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Prof. Dr. Siegfried Zimmer<br />
PH Ludwigsburg<br />
"<strong>Haben</strong> <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> <strong>wirklich</strong> <strong>gelebt</strong>?"<br />
Warum es sich lohnt, von der wissenschaftlichen Theologie zu lernen<br />
Inhalt: Seite<br />
Vorbemerkungen 1<br />
1. Der Sinn antiker Anfangserzählungen 2<br />
a) Gr<strong>und</strong>sätzliche Hinweise 2<br />
b) Konkretion durch biblische Beispiele 5<br />
2. Das Verständnis des Wortes "adam" im Alten Testament 7<br />
a) Der Ausdruck "ha adam" in der hebräischen Sprache 7<br />
b) Das Wort "adam" in Genesis 1-3 10<br />
c) Das Wort "adam" in Genealogien des Alten Testaments 12<br />
3. Warum Gen 2-3 nicht in einem geschichtlichen Sinn gemeint sein kann 14<br />
4. Motivparallelen in anderen altorientalischen Religionen<br />
5. Ist die Erzählung ein "Mythos"?<br />
6. <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> im späteren Judentum <strong>und</strong> im Neuen Testament<br />
7. <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> im heutigen Judentum<br />
Schlussbemerkungen<br />
Literatur 24
Vorbemerkungen<br />
1<br />
Die Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> (Gen 2-3) ist eine der bekanntesten <strong>und</strong> wichtigsten Geschichten<br />
der Bibel. Im Blick auf ihre Wirkungsgeschichte in Judentum, Christentum <strong>und</strong> Islam<br />
kann man sogar sagen: sie ist eine der bedeutendsten Erzählungen der Welt. Seit mehr als 2500<br />
Jahren wird sie gelesen, erzählt <strong>und</strong> interpretiert. Bis heute ist das Interesse an dieser Erzählung<br />
ungebrochen. Jedes Jahr erscheinen theologische, religionsgeschichtliche, tiefenpsychologische<br />
<strong>und</strong> belletristische Artikel <strong>und</strong> Bücher, die sich mit <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> beschäftigen. Die Erzählung<br />
hat es offenbar "in sich".<br />
In diesem zweiten Teil des Bändchens geht es nicht um eine Gesamtinterpretation der Erzählung<br />
von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>. Es geht lediglich um die Klärung einer wichtigen Streitfrage. Diese<br />
Klärung ist notwendig, weil es in der Christenheit zwei sehr unterschiedliche Auffassungen von<br />
dieser Erzählung gibt, die sich gegenseitig ausschließen: Viele Christen, in allen Konfessionen,<br />
sehen in <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> die zwei ersten Menschen, die am Beginn der Menschheitsgeschichte<br />
<strong>gelebt</strong> haben <strong>und</strong> von denen alle anderen Menschen abstammen. Ihrer Überzeugung nach entspricht<br />
nur dieses geschichtliche Verständnis dem biblischen Text. Andere Christen, ebenfalls in<br />
allen Konfessionen, verstehen <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> dagegen als symbolische Repräsentanten der<br />
Menschheit nicht als geschichtliche Personen, die zu einer bestimmten Zeit <strong>gelebt</strong> haben. Welche<br />
dieser beiden Auffassungen wird dem Bibeltext gerecht? Erst wenn diese Frage geklärt ist,<br />
hat es Sinn, sich der Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> im Einzelnen zuzuwenden. Es geht mir im<br />
Folgenden darum, möglichst vielen Leserinnen <strong>und</strong> Lesern einsichtig zu machen, warum <strong>und</strong><br />
inwiefern eine dieser beiden Auffassungen dem Bibeltext angemessen ist <strong>und</strong> die andere nicht.<br />
Deshalb behandle ich diese Frage ausführlich <strong>und</strong> gehe Schritt für Schritt vor. Ich halte diese<br />
Vorgehensweise aus folgenden Gründen für erforderlich:<br />
1. Die Frage nach dem angemessenen Verständnis der Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> berührt<br />
Gr<strong>und</strong>fragen des Bibelverständnisses. Die Art <strong>und</strong> Weise, wie diese Frage beantwortet<br />
wird, ist meist symptomatisch für die Gesamtsicht der Bibel. Der exemplarische Rang<br />
dieser Erzählung hängt mit ihrer Stellung am Anfang der Bibel zusammen, aber auch mit<br />
den gr<strong>und</strong>legenden Aspekten des Menschseins, die in dieser Erzählung angesprochen<br />
werden.<br />
2. Viele Christen stellen sich die Frage, ob <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> geschichtliche oder symbolische<br />
Personen sind <strong>und</strong> finden auf diese Frage keine klare Antwort.<br />
3. Wer im Bereich der christlichen Erziehung, Bildung oder Ausbildung Verantwortung<br />
trägt bzw. in Zukunft tragen wird, sollte jene Gesichtspunkte <strong>und</strong> Kriterien kennen, mit<br />
deren Hilfe man diese alte Streitfrage entscheiden kann. Es geht dabei auch um die eigene<br />
Beratungskompetenz gegenüber Kindern, Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen.<br />
Auf den folgenden Seiten stelle ich die wichtigsten Gründe vor, die in der wissenschaftlichen<br />
Exegese seit langem dazu geführt haben, <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> nicht als geschichtliche Personen zu<br />
verstehen. Jeder Leser kann diese Argumente prüfen <strong>und</strong> sich sein eigenes Urteil bilden. 1 Zunächst<br />
ist es wichtig, die Argumente überhaupt kennenzulernen. Außerhalb der wissenschaftlichen<br />
Fachkreise sind sie noch immer zu wenig bekannt. Nur wer diese Argumente kennt, kann<br />
zu ihnen Stellung nehmen. In der etwa 200jährigen Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung<br />
des Alten Testaments <strong>und</strong> des Alten Orients haben ganze Forschergenerationen sowohl<br />
1 Vgl. den Gr<strong>und</strong>satz des Paulus: "Prüfet alles <strong>und</strong> das Gute behaltet" (1 Thess 5,21).
2<br />
die althebräische Sprache als auch die anderen altorientalischen Sprachen <strong>und</strong> deren Schrift<br />
(Keilschrift, Hieroglyphen) erforscht. Dadurch wurde es möglich, die erhaltenen bzw. gef<strong>und</strong>enen<br />
altorientalischen Texte zu übersetzen. Die Lektüre dieser Texte gestattet uns einen Einblick<br />
in das Lebensgefühl, die Denkweise <strong>und</strong> das Weltbild der damaligen Menschen. Dieser Einblick<br />
erwies sich als große Hilfe für das Verständnis des Alten Testaments. In den folgenden Kapiteln<br />
stelle ich die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungsarbeit zusammen. Das soll möglichst vielen<br />
Leserinnen <strong>und</strong> Lesern die Gelegenheit geben, an diesem Lernprozess teilzunehmen.<br />
1. Der Sinn antiker "Anfangserzählungen"<br />
a) Gr<strong>und</strong>sätzliche Hinweise<br />
Es ist heute im Allgemeinen wenig bekannt, dass sich die Bedeutung des Wortes "Anfang" in<br />
den letzten Jahrh<strong>und</strong>erten verändert hat. Die veränderte Bedeutung dieses Wortes bringt eine<br />
veränderte Haltung des Menschen gegenüber der Vergangenheit zum Ausdruck. Ohne Kenntnis<br />
dieses Veränderungsprozesses <strong>und</strong> seiner Ursachen wird man die biblischen Erzählungen vom<br />
"Anfang" der Welt <strong>und</strong> der Menschheit (Gen 1-3) fast zwangsläufig missverstehen. Ich gehe<br />
deshalb zunächst auf diesen Veränderungsprozess mit einer gewissen Ausführlichkeit ein, um<br />
einen Eindruck davon zu vermitteln, wie wichtig dieser Gesichtspunkt ist.<br />
Im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand in Europa das "historische Denken". Diese neue Denkweise<br />
erwies sich als großer wissenschaftlicher Gewinn. Sie breitete sich in der ganzen westlichen<br />
Welt aus <strong>und</strong> ist heute zu einem festen Bestandteil der westlichen Kultur geworden. Worin<br />
besteht das Neue dieser Denkweise? Warum entstand sie gerade in dieser Zeit <strong>und</strong> nicht schon<br />
früher? Erst im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde deutlich, wie umfassend das Leben <strong>und</strong> Denken<br />
des Menschen einem geschichtlichen Wandel unterliegt. In den früheren Jahrh<strong>und</strong>erten <strong>und</strong> Jahrtausenden<br />
war der geschichtliche Wandel nicht im gleichen Maß erkennbar gewesen, weil er sich<br />
langsamer vollzogen hatte. Innerhalb eines Menschenlebens war er kaum aufgefallen. Erst durch<br />
die immer kürzeren Abstände zwischen den Entdeckungen <strong>und</strong> Erfindungen der Neuzeit, sowie<br />
durch die gravierenden politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit, beschleunigte<br />
sich der geschichtliche Wandel immer mehr <strong>und</strong> trat dadurch stärker ins Blickfeld. 2 Im<br />
Zuge dieser Veränderungen erkannte man die historische Bedingtheit der gesamten menschlichen<br />
Kultur. Und eben darin liegt das Neue des "historischen Denkens". Es liegt in der Erkennt-<br />
2 Man denke an die Entdeckung Amerikas, die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde <strong>und</strong> ihres Umlaufs um die<br />
Sonne, an die Erfindung des Buchdrucks, der mechanischen Uhr <strong>und</strong> der Brille, die militärtechnischen Erfindungen<br />
(Gewehr, Geschütz, Granate), die Entwicklung des Fernrohrs <strong>und</strong> des Mikroskops, die Entdeckung des menschli-<br />
chen Blutkreislaufs, der Röntgenstrahlen <strong>und</strong> der Narkose, die Entwicklung von Maschinen, Dampfschiffen, Fa-<br />
briken <strong>und</strong> Labors, die Entdeckung des elektrischen Stroms, die Erfindung der Eisenbahn, der Photographie, der<br />
Telegraphie, des Telephons <strong>und</strong> des Autos. Es entstehen die ersten modernen Demokratien. In Frankreich kommt<br />
es zur ersten großen Revolution (1789). Die Aufklärung verändert das Denken. Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik<br />
erleben einen ungeahnten Aufschwung. Die Industrialisierung verändert die Lebenswelt in Europa. Die Europäer<br />
erobern die Welt <strong>und</strong> teilen sie in Form von Kolonien untereinander auf. Es entsteht der Gedanke der "National-<br />
staaten" usw.
3<br />
nis: nicht nur die Technik <strong>und</strong> Wissenschaft verändern sich, auch die Sprache, das Denken, die<br />
Moral <strong>und</strong> Philosophie, die Politik <strong>und</strong> Religion.<br />
Aber nicht nur das Ausmaß des geschichtlichen Wandels wurde immer deutlicher, sondern<br />
auch dessen Unumkehrbarkeit. War eine Veränderung eingetreten - eine Entdeckung bzw. Erfindung<br />
gemacht worden -, ließ sie sich auf keine Weise wieder rückgängig machen. Man konnte<br />
die neuen Möglichkeiten des Buchdrucks, der Eisenbahn, der Photographie usw. nicht ignorieren.<br />
Es brauchte zwar seine Zeit, bis die jeweiligen Entdeckungen ihre volle Wirkung entfalteten,<br />
aber das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Auch diese Erkenntnis gehört<br />
fortan zu den Merkmalen des historischen Denkens. Im historischen Denken geht man erstmals<br />
konsequent von der Unumkehrbarkeit <strong>und</strong> damit von der Unwiederholbarkeit (Einmaligkeit) der<br />
geschichtlichen Ereignisse <strong>und</strong> Abläufe aus. Das führte dazu, dass zwischen der Vergangenheit<br />
<strong>und</strong> der Gegenwart ein historischer Abstand ("Graben") entstand, den es bisher so nicht gegeben<br />
hatte. Bisher hatte man die Gegenwart im Licht der Tradition, d.h. von der Vergangenheit her<br />
gedeutet. Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart waren eng verb<strong>und</strong>en. Jetzt wurden sie deutlicher unterschieden.<br />
Auf diese Weise gelang es dem Menschen, sich mehr als bisher aus der prägenden <strong>und</strong><br />
festlegenden Macht der Vergangenheit zu lösen. Dort, wo die Tradition unangefochten herrscht,<br />
kann wenig Neues entstehen. Gegenüber der Macht der Tradition erwies sich das historische<br />
Denken als eine distanzierende <strong>und</strong> befreiende Kraft. Von jetzt an war die Vergangenheit in einem<br />
tieferen Sinn vergangen. Dafür vergrößerte sich der Spielraum für neue Entwicklungen. Die<br />
Zukunftsperspektiven wurden wichtiger. Heute spricht man von einem "historischen Ereignis"<br />
dann, wenn von diesem Ereignis besonders folgenreiche Entwicklungen ausgegangen sind oder<br />
wahrscheinlich noch ausgehen werden. Dieses moderne Verständnis der "Wirkungsgeschichte"<br />
eines Ereignisses bewertet die Ereignisse von der Zukunft her. Ein Geschichtsverständnis dieser<br />
Art war in der Antike unbekannt. (Einschub neuer Text)<br />
Es gibt für diese Veränderung gibt es ein deutliches Indiz: der Wandel der Erzählformen. Bisher<br />
standen Mythen, Ätiologien, Märchen, Sagen, Legenden <strong>und</strong> Fabeln im Vordergr<strong>und</strong> des Erzählens.<br />
Diese Erzählformen verlieren jetzt an Bedeutung. In ihnen werden Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart<br />
auf eine Weise miteinander verb<strong>und</strong>en, die dem historischen Denken nicht mehr entspricht.<br />
Sie entstammen einer Welt, in der man noch nicht in vergleichbarer Weise mit dem geschichtlichen<br />
Wandel rechnen musste <strong>und</strong> in der es noch kein naturwissenschaftliches Denken<br />
gab. Sie erzählen, als ob die Welt immer die gleiche bleibt.<br />
Mit dem historischen Denken der Neuzeit entwickelte sich eine neuartige Fragestellung: die<br />
wissenschaftliche Rückfrage nach der Entstehung der Menschheit, des Lebens <strong>und</strong> des Weltalls.<br />
Eine vergleichbare Forschungshaltung gab es in der Antike nicht. Es fehlten dazu die Voraussetzungen,<br />
Methoden <strong>und</strong> Quellen. Kein antiker Mensch ist z.B. auf den Gedanken gekommen,<br />
nach "Fossilien" zu suchen. Man hätte sie als solche weder erkennen noch auswerten können. Es<br />
gab in der Antike keine Archäologie. Das ist kein Zufall. Ein Bedürfnis nach Archäologie war<br />
schon deshalb nicht vorhanden, weil die antiken Gesellschaften ohnehin vergangenheitsorientiert<br />
waren. Es gab kein Überlegenheitsgefühl gegenüber den früheren Zeiten. Kein "historischer Abstand"<br />
<strong>und</strong> kein "Fortschrittsdenken" minderte die Bedeutung der Tradition. "Alt" war in jeder<br />
Hinsicht ein Würdetitel. Die Tradition der Ahnen war der Orientierungsrahmen der Menschen<br />
<strong>und</strong> die normgebende Instanz für die Erziehung. In einer solchen Welt fragt man anders nach<br />
dem "Anfang" als wir heute. Unser heutiger Begriff "Anfang" konzentriert sich auf den historischen<br />
(zeitlichen) Aspekt. Es geht um den einmaligen <strong>und</strong> unwiederholbaren Beginn einer Sa-
4<br />
che, sei es die Entstehung des Weltalls, der Menschheit, einer Geschichtsepoche usw. Je mehr<br />
Zeit vergangen ist, desto weiter entfernt liegt dieser Anfang hinter uns zurück. Für den antiken<br />
Menschen dagegen bedeutet "Anfang" mehr als den zeitlichen Beginn einer Sache. Es geht nicht<br />
nur um eine Anfangsphase, sondern um den tiefsten Gr<strong>und</strong>. Natürlich gab es auch in der Antike<br />
den "Anfang" im zeitlichen Sinn. Um ihn ging es in den praktischen Fragen des Alltags. 3 Sobald<br />
es aber auf die tieferen Zusammenhänge des Lebens ankam, trat eine andere Dimension in den<br />
Vordergr<strong>und</strong>. Sie ist im modernen Begriff "Anfang" kaum mehr enthalten. Das griechische<br />
Wort "archä" bedeutet sowohl "Anfang, Beginn" als auch "Gr<strong>und</strong>". Von diesem Wort sind z.B.<br />
unsere Begriffe "Archäologie" <strong>und</strong> "archetypisch" abgeleitet. Es geht bei dem Wort "archä" in<br />
der Tat gerade auch um das Archetypische im Sinne des "Urgr<strong>und</strong>s". Das Gleiche gilt für das<br />
hebräische Wort "reschit". Es ist abgeleitet von dem Wort "rosch" (das Haupt). Auch nach hebräischer<br />
Sicht geht es beim "Anfang" um das "Haupt" der Dinge, um das was hauptsächlich<br />
(gr<strong>und</strong>sätzlich) gilt. In beiden Sprachen ist der gleiche Sachverhalt gemeint. Besonders klar sind<br />
die Dinge in der lateinischen Sprache. Sie hat für den zeitlichen Beginn einer Sache <strong>und</strong> für den<br />
tiefsten Gr<strong>und</strong> einer Sache jeweils ein eigenes Wort. Der zeitliche Beginn heißt "initium". Der<br />
sachliche Gr<strong>und</strong> heißt "principium". Wenn im Lateinischen von "initium vitae" (Anfang des Lebens)<br />
die Rede ist, dann geht es um den zeitlichen Beginn des Lebens. Dagegen bezeichnet "in<br />
principio" den sachlichen Gr<strong>und</strong> der Dinge, die Gr<strong>und</strong>prinzipien. Den "Anfang" im Sinne von<br />
"in principio" kann man nicht datieren. Er liegt auch nicht um so weiter von der Gegenwart entfernt,<br />
je mehr Zeit vergangen ist.<br />
Es ist sehr aufschlussreich, wie die bekannteste lateinische Übersetzung der Bibel aus antiker<br />
Zeit 4 den ersten Satz der Bibel "Im Anfang schuf Gott Himmel <strong>und</strong> Erde" übersetzt. Sie entscheidet<br />
sich für die Übersetzung: "In principio creavit Deus caelum et terram". Genauso übersetzt<br />
sie auch den ersten Satz des Johannesevangeliums "Im Anfang war das Wort" mit: "In principio<br />
erat Verbum". Dagegen übersetzt sie den ersten Satz des Markusevangeliums "Anfang des<br />
<strong>Eva</strong>ngeliums von Jesus Christus" mit: "Initium evangelii Jesu Chisti." Das Markusevangelium<br />
beginnt mit dem Hinweis auf Johannes den Täufer, von dem Jesus sich taufen ließ. D.h. es geht<br />
beim Beginn des Markusevangeliums tatsächlich um den zeitlichen Beginn des öffentlichen Auftretens<br />
Jesu. Da diese Bibelübersetzung ein Dokument aus antiker Zeit ist, können wir davon<br />
ausgehen, dass ihren Autoren der antike Sprachgebrauch <strong>und</strong> das antike Denken vertraut war <strong>und</strong><br />
ihre Übersetzung dem Sinn der biblischen Sätze entspricht. Wenn es um die tieferen Zusammenhänge<br />
des Lebens geht, dann ist mit dem hebräischen "bereschit" (im Anfang), dem griechischen<br />
"en archä" <strong>und</strong> dem lateinischen "in principio" kein zeitlicher Beginn im Sinn einer einmaligen<br />
Anfangsphase gemeint. Dann geht es um mehr als um Ereignisse, die irgendwann einmal vor<br />
langer Zeit stattgef<strong>und</strong>en haben, seitdem aber nie wieder stattfinden. Der Anfang im Sinne von<br />
"in principio", "bereschit" <strong>und</strong> "en archä" meint keine längst vergangene Vergangenheit, sondern<br />
den tragenden Gr<strong>und</strong> des Lebens. Worauf ist alles Leben gegründet? Von welchen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
leben wir? Welche Kräfte prägen das Leben von Gr<strong>und</strong> auf <strong>und</strong> darum zu jeder Zeit? Worauf<br />
kann man sich verlassen? Was hält das Leben am Leben? Das sind die antiken Fragen nach dem<br />
Anfang. Es sind keine historischen, sondern qualitative <strong>und</strong> existentielle Fragen.<br />
3<br />
Es gab den "Anfang" des Tages, des Jahres, der Regenzeit, einer Reise, eines Buches usw.<br />
4<br />
Es handelt sich um die sogenannte "Vulgata". Sie wurde im 4. Jh. n. Chr. angefertigt <strong>und</strong> fand in der abendländischen<br />
Christenheit überall Verbreitung.
5<br />
Welche Folgerung ergibt sich aus dieser antiken Sprach- <strong>und</strong> Denkgewohnheit für das Verständnis<br />
der antiken "Anfangserzählungen"? Antike Erzählungen vom "Anfang" der Welt <strong>und</strong><br />
der Menschheit meinen keinen einmaligen, zeitlichen Entstehungsvorgang in einer weit entfernten<br />
Vergangenheit. Sie erzählen vielmehr vom tiefsten Gr<strong>und</strong> der Welt <strong>und</strong> des menschlichen<br />
Lebens. Dieser Daseinsgr<strong>und</strong> ist stets gegenwärtig <strong>und</strong> gilt für jede Zeit. Antike "Anfangserzählungen"<br />
erzählen davon, was die Welt im Tiefsten bestimmt <strong>und</strong> im Innersten zusammenhält,<br />
davon wer der Mensch "im Gr<strong>und</strong>e" ist <strong>und</strong> wie sein Leben eingebettet ist in stabile Ordnungen.<br />
Das ist eine gr<strong>und</strong>sätzlich andere Verstehensebene als die moderne historische Rückfrage nach<br />
dem, wie einmal alles begonnen hat. Man darf die antike <strong>und</strong> die moderne Frage nach dem "Anfang"<br />
nicht vermischen oder für identisch erklären. Man darf sie auch nicht gegeneinander ausspielen.<br />
Beide Fragestellungen haben ihr Recht. Wer den Unterschied zwischen diesen beiden<br />
Fragestellungen nicht kennt <strong>und</strong> deshalb unberücksichtigt lässt, der kann die biblischen Erzählungen<br />
vom "Anfang" der Welt <strong>und</strong> der Menschheit nur missverstehen. Die biblischen Erzählungen<br />
stammen aus antiker Zeit. Sie müssen zunächst einmal aus ihrer Zeit heraus verstanden werden.<br />
Wir dürfen nicht einfach unsere heutigen Sprach- <strong>und</strong> Denkgewohnheiten in die biblischen<br />
Texte hineinprojizieren.<br />
b) Konkretion durch biblische Beispiele<br />
Im Folgenden möchte ich das bisher Gesagte durch Beispiele aus der Bibel verdeutlichen:<br />
Am Beginn des Buches der Sprüche steht der bekannte Satz: "Die Furcht des Herrn ist der<br />
Anfang der Weisheit" (Spr 1,7). Die gleiche Aussage steht, weil sie so wichtig ist, nochmals in<br />
Spr 9,10. Die "Furcht des Herrn" bzw. die "Furcht Gottes" spielt in der israelitischen Weisheit<br />
eine zentrale Rolle. Gemeint ist die Ehrfurcht vor Gott <strong>und</strong> das Ernstnehmen seines Willens. Der<br />
zitierte Satz wäre völlig missverstanden, wenn man das Wort "Anfang" zeitlich verstehen würde.<br />
Dann wäre die Ehrfurcht vor Gott lediglich in der Anfangsphase des Weisewerdens wichtig. Sie<br />
wäre nur etwas für Anfänger. Was aber sollte dann nach der Anfangsphase an ihre Stelle treten?<br />
Das Buch der Sprüche kennt keine bessere <strong>und</strong> reifere Haltung des Menschen gegenüber Gott,<br />
als die Haltung der Gottesfurcht. Der zitierte Satz will etwas Anderes sagen: Die Gottesfurcht ist<br />
die Gr<strong>und</strong>lage der Weisheit. Das Wort "Anfang" ist also qualitativ gemeint, nicht zeitlich. Im<br />
gleichen Sinn heißt es in Spr 4,6-8: "Das ist der Weisheit Anfang: erwirb Weisheit, erwirb Erkenntnis<br />
um all deinen Besitz. Verlass sie nicht, so bewahrt sie dich. Behalte sie lieb, so behütet<br />
sie dich. Halte sie hoch, so erhebt sie dich. Sie bringt dich zu Ehren, wenn du sie umfängst."<br />
Auch hier geht es nicht um den zeitlichen Anfang, sondern um die Gr<strong>und</strong>prinzipien im Umgang<br />
mit der Weisheit. In Jer 49,35 steht wörtlich übersetzt: "So spricht der Herr der Heerscharen:<br />
Siehe, ich werde den Bogen der Elamiter, den Anfang ihrer Macht, zerbrechen <strong>und</strong> werde über<br />
Elam die vier Winde kommen lassen...." Selbstverständlich ist der Bogen 5 nicht der zeitliche<br />
Anfang der elamitischen Macht, sondern deren typischer Ausdruck. 6 Ein weiteres Beispiel:<br />
"Spannt die Pferde vor die Wagen, ihr Einwohner von Lachisch! Ja, das war der Anfang der<br />
Sünde der Tochter Zion, denn in dir zeigte sich die Gottlosigkeit Israels" (Mi 1,13). Auch hier<br />
5 Gemeint sind Pfeil <strong>und</strong> Bogen der Bogenschützen.<br />
6 Sehr gut übersetzt die Einheitsübersetzung: "So spricht der Herr der Heere: Seht, ich zerbreche den Bogen Elams,<br />
seine stärkste Waffe". Auch die "Gute Nachricht" trifft den Sinn: "Der Herr, der Herrscher der Welt sagt: 'Die<br />
Stärke der Elamiter sind ihre Bogenschützen, aber ich werde ihnen die Bogen zerbrechen!' "
6<br />
geht es weniger um eine zeitliche Anfangsphase im Sündigen, als um die Gr<strong>und</strong>haltung, die in<br />
allen Sünden zum Ausdruck kommt: das mangelnde Vertrauen zu Gott. Es geht um das Wesen<br />
der Sünde, nicht nur um ihren zeitlichen Beginn. Ein letztes Beispiel: nach Hi 40,19 ist Behemot<br />
"der Anfang der Werke Gottes". Gemeint ist: Behemot (das Nilpferd) ist ein charakteristisches<br />
Beispiel für die Schöpferwerke bzw. die Schöpferkraft Gottes. Dass Gott ausgerechnet mit dem<br />
Nilpferd seine Schöpfungswerke begonnen haben soll, wäre im Kontext der biblischen Schöpfungsaussagen<br />
ein völlig absurder Gedanke.<br />
In einer anderen Reihe von Beispielen wird deutlich, dass im AT oft vom "Anfang" eines<br />
Gebäudes oder Gegenstandes die Rede ist, wenn es um die Bedeutung <strong>und</strong> die Bestimmung dieses<br />
Gebäudes oder Gegenstandes geht. So wird z.B. in Gen 6-8 die Arche nicht in ihrer fertigen<br />
Gestalt beschrieben, sondern es wird erzählt, wie Noah die Arche baut. In den Königsbüchern<br />
wird nirgendwo der Jerusalemer Tempel in seiner fertigen Gestalt beschrieben. Dafür wird ausführlich<br />
erzählt, wie Salomo den Tempel bauen lässt (1 Kg 6). In Ex 25-31 wird die B<strong>und</strong>eslade,<br />
die Stiftshütte, der goldene Leuchter, der Brandopferaltar, der Räucheraltar <strong>und</strong> die Amtskleidung<br />
des Priesters nicht in ihrer fertigen Gestalt beschrieben, sondern wir lesen die Anweisungen,<br />
nach denen die B<strong>und</strong>eslade, die Stiftshütte, der goldene Leuchter, der Brandopferaltar, der<br />
Räucheraltar <strong>und</strong> die Amtsbekleidung des Priesters anzufertigen sind. 7 In allen diesen Fällen ist<br />
der Herstellungsbericht als Wesensbeschreibung gemeint. Indem die Bibel den "Anfang" der<br />
Arche, des Tempels, der B<strong>und</strong>eslade, der Stiftshütte <strong>und</strong> des Priestertums erzählt, soll das Wesentliche<br />
dieser Dinge deutlich werden. Darin zeigt sich die typisch orientalische Bevorzugung<br />
des Dynamischen vor dem Statischen. Der Orientale vermeidet statische Beschreibungen. Will er<br />
die wesentlichen Merkmale einer Sache in Worte fassen, dann erzählt er, wie diese Sache geschaffen<br />
wurde. Im gleichen Sinn ist es zu verstehen, wenn die Bibel vom "Anfang" der Schöpfung<br />
<strong>und</strong> des Menschen erzählt. Sie will damit die wesentlichen Aspekte, die Wesenszüge der<br />
Schöpfung <strong>und</strong> des Menschseins zum Ausdruck bringen.<br />
Noch einige andere Beispiele sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. König Saul ist<br />
zornig auf seinen Sohn Jonathan, weil dieser sich mit David, dem Sohn Isais, verbündet hat: "Du<br />
Sohn eines rebellischen Weibes. Ich weiß sehr gut, dass du dich für den Sohn Isais entschieden<br />
hast, dir <strong>und</strong> deiner Mutter, die dich geboren hat zur Schande" (1 Sam 20,30). Wer das orientalische<br />
Denken nicht kennt, ist verwirrt darüber, dass Saul in einer einzigen Aussage sowohl positiv<br />
als auch negativ von Jonathans Mutter - seiner eigenen Frau - spricht. Doch die Formulierung:<br />
"du Sohn eines rebellischen Weibes" bezieht sich nicht auf auf Jonathans leibliche Mutter.<br />
Es wäre eine schwere Entgleisung, wenn König Saul gegenüber seinem Sohn auf diese Weise<br />
von seiner eigenen Frau sprechen würde (zumal der hier benutzte hebräische Ausdruck für<br />
"Weib" auch "Hure" bedeuten kann). Nach orientalischer Sprachgewohnheit geht es Saul bei<br />
dieser Formulierung um das Wesen, den Charakter Jonathans. Er will seinem Sohn sagen: daran,<br />
dass du einen Mann, der nicht zu unserer Familie gehört, wichtiger nimmst als deinen eigenen<br />
Vater, zeigt sich, was für ein Mensch du bist. Du bist von Gr<strong>und</strong> auf (von Geburt an) rebellisch.<br />
Der Hinweis auf den "Anfang" des Lebens ist hier wieder nicht zeitlich gemeint, sondern qualitativ.<br />
Genauso wenig ist das arabische Schimpfwort "du H<strong>und</strong>esohn" ein Angriff auf den leiblichen<br />
Vater des so Beschimpften. Selbst wenn der Vater ein von allen hochgeschätzter Mann ist,<br />
kann dessen Sohn ein "H<strong>und</strong>esohn" sein. Es geht bei diesem Schimpfwort nicht um den zeitli-<br />
7<br />
Auch das Priesteramt wird nicht beschrieben, sondern wir erfahren, wie Mose seinen Bruder Aaron in sein Priesteramt<br />
einsetzen soll (Ex 29).
7<br />
chen Beginn des Lebens, sondern um das "von Gr<strong>und</strong> auf" des Charakters. Wenn ein Orientale<br />
einen Menschen als "Sohn des Friedens" bezeichnet, will er damit sagen: dieser Mensch ist<br />
durch <strong>und</strong> durch friedlich. Er ist ganz vom Frieden geprägt. In diesen Zusammenhang gehört<br />
auch Ps 51,7: "Siehe, ich bin in Schuld geboren. Meine Mutter hat mich in Sünden empfangen".<br />
Diese Feststellung ist keine Aussage über die Mutter des Betreffenden. Der Satz ist keine Anklage<br />
oder Ausrede, sondern ein Schuldbekenntnis. Es geht um Selbsterkenntnis. Der Beter betont<br />
das Ausmaß <strong>und</strong> die Schwere seiner Schuld. Er fühlt sich als Sünder "von Gr<strong>und</strong> auf". Seine<br />
Aussage bezieht sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf den Gr<strong>und</strong> seines Herzens. Hinter<br />
allen diesen orientalischen Redeweisen steht das antike Verständnis vom "Anfang" als dem lebensbestimmenden<br />
Gr<strong>und</strong>.<br />
Fazit: Die biblische Rede vom "Anfang" der Welt <strong>und</strong> der Menschen meint keinen zeitlichen<br />
Anfang im historischen Sinn. Es geht bei den biblischen Anfangserzählungen also nicht um die<br />
einmalige <strong>und</strong> unwiederholbare "Entstehung" der Welt oder der Menschheit. Die Erzählungen<br />
Gen 1 <strong>und</strong> Gen 2-3 wollen vielmehr die gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> bleibenden Wesensmerkmale der<br />
Schöpfung <strong>und</strong> des Menschen zum Ausdruck bringen. Das ist ihnen wichtig. Was "im Anfang"<br />
war, das gilt immer <strong>und</strong> für alle. In diesem Sinn sprechen wir noch heute in den Gottesdiensten<br />
einen Satz aus der Zeit der Alten Kirche: "Wie es war im Anfang, jetzt <strong>und</strong> immerdar <strong>und</strong> von<br />
Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen". 8 Mit diesem Bekenntnissatz der Alten Kirche ist kein Anfang im<br />
historischen Sinn gemeint. Der "Anfang", von dem die Historiker sprechen, ist längst vorbei. Der<br />
Anfang, von dem die Antike <strong>und</strong> die Bibel spricht, dauert an <strong>und</strong> gilt für alle Zeit. Das ist ein<br />
wesentlicher Unterschied. Wer ihn nicht berücksichtigt, missversteht die Bibel.<br />
2. Das Verständnis des Wortes "adam" im Alten Testament<br />
a) Der Ausdruck "ha adam" in der hebräischen Sprache<br />
Die jüdische Bibel - die wir Altes Testament nennen - ist in hebräischer Sprache geschrieben.<br />
Diese Sprache gehörte in keiner Epoche der Geschichte zu den geläufigen Kultursprachen. Auch<br />
in den heutigen weiterführenden Schulen wird Hebräisch normalerweise nicht als Fremdsprache<br />
angeboten. Deshalb ist den meisten Menschen nicht bekannt - auch sehr vielen Lesern der Bibel<br />
nicht -, was das hebräische Wort "adam" bedeutet <strong>und</strong> wo dieses Wort im hebräischen Bibeltext<br />
überall steht. Diese Unkenntnis führt immer wieder zu falschen Vorstellungen. Da die Erzählung<br />
von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> andererseits zu den gr<strong>und</strong>legend wichtigen Bibeltexten zählt, ist es eine Daueraufgabe<br />
derer, die im Bereich der christlichen Erziehung, Bildung <strong>und</strong> Ausbildung Verantwortung<br />
tragen, sich über die Bedeutung des Wortes "adam" zu informieren <strong>und</strong> diese Informationen<br />
möglichst vielen zugänglich zu machen. Zwar genügen sprachliche Informationen allein oft noch<br />
nicht, um tiefsitzende Missverständnisse <strong>und</strong> Vorurteile zu überwinden, 9 sie sind aber ein not-<br />
8 Der Satz will nicht etwa zwischen dem "Anfang" <strong>und</strong> dem "jetzt" unterscheiden, sondern er betont, dass das, was<br />
"im Anfang" war, auch "jetzt" gilt <strong>und</strong> "immerdar". Vgl. im gleichen Sinn: "Jesus Christus ist derselbe gestern,<br />
heute <strong>und</strong> in alle Ewigkeit" (Heb 13,8).<br />
9 Vergleiche dazu auch ...
8<br />
wendiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Ohne Klärung der wesentlichen Begriffe ist es<br />
nicht möglich, einen Bibeltext zu verstehen.<br />
Erfährt ein Leser der Bibel zum ersten Mal, was das Wort "adam" im Hebräischen bedeutet<br />
<strong>und</strong> wo dieses Wort im hebräischen Bibeltext überall vorkommt, ist er in aller Regel sehr erstaunt.<br />
Auch mir selbst ist es so ergangen <strong>und</strong> ich habe dieses Erstaunen bei vielen anderen miterlebt.<br />
Bisher kannte man das Wort "adam" nur aus der Geschichte von "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" (Gen 2-<br />
3), vielleicht noch aus einem der Geschlechtsregister, die mit "<strong>Adam</strong>" beginnen (z.B. Gen 5,1ff).<br />
Deshalb geht jeder Bibelleser selbstverständlich davon aus, dass es in der Bibel ein spezielles<br />
Wort "<strong>Adam</strong>" gibt <strong>und</strong> dass dieses Wort der Name des ersten von Gott erschaffenen Menschen<br />
ist. Was sollte er auch sonst annehmen? Jetzt aber erfährt der Leser der Bibel zum ersten Mal<br />
vier Tatbestände, die er bisher nicht wissen konnte:<br />
1. Das Wort "adam" kommt im hebräischen Text des Alten Testaments (AT) viel häufiger<br />
vor, als der Leser einer deutschen (englischen, französischen usw.) Bibelübersetzung ahnen<br />
kann. Es gibt 560 Belege dieses Wortes im AT. 10<br />
2. Das Wort "adam" kommt keineswegs nur in der Erzählung von "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" (Gen<br />
2-3) <strong>und</strong> in einigen Geschlechtsregistern vor, sondern weit überwiegend außerhalb dieser<br />
Texte. Lediglich 6 % der alttestamentlichen Belege des Wortes "adam" (32 Stellen) finden<br />
sich in den Anfangskapiteln der Bibel (Gen 1-5).<br />
3. Ein spezielles Wort "<strong>Adam</strong>", das als Name für einen bestimmten Menschen reserviert ist,<br />
gibt es im Hebräischen nicht.<br />
4. In fast allen Fällen steht das Wort "adam" im AT mit dem Artikel "ha". 11 In Verbindung<br />
mit dem Artikel ist das Wort "adam" kein Eigenname <strong>und</strong> bezeichnet keine bestimmte<br />
Einzelperson. Eigennamen wie David, Hiskia, Sulamit usw. stehen im Hebräischen - wie<br />
in anderen Sprachen auch - ohne Artikel. Spricht man von einer bestimmten Einzelperson,<br />
dann verwendet man im Hebräischen andere Begriffe ("isch", "nafäsch" u.a.), oder man<br />
benutzt die Formulierung "ben adam" 12 . Der Ausdruck "ha adam" bezieht sich nicht auf<br />
das Besondere <strong>und</strong> Unverwechselbare eines Individuums, sondern auf das typisch<br />
Menschliche, das allen Menschen - trotz der geschlechtlichen, kulturellen <strong>und</strong> religiösen<br />
Unterschiede - gemeinsam ist. Es geht bei diesem Wort um das, was jeden Menschen<br />
kennzeichnet, weil <strong>und</strong> insofern er Mensch ist. Deshalb ist "ha adam" mit "Mensch",<br />
"Menschen" oder "Menschheit" zu übersetzen. Der Ausdruck kommt nur im Singular vor<br />
- auch dann, wenn er sich auf viele Menschen bezieht - <strong>und</strong> lässt sich nicht deklinieren.<br />
Außerhalb von Gen 2-3 übersetzen alle Bibelübersetzungen "ha adam" mit "Mensch", "Menschen"<br />
oder "Menschheit". Deshalb kann der Leser der Bibel nicht erkennen, dass an mehr als<br />
fünfh<strong>und</strong>ert Stellen der Bibel der gleiche Ausdruck "ha adam" steht, der in der Erzählung von<br />
"<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" für den von Gott erschaffenen Menschen verwendet wird. Da andererseits die<br />
älteren Bibelübersetzungen innerhalb von Gen 2-3 den Ausdruck "ha adam" nicht mit "Mensch",<br />
10<br />
Die Belege verteilen sich wie folgt: Psalmen 62, Prediger 49, Urgeschichte (Gen 1-11) 46, Sprüche 45, Hesekiel<br />
39 (ohne "ben adam"), Jeremia 30, Jesaja 27, Hiob 27, Numeri 24, Leviticus 15, Exodus 14 (alle übrigen Bücher<br />
unter 10).<br />
11<br />
Nur in acht der 560 Belege steht das Wort "adam" ohne Artikel. Diese Stellen werden noch im Einzelnen erörtert<br />
(s.u. die Abschnitte b <strong>und</strong> c).<br />
12<br />
Der Ausdruck "ben adam" lässt sich nur schwer in das deutsche Sprachgefühl übertragen. Wörtlich übersetzt heißt<br />
er "Sohn des Menschen". Gemeint ist: Angehöriger der Gattung Mensch. Der Ausdruck "ben adam" kommt besonders<br />
häufig im Buch Hesekiel vor (93 Belege). Er bezeichnet dort den Propheten Hesekiel selbst.
9<br />
sondern mit "<strong>Adam</strong>" übersetzen, 13 ist in den Lesern der Bibel der Eindruck hervorgerufen worden,<br />
es gäbe in Gen 2-3 ein spezielles Wort "<strong>Adam</strong>". Das ist aber nicht der Fall. In Gen 2-3 steht<br />
der gleiche Ausdruck "ha adam", der h<strong>und</strong>ertfach im Alten Testament vorkommt <strong>und</strong> nirgendwo<br />
sonst mit "<strong>Adam</strong>" übersetzt wird. Um dem heutigen Bibelleser diesen sprachlichen Bef<strong>und</strong> erkennbar<br />
zu machen, sollte man auch in Gen 2-3 den Ausdruck "ha adam" mit "Mensch" übersetzen.<br />
Nur so lässt sich der falsche Eindruck vermeiden, es handle sich in Gen 2-3 um einen speziellen<br />
Eigennamen "<strong>Adam</strong>". Viele neuere Bibelübersetzungen beachten inzwischen diesen Gesichtspunkt<br />
(z.B. die Einheitsübersetzung, die "Gute Nachricht" u.a.). Leider sind aber immer<br />
noch Bibeln zu kaufen, die an der Übersetzung "<strong>Adam</strong>" festhalten. 14<br />
Im Folgenden möchte ich deutschen Bibellesern den hebräischen Sprachgebrauch dadurch<br />
deutlich machen, dass ich in Beispielsätzen aus dem AT den Ausdruck "ha adam" unübersetzt<br />
lasse. Die Beispiele sind bewusst breit gestreut, d.h. sie stammen aus unterschiedlichen Bereichen<br />
des AT. Die Zahl der Beispiele könnte leicht um ein Vielfaches vermehrt werden:<br />
• "Und es geschah, als sich ha adam auf der Erde zu vermehren begann <strong>und</strong> ihnen<br />
Töchter geboren wurden, da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter ha adam<br />
waren" (Gen 6,1).<br />
• "Da kam alles Fleisch um, das sich auf der Erde regte, an Vögeln, an Vieh, an wildem<br />
Getier <strong>und</strong> an allem, was da wimmelte auf Erden <strong>und</strong> alle ha adam" (Gen 7,21).<br />
• "Wer das Blut von ha adam vergießt, dessen Blut soll durch ha adam vergossen werden"<br />
(Gen 9,6).<br />
• "Kein ha adam kann Gott schauen <strong>und</strong> am Leben bleiben" (Ex 33,20).<br />
• "Wer ein Herdentier erschlägt, der soll es erstatten. Wer aber ha adam erschlägt, der<br />
soll sterben" (Lev 24,21). 15<br />
• "Wer einen toten ha adam anrührt, der wird sieben Tage unrein" (Nu 19,11).<br />
• "Gott ist kein ha adam, der lügt" (Nu 23,19; vgl. 1 Sam 15,29).<br />
• "Heute ist uns geschehen, dass Gott zu ha adam sprach <strong>und</strong> sie blieben am Leben"<br />
(Dt 5,24).<br />
• "Ha adam sieht was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an" (Dt 16,7).<br />
• Salomo "war weiser als alle ha adam" (1 Kg 5,11).<br />
• "Es gibt keinen ha adam, der nicht sündigt" (1 Kg 8,46).<br />
• " ... die ha adam aber erschlugen sie mit scharfem Schwert <strong>und</strong> rotteten sie alle aus"<br />
(Jes 11,14).<br />
• "Verflucht ist der Mann, der sich auf ha adam verlässt" (Jes 17,5).<br />
• "Wie vergänglich hast du alle ha adam geschaffen" (Ps 89,48).<br />
• "Die Tage ha adam gleichen dem Gras" (Ps 103,15).<br />
• "Dies alles sah ich, als ich über alles Tun nachdachte, das unter der Sonne geschieht:<br />
ha adam herrscht über ha adam zu seinem Unheil" (Pred 8,6).<br />
13 Das gilt sowohl für die älteren Fassungen der Lutherbibel als auch für die älteren katholischen Bibelübersetzun-<br />
gen. Entsprechendes gilt für die Übersetzungen in andere Sprachen.<br />
14 Vgl. z.B. die Elberfelder-Übersetzung, die Menge-Übersetzung (Gen 3,12.20) u.a. Sehr inkonsequent verfährt<br />
leider auch die Lutherübersetzung in der 1984 revidierten Fassung. Sie übersetzt zwar "ha adam" in Gen 2 durch-<br />
gehend mit "Mensch", in Gen 3 aber an mehreren Stellen mit "<strong>Adam</strong>" (Gen 3,8.9.12.20.21).<br />
15 Dieser Satz zeigt, dass "ha adam" durchaus auch einen einzelnen Menschen bezeichnen kann (vgl. z.B. auch Ps<br />
32,2; Hi 27,13), aber nicht im Sinne einer bestimmten, unverwechselbaren Person, sondern lediglich im Sinne<br />
irgendeines einzelnen Menschen, ohne dass es im betreffenden Zusammenhang auf die spezifische Biographie<br />
oder Persönlichkeit des Betreffenden ankommt. Vgl. in obiger Beispielreihe auch das folgende Beispiel.
10<br />
• "sowohl ha adam als auch das Vieh" (Gen 6,7; 7,23; Ex 9,25; 12,12; Nu 3,13; Jer<br />
50,3; 51,62; Ps 135,8).<br />
Ein Leser der Bibel, der diesen hebräischen Sprachgebrauch kennt bzw. von ihm zum ersten Mal<br />
erfährt, wird den Ausdruck "ha adam" in Gen 2-3 mit anderen Augen lesen, als ein Leser, der<br />
diesen Sprachgebrauch nicht kennt. Schon vom hebräischen Sprachgebrauch her wird man es<br />
dann für das Wahrscheinlichste halten, dass der Ausdruck "ha adam" in Gen 2-3 das Gleiche<br />
bedeutet, wie an den anderen mehr als fünfh<strong>und</strong>ert Stellen des AT. 16 Hinzu kommen dann noch<br />
die Gesichtspunkte aus dem vorangegangenen <strong>und</strong> dem anschließenden Kapitel.<br />
Für den heutigen Bibelleser klingen die Worte "<strong>Adam</strong>" <strong>und</strong> "<strong>Eva</strong>" auch deshalb anders als für<br />
damalige Leser, weil "<strong>Adam</strong>" <strong>und</strong> "<strong>Eva</strong>" in unserem Kulturkreis Vornamen geworden sind. Auch<br />
dieser Umstand beeinflusst uns unterschwellig. Man muss sich aber klar machen, dass es sich<br />
dabei um Entwicklungen handelt, zu denen es erst in nachbiblischer Zeit gekommen ist. 17<br />
b) Das Wort "adam" in Genesis 1-3<br />
In den ersten drei Kapiteln der Bibel kommt das Wort "adam" 24 Mal vor. An 22 Stellen steht es<br />
mit dem Artikel. An diesen Stellen ist das Wort "adam" kein Eigenname <strong>und</strong> bezeichnet keine<br />
unverwechselbare Einzelperson. Doch auch an den beiden Stellen, an denen der Artikel fehlt<br />
(Gen 1,26; 2,5), 18 sind keine Einzelpersonen gemeint (s.u.). Unter den Bibellesern ist kaum bekannt,<br />
dass das Wort "adam" bereits im ersten Kapitel der Bibel zwei Mal vorkommt. Die beiden<br />
"adam"-Stellen in Gen 1 sind für das biblische Verständnis des Menschen von großer Bedeutung.<br />
Schon in diesen beiden Stellen geht es um die Erschaffung des Menschen:<br />
"Und Gott sprach: 'Lasst uns adam machen, nach unserem Bild, uns ähnlich. 19 Sie sollen herrschen<br />
über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, das Vieh, über alles Wild der Erde<br />
<strong>und</strong> alles Gewürm, das auf der Erde kriecht" (Gen 1,26). Die Fortsetzung im Plural ("Sie sollen<br />
herrschen...") zeigt, dass mit dem Wort "adam" keine Einzelperson gemeint ist, sondern die<br />
Menschen insgesamt. Das wird durch den nächsten Vers bestätigt: "Und Gott schuf ha adam<br />
nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er sie, als Mann <strong>und</strong> Frau schuf er sie" (Gen<br />
1,27). Wörtlich müsste man übersetzen: "männlich <strong>und</strong> weiblich schuf er sie". Mann <strong>und</strong> Frau<br />
sind gleicherweise "ha adam". Natürlich sind mit "männlich <strong>und</strong> weiblich" nicht nur zwei Menschen<br />
gemeint. Wie sollten zwei Menschen über "die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels,<br />
das Vieh, über alles Wild der Erde <strong>und</strong> alles Gewürm das auf der Erde kriecht" herrschen (Gen<br />
1,26)? Für zwei Menschen wäre ein solcher Auftrag viel zu groß. Da alle Bibelübersetzungen<br />
"adam" (Gen 1,26) <strong>und</strong> "ha adam" (Gen 1,27) mit "Menschen" übersetzen, kann der Bibelleser<br />
nicht ahnen, dass bereits in diesen beiden Versen das gleiche hebräische Wort "adam" verwendet<br />
16<br />
Dafür sprechen außerdem die Gesichtspunkte, die sowohl im vorangegangenen als auch im nachfolgenden Kapitel<br />
genannt werden.<br />
17<br />
Der hebräische Ausdruck "chawwa", der in den deutschen Bibelübersetzungen mit "<strong>Eva</strong>" übersetzt wird, ist ebenfalls<br />
kein Eigenname.<br />
18<br />
Wurde der Artikel versehentlich weggelassen? Wir wissen es nicht. Es ist jedenfalls kein Gr<strong>und</strong> erkennbar, warum<br />
das Wort "adam" ausgerechnet an diesen beiden Stellen ohne Artikel steht.<br />
19<br />
Dass Gott hier von sich selbst im Plural spricht ("uns"), ist immer schon aufgefallen. Dieser Plural ist entweder im<br />
Sinne eines Plurals der Erwägung (plural deliberationis) zu verstehen, einer besonderen Stilform des Selbstgesprächs<br />
(wie z.B. in 2 Sam 24,14; Jes 6,8 u.ö.), oder als Majestätsplural (plural majestatis), der im Alten Orient<br />
allerdings erst ab der persischen Zeit belegt ist, also erst nach dem Ende des babylonischen Exils.
11<br />
wird, wie in der Erzählung von "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" (Gen 2-3). Und warum sollte das gleiche Wort<br />
in Gen 2-3 eine andere Bedeutung haben als in Gen 1?<br />
In Gen 2-3 treten der erschaffene Mensch <strong>und</strong> die erschaffene Frau allerdings als handelnde<br />
Personen auf. Beide verhalten sich <strong>und</strong> sprechen wie Einzelpersonen. Darin liegt in der Tat ein<br />
auffallender Unterschied zu Gen 1. Dieser Umstand 20 ruft bei vielen Lesern der Bibel den Eindruck<br />
hervor, es handle sich in Gen 2-3 um zwei Einzelpersonen im biographischen <strong>und</strong> geschichtlichen<br />
Sinn. Doch falls das die Meinung des Textes sein sollte: warum verwendet die Erzählung<br />
dann keinen eindeutigeren Begriff für eine Einzelperson, der nicht so stark als Gattungsbegriff<br />
vorbelastet ist wie der Ausdruck "ha adam"? Und: Warum gibt die Erzählung dann<br />
dem ersten erschaffenen Menschen nicht einen speziellen, persönlichen Namen? Die Antwort auf<br />
diese beiden Fragen liegt für alle diejenigen auf der Hand, die sich mit den Erzählformen des<br />
alten Orients beschäftigt haben: trotz der "Einzelgestalt-Erzählweise" geht es auch in Gen 2-3<br />
nicht um Einzelpersonen im biographischen <strong>und</strong> geschichtlichen Sinn. Die Erzählungen des alten<br />
Orients stellen gr<strong>und</strong>sätzliche (ethnologische, anthropologische, kollektive) Zusammenhänge oft<br />
an Einzelgestalten dar. Das ist anschaulicher <strong>und</strong> leichter zu verstehen. Insbesondere in den Anfangserzählungen<br />
des Orients ist das der Fall. In diesen Erzählungen sind "Einzelgestalten" als<br />
Typen <strong>und</strong> Repräsentanten im Sinne einer "korporativen Persönlichkeit" zu verstehen. 21 Eine<br />
genauere Analyse der Erzählung Gen 2-3 zeigt sehr deutlich, dass es in ihr nicht um Einzelpersonen<br />
im geschichtlichen Sinn geht. 22 Man erzeugt eine große Zahl unlösbarer <strong>und</strong> unsinniger<br />
Probleme, wenn man die Erzählung Gen 2-3 als Bericht über geschichtliche Personen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
versteht.<br />
An einer Stelle wird auch in Gen 2-3 schon vom Sprachgebrauch her klar, dass sich "ha adam"<br />
nicht auf eine Einzelperson bezieht: "Und Jahwe Elohim sprach: 'Siehe, ha adam ist geworden<br />
wie unsereiner <strong>und</strong> erkennt gut <strong>und</strong> böse.' Und nun, damit er nicht seine Hand ausstreckt<br />
<strong>und</strong> auch vom Baum des Lebens isst <strong>und</strong> für immer lebt, wies Jahwe Elohim ihn aus dem Garten<br />
Eden, um den Acker zu bebauen, von dem er genommen wurde. Und er vertrieb ha adam <strong>und</strong><br />
ließ im Osten des Garten Eden die Kerubim <strong>und</strong> das zuckende Flammenschwert wohnen, damit<br />
sie den Baum des Lebens bewachten" (Gen 3,22-24). Da sowohl der Griff nach der Frucht als<br />
auch die Vertreibung aus dem Garten Eden den Mann <strong>und</strong> die Frau gemeinsam betrifft, schließt<br />
der Ausdruck "ha adam" in diesen Versen die Frau mit ein, ohne dass dies ausdrücklich gesagt<br />
werden muss. Auch an der einzigen Stelle, in der das Wort "adam" in Gen 2-3 ohne Artikel steht,<br />
ist keine Einzelperson gemeint: "Und alles Gesträuch des Feldes gab es noch nicht auf Erden <strong>und</strong><br />
alles Kraut des Feldes wuchs noch nicht, weil Jahwe Gott noch nicht hatte regnen lassen auf der<br />
Erde, <strong>und</strong> es noch keinen adam gab, die Erde zu bebauen" (Gen 2,5). Vom Sinnzusammenhang<br />
her ist klar, dass es nicht um die Tätigkeit eines einzelnen Menschen geht, sondern um die Kulturtätigkeit<br />
des Menschen überhaupt.<br />
20<br />
Er ist der Hauptgr<strong>und</strong>, dafür, dass die älteren Bibelübersetzungen "ha adam" innerhalb von Gen 2-3 mit "<strong>Adam</strong>"<br />
übersetzen.<br />
21<br />
"Korporative Persönlichkeiten" verkörpern ganze Sippen, Clans, Stämme <strong>und</strong> Völker.<br />
22<br />
Vgl. dazu das folgende Kapitel.
12<br />
c) Das Wort "adam" in Genealogien des Alten Testaments<br />
Es gibt im AT allerdings drei Texte (Gen 4,25; 5,1-5 <strong>und</strong> 1 Chr 1,1), in denen das Wort "adam"<br />
tatsächlich zum Eigennamen geworden ist <strong>und</strong> eine bestimmte Einzelperson bezeichnet. In diesen<br />
Texten steht das Wort "adam" stets ohne Artikel. 23 Bei allen drei Texten handelt es sich auffälligerweise<br />
um genealogische Texte. Außerhalb von Genealogien (Geschlechtsregistern;<br />
Stammtafeln) gibt es im AT keinen Bef<strong>und</strong> dieser Art.<br />
Genealogien haben in der Bibel wichtige theologische Funktionen. In der biblischen Urgeschichte<br />
(Gen 1-11) bringen sie zum Ausdruck, dass der Mensch ein Glied in der Kette der Generationen<br />
ist. Er wird in hohem Maß bestimmt durch seine Vorfahren, durch Vergangenheit <strong>und</strong><br />
Tradition. Der Generationenzusammenhang bringt Stabilität in den Fluss der Zeiten. Er schafft<br />
eine Struktur. Deshalb ist der Generationenzusammenhang Ausdruck des Segens. Dieser Segen<br />
wird in den Genealogien des AT ganz aus der Sicht des Mannes formuliert. Es geht um Namen<br />
von Männern, um ihr Zeugungsalter beim erstgeborenen Sohn <strong>und</strong> um ihr Lebensalter. Die Namen<br />
<strong>und</strong> Lebensdaten der Frauen <strong>und</strong> Töchter werden nicht erwähnt. Man kann die Genealogien<br />
der biblischen Urgeschichte nicht im modernen Sinn "historisch" auswerten. Warum das nicht<br />
möglich ist, möchte ich am Beispiel der Genealogie Gen 5,1-32 erläutern. Diese Genealogie ist<br />
für das Thema "<strong>Adam</strong>" von besonderer Bedeutung. In ihr kommt das hebräische Wort "adam"<br />
vier Mal ohne Artikel vor (vgl. Gen 5,1-5). In zwei dieser Fälle wird das Wort "adam" als Eigenname<br />
verwendet, in den beiden anderen Fällen nicht (s.u.). Die Genealogie beginnt mit "<strong>Adam</strong>"<br />
<strong>und</strong> endet bei Noah. Folgende Beobachtungen am Text machen eine historische Auswertung<br />
dieser Genealogie unmöglich:<br />
1. Das Lebensalter der ersten Väter des Menschengeschlechts ist enorm hoch. Die Mehrzahl<br />
der genannten Väter wird über 900 Jahre alt! Aber nicht nur die Höhe der Zahlen ruft<br />
Fragen hervor. Wichtig ist auch, dass diese Zahlen unterschiedlich überliefert werden. In<br />
der samaritanischen Übersetzung der fünf Bücher Mose werden z.T. niedrigere Zahlen<br />
genannt, in der griechischen Übersetzung z.T. noch höhere. 24<br />
2. Die Genealogie nennt zehn Generationen von <strong>Adam</strong> bis Noah. Die Zahl zehn ist Ausdruck<br />
der Vollständigkeit. 25 D.h. die Zeit vor der Flut soll als eine vollständige, abgeschlossene<br />
Epoche deutlich werden. Bei den Sumerern gibt es eine wesentlich ältere Liste<br />
der ersten Könige mit ebenfalls zehn Generationen bis zur Flut. Die Zahl zehn ist nicht<br />
im modernen Sinn "historisch" zu verstehen, sondern symbolisch.<br />
3. Die Genealogie bietet in der siebten Position (sieben ist die Zahl der Vollkommenheit) 26<br />
einen besonderen Fall: Henoch "wandelte mit Gott" <strong>und</strong> wird von ihm vor seinem Tod<br />
entrückt. Er wurde "365 Jahre" alt. Das ist die Zahl der Tage im Sonnenjahr. Mit dieser<br />
Zahl wird Henoch als "Kind des Lichts" dargestellt. Auch diese Zahl ist offensichtlich<br />
nicht historisch zu verstehen, genauso wenig wie die siebte Position Henochs innerhalb<br />
der Genealogie. Die Zahlen zehn, sieben <strong>und</strong> 365 können nicht alle zusammen eine historische<br />
Gr<strong>und</strong>lage haben. Das wäre zu viel an Zufall.<br />
23<br />
Insgesamt 6 Belege; an vier dieser Belege ist mit dem Wort "adam" eine Einzelperson gemeint. Vgl. dazu die<br />
folgenden Ausführungen.<br />
24<br />
Vgl. dazu Seebass, Urgeschichte, 178.<br />
25<br />
Vgl. die zehn Finger, die zehn Gebote, die zehn ägyptischen Plagen, die zehn Tiere in Hi 38-39 usw.<br />
26<br />
Vgl. die sieben Tage der Woche, die sieben Planeten, die sieben Farben des Regenbogens, die sieben Bitten des<br />
Vaterunsers, die sieben W<strong>und</strong>er im Johannesevangelium usw.
13<br />
4. Die Angaben über Noah (Gen 5,32) fallen in doppelter Hinsicht aus dem bisherigen<br />
Rahmen der Genealogie heraus: a. Noah war bereits "500 Jahre" alt, als er seine ersten<br />
Söhne zeugte. Seine bisher genannten Vorfahren waren ausnahmslos jünger als 200 Jahre,<br />
als sie ihre ersten Söhne zeugten (teils sogar jünger als 100 Jahre). b. Alle anderen<br />
Vorfahren zeugten zunächst nur einen Sohn. Noah aber zeugte in einem Jahr gleich drei<br />
Söhne (Sem, Ham <strong>und</strong> Japhet). Soll man sich diese Söhne als Drillinge vorstellen? Oder<br />
wurden sie von verschiedenen Frauen geboren?<br />
Fragt man nach dem Gr<strong>und</strong> für das auffallend hohe Zeugungsalter Noahs, findet man die Antwort<br />
in der Theologie der biblischen Urgeschichte: Nur wenn man das Zeugungsalter Noahs so<br />
hoch ansetzt, wird verständlich, dass die Söhne Noahs erst nach der Sintflut ihrerseits Söhne<br />
zeugen. 27 Das ist für die Theologie der Urgeschichte wichtig. Ihr zufolge ist die Sintflut eine<br />
tiefe Zäsur. Mit der Sintflut wird die erste Epoche, die Urzeit, abgeschlossen. Seit der Sintflut ist<br />
die Lebenswelt der Menschen so, wie sie heute ist. Die neue Epoche nach der Flut beginnt mit<br />
den Enkeln Noahs. Sie gehören in die neue Zeit <strong>und</strong> haben keinen Anteil mehr an der Urzeit.<br />
Deshalb ist es wichtig, dass sie erst nach der Flut geboren werden. Da die Sintflut nach Gen<br />
9,28f im 600. Lebensjahr Noahs stattfand, waren Noahs Söhne zur Zeit der Flut "erst" 100 Jahre<br />
alt. Bei diesem "jungen" Alter leuchtet es ein, dass Sem, Ham <strong>und</strong> Japhet erst nach der Flut Söhne<br />
zeugten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> setzt die Genealogie in Gen 5,32 das Zeugungsalter Noahs so<br />
hoch an. Es geht offensichtlich nicht um "historische", sondern um theologische Erwägungen.<br />
Wer wollte die r<strong>und</strong>en Zahlen 500, 600 <strong>und</strong> 100 als "historische" Angaben verstehen? 28 – Diese<br />
Hinweise auf die theologische Gestaltung der Genealogie Gen 5,1-32 sollen als Erklärung dafür<br />
genügen, dass man in der wissenschaftlichen Exegese darauf verzichtet, diese Genealogie historisch<br />
auszuwerten. Der Hinweis auf den Eigennamen "<strong>Adam</strong>" in Gen 5,1-5 ist deshalb kein überzeugendes<br />
Argument für einen "historischen <strong>Adam</strong>".<br />
Der zweite der drei genannten genealogischen Texte – 1 Chr 1,1 – setzt Gen 5,1ff voraus, ist<br />
also keine unabhängige biblische Überlieferung, deren geschichtliche Aussagekraft man gesondert<br />
prüfen müsste. Der dritte Text – Gen 4,26 – kann für sich allein die Beweislast für einen<br />
"historischen <strong>Adam</strong>" nicht tragen. Für diesen Text gilt das Gleiche wie für die beiden anderen<br />
Genealogien: wer das Wort "adam" in einer Genealogie verwenden will, der muss es als Eigenname<br />
verwenden. In Genealogien geht es gr<strong>und</strong>sätzlich um Eigennamen. Aber selbst wenn man<br />
die drei genealogischen Texte (Gen 4,26; 5,1-5; 1 Chr 1,1) - trotz aller genannten Hinweise! - für<br />
historisch auswertbare Texte halten wollte, bliebe immer noch der Tatbestand, dass in Gen 2-3<br />
das Wort "adam" fast immer mit Artikel steht, also kein Eigenname ist <strong>und</strong> keine Einzelperson<br />
bezeichnet.<br />
Ein letzter Hinweis: dem Autor der Genealogie Gen 5,1-32 ist es nicht leicht gefallen, aus<br />
dem Gattungsbegriff "ha adam" den Eigennamen "<strong>Adam</strong>" zu machen. Das zeigt sich in Gen<br />
5,1-2. Der erste Satz lautet: "Das ist das Buch der Nachfahren <strong>Adam</strong>s". In dieser Überschrift ist<br />
"<strong>Adam</strong>" als Eigenname verstanden. Anschließend greift der Autor jedoch auf Gen 1,26-27 zu-<br />
27 Am Beginn der Völkertafel in Gen 10 heißt es betont: "Dies sind die Nachkommen der Söhne Noahs, Sem, Ham,<br />
<strong>und</strong> Japhet. Diesen wurden Söhne geboren nach der Flut" (Gen 10,1).<br />
28 Es hilft auch nichts zu sagen, diese Zahlen seien zwar "ger<strong>und</strong>et", aber trotzdem historisch. Von<br />
der sehr hohen Lebenserwartung der urzeitlichen Väter einmal ganz abgesehen: sollte Noah bei der Geburt<br />
seiner drei Söhne zufällig "ungefähr" 500 Jahre alt gewesen sein <strong>und</strong> die Sintflut zufällig "ungefähr" im 600.<br />
Lebensjahr Noahs stattgef<strong>und</strong>en haben, so dass alle drei Söhne Noahs bei der Sintflut zufällig "ungefähr" 100<br />
Jahre alt waren? Auch das wäre des Zufalls zu viel, zumal ja schon die zehn Generationen von <strong>Adam</strong> bis Noah,<br />
die siebte Position Henochs <strong>und</strong> dessen 365 Lebensjahre zu viel an Zufall sind.
14<br />
rück. 29 Deshalb muss er das Wort "adam" nach der Überschrift doch auch pluralisch verstehen:<br />
"Als Gott adam schuf, machte er ihn nach Gottes Ähnlichkeit. Als Mann <strong>und</strong> Frau schuf er sie<br />
(Plural!) <strong>und</strong> so segnete er sie (Plural!) <strong>und</strong> nannten ihren Namen adam (Plural!) am Tage als er<br />
sie (Plural!) erschaffen hatte" (Gen 5,1b-2). Erst nach diesem Hinweis zur Gottesebenbildlichkeit<br />
beginnt mit Gen 5,3 die eigentliche Genealogie. Dieses Schwanken im Gebrauch des Wortes<br />
"adam" zeigt, dass es nicht ohne Schwierigkeiten möglich ist, vom Gattungsbegriff "adam" zum<br />
Eigennamen "<strong>Adam</strong>" zu wechseln. Man kann fragen, warum der Autor der Genealogie sich überhaupt<br />
diese Mühe macht <strong>und</strong> solche Schwierigkeiten in Kauf nimmt. Wahrscheinlich bewegte<br />
ihn ein theologisch berechtigtes Motiv. Er möchte eine Verbindung schaffen zwischen dem "Anfangsgeschehen"<br />
<strong>und</strong> der geschichtlichen Existenz des Menschen. Es gehört zu den Besonderheiten<br />
des israelitischen Gottes- <strong>und</strong> Weltverständnisses, dass Israel seine Erzählungen vom "Anfang"<br />
der Welt <strong>und</strong> des Menschen in einen Zusammenhang bringt mit der Geschichte (vgl. Gen<br />
12ff). 30<br />
Fazit: Es ist nicht möglich, durch den Verweis auf drei genealogische Texte des AT die zahlreichen<br />
Belege dafür zu entkräften, dass "ha adam" im gesamten übrigen AT <strong>und</strong> auch in Gen<br />
2-3 ein Gattungsbegriff ist, der sich nicht auf eine bestimmte, unverwechselbare Einzelperson im<br />
biographischen <strong>und</strong> geschichtlichen Sinn bezieht, sondern die Gattung "Mensch" bezeichnet.<br />
3. Warum Gen 2-3 nicht in einem geschichtlichen Sinn gemeint sein kann<br />
Die in den beiden vorangegangenen Kapiteln genannten Aspekte haben bereits deutlich gemacht,<br />
dass die Erzählung Gen 2-3 nicht als historischer Bericht gemeint ist. In diesem Kapitel folgt<br />
eine Art Gegenprobe. Nehmen wir einmal an, die Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> wäre ein Bericht<br />
über geschichtliche Personen <strong>und</strong> geschichtliche Ereignisse. Ergibt die Erzählung in diesem Fall<br />
überhaupt einen in sich stimmigen, plausiblen Sinn? Das wäre doch das Mindeste, was man erwarten<br />
kann. Diese "Probe aufs Exempel" ist - wenn man sie <strong>wirklich</strong> genau <strong>und</strong> konsequent<br />
durchführt - sehr aufschlussreich. Es stellt sich auf diese Weise nämlich heraus, wie unhaltbar<br />
die Behauptung ist, <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> seien geschichtliche Personen. Man darf sich deshalb mit<br />
dieser Behauptung in ihrer pauschalen Form nicht zufrieden geben, sondern muss diese Behauptung<br />
Vers für Vers einer Bewährungsprobe aussetzen. Hält die Behauptung, <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> seien<br />
geschichtliche Personen, einer Überprüfung am Bibeltext stand? Das ist die Frage, um die es<br />
jetzt geht.<br />
1. Die Zeitangaben in der Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>: Die Geschichte von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong><br />
beginnt mit folgenden Worten: "Am Tag als Jahwe Gott Erde <strong>und</strong> Himmel machte <strong>und</strong> alle die<br />
Sträucher des Feldes waren noch nicht auf Erden <strong>und</strong> all das Kraut des Feldes war noch nicht<br />
gewachsen, denn Jahwe Gott hatte noch nicht regnen lassen auf Erden <strong>und</strong> der Mensch war noch<br />
nicht da, die Erde zu bebauen..." (Gen 2,4b-5). Dieser lange Anfangssatz enthält die einzige<br />
29 Der Autor muss auf Gen 1,26-27 zurückgreifen, weil dort gesagt wurde, dass alle Menschen Ebenbilder Gottes<br />
sind (in Gen 1,26-27 ist "adam" nicht als Einzelperson verstanden). Wenn der Autor der Genealogie Gen 5,1-32<br />
"<strong>Adam</strong>" jetzt - im Unterschied zu Gen 1,26f - als Einzelperson versteht, muss er klarstellen, dass nicht nur<br />
"<strong>Adam</strong>" selbst ein Ebenbild Gottes ist, sondern auch dessen Nachfahren.<br />
30 Vgl. dazu unten ...
15<br />
Zeitangabe in der ersten Hälfte der Erzählung (Gen 2). 31 Um welche Zeit aber handelt es sich?<br />
Wann war dieser Tag, von dem hier erzählt wird? Das bleibt offen. In der zweiten Erzählhälfte<br />
kommt nur eine einzige weitere Zeitangabe dazu: "Und sie hörten Jahwe Gott, wie er im Garten<br />
ging, als der Tag kühl geworden war" (Gen 3,8). Damit kann nur der späte Nachmittag, oder der<br />
frühe Abend gemeint sein. D.h. wir erhalten in der gesamten Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> keine<br />
einzige Zeitangabe in einem geschichtlich verwertbaren Sinn. Deshalb bleiben - wenn man<br />
die Geschichte als historischen Bericht verstehen will - sehr viele Gesichtspunkte unklar. Für<br />
einen historisch interessierten Menschen stellen sich z.B. folgende Fragen: Wie lange hat <strong>Adam</strong><br />
eigentlich im Garten Eden <strong>gelebt</strong>, bevor die Tiere (Gen 2,19-20) <strong>und</strong> bevor <strong>Eva</strong> (Gen 2,20-21)<br />
geschaffen wurden? Eine St<strong>und</strong>e? Ein Tag? Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahr, oder länger? Wie<br />
lange haben <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> eigentlich zusammen im Garten Eden <strong>gelebt</strong>, bevor sie vom Baum<br />
der Erkenntnis aßen? Eine St<strong>und</strong>e? Ein Tag? Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahr, oder länger?<br />
Man sage nicht, solche Fragen seien unwichtig <strong>und</strong> der Text konzentriere sich auf das Wichtige.<br />
Im Falle eines historischen Berichts sind Fragen dieser Art keineswegs unwichtig. Wie soll man<br />
sich sonst eine einigermaßen zutreffende Vorstellung vom Aufenthalt <strong>Adam</strong>s <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>s im Garten<br />
Eden machen können? Es wäre z.B. hochinteressant <strong>und</strong> theologisch sehr wichtig zu erfahren,<br />
wie lange <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> <strong>gelebt</strong> haben, bevor es zu dem Griff nach der Frucht am Baum der<br />
Erkenntnis kam. Das würde viel darüber zu aussagen, welche Rolle die Sünde im Leben von<br />
<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> gespielt hat. Lebten sie ein Jahr ohne Sünde, oder nur zwei St<strong>und</strong>en? Im Falle<br />
eines Berichts über historische Personen stellen sich außerdem folgende Fragen: Mit was hat sich<br />
<strong>Adam</strong> allein <strong>und</strong> mit was haben sich <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> zusammen im Garten Eden beschäftigt? Wie<br />
sah ihr Tagesablauf aus, wie ihr Wochenprogramm? Wo lagen ihre Interessen <strong>und</strong> Vorlieben?<br />
<strong>Haben</strong> sie Werkzeuge hergestellt? Welche? <strong>Haben</strong> sie sich untereinander immer bestens verstanden?<br />
Oder gab es zwischen ihnen hin <strong>und</strong> wieder auch Missverständnisse <strong>und</strong> Streit? Welche Art<br />
von Sprache haben sie gesprochen? Wie <strong>und</strong> wo haben sie gewohnt? Wie groß war der Garten?<br />
Sobald man beginnt, irgendwelche historische Fragen an diesen Text zu richten, stellt man fest,<br />
dass er auf Fragen dieser Art nicht eingeht. Die Erzählung ist in dieser Hinsicht auffallend mager.<br />
Sieht so ein historischer Bericht aus?<br />
Auf Gr<strong>und</strong> der beiden einzigen Zeitangaben in Gen 2,4-5 <strong>und</strong> 3,9 kann man die Geschichte<br />
von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> auch folgendermaßen verstehen: alles, was in Gen 2-3 erzählt wird, hat sich<br />
innerhalb eines einzigen Tages abgespielt. Der Text lässt auch diese Deutung zu. Doch sie erzeugt<br />
genauso viele Ungereimtheiten. Wurden <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> aus dem Garten Eden ausgewiesen,<br />
obwohl sie kaum einen Tag in ihm <strong>gelebt</strong> haben? Hat sich dafür der Aufwand des Gartens<br />
gelohnt? Was ist das für eine Heimat, in der man nur einen Tag <strong>gelebt</strong> hat? <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> hätten<br />
sich kaum kennenlernen können, bevor sie ausgewiesen wurden. Außerdem hat <strong>Adam</strong> allen Tieren<br />
einen Namen gegeben (Gen 2,19-20). Ist das innerhalb weniger St<strong>und</strong>en möglich? Unklarheiten<br />
über Unklarheiten.<br />
Damit stehen wir schon am Beginn der Gegenprobe vor der Situation, vor der wir bis zum<br />
Ende der Gegenprobe immer wieder stehen werden: Sobald man die Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Eva</strong> ernsthaft als historischen Bericht verstehen will, ergibt sich eine Schwierigkeit <strong>und</strong> Unklarheit<br />
nach der anderen. Versteht man die Erzählung dagegen als eine antike "Anfangserzählung",<br />
31 Der Ausdruck "am Tag" muss nicht unbedingt als 24-St<strong>und</strong>en-Tag verstanden werden. Im Hebräischen ist dieser<br />
Ausdruck des Öfteren auch als allgemeinere Zeitangabe gemeint: "Zu der Zeit, als ..." So übersetzen viele Bibel-<br />
übersetzungen den Beginn der Erzählung.
16<br />
entfallen alle diese Schwierigkeiten. Dafür wird der Leser frei für eine andere Beobachtung. Der<br />
zitierte lange Anfangssatz Gen 2,4-5 (s.o.) enthält vier Mal die Formulierung "noch nicht". Das<br />
ist auffallend. Der Vergleich mit anderen altorientalischen Anfangserzählungen zeigt, dass es<br />
sich dabei um ein übliches Stilmittel speziell in Anfangserzählungen handelt. Die damals sehr<br />
bekannte babylonische Anfangserzählung "Enuma elisch" beginnt z.B. mit folgenden Sätzen:<br />
"Als oben der Himmel noch nicht da war<br />
<strong>und</strong> unten die Erde noch nicht entstanden war,<br />
gab es Apsu, den Ersten, ihren Erzeuger<br />
<strong>und</strong> die Gebärerin Tiamat, die sie alle gebar.<br />
Ihre Wasser haben sich vermischt.<br />
Das Weideland hatten sie noch nicht bereitgestellt<br />
<strong>und</strong> das Sumpfgebiet noch nicht aufgefüllt.<br />
Als die Götter noch nicht hervorgebracht waren, kein einziger,<br />
sie mit Namen noch nicht gerufen waren,<br />
ihnen die Schicksale noch nicht bestimmt waren,<br />
da wurden die Götter in ihrem Inneren geformt ..." 32<br />
Dieser Noch-nicht-Stil findet sich auch in einem weiteren Schöpfungstext des Alten Testaments.<br />
Im Buch der Sprüche sagt die Weisheit von sich:<br />
"Jahwe hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege,<br />
vor seinen Werken in der Urzeit.<br />
Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her<br />
am Anfang, beim Ursprung der Erde.<br />
Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren,<br />
als es die wasserreichen Quellen noch nicht gab.<br />
Ehe denn die Berge eingesenkt wurden,<br />
vor den Hügeln wurde ich geboren.<br />
Als er die Erde noch nicht gemacht hatte,<br />
noch nicht die Schollen des Erdbodens ..." (Spr 8,22-26).<br />
Warum sind diese Noch-nicht-Sätze in den altorientalischen Anfangserzählungen so beliebt? Sie<br />
schaffen einen Hintergr<strong>und</strong>, vor dem die Bedeutung, die Qualität <strong>und</strong> die Schönheit der Schöpfung<br />
um so bewusster wird. Die orientalischen Anfangserzählungen nennen entscheidende Aspekte<br />
der gegenwärtigen Lebenswelt <strong>und</strong> sagen dem Leser: Stell dir einmal vor, das alles habe es<br />
noch nicht gegeben! Auf solche Weise wollen diese Anfangserzählungen den damaligen Lesern<br />
<strong>und</strong> Hörern dazu verhelfen, sich um so mehr darüber zu freuen, dass es diese Dinge gibt <strong>und</strong><br />
dankbar zu werden für die eigene Lebenswelt. Bei diesem Stilmittel der altorientalischen Anfangserzählungen<br />
geht es nicht um Zeitangaben im modernen historischen Sinn. Es geht um Hilfe<br />
zur bewussteren Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt. Auch dieser sprachliche Vergleich<br />
macht deutlich, dass es bei der Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> nicht um einen historischen Bericht<br />
geht. Wo findet man solche wichtigen Sprachvergleiche in f<strong>und</strong>amentalistischen Auslegun-<br />
32 Vgl. dazu Bauks, Anfang, 213ff; Pettinato, Menschenbild, 69-73. Auch in den noch älteren sumerischen Texten<br />
begegnet dieser Noch-nicht-Stil. Ein ägyptischer Pyramidentext beginnt mit den Worten: "Als noch nicht der<br />
Himmel entstanden war, als noch nicht die Menschen entstanden waren, als noch nicht die Götter geboren waren,<br />
als noch nicht das Sterben entstanden war" (Löning/Zenger, Anfang, 32). Weitere Beispiele bei Pettinato, Menschenbild,<br />
86ff. 91ff.
17<br />
gen von Gen 2-3? Wie sollen sich die Leser solcher Auslegungen ein angemessenes Urteil bilden<br />
können, wenn sie von solchen sprachlichen Zusammenhängen nichts erfahren?<br />
2. Die Erschaffung des Menschen: "Da formte Jahwe Gott den Menschen aus Erde vom Ackerboden<br />
<strong>und</strong> blies ihm den Atem des Lebens in die Nase. So wurde der Mensch ein lebendiges<br />
Wesen" (Gen 2,7). Die Erschaffung des Menschen aus Erde bzw. Ton (Töpferlehm) ist im Alten<br />
Orient eine geläufige Vorstellung. Sie begegnet sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten,<br />
aber auch in Griechenland <strong>und</strong> Afrika. 33 Der akkadische Gilgamesch-Epos erzählt, wie die Göttin<br />
Aruru den Menschen aus Ton formt. Sie "kneift" dazu einen Lehmklumpen von einer größeren<br />
Menge Lehm ab. 34 Auch im babylonischen Atramhasis-Epos wird der Mensch aus Ton geschaffen.<br />
Damit er seiner Lebensaufgabe besser gewachsen ist, vermischen die Götter den Ton<br />
mit dem Blut eines untergeordneten Gottes. Nach ägyptischer Vorstellung erschafft der Schöpfergott<br />
Chnum die Menschen, indem er sie aus Ton zu Figuren formt. Eine andere Gottheit<br />
haucht diesen Figuren dann das Leben ein. Auf einem Relief ist Chnum zu sehen - in Menschengestalt,<br />
mit Widderkopf -, wie er an der Töpferscheibe arbeitet <strong>und</strong> einen Pharao aus Ton formt.<br />
Diese Beispiele zeigen, wie handfest <strong>und</strong> konkret man sich sowohl in Mesopotamien als auch in<br />
Ägypten die Erschaffung des Menschen durch die Götter vorgestellt hat. Die Götter gingen dabei<br />
genauso vor, wie menschliche Töpfer. Man unterschied nicht gr<strong>und</strong>sätzlich (kategorial) zwischen<br />
dem Schaffen der Götter <strong>und</strong> dem Schaffen der Menschen. Gerade in dieser Hinsicht ist<br />
der biblische Text (Gen 2,7) wesentlich vorsichtiger <strong>und</strong> zurückhaltender:<br />
Die biblische Erzählung von der Erschaffung des Menschen erzählt keine Details des Erschaffungsvorgangs.<br />
Wann hat Gott den Menschen erschaffen? Wo hat er ihn erschaffen? Wieviel<br />
Erde hat er genommen? Wie lange hat die Erschaffung gedauert? Trotz der anschaulichen Sprache<br />
wahrt der Text das Geheimnis des Schöpferwirkens. Der Erzähler hat ein sicheres Gespür<br />
dafür, dass er Gott nicht in falscher Weise vermenschlichen darf. Er spricht weder von einer<br />
"Gestalt" Gottes noch von seinen "Händen", seinem "M<strong>und</strong>", oder seinem "Atem". 35 Es findet<br />
sich auch kein Hinweis auf ein "Abkneifen" des Lehms, oder auf eine "Töpferscheibe". Im Hebräischen<br />
gibt es ein spezielles Wort für Töpferlehm ("chomär"; vgl. Gen 11,3 u.ö.). Dieses Wort<br />
wird in Gen 2,7 nicht benutzt. Dafür ist - anders als in den altorientalischen Parallelen - vom<br />
"Staub der Erde" die Rede. Dass das Wort "Staub" (afar) sehr bewusst verwendet wird, zeigt Gen<br />
3,19. Dort wird der gleiche Ausdruck noch einmal aufgegriffen („Denn Staub bist du <strong>und</strong> zum<br />
Staub wirst du zurückkehren“). Das Wort "Staub" passt aber denkbar schlecht zur Tätigkeit eines<br />
33 Vgl. zum Folgenden Yoyotte, Entstehung; Pettinato, Menschenbild. Auch Prometheus bildet den Menschen aus<br />
Lehm (vgl. Westermann, Urgeschichte, 279). Zu den zahlreichen afrikanischen Belegen vgl. Frazer, Arche, 6-20.<br />
Es ist kein Zufall, dass viele alte Völker gerade im Töpferlehm das Ausgangsmaterial für die Erschaffung des<br />
Menschen gesehen haben. Die Entdeckung, dass Ton <strong>und</strong> Lehm zu haltbaren Formen gestaltet werden kann, ge-<br />
hört zu den großen Entdeckungen der Menschheitsgeschichte. Sie führte nicht nur zu neuen Möglichkeiten im<br />
Mauerbau - man war nicht mehr ausschließlich auf Steine angewiesen, deren Transport oft mühsam war - <strong>und</strong> im<br />
Bau von Wasserleitungen, sondern sie war vor allem entscheidend für die Entstehung der Keramik. Die Keramik<br />
wiederum war für die Kultur der Menschen von so herausragender Bedeutung, dass man die frühe Geschichte der<br />
Menschen in die "vorkeramische" <strong>und</strong> "keramische Zeit" (ab 5500 v. Chr.) gliedert. Die Menschen waren faszi-<br />
niert, von den Gestaltungsmöglichkeiten dieses Materials. Aus feuchtem Lehm konnte man die unterschiedlich-<br />
sten Dinge gestalten: Ziegel, Röhren, Krüge, Töpfe, Vasen, Tiere, Vögel, Köpfe, ein menschliches Gesicht u.a.<br />
Mit dem Trocknen des Tons wurden alle diese Formen haltbar. Tongefäße sind wasserdicht. Sie schützen ihren<br />
Inhalt vor Feuchtigkeit, Licht <strong>und</strong> Hitze. Bis heute übt der Töpferlehm seine Faszinationskraft aus, nicht nur auf<br />
Töpfer, Künstler <strong>und</strong> Kinder.<br />
34 "Aruru wusch sich die Hände, kniff sich Lehm ab, warf ihn draußen hin. Enkidu, den Gewaltigen schuf sie, einen<br />
Helden ..." (Westermann, Urgeschichte, 279).<br />
35 Es ist nur vom "Atem des Lebens" die Rede, nicht aber vom "Atem Gottes".
18<br />
Töpfers. 36 Es drückt vielmehr den großen Abstand zwischen Gottes Schaffen <strong>und</strong> dem Schaffen<br />
eines menschlichen Töpfers aus. Auffallend ist auch, dass es nicht heißt: "Und Gott nahm den<br />
Staub von der Erde <strong>und</strong> machte ..." Die Formulierung "er nahm" ist im Hebräischen üblich, wenn<br />
ein Mensch aus einem Material etwas herstellt (vgl. Ex 4,9; 29,7; Lev 4,5 u.ö.). 37 Das in Gen 2,7<br />
verwendete Wort "formen" (jazar) stammt zwar aus der Töpfersprache (vgl. z.B. 2 Sam 17,26; 1<br />
Chr 4,23 u.ö.), ist aber im AT nicht mehr wörtlich (materiell) gemeint, wenn es auf Gottes Wirken<br />
bezogen wird. 38 So kann es z.B. heißen: Gott "formt" sein Volk Israel <strong>und</strong> seinen auserwählten<br />
Knecht durch seine Führungen. 39 Er "formt" den Geist (Sach 12,1), das Licht (Jes 45,7), die<br />
Jahreszeiten (Ps 74,17) <strong>und</strong> das kommende Unheil (Jer 18,11). Wenn Gott der Formende ist,<br />
dann meint das hebräische Verb jazar also ein geheimnisvolles schöpferisches Wirken <strong>und</strong> "Gestalten",<br />
das sich mit dem Formen <strong>und</strong> Modellieren eines menschlichen Töpfers nicht vergleichen<br />
lässt. Wie wenig das Verb jazar auch in anderen Fällen seine ursprüngliche konkrete Bedeutung<br />
beibehalten hat, geht z.B. daraus hervor, dass das Substantiv von jazar meistens ein "Gedankengebilde"<br />
meint. Es bezieht sich also auf das Denken des Menschen, auf das "Trachten seines Herzens“.<br />
40<br />
Diese auffallende <strong>Zur</strong>ückhaltung des biblischen Erzählers geht verloren, wenn man Gen 2,7<br />
wörtlich-konkret versteht: als einen einmaligen "handfesten“ Erschaffungsvorgang im historischen<br />
Sinn. Ein wörtliches Verständnis von Gen 2,7 missachtet gerade das Besondere dieses<br />
biblischen Textes gegenüber den mesopotamischen <strong>und</strong> ägyptischen Menschenerschaffungstexten.<br />
Ein wörtliches bzw. historisches Verständnis von Gen 2,7 ruft folgende Fragen hervor:<br />
Hat Gott tatsächlich eine bestimmte Menge Erde genommen, um den Menschen daraus zu formen?<br />
Ist Gott also so vorgegangen, wie ein menschlicher Töpfer vorgeht? Wog die Erde, die<br />
Gott nahm, achth<strong>und</strong>ert Gramm oder dreißig Kilogramm? Hat Gott "Hände"? "Bläst" er tatsächlich<br />
den Atem des Lebens durch die Nase des Menschen? Hat Gott Lunge, M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Backen? Je<br />
wörtlicher ich Gen 2,7 verstehe, desto mehr muss ich Gott vermenschlichen. Gott ist aber kein<br />
Mensch! Er schafft also nicht nach menschlicher Weise. Gott ist kein irdisches Wesen, kein Teil<br />
dieser Welt. Deshalb hantiert er nicht mit Erdklumpen wie ein irdischer Handwerker. Das heißt:<br />
Man darf Gen 2,7 auf keinen Fall wörtlich verstehen! 41 Das führt zurück zu den heidnischen<br />
36<br />
In den altorientalischen Erzählungen von der Erschaffung des Menschen wird oft betont, dass auch bei der Erschaffung<br />
der Menschen durch die Götter der Lehm feucht sein muss (vgl. Pettinato, Menschenbild, 41-46).<br />
37<br />
In Gen 3,19.23 wird lediglich die unkonkrete Passivformulierung verwendet: "denn von der Erde bist du genommen".<br />
38<br />
In den 63 Belegstellen von jazar im AT ist an 42 Stellen Gott der Formende.<br />
39<br />
Vgl. Jes 27,11; 29,15f; 43,1.7.21; 44,2-4; 45.11; vgl. 49,5 mit 42,1; 64,7; Jer 18,1-12; Jes 43,7.21 u.ö.<br />
40<br />
Vgl. Gen 6,5; 8,21; Jes 26,3; Jer 18,11; 1 Chr 28,9; 29,18; DA 31,21.<br />
41<br />
Die radikale Unterscheidung von Gott <strong>und</strong> Mensch ist für das gesamte AT von entscheidender Bedeutung. Darin<br />
liegt gerade der Unterschied zu den Göttervorstellungen der anderen antiken Religionen. Man kann gegen diese<br />
Unterscheidung nicht einwenden: der Mensch sei doch als "Ebenbild" Gottes geschaffen worden (Gen 1,26f). Mit<br />
diesem Ausdruck soll ja nicht gesagt werden, dass zwischen Gott <strong>und</strong> Mensch eine körperliche Ähnlichkeit besteht.<br />
Wer sich Gott in menschenähnlicher Gestalt vorstellt, der fällt in heidnische Gottesvorstellungen zurück<br />
<strong>und</strong> gibt das biblische Gottesverständnis auf. Zum Neuen des israelitischen Glaubens gehört gerade das Verbot,<br />
sich von Gott ein Bild zu machen. Ein ähnliches Verbot gibt es in keiner anderen antiken Religion. Im AT wird<br />
das erste <strong>und</strong> zweite Gebot oft im Bilderverbot zusammengefasst (vgl. Ex 20,2-6; 34,14.17; Lev 19,4; 26,1; Dt<br />
14,10-20; vgl. auch Hos 11,2; Jer 1,16; 25,6 u.ö.). Das Bilderverbot gehört also zum Kernbereich des israelitschen<br />
Glaubens (vgl. noch Ex 20,23; Dt 5,8; 27,15; Ri 17,3f; Hos 13,2; Jes 44,10ff u.ö.). Im Jerusalemer Tempel stand<br />
kein Gottesbild. Das unterschied diesen Tempel von allen Tempeln der Nachbarvölker. In Israel galt ab einer<br />
bestimmten Zeit genau das als religiöser Frevel, was in den Nachbarvölkern als religiöse Pflicht galt: das Herstellen<br />
von Gottesbildern. Nach Dt 4,10-16 ist es ausdrücklich verboten, sich Gott "nach der Gestalt eines Mannes<br />
oder einer Frau" vorzustellen. Wie ist dann die biblische Rede vom "Ebenbild" Gottes zu verstehen? Dieser Ausdruck<br />
bezieht sich auf die Funktion des Menschen gegenüber der Schöpfung. Der Mensch soll als Stellvertreter
19<br />
Gottesvorstellungen (zu den handgreiflichen Vorstellungen von der Erschaffung der Menschen<br />
in Mesopotamien <strong>und</strong> Ägypten). Wer meint, Gott hätte eine Gestalt aus Erde geformt, wie es im<br />
Prinzip auch menschliche Töpfer tun, der nimmt die Andersartigkeit Gottes nicht <strong>wirklich</strong> ernst.<br />
Er stellt sich Gott wie eine irdische, weltliche Person vor, die handgreiflich arbeitet. Nur bei einem<br />
symbolischen Verständnis von Gen 2,7 ist es überhaupt möglich, Gottes Göttlichkeit - seine<br />
Andersartigkeit – zu würdigen <strong>und</strong> so Gott die Ehre zu geben.<br />
Dass das AT die Erschaffung "adams" nicht als ein geschichtliches (einmaliges) Ereignis ansieht,<br />
wird auch daran deutlich, dass von allen Menschen gesagt wird, Gott habe sie "aus Erde<br />
geformt". Alle Menschen sind "Gebilde" (Geformte), weil sie Geschöpfe Gottes sind (Ps<br />
103,14). Hiob sagt zu Gott: "Denke doch daran, dass du wie Ton mich geformt hast" (Hi 10,9).<br />
Und Elihu sagt zu Hiob: "Siehe, ich stehe zu Gott genauso wie du. Vom Lehm genommen bin<br />
auch ich" (Hi 33,6). In Jes 29,16 heißt es: "Ist denn der Töpfer dem Ton gleich zu achten, dass<br />
das Geschöpf von seinem Schöpfer sagen kann: 'Er hat mich nicht geschaffen' <strong>und</strong> das Gebilde<br />
(von jazar!) von seinem Bildner sprechen konnte: 'Er versteht nichts' "? Hier wird das Wort jazar,<br />
das in Gen 2,7 verwendet wird, auf alle Menschen bezogen, weil alle Menschen Geschöpfe<br />
<strong>und</strong> damit "Geformte" sind. Bei einem historischen Verständnis von Gen 2,7 wäre die Erschaffung<br />
"<strong>Adam</strong>s" etwas absolut Einmaliges. Dann wären alle "späteren" Menschen nicht mehr in<br />
der gleichen (direkten) Weise von Gott aus Erde erschaffen, sondern (im Unterschied zu <strong>Adam</strong>)<br />
von irdischen Eltern gezeugt <strong>und</strong> geboren. Diesen Unterschied zwischen "<strong>Adam</strong>“ <strong>und</strong> den anderen<br />
Menschen macht das AT aber an keiner Stelle. 42<br />
3. Der Garten Eden (Gen 2,8-14): In Eden entspringt ein Strom, der den Garten Eden bewässert.<br />
Dieser Strom teilt sich in vier Flüsse. Dass aus der Erde gleich ein riesiger Strom entspringt,<br />
gibt es sonst auf der Erde nicht. Außerdem kommt es zwar vor, dass ein Fluss in einen anderen<br />
Fluss mündet, aber nicht, dass sich ein Strom in mehrere Flüsse aufteilt. Das gibt es nur kurz<br />
bevor ein Strom in das Meer mündet (Nildelta usw.), aber nicht am Beginn eines Flusslaufs. Solche<br />
Erzählzüge waren für die damaligen Leser Signal genug, um zu wissen, dass die Erzählung<br />
vom Garten Eden keinen normalen geographischen Ort meint. Zwei der vier genannten Flüsse<br />
sind bekannt: Euphrat <strong>und</strong> Tigris. Die Namen der beiden anderen Flüsse sind nicht mehr sicher<br />
zu deuten. Wo fließt heute dieser große "Strom“? Euphrat <strong>und</strong> Tigris haben jeweils ihre eigenen<br />
Quellgebiete, die beträchtlich voneinander entfernt liegen. Wo liegt der Garten Eden heute? Sollen<br />
wir ihn in der Region suchen in der Euphrat <strong>und</strong> Tigris entspringen? Bis heute ist noch niemand<br />
zufällig oder nicht zufällig in dieser oder in einer anderen Region auf die Außengrenzen<br />
Gottes über die Schöpfung fürsorglich "herrschen" (vgl. Gen 1,26). Das besagt: der Mensch ist das einzige Lebe-<br />
wesen in der Schöpfung, das für die Schöpfung Verantwortung übernehmen kann. Diese Verantwortung soll der<br />
Mensch so wahrnehmen, wie es dem Willen des Schöpfers entspricht. Der Mensch hat also der Schöpfung ge-<br />
genüber eine ähnliche Rolle wie der Schöpfer. Er soll die Schöpfung gemäß dem Willen Gottes erhalten <strong>und</strong><br />
gestalten <strong>und</strong> das Chaos abwehren. D.h. in seiner von Gott gegebenen Herrscherwürde - in seinem "Amt <strong>und</strong><br />
Auftrag" - handelt der Mensch gegenüber der Schöpfung als "Ebenbild" (Repräsentant) Gottes. Vgl. dazu auch<br />
Ps 8,6-8.<br />
42 Vgl. dazu auch Ps 50,15; 119,73; Hi 4,19; 33,6; Jes 44,2.24; 45,19. Auch das "<strong>Zur</strong>ückkehren zum Staub" (Gen<br />
3,19.21) wird im AT keineswegs nur von <strong>Adam</strong> allein ausgesagt, sondern von allen Menschen <strong>und</strong> Lebewesen:<br />
"Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie dahin <strong>und</strong> kehren zurück zum Staub der Erde" (Ps 104,29). "Wenn<br />
Gott seinen Geist <strong>und</strong> Atem zurücknimmt, muss alles Fleisch zusammen sterben <strong>und</strong> der Mensch wieder zum<br />
Staub zurückkehren" (Hi 34,14f). In diesen Stellen wird ausgesagt, dass alle Menschen - genauso wie "<strong>Adam</strong>" -<br />
aus Staub geschaffen wurden <strong>und</strong> im Tod wieder zum Staub zurückkehren. D.h. die Erschaffung "<strong>Adam</strong>s" in Gen<br />
2 ist nicht als ein einmaliges, außergewöhnliches historisches Ereignis gedacht, sondern als eine Aussage über<br />
das Wesen der Menschen insgesamt.
20<br />
dieses Gartens gestoßen, oder von einem Cheruben zurückgewiesen worden, der den Garten bewacht.<br />
Sollen wir Forschungsexpeditionen ausrüsten, die nach diesem Garten suchen?<br />
In der Bibel steht kein Wort davon, dass Gott den Garten Eden nach der Ausweisung <strong>Adam</strong>s<br />
<strong>und</strong> <strong>Eva</strong>s wieder beseitigt, oder in den Himmel entrückt hat. Das hindert allerdings viele f<strong>und</strong>amentalistische<br />
Christen nicht daran, genau das zu behaupten. Als "Beleg" genügt ihnen, dass<br />
Jesus am Kreuz zu einem der beiden Mitgekreuzigten sagte: "Amen, ich sage dir, noch heute<br />
wirst du mit mir im Paradies sein" (Lk 23,43). Das Wort "Paradies" wird im AT allerdings an<br />
keiner Stelle auf den Garten Eden angewendet. Der Garten Eden wird in Gen 2-3 nicht als "Paradies"<br />
bezeichnet. Das Wort "Paradies" ist ein Lehnwort aus dem Persischen Es wurde erst in<br />
der Zeit nach dem babylonischen Exil in die hebräische Sprache aufgenommen. In den nachexilischen<br />
Texten des AT kommt es drei mal vor (Hohesl 4,13; Pred 2,5; Neh 2,8). An keiner dieser<br />
drei Stellen hat es etwas mit dem Garten Eden zu tun. Das Wort bezeichnet - wie im Persischen<br />
auch - einen vornehmen (königlichen) Garten oder Park. Erst als in der griechischen Übersetzung<br />
des AT im 3. Jh.v.Chr. der Garten Eden mit dem griechischen Wort "paradeisos" übersetzt<br />
wird – es handelt sich dabei ebenfalls um ein Lehnwort aus dem Persischen -, beginnt im Judentum<br />
die Verknüpfung von "Paradies" <strong>und</strong> Garten Eden. Im Laufe des 2. <strong>und</strong> 1. Jh.'s v.Chr. entsteht<br />
im Judentum außerdem der neue Brauch, auch die Endzeitshoffnung bzw. die Jenseitshoffnung<br />
mit dem Wort "Paradies" auszudrücken. So kommt es, dass im Neuen Testament das Wort<br />
"Paradies" an drei Stellen (Lk 23,43; 2 Kor 12,4; Off 2,7) für die Jenseits- bzw. Zukunftshoffnung<br />
verwendet wird. Mit einer Entrückung des Garten Edens in den Himmel hat dieser spätere<br />
Sprachgebrauch aber nichts zu tun. Wer zu Spekulationen dieser Art greift, hat in Wahrheit keinen<br />
Respekt vor dem Bibeltext. - Es steht in der Bibel auch kein Wort davon, dass die Sintflut<br />
den Garten Eden zerstört oder den Lauf der Flüsse in jener Region verändert hat. Auch solche<br />
Spekulationen gehören zu den Rettungsversuchen, mit deren Hilfe man ein historisches Verständnis<br />
von Gen 2-3 verteidigen will. Dass dafür jede biblische Gr<strong>und</strong>lage fehlt, wird in Kauf<br />
genommen, wenn dadurch nur das eigene Auslegungssystem "verteidigt" werden kann. Gegenüber<br />
bizarren Spekulationen solcher Art kann man nur sagen: so wenig sich der Garten Eden<br />
lokalisieren lässt, so wenig lassen <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> sich historisieren.<br />
4. Die beiden besonderen Bäume im Garten Eden (Gen 2,9.16-17; 3,22-24): Gab es im Garten<br />
Eden tatsächlich einen Baum, dessen Früchte - wenn man in sie hineinbeißt - die Erkenntnis von<br />
gut <strong>und</strong> böse vermitteln? Was waren das für Früchte? Wie sah dieser Baum aus? In welcher<br />
Sprache hat Gott zu <strong>Adam</strong> gesagt, dass er nicht von den Früchten dieses Baumes essen soll? Gab<br />
es im Garten Eden tatsächlich einen anderen Baum, der ewiges Leben vermitteln kann, wenn<br />
man von seinen Früchten isst? Es fällt auf, dass der Erzähler keinen dieser beiden Bäume seinen<br />
Lesern erklären muss. Er kann sie offenbar als bekannt voraussetzen. D.h. beide Bäume waren<br />
der Leserschaft als Erzählmotiv bekannt.<br />
5. Die Erschaffung der Tiere (Gen 2,19-20): Hat Gott tatsächlich alle Landtiere <strong>und</strong> alle Vögel<br />
zu <strong>Adam</strong> geführt? Wieviel Tier- <strong>und</strong> Vogelarten müssen das gewesen sein? Wie groß war der<br />
Platz, auf dem das geschah? Konnte sich <strong>Adam</strong> die vielen tausend Namen behalten, die er den<br />
Tieren gab? Konnte <strong>Adam</strong> schreiben <strong>und</strong> hat sich Notizen gemacht? Mit welchem Schreibwerkzeug<br />
hat er geschrieben? Auf welchem Material? Welche Schrift hat sich <strong>Adam</strong> ausgedacht?<br />
Falls <strong>Adam</strong> nicht schreiben konnte: wie hat er dann die vielen Tiernamen seinen Kindern überliefert?<br />
Ohne eine solche Überlieferung geraten die Tiernamen sofort wieder in Vergessenheit.<br />
Was soll dann die ganze Prozedur? Außerdem fällt auf, dass in Gen 2,19 nur wilde Tiere genannt
21<br />
werden ("Tiere des Feldes" <strong>und</strong> "Vögel des Himmels"), in Gen 2,20 aber auch die gezähmten<br />
Tiere ("Vieh"). Hat Gott bestimmte Tiere bereits gezähmt erschaffen? Oder hat <strong>Adam</strong> sie im<br />
Handumdrehen gezähmt? Oder hat er vorausgesehen, welche Tiere später einmal gezähmt werden?<br />
Fragen über Fragen. Rätsel über Rätsel.<br />
6. Die Erschaffung der Frau (Gen 2,21-24): Hat Gott tatsächlich eine "Rippe" <strong>Adam</strong>s genommen<br />
<strong>und</strong> daraus <strong>Eva</strong> "gebaut"? Wer das symbolische Verständnis diesr Stelle ablehnt, steht<br />
wieder in der Gefahr – genauso wie bei der Erschaffung des Mannes (Gen 2,7) - Gott in falscher<br />
Weise zu vermenschlichen <strong>und</strong> sich ihn wie einen menschlichen Bauhandwerker vorzustellen.<br />
Warum sagt Gott ausgerechnet zu <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>: "Deshalb wird der Mann Vater <strong>und</strong> Mutter<br />
verlassen <strong>und</strong> an seiner Frau hängen"? Falls <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> historische Personen waren, dann<br />
sind sie doch die einzigen Menschen, die keinen Vater <strong>und</strong> keine Mutter hatten! Sie wissen also<br />
nicht, was ein solcher Trennungsprozess bedeutet. <strong>Adam</strong> musste niemand verlassen, um an seiner<br />
Frau zu hängen. Was soll dann dieser Satz ausgerechnet bei diesen beiden Menschen? Der<br />
Satz zeigt, dass "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" nicht als historische Personen gemeint sind, sondern als exemplarische<br />
Beispiele für Mann <strong>und</strong> Frau.<br />
7. Die Schlange (Gen 3,1-15): Gab es im Garten Eden tatsächlich eine Schlange, die reden<br />
<strong>und</strong> mit Menschen Dialoge führen kann? Nach Gen 2 kann nur der Mensch reden. Merkwürdig<br />
ist vor allem, dass <strong>Eva</strong> sich kein bisschen w<strong>und</strong>ert, dass eine Schlange mit ihr spricht. Es scheint<br />
für sie das Normalste auf der Welt zu sein. Eine Schlange, die die menschliche Grammatik beherrscht,<br />
in einem historischen Bericht? Ein historischer Bericht, der ohne jede Erklärung so tut,<br />
als ob das das Normalste auf der Welt ist?<br />
8. Gottes Spaziergang in der Abendkühle (Gen 3,8-9): Macht Gott tatsächlich Spaziergänge?<br />
Bevorzugt er dabei die Abendkühle? Ist es ihm tagsüber zu heiß? Konnte <strong>Adam</strong> tatsächlich Gottes<br />
Schritte "hören" (Gen 3,9)? Hat Gott Füße, die beim Gehen Geräusche verursachen? Wie<br />
groß sind Gottes Füße? Mit welchem Körpergewicht tritt Gott auf? Es steht kein Wort davon<br />
geschrieben, dass Gott sich speziell für <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> in eine menschliche Gestalt verwandelt<br />
hat. Das zu behaupten, wäre eine Manipulation des Bibeltextes. Ein spazierengehender Gott in<br />
einem historischen Bericht?<br />
9. Die Ausweisung aus dem Garten (Gen 3,20-24): Hat Gott tatsächlich "Felle" für <strong>Adam</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Eva</strong> gemacht? Hat er eines der von ihm geschaffenen Tiere getötet, ihm das Fell abgezogen <strong>und</strong><br />
für <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> passend hergerichtet? Bewacht tatsächlich ein Cherube seit der Ausweisung<br />
von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> den Garten? Auch heute noch?<br />
10. Der Gegenwartsbezug der gesamten Erzählung: Im Gr<strong>und</strong>e war dem damaligen Leser<br />
alles, was Gen 2-3 erzählt, aus seiner eigenen Lebenswelt vertraut. Er kannte die Unterscheidung<br />
von Wildpflanzen <strong>und</strong> Nutzpflanzen ("Sträucher des Feldes" <strong>und</strong> "Kraut des Feldes", Gen 2,5),<br />
die Bedeutung des Regens, die Kultivierung des Ackers <strong>und</strong> die Bedeutung des Gr<strong>und</strong>wassers<br />
(Gen 2,5-6), die Schönheit von Gärten (zumindest vom Hörensagen), die Bedeutung des "Bebauens<br />
<strong>und</strong> Bewahrens" (Gen 2,15). Er wusste, dass der Mensch am liebsten selbst entscheiden<br />
will, was für ihn gut oder nicht gut ist (Gen 2,16-17). Dem Leser war auch die Formulierung<br />
bekannt: "An dem Tag, an dem du das tust, musst du sterben" (Gen 2,19). Mit dieser Formel<br />
wurde im damaligen Israel die Todesstrafe ausgesprochen. Der Leser kannte das Problem des<br />
Alleinseins (Gen 2,18), die Nähe <strong>und</strong> Ferne zum Tier (Gen 2,19-20), die Bedeutung des sprachlichen<br />
Benennens (Gen 2,19-20), die Anziehungskraft der Geschlechter (Gen 2,21-24), die Verführbarkeit<br />
des Menschen (Gen 3,1-6), das Sichschämen <strong>und</strong> Sichverstecken (Gen 3,7-10), das
22<br />
Abschieben der Verantwortung auf Andere (Gen 3,11-13). Die Erzählung führt nirgendwo in<br />
eine unbekannte, ferne Vergangenheit. Sie erzählt von den Gr<strong>und</strong>phänomenen der menschlichen<br />
Lebenswelt aller Zeiten.<br />
Fazit: Wir sind am Ende der "Gegenprobe" angekommen. Das Ergebnis ist eindeutig. Die<br />
Behauptung, bei "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>“ handle es sich um geschichtliche Personen, hält einer Überprüfung<br />
am Bibeltext nicht stand. D.h. diese Behauptung ist unbiblisch.Eine Vielzahl von Beobachtungen<br />
am Bibeltext schließt dieses Verständnis aus. Wer die Behauptung aufstellt, die Bibel<br />
verstehe "<strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong>" als geschichtliche Personen, verteidigt nicht die Bibel. Er verteidigt<br />
etwas Anderes: sein eigenes, falsches Bild der Bibel <strong>und</strong> seine eigenen Missverständnisse<br />
<strong>und</strong> Vorurteile. Er erweist der Bibel damit keinen Dienst.<br />
Es geht bei der Frage, wie Gen 2-3 zu verstehen ist, keineswegs um die Frage, ob man Gott<br />
mehr oder weniger viel zutraut. Es geht vielmehr darum, die Merkmale einer symbolischen<br />
Sprache zu erkennen <strong>und</strong> zu respektieren. In f<strong>und</strong>amentalistischen Kreisen gibt es Christen, die<br />
mit einem ungeheueren naturwissenschaftlichen Aufwand <strong>und</strong> Scharfsinn beweisen wollen, dass<br />
es in den Anfangskapiteln der Bibel um historische Ereignisse <strong>und</strong> um historische Personen geht.<br />
Diese Christen wollen etwas beweisen, was die Bibel gar nicht behauptet! Das ist tragisch <strong>und</strong><br />
absurd. Man muss zunächst einmal verstehen, was diese biblischen Texte überhaupt sagen wollen.<br />
Zum besseren Verstehen der biblischen Erzählung Gen 2-3 ist eine moderne naturwissenschaftliche<br />
Ausbildung keine Hilfe. Viel wichtiger ist die gründliche Beschäftigung mit den alten<br />
Sprachen <strong>und</strong> mit den Denk- <strong>und</strong> Erzählgewohnheiten der damaligen Zeit. Wer glaubt, dass er<br />
eine solche Beschäftigung nicht nötig hat <strong>und</strong> er in dieser Beziehung nichts lernen muss, darf<br />
sich nicht w<strong>und</strong>ern, wenn er in seiner Unkenntnis Dinge behauptet, die in Wahrheit dem Bibeltext<br />
in keiner Weise gerecht werden.<br />
Es ist für f<strong>und</strong>amentalistische Kreise charakteristisch, dass sich in ihnen gerade naturwissenschaftlich<br />
ausgebildete Christen (Ingenieure, Techniker, Physiker) verpflichtet sehen, die Schöpfungstexte<br />
der Bibel Zeitschriften, Broschüren <strong>und</strong> Büchern auszulegen. In Auslegungen zeigen<br />
sich immer wieder dieselben typischen Defizite:<br />
• Die spezifische Sprache von Gen 2-3 bzw. die Eigenart der Erzählung werden nicht beachtet.<br />
Die Autoren haben offensichtlich kein Gespür für unterschiedliche Textsorten,<br />
sondern schlagen alles über den gleichen Leisten einer Reportage.<br />
• Der Vergleich mit den anderen altorientalischen Texten zur Weltentstehung <strong>und</strong> Menschenerschaffung<br />
spielt keine nennenswerte Rolle. Diese Texte sind den betreffenden Autoren<br />
in aller Regel nicht näher bekannt. Vermutlich halten sie es ohnehin für unwichtig,<br />
sich mit ihnen zu beschäftigen. Damit entgeht diesen Autoren <strong>und</strong> ihrer Leserschaft aber<br />
aufschlussreiches Vergleichsmaterial aus der damaligen Zeit.<br />
• Die hebräische Bedeutung des Wortes "adam" ist den Autoren entweder unbekannt, oder<br />
sie spielen es unsachgemäß herunter.<br />
• Das heute gängige Verständnis des Wortes "Anfang" wird einfach für die biblische Zeit<br />
vorausgesetzt. Der Bedeutungswandel dieses Begriffs <strong>und</strong> dessen Ursachen ist den Autoren<br />
offensichtlich unbekannt.<br />
Damit fehlt diesen Auslegungen an entscheidenden Punkten das notwendige Problembewusstsein.<br />
Auch ein Naturwissenschaftler muss die bewährten Gr<strong>und</strong>regeln jeder Textinterpretation<br />
ernst nehmen: 1. Wer einen Text auslegen will, muss die Bedeutung der Begriffe dieses Textes<br />
kennen. 2. Er muss die Besonderheit der Sprache <strong>und</strong> des Aufbaus eines Textes beachten. 3. Je-
23<br />
der Text muss zuerst einmal aus der Zeit heraus verstanden werden, in der er entstanden ist. Erst<br />
von da aus kann man dann nach der bleibenden <strong>und</strong> aktuellen Bedeutung eines Textes fragen.<br />
Deshalb ist für das wissenschaftliche Theologiestudium das Erlernen der alten Sprachen <strong>und</strong> die<br />
gründliche Kenntnis der antiken bzw. altorientalischen Lebenswelt so wichtig. Natürlich muss<br />
man nicht jahrelang studieren, um Christ zu sein. Das christliche Vertrauen in Gott ist etwas<br />
Kindliches <strong>und</strong> wird immer etwas Kindliches bleiben. Wer sich aber zutraut <strong>und</strong> berufen fühlt,<br />
die Christenheit öffentlich über Gr<strong>und</strong>fragen der Bibelexegese zu belehren, der sollte das dazu<br />
erforderliche Rüstzeug nicht unterschätzen. Ein Autor mag in seinen f<strong>und</strong>amentalistischen Kreisen<br />
viel Beifall finden <strong>und</strong> auf wenig f<strong>und</strong>ierte Kritik stoßen, in einer wissenschaftlichtheologischen<br />
Hochschulausbildung ist mit Auslegungen dieser Art nicht viel zu erreichen. Wie<br />
sich ein Historiker oder Theologe kraft seiner Ausbildung nicht zutrauen kann, anspruchsvolle<br />
technische Zusammenhänge zu durchschauen, so steht einem heutigen Ingenieur <strong>und</strong> Naturwissenschaftler<br />
Bescheidenheit gut an, wo es um Fragen der antiken Lebenswelt bzw. der antiken<br />
Sprach- <strong>und</strong> Denkgewohnheiten geht. Außerhalb f<strong>und</strong>amentalistischer Kreise ist das auch kein<br />
Thema.<br />
Eine Auslegung von Gen 2-3 auf der Basis eines symbolischen Verständnisses kann die tiefe<br />
Weisheit dieser beiden Kapitel <strong>und</strong> ihre bleibende Bedeutung aufzeigen. Auch daran wird deutlich:<br />
die symbolische Interpretation ist diesem Bibeltext angemessen <strong>und</strong> kann den Reichtum<br />
dieses Textes weitaus besser erfassen als eine geschichtliche Interpretation. Es geht deshalb nicht<br />
darum, dass man seine bisherige geschichtliche Sicht von Gen 2-3 traurig <strong>und</strong> zähneknirschend<br />
aufgibt, sondern dass man sich darüber freut, eine bessere <strong>und</strong> tiefere Sicht der Bibel kennenzulernen.<br />
Auf die Frage: "<strong>Haben</strong> <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> <strong>wirklich</strong> <strong>gelebt</strong>?" kann man nur antworten: Sie<br />
haben nicht nur <strong>wirklich</strong> <strong>gelebt</strong>. Das wäre viel zu wenig. Sie leben zu jeder Zeit <strong>wirklich</strong> <strong>und</strong> in<br />
jedem von uns. Die Erzählung von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> hat es nicht verdient, dass man sie in eine weit<br />
entfernte Vergangenheit abschiebt <strong>und</strong> sie damit ihrer stets aktuellen Bedeutung beraubt. Es geht<br />
dabei nicht um weniger Wirklichkeit <strong>und</strong> weniger biblische Substanz. Es geht um mehr Wirklichkeit<br />
<strong>und</strong> mehr biblische Substanz.<br />
(Die Kapitel 4-7 konnten noch nicht fertiggestellt werden.)
Literatur<br />
24<br />
Bauks, Michaela, Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt <strong>und</strong> Weltentstehung in<br />
Gen 1 <strong>und</strong> in der altorientalischen Literatur, Neukirchen-Vluyn 1997<br />
Frazer, J.G., Die Arche. Biblische Geschichten im Lichte der Völkerk<strong>und</strong>e, München 1960<br />
Haag, Ernst, Der Mensch am Anfang. Die alttestamentliche Paradiesvorstellung nach<br />
Genesis 2-3, Trier 1970<br />
Janowski, Bernd; Ego, Beate (Hg.), Das biblische Weltbild <strong>und</strong> seine altorientalischen Kontexte<br />
(FAT 32), Tübingen 2001<br />
Keel, Ottmar; Schroer, Silvia, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer<br />
Religionen, Göttingen 2002<br />
Matthys, Hans-Peter (Hg.), Ebenbild Gottes - Herrscher über die Welt. Studien zu Würde <strong>und</strong><br />
Auftrag des Menschen (BThSt 33), Neukirchen-Vluyn 1998<br />
Löning, Karl; Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien,<br />
Düsseldorf 1997<br />
Pettinato, Giovanni, Das altorientalische Menschenbild <strong>und</strong> die sumerischen <strong>und</strong> akkadischen<br />
Schöpfungsmythen, Heidelberg 1971<br />
Seebass, Hans, Genesis I: Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996<br />
Westermann, Claus, Genesis. 1. Teilband: Gen 1-11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn 1999 4<br />
Yoyotte, Jean, Ägyptische Vorstellungen von der Entstehung der Welt, in: Welt <strong>und</strong> Umwelt<br />
Der Bibel 1/2 (1996), 12-15
25<br />
Dass das Alte Testament selbst diesen Unterschied berücksichtigt, zeigt sich daran, dass die Geschichte<br />
von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> (Gen 2-3) im gesamten Alten Testament an keiner einzigen Stelle<br />
zitiert wird! Während von Abraham, Isaak <strong>und</strong> Jakob, von Mose, Josua, David <strong>und</strong> Salomon an<br />
zahlreichen Stellen die Rede ist <strong>und</strong> auf ihre Geschichte Bezug genommen wird, ist das bei der<br />
Geschichte von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> nirgendwo der Fall. Das ist sehr auffallend. Das Alte Testament<br />
ist sich dessen bewusst, dass es bei der "Geschichte" von <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> nicht um die gleiche Art<br />
von Geschichte geht, wie bei den Erzvätern, dem Exodus oder den Königen Israels. Es ist eine<br />
Geschichte anderer Art, eine Geschichte, die allen Zeiten gleich nah ist. 43<br />
43 Zu <strong>Adam</strong> <strong>und</strong> <strong>Eva</strong> im Neuen Testament <strong>und</strong> bei Paulus vgl. unten Kapitel 17.