obwohl nach Sikh-Glauben<br />
nur ein Gott existiert, werden noch viele Hindu-<br />
Gottheiten nebenher verehrt. Das Kastensystem<br />
wird weitgehend abgelehnt. Der Glaube an Wie<strong>der</strong>geburt<br />
ist auch im Sikhismus zu finden.<br />
Männliche Sikhs fallen überall in Indien auf, weil<br />
sie alle einen Bart <strong>und</strong> einen Turban tragen. Das<br />
ungeschorene Haar unter dem Turban zu einem<br />
Knoten geb<strong>und</strong>en, ist eines <strong>der</strong> fünf K-Regeln<br />
(neben einem Kamm, <strong>der</strong> im Haar steckt, kurze Hosen<br />
unter <strong>der</strong> üblichen Kleidung, ein Armreif, ein<br />
Dolch, <strong>der</strong> bei den meisten Sikhs nur als Emblem<br />
o<strong>der</strong> in Miniform vorhanden ist).<br />
Die Stellung <strong>der</strong> Frau in Indien<br />
Indien ist ein Land, das sich im Aufbruch in eine<br />
neue Zeit befindet. In Sachen Gleichberechtigung<br />
<strong>und</strong> Emanzipation <strong>der</strong> Frau ist Indien noch sehr<br />
traditionell orientiert, obwohl auch hier eine Umwälzung<br />
stattfindet. Frauen stellen bis heute eine<br />
Min<strong>der</strong>heit dar, aus dem einfachen Gr<strong>und</strong>, weil es<br />
einen Männerüberschuss in Indien gibt. Zwar ist<br />
die Frau vor dem Gesetz gleichberechtigt, im Alltag<br />
ist dies aber wohl kaum zu erkennen.<br />
Das Team berichtete, dass ihnen während <strong>der</strong><br />
Reise durch den Süden Indiens die unterwürfige<br />
<strong>und</strong> diskriminierende Stellung <strong>der</strong> Frau oftmals<br />
schmerzlich bewusst wurde, nicht zuletzt, weil die<br />
Teilnehmerinnen selten den Respekt erfuhren, <strong>der</strong><br />
ihnen gegenüber angemessen gewesen wäre.<br />
Auf <strong>der</strong> Straße wurden die männlichen Teammitglie<strong>der</strong><br />
sehr oft von Männern angesprochen,<br />
fre<strong>und</strong>lich begrüßt <strong>und</strong> in Gespräche verwickelt.<br />
Die Frauen <strong>der</strong> Seesener Gruppe wurden meist<br />
ignoriert o<strong>der</strong> nur mit einem Kopfnicken begrüßt,<br />
was bei <strong>der</strong> sonst überschwänglich fre<strong>und</strong>lichen<br />
Art <strong>der</strong> In<strong>der</strong> <strong>und</strong> In<strong>der</strong>innen fast beleidigend<br />
wirkte.<br />
108_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
„Eines Abends sprach <strong>mich</strong> ein junger In<strong>der</strong> in<br />
Chennai auf <strong>der</strong> Straße an <strong>und</strong> wir begannen, uns<br />
zu unterhalten. Nach einiger Zeit winkte er eine<br />
junge Frau heran, die sich bis zu diesem Zeitpunkt<br />
im Hintergr<strong>und</strong> gehalten hatte <strong>und</strong> stellte sie uns<br />
als seine Ehefrau vor. Sie begrüßte uns höflich<br />
<strong>und</strong> verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht<br />
war. Es schien mir, als dürfte seine Frau nicht an<br />
Gesprächen zwischen Männern teilnehmen, es sei<br />
denn, ihr Ehemann erlaubte es ihr.”<br />
Schon im hinduistischen Gesetzbuch Manu steht,<br />
dass die Frau ein Leben lang einem Mann untertan<br />
zu sein hat, erst ihrem Vater, später ihrem Ehemann<br />
<strong>und</strong> dann ihrem Sohn. Die indischen Familien<br />
sind meist so groß, dass es schwer ist, diese<br />
überhaupt zu ernähren. Durch das Mitgiftsystem<br />
ist eine Tochter eine große finanzielle Last <strong>für</strong> die<br />
Familie <strong>und</strong> wird mit Kosten <strong>und</strong> Unglück in Verbindung<br />
gebracht. Es gibt daher in Indien eine sehr<br />
hohe Abtreibungsquote weiblicher Föten.<br />
Gescheiterte Ehen sind <strong>für</strong> die Ehefrau häufig das<br />
Aus. Sie kann nicht in ihre Familie zurückkehren,<br />
da diese froh ist, einen Esser weniger zu haben<br />
<strong>und</strong> außerdem wäre dies eine Schande <strong>für</strong> die<br />
Familie. Eine weitere Heirat ist auch so gut wie<br />
ausgeschlossen. Kein indischer Mann heiratet eine<br />
Witwe, geschweige denn eine geschiedene Frau.<br />
So ist die Frau nun eine Ehrlose <strong>und</strong> hat keinerlei<br />
Möglichkeit, wie<strong>der</strong> ein Teil <strong>der</strong> Gesellschaft zu<br />
werden. <strong>Für</strong> solche Frauen gibt es spezielle Organisationen,<br />
die ihnen Möglichkeiten geben, mit<br />
Handarbeit Geld zu verdienen. Die meisten Frauen<br />
aber werden durch den Tod des Ehemannes zu<br />
Bettlerinnen. Auch nach dem Tod ist die Frau an<br />
ihren Ehemann geb<strong>und</strong>en. So kommt es oft zu<br />
Witwenverbrennungen, obwohl diese Praktik (genannt<br />
Sati) schon seit Anfang des 19. Jh. offiziell<br />
verboten ist.<br />
Mädchen haben in Indien im Allgemeinen nur<br />
eine geringe Bildung, da sie oftmals gar nicht erst
eingeschult, son<strong>der</strong>n als billige Haushaltshilfe<br />
genutzt werden. Auch die Schulabbruchquote ist<br />
sehr viel höher als bei Jungen, da die Mädchen in<br />
ländlichen Regionen durchschnittlich mit 15 Jahren<br />
verheiratet werden <strong>und</strong> dann Hausfrau sind. Weil<br />
die Mädchen nach <strong>der</strong> Heirat in die Familie des<br />
Bräutigams überwechseln, wird die Investition in<br />
die Bildung <strong>der</strong> Tochter meist als unnütz angesehen.<br />
Aber natürlich gibt es auch Frauen, die die<br />
Gelegenheit haben, eine Ausbildung zu absolvieren<br />
<strong>und</strong> in jeglichen Berufszweigen Anstellungen<br />
zu finden.<br />
„Gen<strong>der</strong>“ versus<br />
„Verhaltenskodex Manu“ –<br />
eine Beobachtung<br />
Bei unserer Begegnung mit einer Jugendgruppe<br />
<strong>der</strong> TELC ergab sich bei einem gemeinsamen Essen<br />
in einem Restaurant eine <strong>für</strong> uns seltsame Situation.<br />
Während alle Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> deutschen Gruppe<br />
ihr Essen gleichzeitig bekamen <strong>und</strong> auch gleichzeitig<br />
zu essen begannen, bekamen nur die indischen<br />
Männer ihr Essen <strong>und</strong> die Frauen mussten warten.<br />
Als wir die Mädchen fragten, warum sie nichts<br />
zu essen bekämen, antworteten sie zu unserem<br />
Erstaunen, dass sie erst essen dürften, wenn die<br />
Männer aufgegessen hätten. Tatsächlich blinzelte<br />
ein Kellner öfter zu unserem Tisch herüber, um zu<br />
sehen, wie weit die Männer mit ihrem Essen waren.<br />
Dies war <strong>für</strong> uns ein großer Schock. Aber auch<br />
dieses Verhalten ist auf den Verhaltenskodex<br />
Manu zurückzuführen. Dieser besagt nämlich,<br />
dass eine Frau erst essen darf, nachdem <strong>der</strong> Mann<br />
gegessen hat. Doch das ist noch längst nicht alles.<br />
Des Weiteren soll die Frau nicht sitzen, wenn <strong>der</strong><br />
Mann steht, nicht schlafen, bevor er schläft, nicht<br />
aufstehen, bevor er aufsteht, sich nicht rächen,<br />
wenn er sie mit Verachtung straft <strong>und</strong> auch dann<br />
nicht opponieren, wenn er sie misshandelt.<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Indische Frauen sind oft unterernährt, da zuerst<br />
Ehemann <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong> versorgt werden <strong>und</strong> die Frau<br />
selbst nur das bekommt, was übrig bleibt.<br />
Trotz aller beschriebenen Einschränkungen sind<br />
Frauen in Indien „auf dem Vormarsch“. Die Frauenbewegung<br />
ist präsent <strong>und</strong> arbeitet gegen die<br />
traditionellen hinduistischen Praktiken <strong>und</strong> Glaubensvorstellungen,<br />
die oft <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die ungleiche<br />
Behandlung von Mann <strong>und</strong> Frau sind. Auch<br />
in <strong>der</strong> Politik wurde Anfang <strong>der</strong> neunziger Jahre<br />
eine Frauenquote von 33 Prozent eingeführt. Vor<br />
allem Selbsthilfegruppen <strong>und</strong> Projekte, die sowohl<br />
aufklärende als auch unterstützende Funktionen<br />
haben, werden immer häufiger.<br />
Auf unserer Reise besuchten wir unter <strong>an<strong>der</strong>e</strong>m<br />
auch eine Art Schule, in <strong>der</strong> junge Frauen Nähen,<br />
Maschinenschreiben <strong>und</strong> Computerarbeit lernten,<br />
sodass sie gute Chancen auf einen Job haben.<br />
Solche Projekte werden oft von karitativen Einrichtungen<br />
wie z. B. von Kirchen subventioniert.<br />
So wird ein wichtiger Beitrag zur Emanzipation<br />
<strong>und</strong> Gleichberechtigung <strong>der</strong> Frau geleistet. Wir<br />
sollten allerdings auch immer bedenken, dass<br />
Indien von Gr<strong>und</strong> auf eine ganz <strong>an<strong>der</strong>e</strong> Kultur hat<br />
als wir.<br />
Wir verurteilen das Verhalten <strong>der</strong> In<strong>der</strong> <strong>und</strong> In<strong>der</strong>innen<br />
sehr leichtfertig, da es <strong>für</strong> uns so fremd<br />
<strong>und</strong> unverständlich ist. Vielleicht kann man als<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_109<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
„Westler“ Indien nicht verstehen son<strong>der</strong>n nur<br />
akzeptieren ... Dennoch ist die Unterdrückung <strong>der</strong><br />
Frau ein Thema, das nicht übersehen werden darf,<br />
da zumindest die Rechte eines jeden Menschen<br />
auf <strong>der</strong> Welt gleich sein sollten.“<br />
Keinem von uns ist Gott fern.<br />
Apostelgeschichte 17, 27<br />
Der Gottesdienstbesuch – ein Erlebnis<br />
Während des Indienaufenthaltes hatte die Ev.<br />
Jugend Seesen drei Mal die Gelegenheit, einen<br />
Gottesdienst zu besuchen. Sie schil<strong>der</strong>ten dies<br />
als schönes Erlebnis, bei dem es trotz vieler<br />
Gemeinsamkeiten auch einige interessante Unterschiede<br />
gab. Bei <strong>der</strong> äußeren Gestaltung <strong>der</strong><br />
Kirchen ist in auffällig vielen Kirchen <strong>der</strong> Altarraum<br />
in Rosatönen gehalten <strong>und</strong> mit einem in unseren<br />
Augen „kitschigen“ Neonkreuz <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Lichterketten<br />
geschmückt. Der Gottesdienst beginnt<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich mindestens fünf Minuten später,<br />
wobei <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> Gemeinde in den ersten<br />
zwanzig Minuten eintrudelt. Dann sind die Bänke<br />
bis auf den letzten Platz gefüllt, Frauen <strong>und</strong> Männer<br />
sitzen zum größten Teil getrennt. Zu Beginn<br />
des Gottesdienstes zieht <strong>der</strong> Pastor zusammen mit<br />
den Chorglie<strong>der</strong>n ein, angeführt von einem Kreuzträger.<br />
Der Altarraum ist durch einen Zaun abgetrennt <strong>und</strong><br />
darf nur vom Pastor betreten werden. Davor knien<br />
die Gemeindeglie<strong>der</strong>, wenn sie den Segen o<strong>der</strong><br />
das Abendmahl empfangen. Bei <strong>der</strong> Austeilung<br />
des Abendmahls sind die Männer zuerst an <strong>der</strong><br />
Reihe. Dann dürfen die Frauen herantreten, wobei<br />
sie mit einem Teil ihres Saris die Köpfe verdecken.<br />
Hat man sich auf ein Kissen gekniet, so geht <strong>der</strong><br />
Pastor herum <strong>und</strong> legt jedem eine Oblate in den<br />
M<strong>und</strong>. Danach folgt <strong>der</strong> Kelch gefüllt mit dickflüssigem<br />
Traubensaft, <strong>der</strong> dem Gläubigen direkt in<br />
110_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
den M<strong>und</strong> gegossen werden kann. Das ist zwar<br />
sehr hygienisch, weil die Lippen den Kelch nicht<br />
berühren, birgt aber die Gefahr, dass die Flüssigkeit<br />
an den Seiten des M<strong>und</strong>es wie<strong>der</strong> hinausläuft.<br />
Ebenfalls ungewohnt ist die Länge des Gottesdienstes:<br />
Mit Abendmahl kann er schon zweieinhalb<br />
St<strong>und</strong>en dauern. Auch eine Predigt kann sich<br />
bis zu einer Länge von 40 Minuten ausweiten,<br />
ausreichend Zeit, um zu innerer Einkehr zu kommen<br />
<strong>und</strong> das Gefühl <strong>der</strong> Gemeinschaft ließ sich<br />
erspüren.<br />
Hindhi<br />
Jyo thi dho, jyo – thi dho, jyo thi dho Prabhu 2<br />
German<br />
Gib uns Licht, gib uns Licht, gib uns Licht, o Herr<br />
Aufschwung – ja, aber (wie)<br />
profitiert <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong><br />
Bevölkerung?<br />
Der Propsteijugenddiakon Udo Salzbrunn aus<br />
Seesen besuchte 1989 das erste Mal Indien. Als<br />
er nun zum vierten Mal wie<strong>der</strong>kehrte, sah er wie<strong>der</strong><br />
erhebliche Entwicklungen <strong>und</strong> Verän<strong>der</strong>ungen:<br />
2 Words and music by, Charles Vas, India, Agape, Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hoffnung <strong>und</strong> Versöhnung, Hrsg. Oxford University Press, 2003
einerseits das Voranschreiten <strong>der</strong> Telekommunikation,<br />
die mittlerweile auch die Dörfer erreicht,<br />
die neu entstandene Mittelschicht, die Arbeit in<br />
<strong>der</strong> Industrie <strong>und</strong> bei westlichen Firmen gef<strong>und</strong>en<br />
hat, die den Kauf von Motorrä<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Autos<br />
ermöglicht <strong>und</strong> auf <strong>der</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n Seite verstopfte<br />
Straßen <strong>und</strong> Smog. Der gediegene Metallteller<br />
weicht dem billigen Plastikgeschirr, die Glas- <strong>der</strong><br />
Plastikflasche <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stoffbeutel wird durch die<br />
Plastiktüte ersetzt. Nur drei Beispiele, erzählte<br />
Udo Salzbrunn, aber alle drei führen zu <strong>der</strong> Frage:<br />
„Wohin mit dem Müll?“ Abfallbehälter sind kaum<br />
zu finden, <strong>der</strong> Müll liegt am Straßenrand <strong>und</strong> in<br />
ausgetrockneten Flussbetten. Er hat sich gefragt,<br />
wie die Entwicklung weitergehen soll. Aufschwung<br />
- ja, aber wie profitiert das Land, <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong><br />
Bevölkerung? Bei den Überlandfahrten, den Besuchen<br />
<strong>und</strong> gemeinsamen Arbeiten in den Dörfern<br />
nahm er wahr, dass sich die Güter des täglichen<br />
Bedarfs verteuern <strong>und</strong> dass es <strong>für</strong> die einfachen<br />
Landarbeiter o<strong>der</strong> Tagelöhner immer schwieriger<br />
wird, Nahrung günstig einzukaufen. Die Globalisierung<br />
trifft vor allem die Armen <strong>und</strong> diese werden<br />
immer ärmer. Zu beobachten ist, dass auf dem<br />
Land noch die vielen einfachen <strong>und</strong> schlecht bezahlten<br />
Tätigkeiten wie das Reispflanzen setzen,<br />
ernten <strong>und</strong> Ziegen hüten einen Großteil <strong>der</strong> Arbeit<br />
ausmachen. Der Tagelohn da<strong>für</strong> ist sehr gering, ca.<br />
ein Euro, <strong>und</strong> es ist mehr als schwierig, <strong>der</strong> Familie<br />
drei einfache Mahlzeiten zu ermöglichen. Bevor<br />
hier auf dem Land die Globalisierung positiv wirken<br />
kann, wird die Landbevölkerung immer ärmer.<br />
Wie könnte es gelingen, <strong>der</strong> großen Bevölkerungszahl<br />
ausreichend Arbeit <strong>und</strong> Lohn zu geben? Wie<br />
könnten die westlichen Län<strong>der</strong> <strong>und</strong> Wirtschaftsbetriebe<br />
mitwirken? Wie soll das Müllproblem gelöst<br />
werden?<br />
Fragen, die wir hier unbeantwortet an die Leserinnen<br />
<strong>und</strong> Leser weitergeben wollen, denn wir<br />
wollen ein gelingendes gerechtes Leben in einer<br />
ges<strong>und</strong>en Umwelt <strong>für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> uns!<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
Literaturverzeichnis<br />
• Words and music by, Charles Vas, India, Agape,<br />
Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hoffnung <strong>und</strong> Versöhnung, Hrsg.<br />
Oxford University Press, 2003<br />
• Interview mit Tobias Bruhne <strong>und</strong> Propsteijugenddiakon<br />
Udo Salzbrunn, Seesen, April 2007<br />
• http://de.wikipedia.org/wiki/Indien<br />
Sabine Richter<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_111<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Deutsch-indische Jugendbegegnung in Tamil Nadu/Kerala<br />
112_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
›› leben!<br />
Und wie!?
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
leben! Und wie!?<br />
Eine Studie mit Folgen<br />
Was passiert, wenn man wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse ernst nimmt: Vorstellung <strong>der</strong><br />
interaktiven Ausstellung „Leben! Und wie!?“<br />
Die große<br />
Jugendstudie<br />
„Realität <strong>und</strong><br />
Reichweite<br />
von Jugendverbandsarbeit“<br />
hat eine<br />
bedeutende<br />
Gr<strong>und</strong>einsicht<br />
zu Tage geför<strong>der</strong>t,<br />
hinter<br />
die niemand<br />
mehr zurück<br />
kann: Jugendliche<br />
sind<br />
Akteure <strong>und</strong><br />
keine Konsumenten.<br />
Wer mit Jugendlichen arbeitet, muss nach<br />
ihren Interessen fragen statt nach den eigenen.<br />
Ihre Stimme muss hörbar werden, nicht die <strong>der</strong><br />
Erwachsenen. Das Postulat <strong>der</strong> Forschung nach<br />
Subjektorientierung wird die Jugendarbeit tiefgreifend<br />
verän<strong>der</strong>n. Wer meint, sich darum herummogeln<br />
zu können, wird letztendlich scheitern.<br />
Politisch betrachtet, geht es um eine weitere<br />
Demokratisierung von (kirchlicher) Jugendarbeit.<br />
Gerade angesichts des <strong>der</strong>zeitigen globalen<br />
Finanzdebakels ist eine Stärkung <strong>der</strong> demokratischen<br />
Kompetenzen von Jugendlichen von beson<strong>der</strong>er<br />
Bedeutung.<br />
Flott formuliert <strong>und</strong> edel gedacht! Aber wie sieht<br />
es in <strong>der</strong> Realität damit aus?<br />
Subjektorientierung ist ein Abenteuer – man kann<br />
nie vorhersagen, was auf einen zukommt. Das gilt<br />
beson<strong>der</strong>s, wenn man ein Langzeitprojekt angeht<br />
114_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
<strong>und</strong> sich „Subjektorientierung“ dabei auf die Fahnen<br />
schreibt.<br />
Im Sommer 2007 kam die Idee einer Ausstellung<br />
auf, die Jugendliche <strong>und</strong> ihr Lebensgefühl thematisiert.<br />
Rasch wurde deutlich, dass es sich dabei<br />
nicht um eine weiteres Projekt handeln sollte,<br />
in dem Erwachsene präsentieren, was Jugend-<br />
liche ihrer Meinung nach denken <strong>und</strong> fühlen.<br />
Vielmehr sollten die Jugendlichen selbst in den<br />
Mittelpunkt rücken – <strong>und</strong> das bedeutete, dass<br />
sie im wesentlichen diese Ausstellung gestalten<br />
mussten. Ihre Themen, ihre Sichtweise waren<br />
gefragt.<br />
Das Landesjugendpfarramt übernahm die Gesamtkonzipierung,<br />
die Vorplanungen, sowie<br />
Koordinierung <strong>und</strong> Rahmensetzung <strong>und</strong> warb landeskirchenweit<br />
<strong>für</strong> eine Beteiligung. Klosterkammer<br />
<strong>und</strong> Hanns-Lilje-Stiftung erklärten sich bereit,<br />
dieses Projekt maßgeblich zu för<strong>der</strong>n.<br />
Insgesamt haben sich 10 Gestaltungsgruppen<br />
gef<strong>und</strong>en, die jeweils ein Thema, das sie selbst<br />
ausgewählt haben, bearbeiten. Begleitet werden<br />
diese Gruppen von Hauptamtlichen <strong>und</strong> KünstlerInnen,<br />
die ganz bewusst eine Rolle als ErmöglicherInnen<br />
wahrnehmen.<br />
Worum geht es?<br />
„Leben! Und wie!?“, lautet <strong>der</strong> Titel. Das ist durchaus<br />
vieldeutig zu verstehen. Ausrufe- <strong>und</strong> Fragezeichen<br />
stehen <strong>für</strong> selbstbewusste Ankündigung<br />
wie <strong>für</strong> verunsichertes Fragen nach Orientierung.<br />
Die Lage von Jugendlichen heute ist damit sehr<br />
genau beschrieben.<br />
In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die<br />
gewählten Themen, die die spezielle Situationen<br />
des Jugendarrests ebenso in den Blick nehmen wie<br />
die generelle Frage nach <strong>der</strong> Zukunft.
(Foto Stefanie Conradt)<br />
Damit ein Bezug zwischen den einzelnen Themen<br />
besteht, muss es ein Leitsymbol <strong>und</strong> verbindendes<br />
Gestaltelement geben. Sonst zerfiele die Ausstellung<br />
in ihre Einzelsegmente.<br />
In einem breit angelegten Reflexionsprozess hat<br />
man sich schließlich auf das Bild <strong>der</strong> Straße festgelegt.<br />
„Stell dir vor, das Leben ist eine Straße…“ Das<br />
ist <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>für</strong> alle Gestaltenden, <strong>der</strong><br />
ihren Überlegungen die nötige Bodenhaftung<br />
verleihen soll.<br />
„Straße“ lässt sich wortwörtlich umsetzen <strong>und</strong> in<br />
übertragenem Sinn ist sie Raum <strong>und</strong> Metapher, Ort<br />
<strong>und</strong> Symbol. Jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> kann etwas mit diesem<br />
Begriff anfangen.<br />
Jetzt, Anfang Oktober 2008, befinden wir uns mitten<br />
in <strong>der</strong> Umsetzungsphase. Über die Resultate<br />
lässt sich noch nichts sagen. Das ist momentan<br />
vollkommen offen.<br />
Interessant wäre gewesen, dieses Projekt unter<br />
wissenschaftliche Begleitung zu stellen, um zu<br />
untersuchen, wie weit Subjektorientierung sich<br />
tatsächlich realisieren lässt. Wir haben darauf<br />
verzichtet, werden die Frage aber trotzdem im<br />
Blick behalten, um in einer späteren Ausgabe von<br />
Gegen den Trend darüber zu berichten<br />
„Leben! Und wie!?“ wird zum ersten Mal auf dem<br />
Kirchentag in Bremen präsentiert werden. Wir sind<br />
gespannt.<br />
Wolfgang Blaffert<br />
leben! Und wie!?<br />
Weitere Informationen zum Projekt findet man auf<br />
<strong>der</strong> Internetseite www.leben<strong>und</strong>wie.de.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_115<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Informationen über die aejn e.V.<br />
Zur Arbeit <strong>der</strong> aejn e. V.<br />
Zu <strong>der</strong> <strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
in Nie<strong>der</strong>sachsen e. V. haben sich 10 Jugendverbände<br />
aus den 5 Landeskirchen, den Verbänden<br />
eigener Prägung <strong>und</strong> den Freikirchen 1959 zusammengeschlossen,<br />
um u. a. gemeinsame Belange<br />
bei staatlichen, kirchlichen <strong>und</strong> sonstigen öffentlichen<br />
Stellen zu vertreten. Am 05.12.2003 kam es<br />
zur Vereinsgründung mit dem Ziel, als gemeinnützig<br />
anerkannter Verein die Interessenvertretung<br />
wahrnehmen zu können. Dies ist zwischenzeitlich<br />
durch die Eintragungsnachricht (VR 8336) des<br />
Amtsgerichts Hannover erfolgt. Eine Gemeinnützigkeitsbescheinigung<br />
des Finanzamtes Hannover<br />
wurde ebenfalls erteilt.<br />
Wesentliche Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> verbandlichen Jugendarbeit<br />
sind weiterhin Jugend-, Projekt- <strong>und</strong><br />
Aktionsgruppen. Sie haben wechselnde inhaltliche<br />
Schwerpunkte <strong>und</strong> sind Teil <strong>der</strong> Freizeit, die<br />
Jugendliche <strong>und</strong> junge Erwachsene gemeinsam<br />
gestalten, in <strong>der</strong> sie soziale Aktionen durchführen<br />
<strong>und</strong> sich mit religiösen, politischen <strong>und</strong> gesellschaftspolitischen<br />
Fragen auseinan<strong>der</strong> setzen.<br />
Hinzu kommen Seminare, Wochenendfreizeiten,<br />
Zeltlager, internationale Jugendbegegnungen, Jugendgottesdienste<br />
<strong>und</strong> offene Angebote <strong>für</strong> nicht<br />
organisierte Jugendliche.<br />
Ein nicht unerheblicher Anteil <strong>der</strong> Aktivitäten wird<br />
mit öffentlichen Mitteln geför<strong>der</strong>t. 1.544 Freizeiten<br />
bzw. Bildungsmaßnahmen (davon 990 Freizeiten,<br />
24 Internationale Begegnungen <strong>und</strong> 530 Bildungsmaßnahmen)<br />
haben die zehn Mitgliedsverbände<br />
<strong>der</strong> aejn e. V. im Jahr 2006 durchgeführt. An den<br />
Bildungsmaßnahmen nahmen 12.645 Personen<br />
(dies ergibt 38.453 TeilnehmerInnentage) teil. Darüber<br />
hinaus wurden 292 Son<strong>der</strong>veranstaltungen<br />
wie Jugendtreffen, Projekttage o<strong>der</strong> Jugendnächte<br />
realisiert. An diesen Veranstaltungen nahmen<br />
52.685 Personen (davon 28.968 weiblich <strong>und</strong><br />
23.717 männlich) teil. Mit mehr als 36.000 Teilneh-<br />
116_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
merInnen bei 1.014 Freizeitmaßnahmen dürften<br />
die evangelischen Jugendverbände zu den größten<br />
Anbietern im Jugendhilfebereich in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
zählen. Dazu müssen eine Vielzahl von weiteren<br />
Freizeiten <strong>der</strong> örtlichen Ebene gerechnet werden,<br />
die von dieser Statistik nicht erfasst werden.<br />
Bei einer Auflistung <strong>der</strong> Altersstruktur ist erkennbar,<br />
dass bei den genannten Veranstaltungen<br />
22.425 Jugendliche aus dem Segment <strong>der</strong> 14 –18<br />
Jährigen stammen, 8.920 Personen waren zum<br />
Zeitpunkt <strong>der</strong> Erhebung zwischen 19 <strong>und</strong> 26 Jahre<br />
alt. 7.710 Teilnehmende waren älter als 27 Jahre.<br />
13.230 Kin<strong>der</strong> im Alter von 6 – 13 Jahren nahmen<br />
an Freizeiten teil.<br />
Die Mitgliedsverbände zählten 18.264 Ehrenamtliche,<br />
die <strong>für</strong> die unterschiedlichsten Angebotsformen<br />
<strong>der</strong> Jugendarbeit aktiv tätig waren. 54,9 %<br />
davon sind weiblich, 45,1 % männlich.<br />
Diese Statistik weist nur ein Teilsegment <strong>der</strong> Angebotsvielfalt<br />
<strong>der</strong> Jugendverbände aus. Regelmäßig<br />
stattfindende Gruppenzusammenkünfte, Projekte<br />
o<strong>der</strong> Wochenendveranstaltungen kommen noch<br />
dazu.<br />
Fazit: Je<strong>der</strong> Euro, <strong>der</strong> den Mitgliedsverbänden <strong>der</strong><br />
aejn e. V. vom Land Nie<strong>der</strong>sachsen o<strong>der</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
öffentlichen Stellen zur Verfügung gestellt wird, ist<br />
gut angelegt. Verwendungsnachweise werden den<br />
zuständigen Stellen zur Überprüfung regelmäßig<br />
vorgelegt.<br />
Zur Arbeit Ehrenamtlicher<br />
Ehrenamtliches Engagement ist nach wie vor die<br />
tragende Säule <strong>der</strong> Jugendarbeit <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong> Jugendverbandsarbeit. Jugendverbände<br />
werden seit ihrer Gründung von Ehrenamtlichen,<br />
d. h. von freiwilligen <strong>und</strong> unbezahlten Mitarbeiterinnen<br />
<strong>und</strong> Mitarbeitern, getragen <strong>und</strong> gestaltet.<br />
Mit ihrem Engagement sichern sie das gesamte
Verbandsleben beginnend bei regelmäßiger Gruppenarbeit<br />
über die Leitung von Bildungs- <strong>und</strong> Freizeitmaßnahmen<br />
bis hin zur politischen Vertretung.<br />
Es sind Ehrenamtliche, die Projekte, Freizeiten <strong>und</strong><br />
die alltäglichen Angebote erst möglich machen.<br />
Nach <strong>der</strong> vorgenannten Aktivitätenübersicht <strong>der</strong><br />
aejn e. V. wurden 18.264 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen<br />
<strong>und</strong> Mitarbeiter gezählt.<br />
Die Mitgliedsverbände <strong>der</strong> aejn e. V. haben Strukturen<br />
<strong>und</strong> Rahmenbedingungen geschaffen, damit<br />
junge Menschen<br />
• durch religiöse, allgemeine <strong>und</strong> politische Bildung<br />
in ihrer Persönlichkeitsentwicklung geför<strong>der</strong>t<br />
werden,<br />
• ihre Interessen innerhalb ihres eigenen Jugendverbandes<br />
artikulieren <strong>und</strong><br />
• ihre Bedürfnisse <strong>und</strong> Anliegen in <strong>der</strong> kirchlichen<br />
<strong>und</strong> politischen Öffentlichkeit vertreten.<br />
Dies wird auch in den formulierten Standards<br />
„Bildung ist mehr! – Thesen zum Bildungsbegriff<br />
<strong>der</strong> aejn e. V.“ deutlich. In ihnen wird <strong>der</strong> Bildungsauftrag<br />
<strong>der</strong> Jugendverbandsarbeit beschrieben,<br />
das Bildungsverständnis dargelegt <strong>und</strong> in sechs<br />
Thesen („Bildung als Orientierung“, „Bildung als<br />
Beheimatung“, „Bildung <strong>und</strong> Dialog“, „Bildung<br />
<strong>und</strong> Beteiligung“, „Bildung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Erwerb von<br />
sozialer <strong>und</strong> politischer Kompetenz“ <strong>und</strong> „Bildung<br />
gestaltet Gesellschaft“) formuliert, welches<br />
Gr<strong>und</strong>verständnis <strong>der</strong> jeweilige Ausgangspunkt<br />
ist. Als Gr<strong>und</strong>lage da<strong>für</strong> dient die Überzeugung,<br />
wie sie z. B. in <strong>der</strong> Präambel <strong>der</strong> Ordnung <strong>für</strong> die<br />
evangelische Jugendarbeit in <strong>der</strong> Ev.-luth. Landeskirche<br />
Hannovers formuliert ist:<br />
„Evangelische Jugendarbeit will allen jungen Menschen<br />
das Evangelium von Jesus Christus in ihnen<br />
gemäßer Weise bezeugen, sie mit <strong>der</strong> biblischen<br />
Botschaft in ihrer Lebenswirklichkeit begleiten <strong>und</strong><br />
sie ermutigen, in <strong>der</strong> Nachfolge Jesu Christi als mün-<br />
dige Christen kirchliches Leben mitzugestalten<br />
<strong>und</strong> Verantwortung in <strong>der</strong> Welt wahrzunehmen.“<br />
Informationen über die aejn e.V.<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
in Nie<strong>der</strong>sachsen (AEJN)<br />
Archivstr. 3, 30169 Hannover<br />
Fon: 05 11/12 41 – 5 72/-5 71, Fax: 05 11/12 41 – 4 92<br />
aejn.ev@kirchliche-dienste.de, http://www.aejn.de<br />
Evangelische Jugend in <strong>der</strong> Ev.-Luth. Landeskirche<br />
in Braunschweig<br />
Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel<br />
Fon: 0 53 31/8 02 - 5 65, Fax: 0 53 31/8 02 - 7 15<br />
ajab@luth-braunschweig.de, http://www.ajab.de<br />
Evangelische Jugend<br />
in <strong>der</strong> Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers<br />
Archivstr. 3, 30169 Hannover<br />
Fon: 05 11/12 41 – 4 28, Fax: 05 11/12 41 – 9 78<br />
Landesjugendpfarramt@kirchliche-dienste.de, http://www.ejh.de<br />
EJO – Evangelische Jugend in <strong>der</strong> Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg<br />
Haareneschstr. 58, 26121 Oldenburg<br />
Fon: 04 41/77 01 – 4 06, Fax: 04 41/77 01 – 4 99<br />
Landesjugendpfarramt@ejomail.de, http://www.ejo.de<br />
Evangelische Jugend in <strong>der</strong> Ev.-Luth. Landeskirche<br />
in Schaumburg-Lippe<br />
Kirchweg 4 a, 31700 Heuerßen<br />
Fon: 0 57 25/9 13 – 5 53, Fax: 0 57 25/9 13 – 5 58<br />
info@laju-sl.de, www.laju-sl.de<br />
Ev.-Ref. Jugend in <strong>der</strong> Evangelisch-Reformierten Kirche<br />
(Synode Ev.-Reformierter Kirchen in Bayern <strong>und</strong><br />
Nordwestdeutschland)<br />
Saarstr. 6, 26789 Leer<br />
Fon: 04 91/91 98 – 2 10/-2 11, Fax: 04 91/91 98 - 2 40<br />
Jugend@reformiert.de<br />
Län<strong>der</strong>jugendwerk Nie<strong>der</strong>sachsen/Bremen<br />
<strong>der</strong> Evangelisch-methodistischen Kirche<br />
Am Hohen Tore 2, 38118 Braunschweig<br />
Fon.: 0531 8019473 Fax: 0531 8019472<br />
www.kjw-nord.de, christine.foetzki@emk.de<br />
Gemeindejugendwerk<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen-Ostwestfalen-Sachsen-Anhalt (GJW)<br />
Hermann-Löns-Park 7, 30559 Hannover<br />
Fon: 05 11/9 54 97 40, Fax: 05 11/9 54 97 41<br />
info@gjw-nos.de, http://www.gjw-nos.de<br />
CVJM in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
Auf dem Brink 10, 26849 Filsum<br />
Fon: 0 49 57/ 82 15, Foto.doris.kroll@freenet.de<br />
Nie<strong>der</strong>sächsischer Jugendverband<br />
„Entschieden <strong>für</strong> Christus“ (EC) e. V.<br />
Archivstr. 3, 30169 Hannover<br />
Fon: 05 11/12 41 – 9 01, Fax: 05 11/12 41 – 9 78<br />
www.ec-nie<strong>der</strong>sachsen.de<br />
Kreisjugendarbeit <strong>der</strong> Freien Evangelischen Gemeinden<br />
im BFEG in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
Neue Str. 9, 37581 Bad Gan<strong>der</strong>sheim<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_117<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
Veröffentlichungen „Gegen den Trend“<br />
Gegen den Trend 2008<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> (<strong>Band</strong> 1)<br />
- <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> –<br />
eine thematische Einführung<br />
- Auftanken an <strong>der</strong> „BBS-Tank stelle“<br />
- Freiwillig sozial? – Ja! ... Weil's Spaß<br />
macht <strong>und</strong> Sinn bringt!<br />
- Mein FSJ! – Ein Erfahrungs bericht<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2006<br />
Ich - Alles - Sofort!?<br />
- Gr<strong>und</strong>legendes zu Armut <strong>und</strong> Reichtum<br />
- Anmerkungen zum „2. Armuts- <strong>und</strong><br />
Reichtumsbericht <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esregierung”<br />
- Haste was, biste wer!<br />
- „Wir können auch an<strong>der</strong>s …”<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2004<br />
Träume - Zukunft - Leben<br />
- Einmal komme ich ganz groß raus!<br />
- Ich bin ein Unikat, aber noch nicht<br />
fertig!<br />
- Reise zum Mittelpunkt – Reise zu mir<br />
- Wo bitte geht's zum Paradies?<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2002<br />
Respekt<br />
- Einführung<br />
- Jugend ohne Respekt?<br />
- Gibt es etwa Mobbing in <strong>der</strong> Schule?<br />
- „Hallo, wie geht es dir?“ – Respekt vor<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2000<br />
Von Helden <strong>und</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong>n<br />
Lichtgestalten<br />
- Einführung<br />
- Helden - Begleiter auf dem Weg zur<br />
eigenen Persönlichkeit<br />
- Filmhelden in Aktion<br />
- Star Trek - Raumschiff Enterprise<br />
- …<br />
118_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)<br />
Gegen den Trend 2007<br />
Eins - Zwei - Gruppe!<br />
- „Gruppe” aus <strong>der</strong> Sicht von Jugendlichen<br />
- Vom „Ich” zum „Du” zum „Wir”<br />
- Strukturen <strong>und</strong> Rollen in <strong>der</strong> Gruppe<br />
- Gruppendynamik: Gemeinsam sind wir<br />
stark<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2005<br />
Frag mal deine Eltern<br />
- Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Eltern aus biblischer Sicht<br />
- Wurzeln <strong>und</strong> Identitäten<br />
- Wo liegen meine Wurzeln?<br />
- Jugendliche <strong>und</strong> ihre Eltern<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2003<br />
Echt cool!<br />
- Cool sein! – eine Annäherung<br />
- Miteinan<strong>der</strong> wird's cool<br />
- Wir tragen zu viele Masken... auf dem<br />
Weg zu uns selbst<br />
- …<br />
Gegen den Trend 2001<br />
Zwischen Begeisterung <strong>und</strong><br />
Gewalt<br />
- Einführung<br />
- Jugendgewalt – Wie, wo, warum?<br />
- Faszinosum Gewalt<br />
- Wie wirkt Musik?<br />
- Die Welt zertrümmern?!<br />
- …<br />
Gegen den Trend 1999<br />
Navigation braucht<br />
Orientierung<br />
- Orientierung<br />
- Vom Gebot zur Geschichte – Orientierung<br />
als Prozess<br />
- Innerer Kompass <strong>und</strong> Orientierungslosigkeit<br />
- Global + Ratlosigkeit = Angst<br />
- …
Gegen den Trend 1998<br />
Erfolgreich leben<br />
- Erfolg, was ist das <strong>für</strong> <strong>mich</strong>?<br />
- Je<strong>der</strong> ist seines Glückes Schmied? Von<br />
Leitbil<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Idolen<br />
- Stell Dir vor, Du stellst Dich vor, <strong>und</strong><br />
keiner stellt Dich ein!<br />
- …<br />
Gegen den Trend 1996<br />
Kick, Fun & Thrill<br />
- von <strong>der</strong> Schiffsschaukel zum Euro-Disney<br />
- Trends<br />
- Tanzen ist Trumpf<br />
- Beziehungskisten<br />
- Erleben gegen den Trend<br />
- …<br />
Gegen den Trend 1994<br />
Wettstreit statt Feindschaft<br />
- Die Aktion<br />
- Versuch einer Ist-Stands Beschreibung<br />
- Individuum <strong>und</strong> Gemeinschaft - Ich<br />
suche <strong>mich</strong> noch<br />
- …<br />
Gegen den Trend 1992<br />
40 Tage ohne …Verzicht ein<br />
Gewinn<br />
- Fasten - ein leibliches Fest <strong>und</strong> ein<br />
religiöses Ereignis<br />
- Thema Alkohol<br />
- Thema Süßigkeiten<br />
- Thema Medienkosum<br />
Veröffentlichungen „Gegen den Trend”<br />
Gegen den Trend 1997<br />
Surfen in die Zukunft<br />
- Runter von <strong>der</strong> Oberfläche<br />
- Ich-Styling<br />
- Kreativ sein im Internet<br />
- Die Computergesellschaft<br />
- Kommunikation<br />
- Zukunft in <strong>der</strong> Bibel<br />
Gegen den Trend 1995<br />
Fasten <strong>und</strong> Teilen<br />
- Option <strong>für</strong> die Schwachen<br />
- Jugend <strong>und</strong> Teilen<br />
- Macht teilen<br />
- Zeit - teilen statt totschlagen<br />
- Arbeit teilen<br />
- …<br />
Gegen den Trend 1993<br />
Gewalt - gewaltfrei leben<br />
- Die Aktion<br />
- Gewalt in <strong>der</strong> Schule<br />
- Gewalt in <strong>der</strong> Freizeit<br />
- Gewalt in den Medien<br />
Die Gegen-den-Trend-Veröffentlichungen <strong>der</strong> Jahre 1999 bis 2008 stehen als pdf-Dateien unter<br />
www.aejn.de (Projekte/Gegen den Trend) zur Verfügung.<br />
Außerdem sind alle Ausgaben als Kopie <strong>für</strong> 3,00 Euro zzgl. Porto erhältlich. Von den Ausgaben „Gegen den Trend<br />
2004, 2005, 2006, 2007 <strong>und</strong> 2008“ können noch kostenlose Exemplare gegen Portoerstattung bestellt werden.<br />
FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)_119<br />
GEGEN DEN TREND ’2009
GEGEN DEN TREND ’2009<br />
120_FÜR ANDERE UND FÜR MICH (BAND 2)
aejn -<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Evangelischen Jugend<br />
in Nie<strong>der</strong>sachsen e.V.<br />
Postfach 265 – 30002 Hannover<br />
Tel.: 0511/1241-571 • Fax: 0511/1241-492<br />
aejn.ev@kirchliche-dienste.de • www.aejn.de<br />
Gegen den Trend 2009 – <strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong> • <strong>Band</strong> 2<br />
<strong>Für</strong> <strong>an<strong>der</strong>e</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> <strong>mich</strong><br />
<strong>Band</strong> 2<br />
Gegen den<br />
Trend 2009<br />
aejn -<br />
<strong>Arbeitsgemeinschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Evangelischen Jugend in<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen e.V.