Book of Abstracts. - Sound und Performance
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Jörn Etzold<br />
Freitag, 05.10.2012, 10.30-12.00<br />
S 125 (GW I)<br />
Auf Kolonos: <strong>So<strong>und</strong></strong> <strong>und</strong><br />
Schrift in der Tragödie<br />
Dass die griechische Tragödie eine im Wesentlichen akustische<br />
Kunstform war, hat schon Aristoteles festgestellt. Doch<br />
das Sprechen oder Singen in der attischen Tragödie bestimmt<br />
sich durch ein spezifisches Verhältnis zur Schrift. Fasst man<br />
die Quintessenz zahlreicher Arbeiten seit den 1960er Jahren<br />
zusammen (u.a. W. Ong, E. A. Havelock, D. de Kerckhove, R.<br />
Thomas, J. Svenbro), so kann die Tragödie als Ausagierung des<br />
Zwischenraums zwischen einer oralen <strong>und</strong> einer schriftlichen<br />
Kultur verstanden werden. Kennzeichen einer oralen Kultur wie<br />
Sprachrhythmik, Bildung von Aussagepaaren, Dynamisierung<br />
von Ausdrücken, gestische Sprache – also: spezifische Modi<br />
von <strong>So<strong>und</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Performance</strong> – treffen auf die Möglichkeiten des<br />
neuen Mediums der Schrift: In ihr können Dialekte <strong>und</strong> Idiosynchrasien<br />
präzise festgehalten werden; das Sprechen dient nicht<br />
mehr dem Berichten des nur in ihm aufbewahrtem Geschehenen,<br />
sondern dem Abwägen <strong>und</strong> Verhandeln; die Beziehung<br />
zwischen Sprecher <strong>und</strong> Text wird gelockert <strong>und</strong> öffnet einen<br />
neuen Spielraum für die Schauspieler (J. Wise). Vor allem die<br />
beiden erhaltenen Ödipus-Tragödien des Sophokles spielen mit<br />
dem Verhältnis der schriftbasierten neuen Form des Theaters<br />
mit der alten Kultur des Oralen. In König Ödipus steht Ödipus,<br />
der eine eindeutige Anschauung des Geschehens sucht <strong>und</strong><br />
eine Untersuchung anstrengt, die nur im Zusammenhang der<br />
Verschriftlichung des Rechts zu verstehen ist, der blinde Prophet<br />
Tiresias gegenüber. In Ödipus auf Kolonos aber ist dieser<br />
Ödipus selbst in die orale Welt zurückbefördert worden. Doch<br />
die Bühnenfigur ist mit dem von Sophokles geschriebenen Text<br />
wie mit einem fremden, vorgeschriebenen Schicksal konfrontiert.<br />
Neuere Inszenierungen, die nicht mehr der Ästhetik des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts folgen, können dieses Verhältnis von Oralität<br />
<strong>und</strong> Schrift in der antiken Tragödie deutlich herausarbeiten. In<br />
meinem Vortrag möchte ich anhand Laurent Chétouanes Auf<br />
Kolonos (Karlsruhe 2012) nachzeichnen, wie sich die Körper<br />
in ihrem Verhältnis zu dem geschriebenen, überlieferten <strong>und</strong><br />
rätselhaften Text konstituieren <strong>und</strong> zugleich auf seine Klänge<br />
horchen.<br />
Dr. Jörn Etzold ist seit Oktober 2011 Wissenschaftlicher Mitar-<br />
beiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität<br />
Bochum. Er verfolgt dort ein von der DFG finanziertes Habilitationsprojekt<br />
zum Thema: Theater, Rhythmus <strong>und</strong> Demokratie.<br />
Poetiken des szenischen Sprechens. Von 2007 – 2011 war<br />
er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte<br />
Theaterwissenschaft in Gießen, wo er von 1995 – 2000 auch<br />
studierte. Von Oktober 2001 bis September 2004 Mitglied des<br />
Graduiertenkollegs „Zeiterfahrung <strong>und</strong> ästhetische Wahrnehmung“<br />
an der Universität Frankfurt am Main; 2003 Stipendiat<br />
des DAAD in Paris. Von Januar 2005 bis September 2007<br />
Mitglied des Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ der<br />
Universitäten Weimar, Erfurt <strong>und</strong> Jena, seit Oktober 2006 als<br />
Post-Doc. Promotion 2006 an der Philosophischen Fakultät der<br />
Universität Erfurt bei Samuel Weber (Evanston, Illinois), Burkhardt<br />
Lindner (Frankfurt am Main) <strong>und</strong> Bettine Menke (Erfurt).<br />
Die Dissertation erschien 2009 unter dem Titel Die melancholische<br />
Revolution des Guy-Ernest Debord bei diaphanes in Zürich<br />
<strong>und</strong> Berlin.