Heft 4 - Institut für Zeitgeschichte
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346<br />
Helmut Lippelt<br />
„landläufigen, auch von ernsthaften Menschen vertretenen Ansicht, . . . man<br />
brauche nur durchzuhalten und zuzuwarten, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch<br />
Polens zu erleben, dem dann auch der politische folgen werde; und aus dem<br />
so entstandenen Chaos werde Deutschland seine verlorenen Gebiete herausholen<br />
können". Wer so argumentiere, verkenne den hohen Grad von Verelendung, den<br />
eine bedürfnislose Bevölkerung in einem Agrarlande ertragen könne. Es sei ganz<br />
abwegig, die Gewährung einer Sanierungsanleihe an territoriale Konzessionen zu<br />
knüpfen; denn noch nie in der Geschichte habe ein Finanzkonsortium einen souveränen<br />
Staat zu territorialen Verzichten zwingen können. Da ohnehin die Korridorfrage<br />
nur beim Zusammentreffen zahlreicher günstiger Umstände durch Gewalt<br />
zu lösen - und deshalb heute nicht aktuell - sei, müsse Deutschland sich an der<br />
Sanierung beteiligen, um seinen wirtschaftlichen Einfluß in Polen zu bewahren.<br />
Politisch bedeutsam könne höchstens werden, daß über die bei einer internationalen<br />
Sanierungsanleihe notwendige Budgetkontrolle Polen durch Abstriche an seinen<br />
Militärausgaben auch machtpolitisch auf das ihm zukommende Maß eines Mittelstaates<br />
reduziert werden könne. Auf die politische Zurückdrängung Polens in<br />
Locarno könne so die militärische folgen; die territoriale müsse einer ferneren<br />
Zukunft vorbehalten bleiben 81 .<br />
Rauscher hatte diese Aufzeichnung in aller Eile nach Berlin gesandt, weil er<br />
davon ausging, daß es in London zu einem deutsch-polnischen Ministergespräch<br />
kommen werde 82 . Da aber Stresemann eine Begegnung mit dem polnischen Außenminister<br />
vermied, konnte dieser nur ein Routinegespräch mit Schubert führen:<br />
Graf Skrzynski drängte auf den baldigen Abschluß des Handelsvertrags, Schubert<br />
wich höflich aus - und bemühte seinerseits „den Geist von Locarno" und „die<br />
neue Ära, in die man eingetreten sei", um weitere polnische Gesten zu erwirken 83 .<br />
Daß er damit jedoch eher der Linie Dirksens als der Rauschers folgte, wird aus seiner<br />
Marginalie zur Rauscher-Aufzeichnung deutlich: Die militärische Reduzierung<br />
könne auch ohne gleichzeitige wirtschaftliche Sanierung erfolgen; da eine Teilnahme<br />
an der Sanierung <strong>für</strong> Deutschland vorläufig noch nicht tragbar sei, müsse<br />
zunächst eine Verzögerung der Sanierung angestrebt werden 84 .<br />
Der Gegensatz trat schärfer hervor, als Rauscher bald darauf nach Berlin kam,<br />
um auf einen baldigen Abschluß des Handelsvertrags zu dringen. Seine Kritik an<br />
der bisherigen Verhandlungsführung wurde vom Staatssekretär „ungnädig" aufgenommen<br />
85 . In dem anschließend von Warschau aus fortgesetzten Briefwechsel 86<br />
81<br />
Zu den mißverständlichen und z. B. von Gasiorowski (s. o. Anm. 74) auch mißverstandenen<br />
martialischen Tönen Rauschers vgl. u. S. 366.<br />
82<br />
S. o. S. 324; in BStS, Po, Bd. 1/E 168 426ff. auch die <strong>für</strong> ein Londoner Ministergespräch<br />
vorbereiteten Materialien.<br />
83<br />
ADAP, B, II, 1 Nr. 2.<br />
84<br />
Die Marginalie auf Exemplar in H. A. Dirksen, Bd. 17/E 369906. Schubert fährt fort:<br />
„Ich halte Korridor-Abtrennung auch <strong>für</strong> denkbar ohne Gewalt — vgl. 1.—3. Teilung".<br />
85<br />
Das ergibt sich aus den einleitenden Bemerkungen seines Briefes an Schubert vom<br />
29. 12. 25, s. folg. Anm., die in dem in ADAP gedruckten Auszug übergangen sind.<br />
86<br />
BStS, Po, Bd. 1/E 168365ff., Rauscher an Schubert, 29. 12. 25, in Auszug ADAP,