Homosexual's Film Quarterly - Sissy
Homosexual's Film Quarterly - Sissy
Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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sissy Ausgabe<br />
Homosexual’s <strong>Film</strong> <strong>Quarterly</strong><br />
eins · März bis Mai 2009 · kostenlos<br />
s Cinema of Dreams: Tilda Swinton und Mark Cousins erfinden das <strong>Film</strong>festival neu s Reich mir Deine Hand: Zwillinge aus Frankreich<br />
s Bruce LaBruce: Gloria Swanson in Male Drag s Monika Treut: Drei Frauen. Zwei Kulturen. Eine Liebe. s Frisch ausgepackt: Alle neuen<br />
nicht-heterosexuellen DVDs s Landpartie: „Rückenwind“ von Jan Krüger s <strong>Film</strong>-Flirt mit Tim Staffel
Drei Frauen. Zwei Kulturen. Eine Liebe.<br />
Inga Busch Huan-Ru Ke Ting-Ting Hu<br />
Preview in der L-<strong>Film</strong>nacht · Kinostart am 30. April · www.l-fi lmnacht.de · www.salzgeber.de<br />
<strong>Sissy</strong> eins<br />
Unser Titelfoto zeigt Tilda Swinton und Mark Cousins im schottischen<br />
Nairn vor einer angemieteten Bingohalle, in der die beiden im<br />
Sommer 2008 ihr Festival Cinema of Dreams veranstalteten. Tilda<br />
trägt den Kilt in den traditionellen Familienfarben und eine Jacke<br />
aus dem lokalen Gebrauchtklamotten-Charity-Shop. Es könnte auch<br />
umgekehrt gewesen sein. Mark ist ein ganz bemerkenswerter Charakter<br />
und ein unermüdlicher Kämpfer für ein anderes Kino. Jemand,<br />
der das Kino immer wieder neu erfindet. Mark Cousins wird in diesem<br />
Jahr mit dem Manfred-Salzgeber-Preis ausgezeichnet und über<br />
Tilda und Mark ist ab Seite 28 mehr zu lesen.<br />
Wer oder was eine <strong>Sissy</strong> ist – das mit der österreichischen<br />
Kaiserin lassen wir jetzt mal weg<br />
– dürfte bei <strong>Film</strong>freundInnen kein Geheimnis<br />
sein. Diese in Hollywood erfundene Nebenfigur<br />
versinnbildlicht seit Stummfilmzeiten,<br />
dass die Personnage eines guten <strong>Film</strong>s im besten<br />
Fall aus mehr als nur einem romantischen<br />
Hetero-Liebespaar bestehen muss. Sie ist eine<br />
glamuröse, sich verschleudernde Alternative.<br />
Oder wie es die glbtq-Enzyklopädie ausdrückt:<br />
„Die <strong>Sissy</strong> steht für eine begehrenswerte Welt<br />
aus Raffinesse und purem Vergnügen, weit entfernt<br />
vom langweiligen Status Quo.“<br />
In der SISSy stellen wir vierteljährlich die<br />
kommenden nicht-heterosexuellen Kinofilme<br />
vor und erlauben uns gleichzeitig einen Blick<br />
zurück auf schon erhältliche nicht-heterosexuelle<br />
DVD-Erscheinungen. Dazwischen bleibt Gefunden: Kenneth Anger in Nairn.<br />
für uns und unsere Autoren genug Raum für<br />
freiere Erkundungen der homosexuellen <strong>Film</strong>kultur – und verstoßen<br />
damit gerne gegen jeden Trend. <strong>Film</strong> ist eben mehr als nur Lifestyle<br />
und Unterhaltung, und garantiert verschonen wir unsere Leser mit<br />
Fitnesstipps, Kosmetik, dem passenden Auto zur Frisur oder sonstigen<br />
Anleitungen zur Metrosexualität.<br />
Nicht-heterosexuelle <strong>Film</strong>kultur heißt etwas anderes: Blicke über die<br />
Grenzen der Konventionen zu werfen, nach neuen Erzählformen zu<br />
suchen, Impulse an das Weltkino auszustrahlen, Denkweisen infrage<br />
zu stellen, das Spektrum dessen zu vergrößern, was erzählt werden<br />
kann.<br />
Achten Sie auf die Nebenfiguren – Viel Spaß mit der ersten SISSy!<br />
vorspann<br />
3
mein dvd-regal<br />
Franz Dinda, Schauspieler<br />
4<br />
pRiVAT<br />
5
kino<br />
EDiTion SALZGEbER<br />
geiSter<br />
von Silvy Pommerenke<br />
Mit „Ghosted“ kommt endlich ein neuer Spielfilm von Monka Treut in die<br />
Kinos. Ein portrait der Regisseurin.<br />
s Die deutsche Regisseurin Monika Treut ist überwiegend<br />
als Dokumentarfilmerin bekannt und hat sich<br />
bereits in den achtziger und neunziger Jahren mit Themen<br />
wie Transgender, Bondage oder SM filmisch auseinandergesetzt.<br />
Das, was heute in den Blättern der yellow<br />
Press kaum noch für Aufsehen sorgt, verstörte vor zwanzig<br />
Jahren die Öffentlichkeit, und Monika Treut hat mit<br />
ihrem bisweilen surrealistischen – aber immer humorvollen<br />
– Stil diese Verstörung noch zusätzlich gefördert.<br />
Sie hatte immer schon ein Händchen für die originelle<br />
Darstellung von Menschen jenseits des Mainstreams.<br />
Beispielsweise produzierte sie den ungewöhnlichen<br />
Dokumentarfilm Didn’t Do It for Love über Eva Norvind<br />
aka Mistress Ava Taurel aka Eva Johanne Chegodaieva<br />
Sakonskaya: Adlige, Schauspielerin, Sexsymbol, Domina<br />
und Universitätsdozentin. Ein Leben, wie es eigentlich<br />
nur in einem Roman erfunden werden kann, und das<br />
Monika Treut wie keine Zweite in eindrucksvollen Bildern<br />
nacherzählte. Es tat gut, zu sehen, dass es solche<br />
unangepassten Menschen wie Eva Norvind gab, die sich<br />
bewusst gegen gesellschaftliche Zwänge stellten und<br />
ihr Leben kreativ und grenzüberschreitend inszenierten.<br />
Genau so individuell gestaltete sich allerdings auch<br />
der Tod der Dominatrix, denn sie ertrank eine Woche<br />
nach ihrem 62. Geburtstag an der Küste Mexikos, die für<br />
einige Jahre ihre Wahlheimat war und der sie sich immer<br />
zugehörig gefühlt hatte.<br />
Monika Treut hatte durch ihre internationale Arbeit<br />
– wobei die USA hier ihr bevorzugter Tummelplatz war<br />
– immer die Gender-Nase vorn, denn sie bearbeitete<br />
das Thema Trans* zu einem Zeitpunkt, als es hier in<br />
Deutschland in feministischen Kreisen eine absolute No-<br />
Go-Area war. Während ihr Dokumentarfilm Female Misbehavior<br />
dank eines geschickt eingesetzten Spekulums<br />
den tiefen Einblick in Annie Sprinkle gewährte, erklärte<br />
Schnellrednerin, Quasselstrippe und Frauentheoretikerin<br />
Camille Paglia: „Haltet euch raus aus unserem Sexualleben!“,<br />
und F2M Max Valerio war gerade mitten drin,<br />
sich zum Mann umbauen zu lassen. Sieben Jahre später<br />
konnte man in Gendernauts erfahren, dass in Los Angeles<br />
ein reger Transgender-Tourismus eingesetzt hatte,<br />
und bei Max wenigstens schon die Brüste ab waren, auch<br />
wenn der Schwanz erst eine Länge von fünf Zentimetern<br />
erreicht hatte – aber die Länge ist ja bekanntlich nicht so<br />
wichtig. Ach, und natürlich nicht zu vergessen die schrägen<br />
Spielfilme Die Jungfrauenmaschine oder My Father Is<br />
Coming. Was haben wir gelacht!<br />
Gerade hat Monika Treut ihren neuen Spielfilm Ghosted<br />
im Berlinale Panorama vorgestellt. Wie bereits in ihrer<br />
letzten Arbeit, Den Tigerfrauen wachsen Flügel, beschäftigt<br />
sie sich mit Taiwan, und plötzlich hat man das Gefühl,<br />
Treut ist sehr, sehr reif geworden. In schönen, bisweilen<br />
asketischen Bildern lässt sie ein Beziehungsdrama zwischen<br />
Hamburg und Taipeh, zwischen der Vergangenheit<br />
und der Gegenwart entstehen, das als Mixtur aus Krimi,<br />
Liebesfilm und Mystery-Thriller inszeniert ist. Erstaunlich<br />
brav werden hier zwar die Sexszenen zwischen der<br />
Video-Künstlerin Sophie Schmitt (Inga Busch) und der<br />
jungen Taiwanesin Ai-Ling (Huan-Ru Ke) gezeigt, die<br />
absolut nichts mit Bondage, SM oder Pornographie zu<br />
tun haben, aber das ist nicht weiter schlimm, denn Treut<br />
scheint sich an diesen Themen in der Vergangenheit mehr<br />
als abgearbeitet zu haben. Stattdessen ist ein spannender<br />
Spielfilm entstanden – Treut reloaded, aber mit anderer<br />
Munition. Die sieht nämlich eine zarte und dennoch leidenschaftliche<br />
Beziehung von zwei Frauen vor, die sehr<br />
märchenhaft und klischeehaft schön dargestellt wird.<br />
Allerdings trübt sich bald der Himmel voller Geigen, da<br />
Ai-Ling besessen von der Suche nach ihrem leiblichem<br />
Vater ist, und Sophie die Art ihres Zusammenlebens bald<br />
zu eng wird. Hier prallen unterschiedliche kulturelle<br />
Lebensentwürfe aufeinander, die auch durch die tiefe<br />
Liebe kaum aufgehoben werden können. Westlicher Individualismus<br />
versus östlichem Gemeinschaftsgefühl führt<br />
die beiden Liebenden in ihre erste große Krise. Während<br />
Sophie vor der einengenden Symbiose flieht, versucht Ai-<br />
Ling sich in ihrer neuen – ungewollten – Freiheit zurechtzufinden.<br />
Ein Ausflug in eine Lesbenbar lässt sie auch<br />
direkt auf die blondierte Rechtsanwältin Katrin Bendersen<br />
(Jana Schulz) treffen, die sofort von ihr entflammt ist.<br />
Auf dem gemeinsamen Heimweg geschieht jedoch etwas<br />
Unfassbares, und Sophies Anruf auf der Mailbox ist das<br />
Letzte, was Ai-Ling noch zu hören bekommt …<br />
Die neue Monika Treut tut richtig gut, und sie vermittelt<br />
– neben der spannenden und mystischen Rahmenhandlung,<br />
die die Grenze von Fiktion und Realität<br />
manches Mal verwischt, – ein tiefsinniges Porträt von<br />
Taiwan, das zwischen Moderne und Tradition hin- und<br />
hergerissen ist. Trotz aller kultureller Unterschiede zeigt<br />
der <strong>Film</strong> jedoch vor allem eines: Liebe ist universell und<br />
kümmert sich nicht um gesellschaftliche Normen.<br />
Monika Treut<br />
Monika Treut studierte in Marburg<br />
Germanistik und politik (Staatsexamen<br />
1978) und promovierte 1984 mit der<br />
Dissertation „Die grausame Frau. Zum<br />
Frauenbild bei de Sade und Sacher<br />
Masoch“. im selben Jahr gründete sie<br />
mit der Regisseurin und Kamerafrau<br />
Elfi Mikesch die Hyäne <strong>Film</strong>produktion<br />
in Hamburg. nach einer Theaterregie-<br />
Assistenz bei Werner Schroeter am<br />
Düsseldorfer Schauspielhaus lebte<br />
Monika Treut von 1989 bis 1992 in<br />
new York, wo u.a. der Spielfilm „My<br />
Father is Coming“ entstand. ihre<br />
Spiel- und Dokumentarfilme erhielten<br />
preise in italien, brasilien, England<br />
und Griechenland. Retrospektiven<br />
haben bisher in Cambridge, bologna,<br />
Los Angeles, Toronto, Mexiko City,<br />
Lissabon, Thessaloniki, Sao paolo,<br />
Helsinki, Taipeh, Warschau und prag<br />
stattgefunden. Sie unterrichtet an<br />
Universitäten in Kalifornien und new<br />
York und schreibt beiträge für bücher<br />
und Zeitschriften. Monika Treut<br />
ist inhaberin der produktionsfirma<br />
Hyena <strong>Film</strong>s in Hamburg.<br />
ghosted<br />
von Monika Treut<br />
D/TW 2009, 89 Min, OmU<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
im Kino<br />
Bundesstart 30. April 2009<br />
L-<strong>Film</strong>nacht im April<br />
www.l-filmnacht.de<br />
6 7<br />
kino
kino<br />
„Für mich ist der Reiz beim Dokumentarfilm immer das Abenteuer, eine Reise mit<br />
ungewissem Ausgang anzutreten.“<br />
sissy: Du hast Dich in den letzten Jahren ganz auf Deine Dokumentarfilmarbeit<br />
konzentriert. Warum hast Du Dich jetzt für einen Spielfilm<br />
entschieden?<br />
Monika treut: Für mich ist der Reiz beim Dokumentarfilm immer das<br />
Abenteuer, eine Reise mit ungewissem Ausgang anzutreten. Weil<br />
der Dokumentarfilm in Deutschland in den letzten Jahren durch die<br />
Fernseh-Sender – ohne deren Beteiligung ja fast nichts mehr geht –<br />
sehr formatisiert wurde, hatte ich wieder Lust im Spielfilmbereich<br />
zu arbeiten. Im Moment scheint mir im Low-Budget-Spielfilm mehr<br />
Freiheit zu sein, ungewöhnliche Geschichten zu erzählen.<br />
Wie entstand die Idee zu „Ghosted“?<br />
Die Idee zu Ghosted ist durch eine der Protagonistinnen meines Dokumentarfilms<br />
Den Tigerfrauen wachsen Flügel – die Schriftstellerin Li<br />
Ang aus Taiwan – an mich herangetragen worden. Li Ang hatte mich<br />
mit taiwanesischen Geistergeschichten bekannt gemacht und regte<br />
an, dass ich einen Roman von ihr verfilme. Das Projekt hat sich dann<br />
zerschlagen. Zurück in Hamburg ergab es sich durch eine glückliche<br />
Fügung, dass die junge Autorin Astrid Ströher mir eine Idee für eine<br />
Doppelgänger-Geschichte gab. Daraus hat sich etwas sehr Spannendes<br />
entwickelt: eine Vermischung des asiatischen Geistermotivs mit dem<br />
Motiv des Doppelgängers, das aus der deutschen Romantik stammt.<br />
Kannst Du das Motiv der asiatischen Geistergeschichten noch ein bisschen<br />
ausführen?<br />
In Asien, speziell auch in Taiwan, gibt es sehr viele Geistergeschichten.<br />
Sie beruhen auf der Ahnenverehrung. In Taiwan gibt es in fast<br />
allen Wohnungen Altäre mit Fotos der Ahnen. Sie werden besonders<br />
im Geistermonat geehrt. Dann versammeln sich die Familien mit<br />
Freunden und Nachbarn, um Geistergeld zu verbrennen und Opfergaben<br />
für die Verstorbenen darzureichen, Speisen und Früchte, die<br />
alle eine bestimmte Bedeutung haben. Es wird den Ahnen etwas<br />
gegeben, sodass sie friedlich gestimmt sind. Der Hintergrund für<br />
diese Rituale ist eine große Angst. Es ist die Angst, den Vorfahren<br />
nicht genug Liebe gegeben zu haben, sich nicht genug um sie gekümmert<br />
zu haben, die Angst, dass die Verstorbenen als Geister zurückkehren,<br />
um die Lebenden zu verfolgen und sich zu rächen. Mich<br />
fasziniert auch das Ritual des Verbrennens von Geistergeld. Es wird<br />
nicht nur taiwanesisches Papiergeld verbrannt, sondern auch chinesisches<br />
Festlandsgeld, falsche amerikanische Dollars und andere<br />
Währungen, die der verstorbene Geist benötigen könnte, um in seiner<br />
Zwischenwelt zu existieren.<br />
Die Geschichte von „Ghosted“ spielt auf verschiedenen Zeitebenen, die<br />
ineinander geschoben werden. Warum hast Du Dich für diese Struktur<br />
entschieden?<br />
Es geht es um den Tod einer Figur und es geht darum, wie die anderen<br />
damit umgehen. Wir beginnen mit der Vergangenheit der jungen<br />
Taiwanesin Ai-ling und springen dann mit Sophie in die Gegenwart,<br />
nachdem der Todesfall geschehen ist. Die Erinnerungen an die Tote<br />
kehren wie ein Trauma zurück und unterbrechen die Struktur der<br />
linearen Erzählung. Die Grenzen von Gegenwart, Vergangenheit und<br />
Zukunft werden dadurch aufgehoben und in einen Schwebezustand<br />
versetzt. Durch die Figur der geheimnisvollen Journalistin Mei-li<br />
entsteht zusätzlich etwas Mehrdeutiges und Geheimnisvolles, was<br />
sich nicht restlos aufklären lässt.<br />
Die Geschichte dreht sich aber auch um die Liebe. Aus Sophies<br />
westlicher Sicht geht es um den Verlust der Geliebten und dass ihr<br />
erst dadurch bewusst wird, was sie ihr bedeutet hat. Es geht um Versäumnisse<br />
und die Trauer, die aus der Erkenntnis entsteht, etwas<br />
nicht gelebt zu haben. Die asiatische Perspektive hat eher mit dem<br />
Tod zu tun: Ai-ling ist jung gestorben, sie hat in ihrem Leben noch<br />
nichts hinterlassen. Der „Geist“, der sich auf die Spur von Sophie<br />
heftet, möchte herausfinden, ob diese junge Frau geliebt wurde.<br />
Am Ende des <strong>Film</strong>s werden dann beide Aspekte zusammengeführt,<br />
sodass der „Geist“ wieder entschwinden kann: Sophie hat den Prüfungen<br />
des Geistes standgehalten – sie hat sich nicht verführen<br />
lassen – und der biologische Vater bekennt sich endlich zu seinem<br />
Kind. Nun kann die Tote in Frieden ruhen und der „Geist“ hat seine<br />
Aufgabe erfüllt. Und die deutsche Sophie kann von ihrer Geliebten<br />
Abschied nehmen und hat etwas von der fremden Kultur in sich aufgenommen.<br />
War es schwierig, die Liebesszenen zu drehen?<br />
In Taiwan gibt es ein spezielles Verhältnis zur Sexualität, und das war<br />
beim Drehen der Liebesszene besonders virulent. „Frontal nudity“<br />
war ein Reizwort bei den taiwanesischen Schauspieler-Agenten. Es<br />
ging immer sofort darum: Was ist mit „frontal nudity“, was müssen<br />
die Schauspielerinnen hier zeigen? Das war immer ein ganz heißes<br />
Eisen. Es hat zum Teil mit dem Konfuzianismus zu tun. Man zeigt<br />
seinen Körper nicht. Erotik und Sexualität spielen sich sehr privat ab,<br />
sehr intim. Man kann sich vorstellen, dass die Liebesszene, so zart sie<br />
in ihren Andeutungen ist, für die junge Schauspielerin Huan-Ru ein<br />
Problem darstellte. Inga Busch hat dann sehr geholfen mit ihrer entspannten<br />
Haltung zu ihrem Körper, aber dennoch war es eine Schwierigkeit.<br />
Wir hatten ein „closed set“, wir haben ohne Ton gedreht, weil<br />
die beiden Tonmänner nicht dabei sein durften. Wir haben es so einfach<br />
wie möglich gemacht für die junge Schauspielerin aus Taiwan,<br />
die vorher große Angst hatte.<br />
Du gehörst zu den wenigen <strong>Film</strong>emachern, die von Drehbuch über Produktion<br />
bis zur Regie alle Funktionen übernehmen. Lassen sich Deine<br />
<strong>Film</strong>e nur so realisieren?<br />
Es ist aus der Not geboren, diese Personalunion zu übernehmen in<br />
diesem Fall, weil die Zutaten des <strong>Film</strong>s – die taiwanesischen Co-Produzenten,<br />
die taiwanesischen Mitarbeiter und Schauspieler, die ganze<br />
deutsche Seite und auch die Schwierigkeiten bei der Finanzierung –<br />
für den normalen deutschen Produzenten viel zu viel Arbeit gewesen<br />
und viel zu wenig honoriert worden wären. Und die Durststrecken,<br />
die man dabei zu überwinden hat, sind auch nur dann durchzustehen,<br />
wenn man von ganzem Herzen überzeugt ist, dass man einen solchen<br />
<strong>Film</strong> machen möchte. Also für junge Leute auf keinen Fall zu empfehlen<br />
und für die Älteren… Naja es gibt wahrscheinlich gar nicht mehr<br />
viele, die sich auf so etwas einlassen. Ich hab’s nicht bereut. Es gab<br />
schon ein paar extrem schwierige Situationen, aber ich bin mit dem<br />
<strong>Film</strong> sehr zufrieden und bin allen dankbar, die sich auf dieses Experiment<br />
eingelassen haben. Interview: Doris Bandhold s<br />
www.hyenafilms.com<br />
Honey in Action<br />
von Stefanie Denkert<br />
Endlich erscheint Lizzie bordens „born in Flames“ auf DVD und ist im Februar in der L-<strong>Film</strong>nacht<br />
wiederzuentdecken.<br />
s Der nun endlich ab März erhältliche lesbisch-feministische<br />
Klassiker Born in Flames von Lizzie Borden<br />
aus dem Jahre 1983 zelebriert den Kampfgeist und autonomen<br />
Aktionismus, wie wir ihn von den mutigen Frauenrechtlerinnen<br />
kennen, die ihren Protest in den späten<br />
1960ern auf die Straße trugen. Born in Flames entwirft<br />
allerdings ein utopisches Amerika, das zehn Jahre nach<br />
einer Revolution nun in einer sozialistischen Demokratie<br />
lebt.<br />
Auch in dieser angeblich gerechteren Gesellschaft<br />
sind Sexismus und Rassismus weiterhin im alltäglichen<br />
Leben fest verankert. Eine Krise auf dem Arbeitsmarkt<br />
macht das besonders deutlich: Die ersten, die entlassen<br />
werden, sind Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten.<br />
Eine militante Gruppe, die sich als die „Army“<br />
bezeichnet, hat sich bereits formiert, um für den Schutz<br />
von anderen Frauen zu sorgen. Sie patrouillieren in den<br />
Städten auf Fahrrädern und stellen sich den Tätern sexueller<br />
Übergriffe in den Weg. Fotos von Vergewaltigern<br />
veröffentlichen sie auf Plakaten in der ganzen Stadt,<br />
Gebäudemauern besprühen sie mit Wahrheiten über die<br />
Unterdrückung von Frauen.<br />
Zum zehnten Jahrestag der sozialistisch-demokratischen<br />
Revolution soll jedoch der Anschein einer glücklichen<br />
Bevölkerung öffentlich demonstriert werden. Der<br />
Regierung ist die selbstjustizübende Gruppe somit ein<br />
Dorn im Auge, schließlich zeigen die als „Terroristinnen“<br />
denunzierten Frauen die Fehler im System auf. Als<br />
deren Anführerin jedoch unter dem Druck der Regierung<br />
zusammenbricht und sich im Gefängnis das Leben nimmt,<br />
begreifen viele erst, wie ernst die Lage ist.<br />
Eine stetig wachsende Anzahl von Frauen will nicht<br />
mehr nur darauf hoffen, dass eines Tages Gleichberechtigung<br />
in allen Köpfen verankert sein wird, sondern aktiv<br />
werden. Immer mehr Frauen schließen sich daher den<br />
Aktionen der „Army“ an und beginnen, mit ihnen zu<br />
demonstrieren. Die Regierung versucht derweil, gegen<br />
die wachsende Unruhe mit einem neuen Programm<br />
anzugehen und schlägt als Lösung für die Massenarbeitslosigkeit<br />
von Frauen die Entlohnung von Hausarbeit vor.<br />
Die Frauen wollen sich jedoch nicht an den Herd zurückdrängen<br />
lassen.<br />
Mittlerweile sind Radiomoderatorin Honey und ihre<br />
Anhängerinnen auch davon überzeugt, den Kampf gegen<br />
die Machtinhaber aufnehmen zu müssen. Für Honey als<br />
lesbische Afroamerikanerin aus armen Verhältnissen<br />
steht dabei fest: Im Kampf gegen Unterdrückung müssen<br />
Frauen aller Hautfarben, sozialer Schichten und sexueller<br />
Orientierungen sich solidarisch vereinen. Die Revolution<br />
beginnt…<br />
Lizzie Borden ist es gelungen, einen feministischen<br />
Science-Fiction-<strong>Film</strong> zu drehen, der sämtliche Kritikpunkte<br />
innerhalb und außerhalb der Neuen Frauenbewegung<br />
behandelt. Es ist bemerkenswert, wie mit pointierten<br />
Dialogen und aussagekräftigen Bildern Rassismus,<br />
Klassismus, Sexismus und Heterosexismus thematisiert<br />
werden, ohne dass dabei nur an der Oberfläche gekratzt<br />
wird. Als Low-Budget-Produktion hat Born in Flames den<br />
authentisch anmutenden Look eines Zeitdokuments, der<br />
durch seinen dokumentarischen Stil weiter unterstrichen<br />
wird. Das utopische Setting des <strong>Film</strong>s ermutigt die<br />
ZuschauerInnen, mit einem frischen Blick den Stand der<br />
Gleichberechtigung in der Gesellschaft, in der sie leben,<br />
neu zu betrachten und zu überdenken.<br />
Es überrascht nicht, dass Born in Flames großen<br />
Einfluss auch auf spätere <strong>Film</strong>emacherinnen hatte. Beispielsweise<br />
beschäftigte sich der amerikanische Independentfilm<br />
A Gun for Jennifer (1996) mit Deborah Twiss<br />
ebenfalls mit feministischer Selbstjustiz. Darin schließt<br />
sich die Protagonistin Jennifer einer Frauen-Gang an, die<br />
es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vergewaltigungsopfer<br />
zu rächen. Und zuletzt hat sich Jamie Babbit mit ihrem<br />
Politmärchen Itty Bitty Titty Committee, das 2008 in die<br />
deutschen Kinos kam, direkt auf Born in Flames bezogen.<br />
Babbit erklärte der L-Mag: „Ich liebe diesen <strong>Film</strong>. Und<br />
sie [Lizzie Borden] ist jemand, die lange vor mir kam und<br />
mich total inspiriert hat.“<br />
Itty Bitty Titty Committee greift den revolutionären<br />
Gedanken aus Bordens Klassiker auf und setzt dabei feministischen<br />
Aktivismus äußerst unterhaltsam in Szene. Im<br />
Zentrum des <strong>Film</strong>s steht die radikalfeministische Frauengruppe<br />
C(I)A. (Clits in Action), deren post-adoleszente<br />
Mitglieder mit jugendlichem Eifer den Kampf gegen das<br />
Patriarchat aufnehmen, um ein selbstbestimmtes Leben<br />
zu führen. Wie auch Babbits <strong>Film</strong> zeigt, kann man leider<br />
nur zu dem Schluss kommen, dass die Thematik von Born<br />
in Flames immer noch hochaktuell ist und auch heute<br />
noch zum Aktivismus inspirieren kann. s<br />
Born in Flames<br />
von Lizze Borden · USA 1983,<br />
80 Minuten, OmU<br />
itty Bitty tity Committee<br />
von Jamie Babbit · USA 2007,<br />
87 Minuten, OmU<br />
Beide Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Lizzie Borden<br />
1958 als Linda Elizabeth borden<br />
geboren. borden machte ihren<br />
Abschluss am Wellesley College<br />
in Massachusetts, bevor sie nach<br />
new York zog, um als Künstlerin<br />
und Kritikerin zu arbeiten. 1976<br />
entstand „Regrouping“, das erste<br />
Werk der Autodidaktin, doch erst mit<br />
„born in Flames“ (1983) gelang ihr<br />
ein publikumshit. Drei Jahre später<br />
erschien „Working Girls“, ein <strong>Film</strong><br />
über die lesbische Fotografin Molly,<br />
die als prostituierte arbeitet, um<br />
ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.<br />
nach einigen Arbeiten für die<br />
Horrorfernsehserie „Monsters“ ging<br />
borden nach Hollywood und filmte mit<br />
Sean Young „Love Crimes“ (1991), der<br />
sich mit erotischen Fantasien befasst.<br />
Die weibliche Sexualität erkundete<br />
sie ebenfalls in der Serie „inside<br />
out“, einer playboy produktion,<br />
sowie in dem <strong>Film</strong>segment „Let’s<br />
Talk About Sex“ über eine Angestellte<br />
einer Telefonsex-Hotline.<br />
A gun for Jennifer<br />
von Todd Morris · USA 1996,<br />
91 Minuten, FSK 18<br />
Indigo, www.goodmovies.de<br />
8 9<br />
kino
kino kino<br />
LANDPArtie<br />
von thomaS abeltShauSer<br />
Mit „Rückenwind“ kommt der neue Spielfilm des berliner Regisseurs Jan Krüger ins Kino.<br />
SiSSY hat sich mit ihm getroffen.<br />
EDiTion SALZGEbER<br />
s Johann und Robin, zwei Berliner Jungs,<br />
fahren mit dem Zug nach Brandenburg, um<br />
ein paar Tage durch die einsame Waldlandschaft<br />
zu radeln und das Zelt aufzuschlagen,<br />
wo es ihnen gerade gefällt. Es ist Sommer, die<br />
Luft ist lau und das Leben ist ein Spiel. Zwischen<br />
Nacktbaden und Herumtollen wird ihr<br />
Ausflug bald zum Abenteuer, je tiefer sie in<br />
den Wald eindringen. Dort, wo Fuchs und<br />
Hase sich Gute Nacht sagen, passieren merkwürdige<br />
Dinge. Plötzlich sind ihre Räder<br />
weg, trotz Landkarte verlieren sie immer<br />
mehr die Orientierung. Sie nehmen es sportlich,<br />
lassen sich treiben, erkunden stattdessen<br />
ihre Körper, mal zärtlich, mal wild. Vor<br />
allem Robin testet, wie weit er gehen kann –<br />
und Johann liefert sich ihm lustvoll aus. Zu<br />
Fuß erreichen sie irgendwann einen alten<br />
Gutshof, den eine Mutter mit ihrem jugendlichen<br />
Sohn bewohnt. Überraschend freundlich<br />
werden sie willkommen geheißen und<br />
bleiben eine Weile, essen, trinken, erzählen<br />
sich Geschichten und machen kleine Ausflüge.<br />
Die Welt da draußen ist ganz weit weg,<br />
hier gibt es nur die vier. Als die drei Jungs<br />
mit dem Boot am Steg anlegen, isst Johann<br />
ein paar Beeren, die ihm die Wahrnehmung<br />
verschwimmen lassen. Was ist wirklich, was<br />
seine Fantasie? Wie nah kommen sich Robin<br />
und der Junge da im Gestrüpp? Fiebrig und<br />
eifersüchtig zieht sich Johann immer mehr<br />
zurück. Die Idylle scheint ein jähes Ende zu<br />
finden. Oder ist alles nur ein Spiel?<br />
Jan Krügers zweiter Langfilm nach dem<br />
preisgekrönten Unterwegs ist eine Reise mit<br />
leichtem Gepäck, ein Roadmovie mit kleinem<br />
Budget. In einer faszinierenden Mischung<br />
aus realistischen Alltagsbeobachtungen und<br />
märchenhaft anmutenden Momenten erzählt<br />
Rückenwind von einer schwulen Beziehung in<br />
einer Auszeit jenseits des Großstadtdschungels.<br />
Kurz vor der Weltpremiere auf der Berlinale<br />
und inmitten der Postproduktion hat<br />
sich Jan Krüger Zeit für ein Gespräch mit<br />
SISSy genommen.<br />
sissy: Wie ist die Idee zu RüCKenWInD<br />
entstanden?<br />
Jan Krüger: Das erste Exposé war noch sehr<br />
viel weniger narrativ, ich wollte ganz impressionistisch<br />
Bilder und Szenen eines Ausflugs<br />
parallel mit Aufnahmen aus der Großstadt<br />
zeigen. Im Club, nachts am Märchenbrunnen,<br />
so eine Art Reigen, aber ohne durchgehende<br />
Geschichte. Die erste Idee war auch<br />
gar nicht, einen Spielfilm mit geschlossener<br />
Handlung zu erzählen, sondern eher eine<br />
offene Collage, einfach aus der Not heraus,<br />
mit wenig Geld und Zeit einen <strong>Film</strong> zu drehen.<br />
Als zweite Ebene hätten Zeitungsausschnitte<br />
und Tagebucheinträge den <strong>Film</strong><br />
zusammengehalten. Das will ich auch noch<br />
mal probieren, aber so auf halbem Weg<br />
merkte ich, dass das über eine Länge von 70,<br />
10 11
EDiTion SALZGEbER (2)<br />
kino<br />
80 Minuten nicht trägt. Also habe ich angefangen, die Ausflugsgeschichte<br />
weiterzuspinnen. Da kamen dann das Haus und die anderen<br />
Figuren dazu und auch die Idee, den <strong>Film</strong> so psychedelisch enden zu<br />
lassen. Es wurde mir auch schnell klar, dass die Rückblenden in die<br />
Stadt irgendwie bemüht gewirkt hätten und ich habe sie dann ganz<br />
weggelassen. Ich habe mich mehr auf die Geschichte verlassen und<br />
auch auf das, was auf so einer Reise mit den Schauspielern passiert.<br />
Das hat so eine eigene Kraft entwickelt, dass die ganz abstrakten<br />
Momente – ursprünglich sollte man auch mal zehn Minuten nur Wassertropfen<br />
und krabbelnde Tierchen sehen, dazu Tagebuchaufzeichnungen<br />
vorgelesen – fast gar nicht mehr drin sind.<br />
Das ende ist aber noch ein überbleibsel von diesem ursprünglichen<br />
Konzept, oder?<br />
Ein bisschen, ja. Es gibt einen Roman von Hervé Guibert, „Das Paradies“,<br />
den ich in Motiven schon in dem Kurzfilm Hotel Paradijs verwendet<br />
habe. Eine magische Geschichte, die mit dem Tod der imaginierten<br />
Freundin beginnt und dem Versuch, diese Liebesgeschichte<br />
zu rekonstruieren. Und dabei löst sich die Gewissheit auf, dass das<br />
alles so passiert ist. Daraus hatte ich die Idee, die Geschichte nicht von<br />
A bis Z zu erzählen und auch diese Realitätsverschiebung am Ende.<br />
Wie detailliert war das Drehbuch?<br />
Es gab ein Treatment von 30 Seiten, mit großem Zeilenabstand. Das<br />
war nicht viel. Zu Beginn standen noch nicht mal alle Drehorte fest.<br />
Bei einer größeren Produktion wäre mir der Arsch noch mehr auf<br />
Grundeis gegangen, aber wir waren nur fünf Leute und ich habe auch<br />
schlecht geschlafen, aber ich wusste, ich muss nicht alles kontrollieren,<br />
sondern kann es auch mal laufen lassen und kucken, was passiert.<br />
Das Drehbuch war sehr fragmentarisch und es gab auch keinen Ausstatter,<br />
wir mussten also die Orte so nehmen, wie wir sie vorfanden<br />
und uns darauf einstellen. Da muss man schon ein Risiko eingehen<br />
und vertrauen, dass es am Ende zusammenpasst.<br />
Warum war es zeitlich und finanziell so knapp?<br />
Die Produktionskosten waren so niedrig, weil wir den Ehrgeiz hatten,<br />
einen wirtschaftlichen <strong>Film</strong> zu machen, also einen <strong>Film</strong>, der sich<br />
durch die Kino- und DVD-Erlöse rechnet. Das hieß in diesem Fall<br />
40.000 Euro. Und das bedeutet eine große Einschränkung, aber auch<br />
die große Freiheit, dass einem keiner reinredet und man keinen konventionellen<br />
Spielfilm erzählen muss. Ein Kompromiss war, dass es<br />
kein fertiges Drehbuch gab, denn das hätte mehr Zeit und auch mehr<br />
Geld gekostet. Ich habe dafür mehr Zeit fürs Casting verwendet.<br />
Mittlerweile habe ich dieses Selbstvertrauen, so zu arbeiten.<br />
Wie hast Du die Darsteller gefunden?<br />
Ich verfolge schon deutsches Kino und Fernsehen<br />
und da fallen mir Leute auf, die ich toll<br />
finde. Und ich kucke viel bei Casting-Agenturen.<br />
Jetzt hatte ich zunächst den Eindruck,<br />
dass ich mit diesem unfertigen Drehbuch<br />
und der schwulen Geschichte, in der es auch<br />
Nacktszenen geben sollte, Schwierigkeiten<br />
haben würde, gestandene Jungstars dafür zu<br />
finden. Die haben ja was zu verlieren und dem<br />
Druck wollte ich mich nicht auch noch aussetzen.<br />
Deswegen habe ich zuerst Laien gesucht,<br />
per Anzeige und im Internet, da haben sich 30<br />
Leute gemeldet und davon haben wir 20 eingeladen<br />
und Probeaufnahmen gemacht. Aber das<br />
war schwierig, so ganz ohne Erfahrung. Also<br />
habe ich bei Schauspielschulen Leute angeschaut<br />
und bei kleineren Agenturen. Sebastian<br />
Schlecht, der den Johann spielt, habe ich an der<br />
HFF Potsdam gefunden, wo er im zweiten Jahr<br />
Schauspiel studiert, und Eric Golub ist mir in<br />
einem Musikvideo aufgefallen. Ich habe sie<br />
dann eingeladen und im Park rumtoben und<br />
Tango tanzen lassen. Da zeigt sich schon sehr viel, ob jemand einen<br />
anderen, den er nicht kennt, souverän anfassen kann. Das ist keine<br />
Kleinigkeit. Und die beiden konnten das, das war eine gute Kombination,<br />
auch in ihrer Unterschiedlichkeit.<br />
Wussten sie, wie weit sie gehen müssen?<br />
Sie wussten, dass es um eine schwule Beziehung geht. Wir haben<br />
das Drehbuch zusammen gelesen und uns dann überlegt, dass sie<br />
seit 6 Wochen zusammen sind, also schon oft miteinander geschlafen<br />
haben. Und diese Vertrautheit sollte man auch vor der Kamera<br />
sehen, da mussten sie innerhalb von ein paar Tagen hinkommen. Sich<br />
küssen und anfassen können, wie zwei Jungs, die schon oft zusammen<br />
im Bett waren. Ich will keinen steifen Schwanz sehen, habe ich<br />
gesagt, aber ich will schon, dass ihr euch auch mal nackt auszieht und<br />
berührt, weil das zur Geschichte gehört. Da muss man einfach sehr<br />
konkret sein, dann verschwindet auch das Anrüchige daran. Ich habe<br />
sie sich vorher nackt fotografieren lassen. Das hat eine Nähe geschaffen<br />
und den beiden auch Selbstvertrauen gegeben.<br />
Wie schaffst du die Gratwanderung zwischen authentischer Intimität<br />
und Ausbeutung?<br />
Das muss jeder für sich entscheiden, denke ich. Man muss bestimmte<br />
Grenzen akzeptieren, wenn es den Beteiligten unangenehm ist. Ganz<br />
wichtig ist auch sich selbst einzubringen. Zu erzählen, wie es mit<br />
dem eigenen Freund ist, zum Beispiel. Man darf nicht glauben, dass<br />
man die Schauspieler vorschicken kann und selbst schön in Sicherheit<br />
bleibt. Im Gegenteil, man muss sich zumindest im Gespräch entblößen<br />
und damit ein paar Tabus brechen. Und sehr genau hinschauen<br />
und sie auch ein bisschen pushen. Und den Schauspielern Feedback<br />
geben, ihnen sagen, was sie schon gut machen, um so Vertrauen zu<br />
schaffen.<br />
Und deine eigenen Grenzen?<br />
Ich könnte in meinen <strong>Film</strong>en sicher noch viel weiter gehen, auch<br />
im sexuellen Bereich. Es gab in den letzen Jahren ja einige renommierte<br />
Regisseure, die echten Sex gezeigt haben, ob Lars von Trier<br />
oder Michael Winterbottom. Da ist aber nicht viel übrig geblieben,<br />
finde ich. Sex als expliziter Akt war weder ein ästhetischer Durchbruch<br />
noch eine besondere Befriedigung beim Kucken. Larry Clark<br />
hat immer was Schlüpfriges, aber auch sehr Hochglanz, diese glatten<br />
Jungs, wie eine Art Dirty-„Bravo“. Ich bin noch ziemlich weit davon<br />
entfernt, Leute bei echtem Sex zu zeigen. Es hat für mich auch nichts<br />
mit Schauspiel zu tun, sondern mit der Kontrolle von Körperfunktionen.<br />
Ist das die große Herausforderung? Ich will keine erigierten<br />
Schwänze sehen und nichts, was irgendwo reingesteckt<br />
wird. Man kann auch ohne das erotisch erzählen. Der<br />
Schlüssel liegt doch darin, spielerischer zu sein, auszuprobieren<br />
und nicht darin, immer noch expliziter zu werden.<br />
Wie bist du überhaupt zum <strong>Film</strong> gekommen? Du hast zuerst<br />
ein sehr unschwules Physikstudium absolviert.<br />
Ach ja? Da müsstest du erstmal eine statistische Erhebung<br />
in einem Physikjahrgang machen! Ich habe schon immer<br />
gern gelötet – falls du einen Kalauer für die Überschrift<br />
brauchst. Im Ernst: Zu Beginn des Studiums hatte ich mein<br />
Coming-Out und es hatte viel mit Sendungsbewusstsein<br />
zu tun, sich auseinanderzusetzen und mitzuteilen. Es war<br />
dann aber eher Zufall, dass ich von der Kunsthochschule<br />
in Köln hörte. Die Bewerbung war ziemlich aus dem Bauch<br />
heraus und auch blauäugig, weil ich zuvor noch nie was<br />
mit <strong>Film</strong> gemacht hatte. Ich glaube, ich wurde ausgewählt,<br />
weil ich bereit war, mich sehr persönlich einzubringen.<br />
Das waren dann vier nicht leichte Jahre, weil ich künstlerisch<br />
nicht vorgebildet war. Ich habe mich dann aber<br />
ganz bewusst gegen die Technik entschieden, ich habe bis<br />
heute glaube ich nie einen Special Effect verwendet. Ich<br />
wollte ja eben nicht Ingenieur werden und das sieht man<br />
als Gegenbewegung auch meinen <strong>Film</strong>en an.<br />
Deine <strong>Film</strong>e handeln oft von schwulen Beziehungen, die<br />
ambivalent sind. Was interessiert dich daran?<br />
Ich lasse sie oft wie bei einem Laborversuch durch eine<br />
dritte Person in Frage stellen, will sehen, was da passiert.<br />
Ich versuche, in Menschen reinzukucken, auch in die<br />
Schauspieler selbst, lege auch ihre Gefühle jenseits der<br />
Figur offen. Die sind oft sehr nah an ihnen selber, teilweise<br />
tragen sie ihre eigenen Klamotten. Vielleicht auch,<br />
um es mit mir abzugleichen. Das Zeigen von schwulen<br />
Beziehungen hat wie ich finde auch eine politische Komponente,<br />
da steht schon eine gesellschaftliche Haltung<br />
dahinter. Schwules Leben ist in der öffentlichen Darstellung<br />
und Wahrnehmung furchtbar normiert. Als müsste<br />
man einen Glücksbeweis antreten, aus der Kränkung des<br />
Coming-Outs heraus. Aber es schränkt total ein, wenn<br />
man immer stark und selbstbewusst sein muss in seinem<br />
Auftreten. Auch als Schwuler hat man Schwächen und<br />
Krisen, selbst wenn man in einer funktionierenden Beziehung<br />
ist. Aber dahinter kuckt man im populären <strong>Film</strong><br />
nicht, da endet es eben damit, dass zwei zusammenkommen,<br />
aber was danach passiert, wird selten gezeigt. Mir<br />
geht es nicht darum zu zeigen, dass es keine Diskriminierung<br />
mehr gibt – das würde ich auch nie behaupten. Aber<br />
es interessiert mich ganz persönlich mehr, was nach einer<br />
ersten ‚Befreiung‘ kommt. Was für spezifische Themen<br />
und Schwierigkeiten es auch in ‚emanzipierten‘ schwulen<br />
Beziehungen gibt.<br />
Zum Beispiel?<br />
In Rückenwind sind es zum Beispiel zwei Jungs, die ihre<br />
Rollenverteilung finden müssen. Die gleiche Geschichte<br />
mit einem Jungen und einem Mädchen würde vielleicht<br />
anders aussehen. Ich glaube, Fragen der Macht und Überlegenheit<br />
werden unter Jungs anders verhandelt. Oder<br />
Sex. Es gibt z.B. kaum Geschichten, in denen es darum<br />
geht, dass zwei Jungs vielleicht ganz unterschiedlich Lust<br />
auf Sex (oder Lust auf unterschiedlichen Sex) haben. Das<br />
sind spezifische Themen jenseits der Frage, ob es richtig<br />
und gut ist, schwul zu sein. s<br />
www.jank-home.de<br />
rückenwind<br />
von Jan Krüger<br />
D 2009, 75 Min<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
im Kino<br />
Bundesstart 4. Juni 2009<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht im Mai<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Verführung von engeln<br />
Kurzfilme von Jan Krüger<br />
D 1998–2007, 70 Min<br />
Unterwegs<br />
von Jan Krüger<br />
D 2004, 80 Min<br />
Jan-Krüger-Box<br />
beide DVDs im Schuber<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Jan Krüger<br />
Der am 23. März 1973 in Aachen<br />
geborene Jan Krüger studierte<br />
zunächst Elektrotechnik, physik<br />
und Sozialwissenschaften an der<br />
RWTH Aachen, bevor er sich an<br />
der Kunsthochschule für Medien<br />
Köln bewarb, wo er ab 1996 <strong>Film</strong>-/<br />
Fernsehregie bei Horst Königstein<br />
studierte. Sein erster Kurzfilm<br />
„Verführung von Engeln“ war ein<br />
Musikvideo mit Udo Lindenberg,<br />
der das bekannte Gedicht von<br />
bertold brecht vertonte („verzieh<br />
ihn einfach in den Hauseingang,<br />
steck ihm die Zunge in den Hals…“).<br />
Sein Abschlussfilm „Freunde“<br />
(2001) über zwei 16-jährige Jungs,<br />
deren Freundschaft zunehmend<br />
erotische Züge annimmt, lief auf<br />
dem internationalen <strong>Film</strong>fest in<br />
Venedig und wurde dort mit dem<br />
„Silbernen Löwen“ als bester<br />
Kurzfilm ausgezeichnet und war für<br />
den Deutschen und Europäischen<br />
<strong>Film</strong>preis nominiert. Für seinen ersten<br />
Langspielfilm „Unterwegs“ (2004)<br />
über ein junges Heteropärchen, das<br />
beim Zelten im Sommer einen Jungen<br />
kennen lernt, der für kurze Zeit ihr<br />
Leben auf den Kopf stellt, erhielt er<br />
den „Tiger Award“ des internationalen<br />
<strong>Film</strong>festivals in Rotterdam. Sein<br />
gesammeltes Werk mit weiteren<br />
Kurzfilmen wie „Tango Apasionada“<br />
über das Ende einer schwulen<br />
beziehung (oder auch nicht?) und<br />
„Hotel paradijs“ über einen jungen<br />
Deutschen in Amsterdam, der<br />
aus seiner schwulen beziehung<br />
ausbricht, als er ein Mädchen trifft,<br />
ist als Doppel-DVD-box in der<br />
Edition Salzgeber erschienen.<br />
12 13<br />
kino
geschichte film-flirt<br />
Harvey Milk – ein Leben für<br />
die Community<br />
von Randy Shilts<br />
Bruno Gmünder,<br />
www.brunogmuender.com<br />
the times of Harvey Milk<br />
von Robert Epstein<br />
und Richard Schmiechen<br />
USA 1984, 90 Min, OmU<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Harvey, die erste<br />
von Paul Schulz<br />
Die ganze, die wahre Geschichte über den offen schwulen Stadtverordneten<br />
Harvey Milk erscheint im März auf DVD.<br />
Harvey Milk: Eitel, medienhörig, jähzornig, starrsinnig – und liebenswürdig.<br />
s The Times of Harvey Milk gewann 1985 den Oscar<br />
für „Best Documentary“. Damals wurden Oscars noch<br />
„gewonnen“ und „gingen“ nicht einfach an jemanden.<br />
Während Produzent Richard Schmiechen die Dankesrede<br />
hielt, stand Regisseur Rob Epstein lächelnd hinter<br />
ihm auf der Bühne und freute sich wohl schon auf den<br />
Fortgang seiner Karriere: Er erhielt nur fünf Jahre später<br />
für Common Threads: Tales from the Quilt seinen zweiten<br />
Acadamy Award und seitdem viele, viele weitere <strong>Film</strong>preise,<br />
unter anderem zwei TEDDys für The Celluloid<br />
Closet und Paragraph 175.<br />
Dass Epstein als Dokumentarfilmer nicht so berühmt<br />
geworden ist wie Michael Moore, liegt wohl an seinen<br />
Themen: Alle seine <strong>Film</strong>e handeln von der Sichtbarkeit<br />
schwulen Lebens oder deren Notwendigkeit, egal ob in der<br />
Politik, im Alltag oder im Medium <strong>Film</strong> selbst. Zusammen<br />
mit seinem Produktionspartner Jeffrey Friedman dreht<br />
Epstein seit 20 Jahren kulturelle und historische Steine<br />
um, unter denen schwules Leben zum Vorschein kommt.<br />
The Times of Harvey Milk war Epsteins erste Großtat.<br />
Der Dokumentarfilm über den ersten offen schwulen<br />
Mann der Welt in einem bedeutenden politischen Amt ist<br />
auch heute noch beeindruckend und von erstaunlicher<br />
Aktualität. Große Teile von Milk mit Sean Penn lassen<br />
sich direkt auf Epsteins Rekonstruktion zurückführen,<br />
was Milk-Mastermind Gus van Sant unumwunden zugibt:<br />
„Ohne Epsteins <strong>Film</strong> wür de es meinen wahrscheinlich<br />
nicht geben“, sagte der Oscarkandidat in Interviews.<br />
Eigentlich wollten Schmiechen und Epstein 1978 eine<br />
Dokumentation über Milks Kampf gegen „Proposition 6“<br />
drehen, einen Zusatz zur San Franciscoer Stadtverordnung,<br />
der es möglich gemacht hätte, offen schwule Stadtangestellte,<br />
Lehrer und Erzieher auf Grund ihrer sexuellen<br />
Orientierung fristlos zu entlassen. Dass die Mehrheit<br />
der Bevölkerung letztendlich gegen den Zusatz stimmte,<br />
war ursächlich Harvey Milks Verdienst und ist sein politisches<br />
Vermächtnis. Den Mann dahinter auf Zelluloid<br />
zu bannen, machte sich Epstein zur Aufgabe, als Milk erschossen<br />
wurde. Das scheint für die Ewigkeit gelungen.<br />
Wo van Sant in Milk seinen Hauptprotagonisten zu<br />
einem kämpferischen Helden stilisiert, der sich für die<br />
Seinen umbringen lässt, blitzen in The Times of Harvey<br />
Milk auch die anderen Seiten des Mannes auf: seine Eitelkeit,<br />
seine Medienhörigkeit, sein Jähzorn, sein Starrsinn,<br />
aber auch sein Sinn für Humor und seine Liebenswürdigkeit.<br />
Milk ist ein Denkmal, The Times of Harvey Milk ein<br />
Dokument, das Milks Leben in einen größeren Zusammenhang<br />
stellt. s<br />
EDiTion SALZGEbER<br />
EDiTion SALZGEbER<br />
Der Moment<br />
von Tim STaffel<br />
Tim Staffel, geboren 1965, ist Schriftsteller und Theaterregisseur. Zuletzt von ihm erschienen:<br />
„Jesús und Muhammed. Eine Liebesgeschichte.“<br />
s Seattle. Nick sitzt im Sessel, hat sein T-Shirt ausgezogen, die Jeans<br />
noch an. Sieht in Richtung der Tür, die zum Bad führt, aus dem Jesse<br />
kommt, nackt. Hat sich geduscht, hält sich das Handtuch vor. Nicks<br />
Augen können nirgendwo hin, nur zu Jesse. Jesse wendet sich ab, das<br />
Handtuch fällt auf den Boden. Jesse zieht sich Shorts an, tut so, als<br />
gäbe es Nicks Augen, als gäbe es Nick nicht. Dabei ist seine Selbstverständlichkeit<br />
nicht selbstverständlich; Jesse ist verschämt, weil Jesse.<br />
Nick liegt so gut es geht im Sessel, fragt nach einer Decke, zieht sie<br />
über sich. Nicks Blick umarmt Jesse. Der nimmt es nicht wahr. Als<br />
wäre da nichts oder nie, doch Nicks Augen sind nicht stumm. Nur<br />
still. Jesse liegt auf dem Bett. Nicks Augen legen sich zu ihm. Nichts<br />
passiert. Neuer Tag.<br />
Nick sprayt. Lebt in Portland, manchmal in einer Wohnung, vielleicht<br />
seiner. Nick ist der Graffiti Artist, sonst zählt nichts. Sprayen.<br />
Schreiben. Rapture sein Zeichen, seine Schrift. Und später dann, da<br />
hat er Jesse schon getroffen, ELUSivE. Jesse ist Flip, und Jesse hat<br />
Geld, eine Mutter, bei der er lebt, auch noch eine Wohnung in Seattle<br />
von der Mutter für ihn und eine vorstellung davon, wie das abzulaufen<br />
hat, mit dem Durch-die-Nacht-laufen. Die Nacht sprayen, den Tag mit<br />
seinen Tags beschriften. innerhalb der Ordnung. Gefahr berechenbar.<br />
Ziel ist Kunst. Kunst hat einen Rahmen, ist käuflich. Kunst macht<br />
keinen Ärger. Jesse will keinen, ist beschützt durch seine vorsicht,<br />
durch sein Einverständnis. Jesse ist mit Nick in einem Skateboard-<br />
Laden, da sind sie schon in Seattle. Nick soll sich ein Skateboard aussuchen.<br />
Jesse schenkt es ihm. Nick klaut Lebensmittel, da ist er noch<br />
in Portland, hat Jesse noch nicht getroffen. Wenn er Hunger hat,<br />
besorgt er sich das, was er braucht. Wenn er Farben braucht, besorgt<br />
er sich Farben. Wenn er die Nacht gesprayt hat, schläft er oft auf dem<br />
Boden, draußen, dort, wo er müde wird. Nick ist allein, vielleicht<br />
weiß er es nicht, kennt das Gefühl überhaupt nicht, aber dann sieht<br />
er Jesse. Reist wie Jesse nach Seattle. Entdeckt Jesse in Seattle, ruft<br />
ihm hinterher. Jesse wartet auf Nick, dann ziehen sie zusammen los,<br />
und Nick besorgt ihnen das, was sie brauchen, wenn sie hungrig sind,<br />
wenn sie sprayen wollen. Jesse staunt, findet es aufregend und fürchtet<br />
die Gefahr, respektiert die Ordnung, die Nick durchbricht. ‚Weil<br />
er nur so leben kann‘, denkt Jesse nicht. Keine Ahnung, ob Jesse Nick<br />
liebt, als er ihn berührt, aber Nick liebt Jesse, auch als der ihn nicht<br />
mehr berühren will. Liebt ihn mit seinen Augen, nur dass der Blick auf<br />
einmal traurig ist. vielleicht, weil Nick auf einmal weiß, was traurig<br />
ist. Und einsam. Jesse soll es erklären, längst ist jeder für sich zurück<br />
in Portland. Warum er ihn wie Scheiße behandelt, warum Nick nicht<br />
mehr für ihn existiert, selbst wenn er vor ihm steht. Weil du lebst<br />
wie du lebst, sagt Jesse. Weil Nick nicht zahlt für Nicks Leben. Wenn<br />
Jesse sprayt und skatet, hat ihn das nicht gewählt. Er atmet noch,<br />
auch ohne Farben, ohne Board. Was bleibt. Nicks Augen. Jesse, der in<br />
der Menge untergeht. Nick, der sich umdreht, vor einer Wand steht,<br />
mit den Farben in der Hand, FREE ART, sein Leben zeichnet. verzückung,<br />
Freudentaumel, nenn mich RAPTURE. ich bin ELUSivE,<br />
flüchtig, schwer zu fassen. ich hinterlasse mich, siehst in meine<br />
Augen – nichts. Hast keine Ahnung, Antrag schreiben, du darfst,<br />
darfst nicht, wirst sanktioniert, weil du dich sanktionierst. ich träum<br />
nicht von verträgen, bin öffentlich, wo, wann immer ich will. Meine<br />
Hand auf jeder Wand, freie Fläche, hab dich mal gekannt, dachte ich,<br />
warst einer von mir, bin immer noch hier. Du surfst durchs Wohnzimmer<br />
deiner Eltern, zeichnest den Gehaltscheck gegen, auch wenn<br />
du keine Arbeit hast. Myspace, facebook, zähl deine Freunde, kennen<br />
sich alle, keiner erkennt dich, Stromausfall. Bist dabei, solange keiner<br />
sich beschwert. Freies Netz, spray mal das Netz, idiot. Stellst deine<br />
digitalen Bilder rein, bist digital, ich leg die Decke über dich, auch<br />
wenn du mich nicht willst, das ist real. Stromausfall. FREE ART. Bist<br />
immer schön korrekt. Und gut bezahlt, was denn, deine Arbeit? Kunst<br />
ist elitär, machen sie dir weis, bist borniert und intellektuell, weil sie<br />
dich nicht verstehen. Will nicht für mich bezahlen, bin also kriminell.<br />
FREE ART. Kunst hat mit verstehen nichts zu tun. Warum kapierst<br />
du’s nicht? Weil du nichts kapierst. ist deine Ordnung, schon kapiert.<br />
Schön. Affirmativ. irgendwo muss das Fressen ja herkommen. Schon<br />
okay, FLiP. verhunger nicht, mein Herz. Fragst dich, was ist in fünf<br />
Jahren, oder zehn. Frag mich danach. Kannst nicht lesen, bin nicht<br />
im Netz, hab keine Freunde, die Programme für mich zählen. Hab<br />
keine Jahre. Gibt Sprachen, die benutzen dasselbe Wort für gestern<br />
und morgen. Meine Augen. Was ist mit deinen? Hängen als Ausdruck<br />
an der Tapete deiner Mutter. Dreh dich nicht um. Bin schon weg.<br />
Hast mich nie gesehen. Bin flüchtig wegen dir. An meinem Fenster<br />
klebt ein Zettel, von außen. Kam angeflogen, ist hängengeblieben‚ ein<br />
roter Stempel drauf – „Mach’s online! Einfach schnell und sicher“.<br />
Stromausfall. irgendwann werden sie uns beide kriegen. Sind nicht<br />
schnell genug, haben sie zu spät gesehen. Werden übermalt, weggewischt,<br />
gesäubert. Als hätt’s uns nie gegeben. War trotzdem hier. Bin<br />
immer noch da. Keine Ahnung, wo du bist. s<br />
the graffiti Artist<br />
von Jimmy Bolton<br />
USA 2004, 80 Min, OmU<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Jesús und Muhammed<br />
von Tim Staffel<br />
Transit Verlag, www.transit-verlag.de<br />
14 15
film-flirt<br />
GM FiLMS<br />
Lizzie Borderline<br />
von Paul Schulz<br />
Eine Hommage an einen Helden des internationalen independentfilms.<br />
Den Kanadier bruce Labruce.<br />
s Ein moderner Held ist einer, dem der Rest der Menschheit eher fremd ist. Ausgestattet<br />
mit abnormalen, geheimnisvollen Kräften und in voller, wenn auch meist nach außen hin gut<br />
getarnter Kenntnis seiner völligen Absonderlichkeit, durchstreift er die Gegenden der Welt,<br />
in die Normalsterbliche aus Angst vor Verletzung nie vorzudringen wagen. Schon früh entwickelt<br />
er dabei eine ganz eigene Sicht der Dinge, weil es ihm durch seine Fähigkeit zum geistigen<br />
Höhenflug gelingt, Blickwinkel auf das Leben einzunehmen, die dem Rest der Menschheit<br />
nicht gegeben sind. Versucht er, seine Ansichten mit anderen zu teilen, wird er oft missverstanden.<br />
Nicht mit Absicht, sondern einfach, weil die ihm zugängliche Erfahrungsregion halt<br />
nur von seinesgleichen vollständig nachvollzogen werden kann. Das macht Helden einsam.<br />
Mehrwert erzeugende Gesellschaften und ihre künstlerischen Zweige, dürstet nach nichts<br />
so sehr wie nach Helden. Obwohl die, die am lautesten nach dem außergewöhnlichen, ganz<br />
und gar einzigartigen Individuum schreien, wohl am Besten wissen, wie unfähig sie in Wirklichkeit<br />
sind, mit der Nichtnormiertheit und Monstrosität echten Heldentums umzugehen.<br />
Und wie weit sie selber davon entfernt sind. Das, was sie aushalten, sind Ersatzhelden, die<br />
man verpacken, vermarkten und verarbeiten kann. Alles andere geht nicht gut. Denn die so<br />
genannten „Normalen“ stehen dem echten Helden genauso furchtsam gegenüber, wie der Held<br />
ihnen. Sie wissen, sie können ihn nicht begreifen und werden ihn irgendwann genau dafür<br />
hassen. Und er weiß, dass er ihre Zuneigung aus genau diesem Grund fürchten sollte, obwohl<br />
er nichts mehr ersehnt als von der breiten Masse geliebt zu werden. Die das auch tut, bis sie<br />
ihn mit ihrer Zuneigung erdrückt hat oder lange und oft genug Zugang zu seiner besonderen<br />
Beschaffenheit hatte, um den Helden in einem geistig osmotischen Akt Teil ihrer Normalität<br />
werden zu lassen. Daran gehen Helden dann ein, weil sie aufhören, ihre eigene Sprache zu verstehen<br />
und glauben, sie wären jetzt wirklich normal. Weil es ihnen andauernd gesagt wird. Sie<br />
begreifen: Erfolg auf breiter Basis nivelliert immer auch. Dann werden Helden Säufer, Zyniker<br />
oder Wim Wenders.<br />
Damit ihnen das nicht passiert, verbringen schlaue Helden ihre Zeit mit den Ihren. In der<br />
Gemeinschaft der gesellschaftlichen Missfits wird das Ungewöhnliche zum Maßstab. Wer<br />
nicht abnormal ist, verirrt sich nie hierher und täte er es, er wandte sich in unverständigem<br />
Grauen ab. Einige merken aber auch erst, dass sie Helden sind, wenn sie auf einen anderen<br />
Helden treffen. Das ist dann schön für alle Helden, sie sind einer mehr.<br />
Bruce LaBruce ist ein großer moderner Held.<br />
Was wenig verwundert, wenn man weiß, dass er Kanadier ist. Ein Land, das es in nur<br />
wenigen Jahrzehnten schafft, Margaret Atwood, Pamela Anderson, Leonard Cohen, Douglas<br />
Coupland, Keanu Reeves, Jeremy Podeswa, k.d. lang und Holly Cole hervorzubringen, ist<br />
nichts Anderes als die ideale Heldenbrutstätte der modernen Popkultur.<br />
„Canadians could easily dominate the world. But why would you want to do something<br />
that boring, when you can paint instead?“ bestätigt Joni Mitchell eine Vermutung, die sittsame<br />
Menschen nur hinter vorgehaltener Hand äußern: Wollten sie es, Kanadier könnten mit ihren<br />
ungewöhnlichen Fähigkeiten die Welt beherrschen, aber sie haben Besseres zu tun: Kunst.<br />
Und sie sind, wie alle echten Helden, egozentrisch und selbstzufrieden genug, sich dafür vor<br />
niemandem zu rechtfertigen.<br />
LaBruce bringt noch eine andere wichtige Vorraussetzung zum Heldentum mit: er ist<br />
schwul und ein bisschen tuntig. Was der moderne Held immer ist, außer er ist eine Frau. (Die<br />
Ausnahme ist Tilda Swinton, die einzig Erbberechtigte von Quentin Crisps Vermächtnis. Die<br />
ist schwul, ein bisschen tuntig und eine Frau: also das perfekte Lebewesen.) Und er heißt<br />
Bruce. (Wayne, anyone?)<br />
16 17<br />
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Otto: Von der kulturellen Interpretationsmaschine verschluckt. Regisseur Bruce LaBruce: Gloria Swanson in male drag.<br />
Flatterhafte Lebewesen sind auf dem Vormarsch. Sexualität und<br />
Geschlecht sind die letzten echten Schlachtfelder. Weil heterosexuelle<br />
Männer sich ihres Sieges an diesen Fronten immer sicher sind,<br />
werden sie letztendlich verlieren. Sie sind zu faul geworden, um aus<br />
der Haut zu fahren, geschweige denn, sich nach gelungener Häutung<br />
in Spantex und Cape zu werfen, um die Welt zu retten. Deswegen<br />
wird sich ihre heterosexuell maskuline Ganzkörperkostümierung<br />
irgendwann um sie schließen und sie werden, darin gefangen, bei<br />
lebendigem Leibe verrotten. Vielleicht werden sie als metrosexuelle<br />
Zombies wieder auferstehen. Bis dahin jedoch sind Zombies schwul<br />
und ein bisschen tuntig, wie bei LaBruce.<br />
In dessen Werk gibt es keine waschechten Heterosexuellen. Deren<br />
Körper und Selbstbild wäre gar nicht formbar genug, um dem Meister<br />
Genüge zu tun. Der heterosexuellste Mann in einem von LaBruces<br />
<strong>Film</strong>en ist Tony Ward, ein Exgeliebter von Madonna, der seine ersten<br />
bescheidenen Lorbeeren damit verdient hat, sich als Jugendlicher vor<br />
der Linse von Männern auszuziehen, die sehr nett zu ihm waren.<br />
Seine Hauptrolle in Hustler White machte Ward weltweit zu einem<br />
schwulen Helden, so heterosexuell er auch sein mochte. Schuld war<br />
Bruce LaBruce, der das Männermodel als hübsches, freundliches und<br />
sehr nacktes Stück Fleisch in das Schaufester seines ersten Underground-Hits<br />
gehängt hatte. Hustler White ist Sunset Boulevard auf<br />
Speed. LaBruce schrieb das Drehbuch, führte Regie und spielte auch<br />
die zweite Hauptrolle: Gloria Swanson in male drag. Mit seiner zutiefst<br />
unwichtigen Handlung, aber angefüllt mit spektakulären sexuellen<br />
Abweichungen und einem Geschwader schwuler Pornostars, hatten<br />
der <strong>Film</strong> und sein Regisseur vor allem Eins: Spaß am Werteverfall in<br />
der westlichen Welt, der sich auf’s Publikum übertrug. Hustler White<br />
wurde im Fahrwasser von Indie-Hits wie My own private Idaho auch<br />
ein kommerzieller Erfolg für LaBruce.<br />
Als der Kanadier damit zum Underground-Star geworden war,<br />
hatte er schon ein heldenhaft künstlerisch unabhängiges Stück Leben<br />
hinter sich. Sein amerikanischer Wikipedia-Eintrag gibt bekannt,<br />
er wäre als „Bryan Bruce“ geboren worden, der deutsche nennt den<br />
Namen „Justin Stewart“. (Was stimmt? Warum ist Ihnen das nicht<br />
völlig egal?) Der Held studierte an der <strong>Film</strong>hochschule Toronto Regie<br />
ohne Abschluss und in New york <strong>Film</strong>theorie. Irgendwann begann<br />
er seine erste Karriere: Er wurde Fotograf. Während er das queere<br />
Punkzine „J.D.s“ herausbrachte, schlief sich sein Auge, immer auf<br />
GM FiLMS<br />
der Suche nach dem originellsten Schmutz, im Blätterwald vergnügt<br />
nach oben. Heute rufen der englische „Guardian“ und das New yorker<br />
„index“-Magazin genauso bei LaBruce an, wenn sie gute Fotos interessanter<br />
Körper brauchen, wie „Honcho“ oder „Inches“, zwei sehr<br />
bekannte schwule Pornohefte.<br />
Was Prüde als Wahllosigkeit begreifen würden, betrachtet<br />
LaBruce als größtmögliche künstlerische Freiheit: Sein Geschmack<br />
und sein künstlerischer Output ignorieren die Pornografie-Grenze<br />
geflissentlich und bewusst.<br />
Wofür John Cameron Mitchell 2006 mit Shortbus gefeiert wurde,<br />
hatte LaBruce schon 1999 mit Skin Flick/Skin Gang vorgemacht: echter<br />
Sex als erzählerisches Mittel. Das kam nur deshalb nicht so spektakulär<br />
gut beim heterosexuellen Feuillton an wie Mitchells <strong>Film</strong>, weil es<br />
in Skin Flick nicht um die Orgasmusschwierigkeiten und Seelennöte<br />
der New yorker Bohème, sondern um die Politik hinter Sex und die<br />
durch deren Strukturen erzeugte Gewalt unter Männern geht. Kein<br />
Stoff für Weichlinge. Dass der <strong>Film</strong> außerdem eine Satire ist, die mit<br />
den Symbolen des Nationalsozialismus hantiert wie andere <strong>Film</strong>e mit<br />
Stadtansichten und Sonnenuntergängen, machte die Sache nicht einfacher.<br />
Skin Flick/Skin Gang ist, wie fast alles, was LaBruce macht,<br />
eine bewusste Provokation, die mehr Spaß am Fragenstellen als am<br />
Antwortengeben hat.<br />
Spätestens an dieser Stelle seiner Berufsbiografie wurde Bruce<br />
LaBruce von den Seinen auf breiter Front als Held erkannt und freudig<br />
schwanzwedelnd vom queeren Underground als die sexuell aktive<br />
Version von Andy Warhol adoptiert.<br />
Den bisherigen Höhepunkt seines Schaffens lieferte der Kanadier<br />
2004 mit The Raspberry Reich ab: Eine ungeduldige und etwas<br />
schlampige RAF-Parodie, für die sich der Bilderstürmer eine Horde<br />
deutscher schwuler Pornostars von seinem Produzenten Jürgen Brüning<br />
auslieh. Die durften dann, angeleitet von der furchtlosen Susanne<br />
Sachße als Gudrun, hübsch kämpferische Texte aufsagen und die<br />
sexuelle Revolution ad absurdum führen, indem sie den Klassengedanken<br />
nieder zu vögeln versuchen. Das Feuillton war begeistert und<br />
<strong>Film</strong>festivals rissen sich um den Streifen und seinen Regisseur.<br />
Mit The Raspberry Reich erregte LaBruce genügend weltweite Aufmerksamkeit,<br />
um für seinen letzten <strong>Film</strong>, der jetzt auf DVD erscheint,<br />
zum ersten Mal <strong>Film</strong>förderung von der kanadischen Regierung zu<br />
erhalten. Er hat sich von der Finanzierung durchs Establishment aber<br />
The Raspberry Reich: Schlampige RAF-Parodie mit einer Horde schwuler Pornostars.<br />
nicht einfangen lassen. Otto; Or, Up with Dead People ist ein (wieder<br />
von Jürgen Brüning produzierter) schwuler Zombiefilm. Keine reine<br />
Parodie, sondern auch die vielleicht logischste Fortführung des Genres<br />
seit langer Zeit. Die Geschichte um Otto, einen jungen Zombie,<br />
der sich in einem unwirklich inszenierten Berlin auf die Suche nach<br />
seiner Todesursache begibt und dabei fast von der kulturellen Interpretationsmaschine<br />
geschluckt wird, ist ein wahres Heldenepos. Das<br />
Publikum dringt in Welten vor, die ganz vertraut aber doch unwirklich<br />
erscheinen, und kann nie sicher sein, was der Künstler eigentlich<br />
genau sagen will, ob es den <strong>Film</strong> falsch versteht oder ob man Otto…<br />
überhaupt richtig verstehen kann. Und ob es nicht vielleicht einzig<br />
und allein um das shock-value der Bilder geht, wenn LaBruce seinen<br />
essgestört dürren, aber ätherisch schönen Hauptdarsteller an scheinbar<br />
echten Hasenleichen herumnagen lässt oder Untote sich in erst<br />
durch Verwesung entstandene Körperöffnungen hinein begatten.<br />
So sieht heldenhafte Konsequenz aus: für Durchschnittsaugen eben<br />
immer auch ein bisschen nach Lizzie Borderline.<br />
Schön ist: Mit der Adaption des Horrorgenres, dessen Fans ohnehin<br />
gesellschaftlich nicht gelitten sind, gibt der Held den seinen wieder<br />
einmal etwas zurück und wird dafür mit Verehrung überhäuft.<br />
Schlecht ist: Wie alle <strong>Film</strong>e von LaBruce ist auch Otto… so begeistert<br />
von den eigenen guten Ideen, dass er sie nicht immer zu Ende denkt.<br />
Aller Anfang ist schwer, aber das heißt ja nicht, dass man aufhören<br />
kann, wenn man den geschafft hat. Der Held wird weitermachen<br />
müssen, bis er irgendwann mal fertig ist mit der Weltrettung. Das ist<br />
eine gute Sache. s<br />
Otto; or, up with…<br />
von Bruce LaBruce<br />
D/CA 2008, 94 Min, OmU<br />
GM <strong>Film</strong>s, www.gmfilms.de<br />
Skin Flick<br />
von Bruce LaBruce<br />
D/CA 1999, 67 Min, OmU<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
18 19<br />
GM FiLMS (L); JüRGEn bRüninG FiLMpRoDUKTion (R)
kino<br />
BrUDer²<br />
von thomaS abeltShauSer<br />
Roadmovie auf Französisch: Regisseur pascal-Alex Vincent schickt in „Reich mir deine Hand“<br />
ein Zwillingspaar auf eine gemeinsame Reise zu sich selbst.<br />
EDiTion SALZGEbER<br />
s Antoine und Quentin sind 18 Jahre alt und Zwillingsbrüder, die<br />
sich fast zum Verwechseln ähnlich sehen. Gemeinsam hauen sie von<br />
zu Hause ab, um nach Spanien zur Beerdigung ihrer Mutter zu trampen,<br />
die sie nicht gekannt haben. Vom Norden Frankreichs, wo sie<br />
bei ihrem Vater, einem Bäcker, aufgewachsen sind, fahren die beiden<br />
Jungs per Anhalter, als blinde Passagiere auf einem LKW und im Zug<br />
Richtung Süden. Doch ihre Reise verläuft alles andere als harmonisch,<br />
immer wieder kriegen sich die zwei grundverschiedenen Brüder in<br />
die Haare, provoziert einer den anderen. Diese Aggressionsausbrüche<br />
wechseln sich ab mit Momenten der tiefen Verbundenheit, die ganz<br />
ohne Worte auskommt. Wenn einer vom Laufen müde ist, trägt der<br />
andere ihn ein Stück auf dem Rücken. Sie sind Rivalen und Vertraute,<br />
vereint in inniger Hassliebe. Lange Zeit erwecken sie den Eindruck,<br />
als bräuchten sie nur sich auf der Welt.<br />
Zugleich üben sie auf die Mädchen, Jungs und Männer, denen<br />
sie begegnen, einen eigenartigen Reiz aus. So wie Clementine, das<br />
Mädchen, mit dem Quentin im Laderaum eines LKWs schläft, während<br />
Antoine vorne bei der Fahrerin sitzt und schmollt. Abends, am<br />
Lagerfeuer, als Quentin verschwindet, schläft Clementine auch mit<br />
Antoine. Was zwischen den Brüdern läuft, ist von außen nicht klar<br />
zu erkennen. Als Antoine am nächsten Tag nackt im Fluss badet,<br />
beobachtet ihn Quentin dabei. Sie lernen weitere Menschen kennen,<br />
haben flüchtigen Sex mit Mädchen, streiten und vertragen sich wieder,<br />
bis Antoine keine Lust mehr hat zu trampen und sie schließlich<br />
bei einer Heuernte mithelfen, um Geld für ein Zugticket zu verdienen.<br />
Ein anderer Erntehelfer, Hakim, flirtet mit Quentin, der sich darauf<br />
einlässt. Als sie nachts miteinander schlafen, beobachtet sie Antoine<br />
heimlich dabei. Am nächsten Morgen schweigen sich die Brüder an,<br />
die letzte Nacht wird nicht thematisiert. In einer Kneipe wird Antoine<br />
von einem Mann angemacht und Antoine bietet ihm für 100 Euro Sex<br />
mit dem nichtsahnenden Quentin, der auf der Toilette von dem Alten<br />
überrumpelt wird und flüchtet. Antoine findet nur noch den Rucksack<br />
seines Bruders. Er fährt allein weiter nach Spanien, trifft im Zug eine<br />
mysteriöse Frau (Katrin Saß in ihrer ersten Nebenrolle in einem französischen<br />
<strong>Film</strong>) und kommt gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung<br />
der Mutter. Dort sieht er Quentin wieder, der verändert wirkt. Später,<br />
am Strand, versucht Antoine seinen Bruder zur Rückkehr zu überreden,<br />
sie prügeln sich wieder. Doch Quentin weiß, dass ihr Bündnis ein<br />
Ende hat, für ihn ist es Zeit zu gehen.<br />
Reich mir Deine Hand, das poetisch-atmosphärische Langfilmdebüt<br />
des französischen <strong>Film</strong>emachers Pascal-Alex Vincent, ist auch<br />
eine Hommage an die amerikanischen <strong>Film</strong>e der 70er Jahre, dem<br />
so genannten „New Hollywood“, und wie diese ein Roadmovie. Das<br />
Unterwegssein der Figuren ist dabei ganz wörtlich zu verstehen: Sie<br />
gehen auf eine Reise, sind auf der Suche – nach Liebe, nach Orientierung,<br />
nach Glück, nach dem Leben und nach sich selbst. Am Ende<br />
werden die Erfahrungen sie verändert haben. Wie bei jedem Roadmovie<br />
geht es nicht um das Ziel der Reise, sondern um die Reise selbst,<br />
geprägt von zufälligen Begegnungen und Erlebnissen. Die Landschaft<br />
wird fast zu einer dritten Hauptfigur, die die Reisenden einverleibt,<br />
abstößt, ihre Gefühle spiegelt und sie immer wieder herausfordert.<br />
Die beiden Jungs müssen sich selbst behaupten und hinterfragen,<br />
gegen den anderen durch- und absetzen. „Wer bin ich?“ – diese Frage<br />
wird für die beiden auf dieser Reise existenziell. Auf der Suche nach<br />
einer Antwort werden sie ein Stück weit erwachsen.<br />
Reich mir Deine Hand ist geprägt von der ambivalenten, widersprüchlichen<br />
Beziehung der Zwillingsbrüder, die zwischen wortlosem<br />
Vertrauen und dem Wunsch nach Emanzipation vom Anderen<br />
pendelt und dabei immer wieder gewaltsam aufbricht. Zwillinge<br />
üben auf ihr Umfeld oft eine eigenartige Faszination aus, zumal<br />
wenn sie eineiig sind, sich also sehr ähnlich sehen. Für viele, wie die<br />
Mädchen oder den Mann in der Kneipe, sind sie eine erotische Fantasie.<br />
Aus schwuler Sicht kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: Das<br />
Brüderpaar spiegelt in Vielem Aspekte einer Beziehung zwischen<br />
20 21<br />
kino
kino<br />
zwei Männern – den Wunsch, im Anderen sich selbst zu entdecken,<br />
Gemeinsames zu teilen und sich dabei trotzdem nicht selbst aufgeben.<br />
Überhöht wird das Zwillingsthema, etwa im schwulen Porno, dann<br />
sogar zum Fetisch. Zwei Jungs, die sich bis aufs Haar gleichen, verheißen<br />
zumindest in der Fantasie auch doppelten Genuss. Und es kommt<br />
noch etwas dazu: Der Reiz des Verbotenen, die Möglichkeit, dass die<br />
beiden Jungs einander begehren.<br />
Zwillinge sind ein Mythos – im doppelten Sinn. In der griechischen<br />
Sagenwelt z.B. Castor und Pollux, die Söhne Ledas, von denen<br />
aber nur Pollux der Sohn des Zeus und somit unsterblich ist. Als Castor<br />
stirbt, bittet Pollux seinen Vater, ebenfalls sterblich und so im<br />
Tod mit seinem geliebten Bruder vereint zu sein. Zeus ist so gerührt<br />
von dem Wunsch, dass er Castor ins Leben zurückholt und die beiden<br />
unzertrennlich zwischen Hades und Olymp wandern lässt. Die<br />
Verbundenheit ist also weniger eine biologische als eine emotionale,<br />
nicht das Blut verbindet sie, sondern die Liebe zueinander.<br />
Vor diesem Hintergrund entwickelte Pascal-Alex Vincent die<br />
Geschichte seines ersten langen Spielfilms. Am 18. Oktober 1968 im<br />
französischen Montargis geboren und in Rochefort an der Atlantikküste<br />
aufgewachsen, studierte Pascal-Alex <strong>Film</strong>geschichte in Paris<br />
und arbeitete im Anschluss bei einem <strong>Film</strong>verleih für japanisches<br />
Kino in Frankreich. Ab 2001 drehte er sechs Kurzfilme, darunter Far<br />
West, mit dem er 2003 beim Kurzfilmfest in Oberhausen den Nachwuchspreis<br />
gewann, Candy Boy, einem 15-minütigen Anime als Hommage<br />
an die japanische Kultserie Candy der Siebziger Jahre und Baby<br />
Shark, der auf dem <strong>Film</strong>fest in Cannes Premiere feierte und in dem<br />
bereits Victor und Alexandre Carril, die Hauptdarsteller aus Reich<br />
mir Deine Hand, mitspielen. In diesen Jahren entwickelt Pascal-Alex<br />
Vincent seine Themen, denen er nun auch in seinem Kinodebüt treu<br />
bleibt: Das Erwachsenwerden, sexuelles Erwachen und schwules<br />
Begehren. Und auch sein Faible für Animationen findet sich im <strong>Film</strong><br />
wieder: Reich mir Deine Hand beginnt mit einer Zeichentricksequenz,<br />
in der die Brüder von zu Hause ausreißen. Und wie sich später herausstellt,<br />
sind sie auch ein Verweis auf die Comics, die Quentin zeichnet.<br />
Pascal-Alex, der auch das Drehbuch geschrieben hat, hat sich dabei<br />
von der Bruderbeziehung seiner Hauptdarsteller und ihren Erfahrungen<br />
inspirieren lassen. Die 1988 geborenen eineiigen Zwillinge Victor<br />
und Alexandre sind in Paris aufgewachsen, in der Nachbarschaft von<br />
Pascal-Alex, wo sie mit ihren lautstarken und gewalttätigen Auseinandersetzungen<br />
berühmt-berüchtigt waren. SISSy hat die beiden<br />
Brüder und ihren Regisseur in Berlin getroffen.<br />
Pascal-Alex, Du hast mit „Reich mir Deine Hand“ einen <strong>Film</strong> über<br />
das intensive, oft problematische Verhältnis zweier Zwillingsbrüder<br />
gedreht, von denen einer schwul ist. Was hat Dich an dem Thema so<br />
gereizt?<br />
Pascal-Alex: Mich interessiert die Frage, warum zwei Brüder, die<br />
genau gleich aufgewachsen sind, die gleiche Erziehung, dieselben<br />
Eltern haben, so grundverschieden sein können. Bei Zwillingen ist<br />
das noch deutlicher, es war also ein Glücksfall, dass ich Victor und<br />
Alex gefunden habe. Schon 2005 habe ich einen Kurzfilm mit ihnen<br />
gedreht, Baby Shark, und ich wurde immer wieder auf die beiden<br />
angesprochen, die Leute waren genauso fasziniert von den Zwillingen<br />
wie ich. Und ich lasse mich von ihnen inspirieren, von ihren Persönlichkeiten,<br />
ihren Erlebnissen.<br />
Hast Du selbst Geschwister?<br />
Pascal-Alex: Eine jüngere Schwester. Aber unsere Eltern ließen sich<br />
früh scheiden und haben beide neue Familien gegründet. Wir sind<br />
also eine große Patchworkfamilie. Nur ich bin der einzige Schwule,<br />
was mich schon auch beschäftigt. Warum gerade ich? Warum nicht<br />
auch meine Schwester? Ich finde das spannend.<br />
Alex und Victor, könnt Ihr diese Faszination verstehen, die Zwillinge<br />
auf viele ausüben?<br />
Alex: Versteh ich gut, weil es mich selbst fasziniert, was für eine Bindung<br />
ich zu meinem Zwilling habe. Unser Verhältnis ist so tief, dass<br />
vieles selbst uns ein Geheimnis bleibt.<br />
Victor: Eine der ersten Fragen, die uns Leute stellen, ist: Was unterscheidet<br />
euch? Darauf haben wir selbst noch keine Antwort.<br />
erkennt Ihr euch im <strong>Film</strong> wieder? Oder sind eure erfahrungen ganz<br />
andere?<br />
Victor: Es ist eher eine Mischung aus dem, was wir sind und welches<br />
Bild sich Pascal-Alex von uns macht. Vieles stimmt, in einigen Teilen<br />
erkennen wir uns aber gar nicht wieder.<br />
Was ist wahr daran?<br />
Victor: Im <strong>Film</strong> ist Alex’ Figur sehr viel selbstbewusster, er ist der<br />
Anführer der beiden. Im realen Leben ist es viel ausgeglichener, eher<br />
wie bei einer Waage: Wenn einer mal dominanter ist, lässt sich der<br />
andere mitziehen.<br />
Lebt Ihr zusammen?<br />
Alex: Ich habe das letzte Jahr in Buenos Aires Architektur studiert. Es<br />
war die längste Zeit, die wir jemals getrennt waren. Mir hat das richtig<br />
gut getan, mich mal auf mich zu konzentrieren. Ich bin dadurch<br />
gewachsen.<br />
Victor: Die Trennung war für uns beide wichtig, aber nach einer Weile<br />
habe ich gemerkt, wie mir die Kräfte schwinden, weil mein Bruder so<br />
weit weg war. Ich musste ihn wieder sehen.<br />
Alex: Als er mich dann nach sechs Monaten besuchen kam, half er mir<br />
bei einem Projekt, das ich alleine so gar nicht geschafft hätte. Wir<br />
ergänzen uns perfekt.<br />
Inwiefern?<br />
Victor: Alex hat immer tausend Ideen, aber er weiß nicht, wie er sie<br />
umsetzen soll. Ich bringe da Struktur rein.<br />
Der Kreative und der Rationale?<br />
Victor: Ja.<br />
Alex: Nein.<br />
Seid Ihr euch oft uneinig? Im <strong>Film</strong> kriegt Ihr euch ja regelmäßig in die<br />
Haare.<br />
Pascal-Axel: Die beiden wohnen in meiner Nachbarschaft und dort<br />
sind sie berühmt-berüchtigt für ihre lautstarken Streitereien und brutalen<br />
Kämpfe.<br />
Victor: Die Fights im <strong>Film</strong> sind nichts dagegen.<br />
Ist das der Mythos, den Ihr euch zurechtgelegt habt, um noch interessanter<br />
zu wirken?<br />
Alex: Nein, das ist alles wahr.<br />
Pascal-Alex: Die Nachbarn haben richtig Angst, wenn sie kämpfen,<br />
weil es wirklich gefährlich wird. Sogar ihre Eltern machen sich große<br />
Sorgen, dass mal etwas furchtbar schief läuft. Einmal hat Victor<br />
seinen Bruder mit einer Schere angegriffen und sie ihm ins Genick<br />
gerammt. Alex hat heute noch eine Narbe dort.<br />
Ihr kommt mir vor wie ein altes ehepaar, das nicht mit und nicht ohne<br />
einander kann. Ist da überhaupt Platz für jemand anderen?<br />
Victor: Jeder macht auch sein eigenes Ding. Im Grunde sind wir doch<br />
wie alle Geschwister, die sich mal in die Haare kriegen.<br />
Alex: Aber weil wir Zwillinge sind, ist alles ein bisschen größer und<br />
dramatischer.<br />
Pascal-Alex, siehst Du Dich als eine Art großer Bruder der beiden?<br />
Pascal-Alex: Das sagen ihre Eltern auch immer. Sie sind froh darüber,<br />
dass ich den <strong>Film</strong> mit ihren Söhnen gemacht habe, denn seitdem<br />
kämpfen sie nicht mehr so viel. Ich kenne sie einfach seit Jahren, wir<br />
wohnen alle im schwulen Viertel von Paris, im Marais, und sie gehen<br />
bei mir ein und aus, fragen mich um Rat.<br />
Wie habt Ihr euch kennen gelernt?<br />
Pascal-Alex: Sie waren einfach die bildhübschen Zwillingsbrüder im<br />
Viertel, die sich dauernd prügeln. Ich habe eines Tages meinen Mut<br />
reich mir deine Hand<br />
von Pascal-Alex Vincent<br />
FR/D 2008, 80 Min,<br />
DF oder OmU<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
im Kino<br />
Bundesstart am 26. Februar<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht im Februar<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Jungs von nebenan<br />
schwule Kurzfilme<br />
D, F, NOR, USA 2002–2003,<br />
61 Min, dt. OF und OmU<br />
Mit „Far West“<br />
von Pascal-Alex Vincent<br />
Junge rebellen<br />
schwule Kurzfilme<br />
FR/D/AU/USA/UK 2005–<br />
2006, 83 Min,<br />
dt. OF und OmU<br />
Mit „Baby Shark“<br />
von Pascal-Alex Vincent<br />
Beide Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
zusammengenommen und sie angesprochen. Und sie haben einfach<br />
„Ja, klar!“ gesagt.<br />
Hattet Ihr Bedenken wegen der schwulen Geschichte?<br />
Alex: Wir sind hetero, aber wir sind im Marais aufgewachsen. Das war<br />
nie ein Problem.<br />
Pascal-Alex: Aber es war ein Riesending, wer von beiden den schwulen<br />
Bruder spielen soll.<br />
Wer hat es entschieden?<br />
Pascal-Alex: Ich natürlich! Ich habe die Rolle Victor gegeben, weil er<br />
ein bisschen weicher, sensibler wirkt als sein Bruder. Die beiden sind<br />
straight, aber sie werden dauernd auf der Straße angesprochen. Vielleicht<br />
haben sie ihre Erfahrungen, aber darüber reden wir nicht.<br />
Hat einer von euch eine Beziehung außerhalb?<br />
Alex: Klar, so symbiotisch sind wir auch nicht. Wir haben unterschiedliche<br />
Freundeskreise.<br />
Braucht ihr bei einer ernsthaften Liebesbeziehung die Zustimmung des<br />
anderen?<br />
Victor: Wenn ich jemanden liebe, ist mir egal, was mein Bruder davon<br />
hält.<br />
Alex: Das stimmt doch überhaupt nicht!<br />
Im <strong>Film</strong> tauscht Ihr mal Rollen und gebt euch für den anderen aus.<br />
Macht Ihr das im realen Leben auch, um etwas oder jemanden zu<br />
bekommen?<br />
Alex & Victor: Nein!<br />
Alex: Was der andere hat, kann man nicht stehlen. Aber man kann teilen.<br />
Victor: Aber nicht alles.<br />
Im <strong>Film</strong> geht es viel um eifersucht. Seid Ihr auch oft neidisch auf das,<br />
was der andere hat oder macht?<br />
Alex: Das Wichtigste für uns ist, das wir gleichberechtigt sind, es muss<br />
immer eine Balance herrschen. Es wird sofort zum Problem, wenn<br />
einer von uns etwas hat oder macht und der andere nicht.<br />
Treibt euch das an oder behindert es euch eher?<br />
Alex: Mit der Eifersucht wird erst Schluss sein, wenn einer von uns<br />
beiden irgendwann einmal völlig unabhängig vom anderen seine<br />
eigene Identität entwickelt hat und glücklich ist.<br />
Victor: Das wird nicht passieren, denn dann wird der andere kommen<br />
und seinen Anteil daran haben wollen. Einer allein kann nicht glücklich<br />
werden.<br />
Alex: Da hast Du Recht. s<br />
22 23<br />
kino
pRo-FUn MEDiA<br />
kino<br />
Women, have more drama!<br />
von Sharon aDler<br />
„out at the Wedding“ von Lee Friedlander in der L-<strong>Film</strong>nacht.<br />
s Dieser <strong>Film</strong> ist beste Screwball-Comedy. Regisseurin Lee Friedlander<br />
und ihre Autorin und Produzentin Paula Goldberg wissen<br />
genau, wie man sich in diesem Genre bewegt. Mittlerweile auf diversen<br />
großen Festivals weltweit gezeigt und preisgekrönt, wird das<br />
deutsche Publikum zur L-<strong>Film</strong>nacht im März in den Genuss dieser<br />
filmischen und emotionalen Achterbahnfahrt kommen.<br />
Erzählt wird die rasante Story um Alex „Lexie“ Houston (Andrea<br />
Marcellus) und deren jüngere Schwester Jeannie (Desi Lydic). Einen<br />
nicht unwesentlichen Einfluss auf den Verlauf des Geschehens nehmen<br />
ferner der Verlobte der älteren Schwester, der frischgebackene<br />
Ehemann der jüngeren, der schwule Freund von Alex, schließlich der<br />
Familienclan der jeweils Beteiligten und deren skurrile Eigenarten.<br />
Allen voran aber eine äußerst anziehende lesbische Künstlerin!<br />
Eigentlich führt Lexie ein gesetteltes Leben, sie lebt in Manhattan,<br />
ist beruflich erfolgreich und unabhängig. Dass sie mit ihren<br />
dreißig Jahren noch nicht verheiratet ist, wird sich bald ändern, denn<br />
ihr Freund Dana steckt ihr beim Dinner im Restaurant überraschend<br />
einen Verlobungsring an den Finger und stellt die entscheidende<br />
Frage.<br />
Es könnte alles so schön sein. Wäre da nicht die Tatsache, dass<br />
Dana schwarz ist. Schlimmer noch: Er ist der Sohn eines Afroamerikaners<br />
und einer jüdischen Mutter. Felsenfest davon überzeugt, dass<br />
es zwischen seiner unkonventionellen New yorker und ihrer konservativen<br />
South-Carolina-Mischpoche nur Probleme geben wird,<br />
hat Lexie dem Verlobten gegenüber während ihrer immerhin schon<br />
dreimonatigen Beziehung ihre eigene Familie kurzerhand für tot<br />
erklärt.<br />
Richtig kompliziert wird es aber erst auf der Hochzeit von Lexies<br />
jüngerer Schwester Jeannie, zu der sie von ihrem schwulen Freund<br />
Jonathan begleitet wird. Ein kleiner Scherz reicht, und Lexie gilt in<br />
ihrer Familie plötzlich als Lesbe, Dana als ihre neue „Freundin“ und<br />
das Familienfoto hält eine äußerst pikiert dreinschauende Hochzeitsgesellschaft<br />
fest.<br />
Zurück in New york wird die unfreiwillig geoutete Hetera Lexie<br />
erneut mit ihrer vermeintlichen lesbischen Identität konfrontiert,<br />
denn Jeannie will sie nach ihrem Tahiti-Honeymoon besuchen und<br />
unbedingt ihren Lebensstil begutachten. Verzweifelt sucht Lexie<br />
nach einer Lösung und findet sie in Gestalt der attraktiven Risa, die<br />
ihr buchstäblich vor die Füße fällt und kurzerhand von Lexie und<br />
Jonathan als Alibi-Geliebte angeheuert wird. Risa, eine echte Vorzeigelesbe,<br />
liebt das Risiko und lebt das Motto „I can’t even think<br />
straight“.<br />
Die zwangsläufig folgenden Verwicklungen stellen alle vor große<br />
Herausforderungen, und ausgerechnet während ihres ersten ‚Ausflugs‘<br />
als Lesbe läuft Lexie ihrem zukünftigen Schwiegervater in die<br />
Arme. Katastrophe! Da hilft nur eins: das Spiel mit noch größerem<br />
Einsatz weiterspielen…<br />
Geistreich, selbstironisch, turbulent, scharf beobachtend und<br />
herrlich schräg spielt Out at the Wedding mit Klischees und entlarvt<br />
genau diese äußerst charmant. Besonders deutlich wird dies, als Alex<br />
bei ihrem Debut in der Szene versucht, wie eine Lesbe auszusehen und<br />
dabei leider total danebenliegt. Wirklich dramatisch aber wird das<br />
Ganze, als Jeannie auf Risa trifft, und die beiden (un)glücklicherweise<br />
magnetisch voneinander angezogen werden…<br />
Bevor der <strong>Film</strong> auf sein fulminantes Ende und einen großartigen<br />
Showdown zusteuert, müssen noch einige Klippen umschifft und<br />
harte Schläge eingesteckt werden, bis am Ende alle etwas Elementares<br />
dazu gelernt haben und jede das bekommt, was sie immer schon<br />
wollte, auch wenn das nicht vorhersehbar war.<br />
Regisseurin Lee Friedlander hatte zuvor bereits mit dem genialen<br />
Survival-Guide für Lesben Die zehn Regeln (The Ten Rules) und der<br />
tragisch-komischen Liebesgeschichte Girl Play eindrucksvoll bewiesen,<br />
dass Dyke-Drama erstens zum (lesbischen) Leben dazu gehört,<br />
und dass das zweitens nicht unbedingt bierernst sein muss.<br />
Out at the Wedding funktioniert jedenfalls wie ein heißes Schaumbad<br />
im Winter: Man muss nur eintauchen und genießen. s<br />
Out at the Wedding<br />
von Lee Friedlander<br />
USA 2007, 96 Min, OmU<br />
Pro-Fun Media<br />
www.pro-fun.de<br />
www.outatthewedding.com<br />
im Kino<br />
L-<strong>Film</strong>nacht im März<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Kurz und gut.<br />
von eDina lautenSchläger<br />
Kurzfilme bei der L-<strong>Film</strong>nacht.<br />
s Ein ganzer Abend mit Kurzfilmen, wollen das<br />
die Frauen sehen? Und dann das: eine komplett<br />
ausverkaufte Vorstellung, der Umzug in größere<br />
Säle und eine super Stimmung. Die Bilanz<br />
der ersten L-<strong>Film</strong>nacht: 700 Berliner Lesben in<br />
einem Raum, wann hat man schon mal soviel<br />
Auswahl…<br />
Bevor es in die Sommerpause geht, findet<br />
im Mai die fünfte L-Kurzfilmnacht in den CinemaxX-Kinos<br />
statt. Das Programm, zusammengestellt<br />
von Mitarbeitern der L-Mag und der<br />
Edition Salzgeber, stand zum Redaktionsschluss<br />
noch nicht fest, aber man ist entspannt, denn<br />
man kann aus einer Fülle von <strong>Film</strong>en auswählen<br />
und vielleicht auch den einen oder anderen <strong>Film</strong><br />
frisch von der Berlinale mitbringen.<br />
Was ist so faszinierend an Kurzfilmen? Liegt<br />
es daran, dass für jeden Geschmack etwas dabei<br />
ist? Oder dass nicht ganz so gelungene <strong>Film</strong>e<br />
einfach schnell vorbei sind und der nächste<br />
gleich hinterher kommt? Kurzfilme erzählen<br />
ihre Geschichten im Idealfall frisch, kompakt<br />
und pointiert und verdienen es, als eigene Gattung<br />
begriffen zu werden. Wenn überhaupt,<br />
zeigt das Fernsehen Kurzfilme zu nachtschlafender<br />
Zeit und selbst Festivals fällt die<br />
Beschäftigung mit dem Genre immer schwerer.<br />
Groß war der Schock, als die Berlinale mit ihre<br />
Tradition, vor dem Langfilm einen Kurzfilm zu<br />
zeigen, brach. Meist am Anfang der Karriere<br />
gedreht, mit wenigen Mitteln, ist das Genre<br />
Kurzfilm auch ein Experimentierfeld, um den<br />
eigenen Stil zu entwickeln und eigene Themen<br />
aufzugreifen. Schwierig wird es allerdings,<br />
wenn gerade Frauen (die es in der Medienbranche<br />
immer noch schwerer haben als Männer)<br />
den gewünschten Schritt von der kurzen zur<br />
langen Form aus rein ökonomischen Gründen<br />
nicht schaffen. Aber das wäre ein ganz weites<br />
Feld, das wir sicherlich noch in einer der folgenden<br />
Ausgaben der SISSy aufgreifen werden.<br />
Bis auf weiteres darf sich die Besucherin einer<br />
L-Kurzfilmnacht als innovative Konsumentin<br />
begreifen, die sich völlig entgegen eines jeden<br />
Marktgeschehens verhält und sich hoffentlich<br />
einfach an guten, spannenden und eben kurzen<br />
Geschichten erfreut. s<br />
24 25<br />
kino<br />
L-<strong>Film</strong>nacht<br />
Das monatliche <strong>Film</strong>event für Lesben.<br />
Augsburg, berLin, bieLeFeLD, bremen, DresDen, essen,<br />
Freiburg, HAmburg, KieL, mÜnCHen, OLDenburg,<br />
regensburg, stuttgArt, trier, WuppertAL, WÜrzburg<br />
Karten unter www.cinemaxx.de<br />
www.l-filmnacht.de<br />
gay-<strong>Film</strong>nacht<br />
Das monatliche <strong>Film</strong>event für schwule.<br />
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OFFenbACH, OLDenburg, regensburg, stuttgArt,<br />
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www.gay-filmnacht.de<br />
Wir bedanken uns bei unseren partnern:
kino<br />
Dass auch Liebende ertrinken<br />
von Jan gymPel<br />
„Mit geschlossenen Augen“ von bodewijn Koole in der Gay-<strong>Film</strong>nacht.<br />
s Die Suche nach dem verschollenen Vater<br />
scheint ein sehr bewegender Stoff zu sein.<br />
Jedenfalls sollte es allen Erfahrungen nach<br />
keine großen Probleme bereiten, öffentliches<br />
Geld zu erhalten für einen schönen, langen<br />
<strong>Film</strong>: Über die Suche nach dem Mann,<br />
der eigentlich nur Ihr Miterzeuger ist, und<br />
mit dem Sie nicht mehr verbindet als ein paar<br />
Gene.<br />
Da die Fahndung nach dem unbekannten<br />
Samenspender ein so beliebtes Kinothema<br />
ist, erwartet man von diesem fünfzigminütigen<br />
Werk des Niederländers Boudewijn<br />
Koole wenig Neues. Doch der Regisseur, der<br />
bislang mit Dokumentationen auf sich aufmerksam<br />
gemacht hat, schildert in seinem<br />
ersten Spielfilm eine ungewöhnliche Vatersuche<br />
auf ungewöhnliche Art.<br />
Felix, vermutlich in seinen frühen Zwanzigern<br />
und bei seiner Oma lebend, will vor<br />
Antritt einer langen, gefährlichen Motorradtour<br />
in ferner Fremde endlich seinen Vater<br />
kennenlernen und so eine Leerstelle in seiner<br />
Biographie ausfüllen – auf eigenwillige<br />
Weise, wie sich bald zeigt. Er weiß: Johan,<br />
der mit Felix’ verstorbener Mutter nur eine<br />
kurze Affäre hatte, führt eine kleine Kneipe,<br />
in der viel Jazz gespielt und dazu, wie es sich<br />
gehört, viel geraucht wird. Und er ist schwul,<br />
wohl im Gegensatz zu Felix, der zwischendurch<br />
mit einer Arbeitskollegin im Bett landet.<br />
Letzterer versucht, seinem alten Herrn<br />
– der von seiner Vaterschaft gar nichts weiß,<br />
geschweige denn, wer der junge Biker ist,<br />
welcher da seine Aufmerksamkeit erregen<br />
möchte – zunächst durch demonstratives<br />
Interesse an Jazz und alten Vinylscheiben<br />
nahezukommen. Und dann, als dies nicht<br />
recht fruchtet, ihn zu verführen.<br />
Oder ist vielleicht alles ganz anders? Boudewijn<br />
Koole erzählt seine Geschichte eher<br />
bruchstückhaft und deutet vieles nur an. So<br />
bleibt Raum für die Fantasie des Zuschauers,<br />
der andererseits womöglich auf falsche<br />
Fährten gelockt und dazu gebracht wird,<br />
Verbindungen herzustellen, die es gar nicht<br />
gibt, und sich Falsches zusammenzureimen.<br />
Ist Johan beispielsweise wirklich allein und<br />
will er dies womöglich bleiben, zumal nach<br />
dem zwanzig Jahre zurückliegenden Tod<br />
eines Jazzmusikers, mit dem er eng befreundet<br />
war – auf welche Weise auch immer?<br />
Dessen Ertrinken spielt an auf das Schicksal<br />
des bedeutenden Free-Jazz-Saxophonisten<br />
Albert Ayler, der 1970 aus New yorks East<br />
River gezogen wurde, wobei die näheren<br />
Umstände seines Ablebens nie geklärt werden<br />
konnten. Von Ayler gespielte Musik ist<br />
in Mit geschlossenen Augen zu hören, von<br />
einem ertrunkenen Liebespaar wird erzählt,<br />
William Butler yeats’ Gedicht „Die Nixe“<br />
von Johan rezitiert. Andererseits trifft dieser<br />
sich wiederholt mit einem netten, nicht mehr<br />
ganz jungen Schwarzen. Nur auf geschäftlicher<br />
Basis?<br />
Letztendlich bleibt vieles offen in diesem<br />
<strong>Film</strong> und die Neugierde des Zuschauers<br />
in mancher Hinsicht ungestillt. Immerhin<br />
bekommt Felix nicht nur höchst intimen<br />
Kontakt mit Johan. Er kann auch erleben,<br />
wie dieser sich bei einem Mädchen aus der<br />
Nachbarschaft doch als guter Vater erweist,<br />
und so seine Suche zu einem befriedigenden<br />
Ende bringen. s<br />
Mit geschlossenen Augen<br />
von Bodewijn Koole<br />
NL 2007, 52 Minuten, OmU<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht im März<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
s Zu entspannten Gitarrenklängen rollt ein<br />
junger Mann mit seinem Skateboard durch<br />
eine amerikanische Vorstadtlandschaft. Hier<br />
und da bleibt er stehen und sprüht Graffiti an<br />
Hauswände – mit Hilfe einer Schablone, die,<br />
wie sich herausstellt, den Ausblick von dem<br />
Haus zeigt, in dem er lebt: auf die Vincent<br />
Thomas Bridge von San Pedro, im Hafenareal<br />
von Los Angeles.<br />
Diese Aussicht scheint allerdings auch<br />
schon das Schönste am Leben des jungen<br />
Mannes, weshalb sie im weiteren Verlauf<br />
des <strong>Film</strong>s keine Rolle mehr spielt. Auch kann<br />
jener Zach nicht das Leben eines unbekümmerten<br />
US-Westküstenteenagers führen: Der<br />
kleine Junge im Haus ist zwar nur sein Neffe,<br />
doch Zachs Schwester hat mit Männern so<br />
ihre Probleme, deshalb hat ihr Bruder nicht<br />
nur häufig als Babysitter herzuhalten, sondern<br />
wird konsequenterweise von dem Kind<br />
auch als Vater betrachtet.<br />
Zachs Dasein, das dahindümpelt zwischen<br />
dem Job als Küchenhilfe in einem<br />
Diner, etwas mutlos verfolgten zeichen-<br />
Zuflucht<br />
von Jan gymPel<br />
„Shelter“ von Jonah Markowitz in der Gay-<strong>Film</strong>nacht.<br />
künstlerischen Ambitionen und eben der<br />
ständigen Sorge um den Neffen, erfährt eine<br />
entscheidende Wendung, als er beim Surfen<br />
einen alten Bekannten trifft: Der große Bruder<br />
seines wohlhabenderen besten Freundes<br />
will in der alten Heimat Abstand von seinen<br />
Problemen als Autor finden. Eigentlich ist<br />
Zach gewarnt oder könnte es zumindest sein:<br />
Shaun, hat man ihn wissen lassen, steht auf<br />
Männer. Trotzdem hängt Zach viel mit ihm<br />
herum, und so geschieht schließlich, was<br />
unvermeidlich scheint, zumal nach einem<br />
langen Abend mit viel Bier.<br />
Zunächst reagiert Zach verstört, zumal<br />
er spürt: Was er für Shaun empfindet, ist<br />
etwas ganz anderes als die zunehmend lustlos<br />
verfolgte Beziehung zu seiner Freundin.<br />
Dann gibt er seiner frisch entfachten Leidenschaft<br />
nach. Und bei einem romantischen<br />
Abendessen, zu welchem Zach notgedrungen<br />
seinen Neffen mitbringt, erweist sich<br />
Shaun als hervorragender zweiter Ersatz-<br />
Daddy. Doch allzu lang bleibt die Romanze<br />
der beiden Männer ihrer Umgebung nicht<br />
verborgen. Und Zachs Schwester zeigt sich<br />
wenig begeistert von der neu entdeckten<br />
Neigung ihres Bruders, zumal dieser seinem<br />
Neffen als Vorbild dienen soll. Allerdings<br />
hat sie ihrerseits gerade einen neuen Mann<br />
gefunden und dieser bald darauf eine Stelle<br />
im fernen Oregon.<br />
Wie sich schließlich alles für alle Beteiligten<br />
trefflich fügt, mag man als große<br />
Gunst des Schicksals betrachten – oder auch<br />
als unbedingten Willen des Drehbuchautors<br />
Jonah Markowitz zu einem umfassenden<br />
Happy End. Doch darüber sieht man gern<br />
hinweg, nicht nur wegen der – zumal in<br />
den von Kulturkämpfen geschüttelten USA<br />
– ausgesprochen politischen Botschaft, derzufolge<br />
Familie und ein ideales Umfeld für<br />
Kinder nicht unbedingt aus Mama und Papa<br />
zu bestehen brauchen. Auch erzählt Markowitz<br />
in seinem Spielfilmregieerstling seine<br />
Geschichte von einem Coming out, generellem<br />
Selbstfinden und Erwachsenenwerden,<br />
Aufopferung und Verantwortung einfühlsam<br />
und mit einer schönen Balance aus Zurückhaltung<br />
und Direktheit. Am Ende können<br />
Zach und seine Schwester das enge, wenig<br />
behaglich wirkende Heim verlassen, welches<br />
nichtsdestoweniger Sicherheit vermittelte.<br />
Als Ort des Schutzes und der Zuflucht, von<br />
dem der Titel des <strong>Film</strong>s spricht, hat nicht nur<br />
Zachs Neffe etwas Besseres gefunden. s<br />
Shelter<br />
von Jonah Markowitz<br />
USA 2007, 90 Minuten<br />
Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
im Kino<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht im April<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
26 27<br />
kino
wir verreisen<br />
tobi in<br />
Wonderland<br />
von tobiaS rauScher<br />
pathos und politik, Liebe und Lametta: Eine Liebeserklärung an das <strong>Film</strong>festival<br />
Cinema of Dreams von Tilda Swinton und Mark Cousins.<br />
Pretty in pink. Tilda Swinton beim TEDDY Award 2008 (links), unser Autor Tobias Rauscher in Nairn (rechts).<br />
s Am 14. August 2008 besuchen drei von vielen BesucherInnen aus aller Welt das erste Mal in ihrem Leben das Dorf<br />
Nairn an der schottischen Atlantikküste. Sie verlassen die sonnendurchflutete High Street, um an einer kleinen Straßenkreuzung<br />
zwischen einem Buchladen und einem schmucklosen Friseursalon ein altes viktorianisches Reihenhaus<br />
zu betreten, dessen Frontfenster mit langen Lamettafäden geschmückt sind. „Welcome“ ist an der Fassade in wehenden<br />
Plastikbuchstaben befestigt. „Das hat ein Pfund gekostet“, wird Mark Cousins später noch lachend erzählen und<br />
gibt schon vor Betreten des Ballrooms einen Eindruck von dem, was in den nächsten Tagen passieren soll: mit wenig<br />
Geld und einer Menge Begeisterung etwas schaffen, das auf den ersten Blick ziemlich provisorisch wirkt, aber danach<br />
seine volle Magie entfaltet.<br />
Mark Cousins ist Dokumentarfilmer, <strong>Film</strong>kritiker, ehemaliger Leiter des Edinburgh <strong>Film</strong> Festivals, <strong>Film</strong>journalist<br />
und vor allem leidenschaftlicher Kinoliebhaber. Aufgewachsen in einer irischen Arbeiterfamilie hat er sich als kleiner<br />
Junge in das Kino verliebt. Dass Cousins mit „The Story of <strong>Film</strong>“ ein Standardwerk der <strong>Film</strong>geschichte verfasst hat<br />
und für die BBC mit seiner Interviewreihe Scene by Scene Maßstäbe für den <strong>Film</strong>journalismus gesetzt hat, spielt in den<br />
nächsten 8 ½ Tagen keine Rolle. Er ist vielmehr wieder der kleine Junge, dessen Augen bei jeder <strong>Film</strong>vorführung aufs<br />
Neue funkeln. Sein Charme ist ansteckend und seine Energie wird höchstens noch von Tilda Swinton überboten.<br />
Als wir die Räume das erste Mal betreten und sich nach dem langen Eingangsflur der Hauptraum erstreckt, riecht<br />
es nach neuem Teppich und frischer Farbe. Eine Heerschar von freiwilligen HelferInnen schwirrt durch die Räume.<br />
John Byrne malt noch im Nebenraum in naiv-expressionistischer Manier die letzten Namen an die Wand, während<br />
bRiGiTTE DUMMER (L); SEHR pRiVAT (R)<br />
Staubsauger die letzten Sägespäne beseitigen und die riesigen Spiegelblitze<br />
an die bunten Wände geklebt werden. Am Ende des Raumes<br />
ist eine Leinwand aus Bettlaken aufgespannt, davor erstrecken sich<br />
drei Reihen aus großen Samtkissen und quietschbunten Sitzsäcken,<br />
Spenden von Ikea. Nach zwei Reihen mit gestreiften Strandliegestühlen<br />
beginnen die Plastikstuhlreihen, die auf einer kleinen mit silbernen<br />
Heliumballons geschmückten Erhöhung enden, wo Matt Lloyd,<br />
der einzige bezahlte Mitarbeiter und Festivalmanager, die Technik<br />
verwaltet. Björn und Stefan von der Edition Salzgeber installieren an<br />
der Decke einen riesigen Projektor, mit dessen Hilfe alle <strong>Film</strong>e in den<br />
nächsten Tagen zum Leben erweckt werden. Nach wenigen Minuten<br />
beginnt der Testlauf. Das Licht geht aus. Nur das rote Schimmern der<br />
chinesischen Lampions leuchtet noch matt von den Seiten. Gene Kellys<br />
Singin’ in the Rain strahlt durch den Raum. Das Bild wird kurz<br />
justiert, der Ton ist klar. „It’s fantaaaaastic!“ schallt es schrill durch<br />
den Raum. Nach einem Hund und zwei Kindern betritt eine mit Tupperdosen<br />
beladene Frau in alten Jeans, Holzfällerhemd, Turnschuhen<br />
und übergroßer weißer Strickjacke den Raum.<br />
Tilda Swinton ist Schauspielerin, nennt sich selbst aber lieber<br />
Aktivistin oder Performerin. Bekannt wurde sie durch Derek Jarmans<br />
<strong>Film</strong>e Caravaggio, edward II und The Last of england. Mit unabhängigen<br />
<strong>Film</strong>emacherinnen wie Cynthia Beatt, Lynn Hershmann oder<br />
Sally Potter drehte sie Kunst- und Experimentalfilme. Später produzierte<br />
sie in den USA unabhängige <strong>Film</strong>e wie Thumbsucker oder Ste-<br />
„einen Lieblingsfilm zu haben,<br />
ist wie einen neuen <strong>Film</strong> zu<br />
entdecken, einer der wahren<br />
reichtümer des Lebens. egal in<br />
welchem Alter man ihn entdeckt<br />
und egal aus welchem grund.<br />
So ein Schatz währt ewig.“<br />
phanie Daley. Mit den Chroniken von narnia oder Danny Boyles The<br />
Beach „spielte sie in Hollywood Spion“. Ach ja, und einen Oscar hat<br />
sie im letzten Jahr auch gewonnen – und ihn gleich an ihren Agenten<br />
verschenkt. Tilda Swinton gehört einer der ältesten Familien Schottlands<br />
an, studierte in Cambridge Politik- und Sozialwissenschaften<br />
und war 2009 die Präsidentin der Berlinale-Jury. Das alles spielt aber<br />
in den nächsten 8 ½ Tagen keine Rolle. Eher wirkt Tilda Swinton wie<br />
ein kleines Mädchen, wenn sie vor lauter Aufregung durch den Raum<br />
rennt und ihr Gesicht bei jeder <strong>Film</strong>vorführung zu lächeln beginnt.<br />
Tildas positive Energie ist überwältigend, ihre Großzügigkeit und ihr<br />
Elan sind beneidenswert.<br />
Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und man bekommt<br />
das Gefühl, als sei man mitten in die Generalprobe zu einer Schulfete<br />
geplatzt. Bis jetzt ist nicht klar, wie die nächsten Tage ablaufen werden.<br />
Dass fast jede Vorstellung ausverkauft sein und es beinahe täglich<br />
Zusatzvorstellungen geben wird, weiß momentan noch niemand.<br />
„I’m so excited“ ruft Tilda, „I feel a bit shaky, I feel a bit frightened“<br />
antwortet Mark. John Byrne malt die letzten Buchstaben des „State<br />
of Cinema“-Schriftzuges auf eine blau-rote Stoffplane, die Tilda und<br />
Mark vor jeder <strong>Film</strong>vorführung als Ersatz für einen richtigen Vor-<br />
hang fallen lassen. Dazu klettern sie auf zwei alte Leitern, die links<br />
und rechts vom weißen Laken aufgestellt sind und es bis zum Ende<br />
des Festivals auch bleiben werden. Der Charme des Improvisierten<br />
könnte nicht deutlicher strahlen als hier. Nichts ist perfekt und nichts<br />
soll perfekt sein. Als „big mish-mash“ bezeichnet Tilda später das<br />
Konzept der Inneneinrichtung und dieses große Mish-Mash trägt<br />
wesentlich zum Zauber dieses <strong>Film</strong>festivals bei, das auf alles verzichtet,<br />
was große Festivals in den Augen vieler auszeichnet: die neuesten<br />
<strong>Film</strong>e, der rote Teppich, Glamour und Glanz, Ego und Prestige,<br />
Stars und Preise. Zwei Dinge sind im „Cinema of Dreams“ wichtig: die<br />
<strong>Film</strong>e und die Menschen, die sie sehen und vor allem sehen wollen.<br />
Hier haben sich zwei Enthusiasten und Aktivisten einen Traum<br />
erfüllt, das wird schon vor dem ersten, oder besser gesagt „einhalbten“<br />
Tag deutlich. Dass ein kleiner Traum vom großen Kino von so<br />
vielen Menschen und allen voran den BewohnerInnen eines kleinen<br />
Rentnerdomizils im schottischen Hochland so breite Unterstützung<br />
findet und ein kleines, kulturelles Großereignis als kommunales Projekt<br />
möglich ist, verlangt schon sehr viel ideellen Enthusiasmus. Und<br />
sicherlich eine große Portion Naivität, die das Träumen erst zulässt.<br />
Am 15. August 2008 werden die Pforten geöffnet. Die Spielregeln<br />
stehen fest und haben sich herumgesprochen: Wer keine drei Pfund<br />
oder ermäßigt zwei Pfund zahlen will, backt einen Kuchen und kommt<br />
umsonst rein. Früh bildet sich eine lange Schlange, die mit britischer<br />
Disziplin verharrt und ausgestattet mit Törtchen, Pies und Muffins<br />
auf Einlass wartet. Es wird voll und schließlich ausverkauft. Der erste<br />
<strong>Film</strong> am einhalbten Tag, Peter Ibbetson (1935) von Henry Hathaway<br />
mit Cary Grant, gibt gleich die Richtung für das Festival vor. Die<br />
magische Liebesgeschichte von zwei Menschen, die nicht zueinander<br />
dürfen und nur über Träume und halluzinoide Fantasien vereint werden<br />
können, stammt aus der frühen Zeit des Tonfilms und ist einer<br />
der Lieblingsfilme von Tilda Swinton. Die anfangs konventionelle<br />
Geschichte kippt in der zweiten Hälfte in einen surrealistischen Bildersturm,<br />
und macht gleich zu Anfang deutlich, welche Magie Kinobilder<br />
auf einer großen Leinwand entfalten können – selbst wenn der<br />
<strong>Film</strong> von einer DVD kommt und die Leinwand ein Bettlaken ist.<br />
Doch bevor der <strong>Film</strong> beginnt, als sich das Publikum endlich eingefunden<br />
hat, und die letzen Wartenden von Tilda und Mark vertröstet<br />
werden, beginnt die Prozedur, die sich zu jeder <strong>Film</strong>vorführung und<br />
jeder Zusatzvorstellung wiederholen soll. Das Hauptlicht geht aus,<br />
ein Raunen erfüllt den Saal, das Licht der roten Lampions erlischt<br />
und Musik ertönt. Heute ist es Over The Rainbow, später sollen Space<br />
Oddity und sogar Personal Jesus von Marilyn Manson folgen. Hauptsache,<br />
die Lieder passen nicht zu gut zum entsprechenden <strong>Film</strong>, sagt<br />
Mark Cousins spätabends, als die Diskussionen um die Eröffnungssongs<br />
voller Ironie und Erleichterung über den ersten Tag in eine<br />
Grundsatzdebatte ausarten.<br />
An einer bestimmten Stelle jedes Liedes setzt dann ein schwerfälliger<br />
Scheinwerfer ein, der zuerst das Publikum und dann den Raum<br />
abtastet, dem richtigen Takt immer ein bisschen hinterher hinkt und<br />
schließlich bei Tilda und Mark stehen bleibt, die nie ganz unbemerkt<br />
auf ihre Leitern klettern können, um mit dem bemalten Vorhang das<br />
magische noch weiße Viereck zu verstecken. „Welcome to the State<br />
of Cinema“, sagt Tilda Swinton und hält heute – wie an allen anderen<br />
Tagen – eine kleine Begrüßungsrede, die von Mark Cousins übernommen<br />
und meist um einige historische Anekdoten zum <strong>Film</strong> ergänzt<br />
wird.<br />
Der „State of Cinema“ ist im Ballerina Ballroom zweideutig. Einmal<br />
ist es ein Staat, der keine Grenzen kennt und niemanden ausschließt.<br />
Die cineastische Utopie der Blackbox als Traumland, in<br />
dem alle willkommen sind und in das alle hinein können, wenn sie<br />
wollen. Sicherlich auch der Gedanke einer Gruppe, deren Identität<br />
sich über das Kino und ihre Liebe dazu definiert, nicht aber über<br />
Staatsbürgerschaft, Nationalität, Klasse, Rasse, Alter oder Sexualität.<br />
Betrachtet man die internationale <strong>Film</strong>auswahl, das Weltkino, das in<br />
28 29<br />
wir verreisen
wir verreisen<br />
den nächsten Tagen präsentiert wird mit einer Parabel aus dem Senegal,<br />
einem Kinderfilm aus Kanada, einem ukrainischen Liebesdrama<br />
oder einem Thriller aus Japan, wird deutlich, dass wir uns im Land<br />
des Kinos befinden und mit den <strong>Film</strong>en und in die <strong>Film</strong>e reisen. Zum<br />
anderen heißt „state“ Zustand und verweist damit auf eine Einstellung<br />
oder einen Seelenzustand. Dass es hier um die Seele des Kinos<br />
im romantischen Sinne gehen muss, ist allen Beteiligten spätestens<br />
nach Betreten des Ballerina Ballrooms klar. Dass es Tilda und Mark<br />
um die Erhaltung einer Seele geht, unterstreichen sie in den folgenden<br />
Tagen mehrfach. Denn so positiv das Festival in seiner altmodischen<br />
Essenz auch ist, geht es sehr deutlich und politisch auch gegen etwas.<br />
Gegen Multiplexe zum Beispiel und gegen hypermoderne, aseptische<br />
Kinosäle und Kino als Kommerzfest. Es geht um das gemeinsame<br />
Erleben und gegen eine anonyme, gewinnorientierte Industrie. Es<br />
geht um alte und vergessene <strong>Film</strong>e, und gegen den neuesten Blockbuster,<br />
der gesehen werden muss, um mitreden zu können. Es geht um<br />
das Genießen und gegen den Konsum. Es geht um die Liebe zum Kino<br />
und gegen das Profitieren am Kino. „Einen Lieblingsfilm zu haben, ist<br />
wie einen neuen <strong>Film</strong> zu entdecken, einer der wahren Reichtümer des<br />
Lebens. Egal in welchem Alter man ihn entdeckt und egal aus welchem<br />
Grund. So ein Schatz währt ewig“, steht einleitend auf jedem<br />
Programm. Das Pathos ist hier politisch, die Nostalgie nie konservativ<br />
und immer ernst gemeint.<br />
Mit ihrer <strong>Film</strong>auswahl von yasujiro Ozu bis Bill Douglas über<br />
Roman Polanski zu Akira Kurosawa, Derek Jarman und Rainer Werner<br />
Fassbinder werden Tilda Swinton und Mark Cousins Bildungsbeauftragte<br />
in eigener Sache und Leidenschaft.<br />
Denn wer in Nairn wohnt, ist von <strong>Film</strong>geschichte weit entfernt.<br />
Vor circa 20 Jahren haben die beiden letzten Kinos geschlossen und<br />
neue wurden nicht eröffnet. Die Anekdote, die einem als Tourist hier<br />
ständig erzählt wird, von Charlie Chaplin, der regelmäßig in Nairn<br />
Kururlaub gemacht hat, wirkt fast wie blanker Zynismus angesichts<br />
des mangelnden Kulturangebotes im Ort. Gerade mal eine Videothek<br />
und eine Stadtbücherei gibt es, die nächst größere Stadt ist Inverness<br />
und begrüßt jeden Besucher mit einem Geschwür aus Shopping<br />
Malls, das dem amerikanischen Vorbild in nichts nachsteht. Multiplex<br />
inklusive. „Diese Stadt ist tot!“, sagt ein betrunkener Passant im<br />
Vorbeigehen, „Die Leute kommen hier doch zum Sterben hin!“ Und<br />
tatsächlich gibt es außerhalb der High Street kaum noch Straßenleben.<br />
Verlassene Läden und verwahrloste Schaufenster an allen Ecken.<br />
Alte Menschen prägen das Stadtbild.<br />
Umso dankbarer zeigen sich die BewohnerInnen für ein bisschen<br />
Abwechslung und einen neuen Impuls. Viele der älteren BesucherInnen<br />
kennen die <strong>Film</strong>e wie All About eve oder I Know Where I’m Going<br />
noch von früher, sind aber umso begeisterter, alte Klassiker noch einmal<br />
auf einer großen Leinwand zu sehen. „Es ist so schön wie beim<br />
ersten Mal“, sagt eine Seniorin gerührt.<br />
Viele kennen den Ballerina Ballroom auch noch als Bingohalle<br />
oder Festsaal, in dem in den 1960ern und 70ern Pink Floyd und The<br />
Who spielten.<br />
„Das hier ist jeden Tag besser als Kirche!“<br />
In den 8 ½ Tagen im August 2008 spielen hier Federico Fellini<br />
und Joseph Mankiewicz, Franceso Stefani und Michael Powell. Das<br />
Programm setzt sich aus persönlichen Lieblingsfilmen (The Adventures<br />
of Sherlock Holmes), und internationalem Arthaus („Shadows of<br />
Our Forgotten Ancestors / Feuerpferde“) zusammen.<br />
Am Tag 2 ½ wird für Tilda Swinton ein Traum war, wie sie später<br />
noch einem ungläubigen David Letterman vor laufenden Kameras<br />
erzählen wird. Das „Cinema of Dreams“ verspricht freien Eintritt<br />
für alle, die zur 10.30 Uhr Vorstellung von Miss Marple: Murder Most<br />
30<br />
Foul / Vier Frauen und ein Mord im Schlafanzug kommen. Den besten<br />
Preis verleiht Tilda schon vor dem finalen Gruppenfoto an zwei<br />
betagte Damen in aufwändigen Zweiteilern („Das beste, was Marks &<br />
Spencer zu bieten hat!“). Eine kleine Gruppe pastellfarben gekleideter<br />
Rentnerinnen versammelt sich vor dem Eingang und unterhält sich:<br />
„Nun Ethel, jetzt wissen aber alle, dass du heute nicht in der Kirche<br />
bist!“ – „Das hier ist jeden Tag besser als Kirche!“.<br />
Um die Flamme der Kinomagie über 8 ½ Tage am Lodern zu halten,<br />
denken sich Tilda und Mark noch weitere Sondervorführungen<br />
aus. Eine davon ist allerdings nicht abgesprochen. Am dreieinhalbten<br />
Tag steht plötzlich Kenneth Anger vor der Leinwand. Der Pionier des<br />
Underground Cinema, der als Zwanzigjähriger mit Fireworks (1947)<br />
queere <strong>Film</strong>geschichte schrieb und durch Experimentalfilme wie<br />
Scorpio Rising oder Invocation of My Demon Brother bekannt wurde,<br />
kam von einer Ausstellung in Dundee spontan vorbei und signierte<br />
im Gehen gleich noch die Ausgangstür mit den Worten „This is like<br />
Caligari in Technicolor“. Um am nächsten Tag sicher zu sein, dass sie<br />
es nicht geträumt haben, lackieren sich Tilda und Mark abends am<br />
Küchentisch noch einen Nagel mit Glitzerlack.<br />
Doch bevor das Programm am letzten Tag mit Fellinis Otto e<br />
mezzo / 8 ½ schließt, wird der siebeneinhalbte Tag – passend zu<br />
Angers Kommentar – zum Technicolor-Day erklärt. Um zwei Uhr<br />
nachmittags beginnen die Farbexplosionen auf der Leinwand mit<br />
dem deutschen Märchenklassiker Das singende, klingende Bäumchen<br />
/ The Singing Ringing Tree von 1957, in der deutschen Originalversion,<br />
über die aber eine englische Erzählstimme gelegt wurde, welche die<br />
Dialoge wiedergibt. „Das macht den <strong>Film</strong> noch merkwürdiger als er<br />
ohnehin schon ist“, merkt Mark Cousins dazu lachend an. Die Spezialeffekte<br />
zum Publikumsliebling Singin’ In the Rain / Du sollst mein<br />
Glücksstern sein am Abend werden von allen Beteiligten bereits am<br />
Vortag einstudiert. Pünktlich zu Gene Kellys Titelnummer positionieren<br />
sich Tilda und Mark neben der Leinwand und öffnen vor sich<br />
zwei Regenschirme, die von zwei Taschenlampen angeleuchtet werden.<br />
Das Publikum applaudiert wild. Lamettafäden wehen als Kunstregen<br />
ums Publikum und silbernes Konfetti regnet magisch auf die<br />
Zuschauerschar. Der charmante Dilletantismus des <strong>Film</strong>festivals hat<br />
seinen Höhepunkt erreicht und die sprühenden Funken der <strong>Film</strong>liebe<br />
haben bei den BesucherInnen endgültig ein Feuer entfacht.<br />
Dementsprechend bedrückt ist die Atmosphäre am letzten Abend,<br />
nachdem ein wildgewordener Regisseur mit Identitätskrise über die<br />
Leinwand getobt ist und auf den Punkt bringt, worum es beim <strong>Film</strong><br />
eigentlich geht: um alles und nichts. Mit 8 ½ findet das „Cinema of<br />
Dreams“ zu seinem Anfang zurück, zu seinem Titel, zur Reflexion<br />
über das Kino im Kino zum <strong>Film</strong> im <strong>Film</strong> über den <strong>Film</strong> und zu einer<br />
Dokumentation, die bereits am einhalbten Tag gezeigt wurde. The<br />
Right to Freedom of Thought von Tilda Swinton und Mark Cousins.<br />
Ein <strong>Film</strong> über die Entstehung des „Cinema of Dreams“ und gleichzeitig<br />
eine endgültige Liebeserklärung an das Medium, den Ort und<br />
seine Magie. Mit 8 ½ Jahren wurde Tilda Swinton von ihrem Sohn<br />
gefragt, wovon die Leute geträumt haben , bevor es <strong>Film</strong>e gab. Tilda<br />
antwortete in einem Brief, den sie vor laufender Kamera vorliest.<br />
Mark schreibt als Antwort einen Brief an sein achteinhalbjähriges Ich<br />
und liest den Brief ebenfalls vor. Zusammen haben sie sich überlegt<br />
die „8 ½ Foundation“ ins Leben zu rufen, um Kindern an ihrem achteinhalbten<br />
Geburtstag mit Hilfe einiger Kinderfilmklassiker auf DVD<br />
die Liebe zum <strong>Film</strong> und somit zum Kino zu wecken.<br />
Am Ende, lange nachdem Tilda Swinton gesagt hat, dass wir noch<br />
viele Ballerina Ballrooms in der Welt brauchen, und lange nachdem<br />
Überraschungsgast Brian Cox gefordert hat, das Kino zu den Menschen<br />
zurück zubringen, noch bevor die Musik laut wird und die ersten<br />
Weinkorken auf dem Boden liegen, sagt Tilda den entscheidenden<br />
Satz: „I don’t see this as an end, I see it as a beginning.“ s<br />
Neu auf DVD<br />
von Jan künemunD<br />
DREAM BOY<br />
USA 2008, Regie: James bolton, pro-Fun Media<br />
Das Schönste ist die<br />
erste halbe Stunde.<br />
Da verliebt sich der<br />
schüchterne Nathan in<br />
Roy, den Jungen von<br />
der Nachbarfarm. Roy<br />
fährt den Schulbus und<br />
sammelt jeden Tag die<br />
Kids in der schwülen<br />
Einöde North Carolinas<br />
ein. Und so haben die beiden am Anfang und<br />
am Ende eines jeden Schultages zwei verzauberte<br />
Momente allein in dem großen Bus. Wie<br />
sich das langsam aufbaut als Choreographie<br />
linkischer Gesten und heimlicher Blicke in den<br />
Rückspiegel, wie Nathan langsam von den hinteren<br />
Busreihen auf den Platz direkt hinter Roy<br />
aufrückt, wie sie Mathe- gegen Englischaufgaben<br />
tauschen, sich heimlich treffen, zum Sound<br />
von Grillenzirpen und Kirchengesängen – das<br />
ist schon ein ganz klein wenig herzzerreißend.<br />
Später dringt dann die ganze Schwere des Südstaatendramas<br />
in die zarte Romanze ein, der<br />
Soundtrack von Richard Bruckner erigiert und<br />
die schwülstige Sinnlichkeit der Natur kippt<br />
ins Gespenstische. Doch wie immer in den <strong>Film</strong>en<br />
von James Bolton (eban und Charly, The<br />
Graffiti Artist – siehe S. 15) ist die Melancholie,<br />
die die Jungs umgibt, nicht ganz greifbar, nicht<br />
restlos zu entschlüsseln. Boltons Jugendliche<br />
leben in einem prekären Zustand, sind verletzlich,<br />
gefährdet, und haben kaum eine Sprache<br />
für ihre Welt. Ein fragiles Kino der Gesten und<br />
Blicke. Vorlage für Dream Boy ist der großartige<br />
Roman von Jim Grimsley. Und man sollte<br />
noch erwähnen, dass man in einer kleinen<br />
Rolle Ricky Lee Jones bewundern kann.<br />
FERFIÁKT – DER NACKTE JUNGE<br />
HU 2006, Regie: Károly Esztergályos, pro-Fun<br />
Media<br />
In diesem Drama aus<br />
Ungarn, bislang ein leerer<br />
Fleck auf der Landkarte<br />
des homoerotischen<br />
<strong>Film</strong>s, betritt<br />
man eine vertraute,<br />
doch lange nicht mehr<br />
bereiste Welt – jene der<br />
feingeistigen Künstler,<br />
die ihre verheimlich-<br />
ten Gefühle in ihren Werken ausleben, sich in<br />
großbürgerlichen Verhältnissen einen Platz<br />
für ihr Doppelleben einrichten – und dann<br />
plötzlich vor einer erotischen Herausforderung<br />
kapitulieren. Der schöne Junge, der den<br />
beinahe 50-jährigen Schriftsteller aus seiner<br />
Welt aus Mann-Tagebüchern, Schubertliedern<br />
und Viscontischer Melancholie herausreißt, ist<br />
eine moderne Budapester Variante Tadzios,<br />
Franz Westermeiers und Helmut Bergers. Und<br />
so bricht all das über den Mann herein, was er<br />
vorher sorgsam künstlerisch sublimiert hatte.<br />
Regisseur Károly Esztergályos gehört noch<br />
einer Generation an, die weiß, welches Potential<br />
diese Geschichten einer nicht ausgelebten<br />
Homosexualität haben – und er ist klug genug,<br />
selbst nicht auf der sicheren Ebene feingeistiger<br />
Verschämtheit zu bleiben. Wenn der<br />
alternde Dichter dem Stricher, der ihn gerade<br />
oral befriedigt, laut aus dem „Tod in Venedig“<br />
vorliest, dann ist das ein selbstironisches und<br />
dabei sehr komplexes Bild der schwulen Kulturgeschichte…<br />
FRISK<br />
USA 1995, Regie: Todd Verow, CMV Laservision,<br />
FSK 18<br />
Endlich ist dieser <strong>Film</strong><br />
auf DVD raus, endlich<br />
kann man Todd Verows<br />
Bebilderung von Dennis<br />
Coopers Roman fernab<br />
seiner Skandalwirkung<br />
betrachten (bekanntlich<br />
gab es ja wüste<br />
Szenen anlässlich seiner<br />
Premiere beim SF<br />
G&L <strong>Film</strong> Festival 1996). Ein Versuch über<br />
die dunklen Aspekte der schwulen Sexualität,<br />
ein Set an wüsten Phantasien, das gleichermaßen<br />
unscharf mal als „cold porn“, mal als<br />
„queercore“ bezeichnet wurde. Dabei belässt<br />
es Verow genau wie Cooper in Andeutungen,<br />
die so kompliziert verschachtelt sind, dass man<br />
eben nie weiß, was davon Fantasie und was<br />
davon Serienkillerrealität sein soll. Worum es<br />
nämlich eigentlich geht, sind mit Sex, Gewalt<br />
und Geheimnissen aufgeladene Bilder, die man<br />
nicht mehr los wird. Und die mit einfachsten<br />
Mitteln eher heraufzubeschwören als zu<br />
zeigen, gelingt Verow in seinem Debüt ganz<br />
großartig. Dazu gibt es als Extras den schönen<br />
Kurzfilm nob Hill und den informativen<br />
Audiokommentar mit Produzent und Regis-<br />
frisch ausgepackt<br />
seur, der u.a. erzählt, dass er Coopers Roman<br />
beim ersten Lesen so widerwärtig fand, dass er<br />
ihn erst mal durch den Raum geschleudert hat.<br />
lIChT UND SChATTEN –<br />
BETwEEN SOMEThING AND NOThING<br />
USA 2008, Regie: Todd Verow, Edition Salzgeber<br />
Gleichzeitig zu seinem<br />
Erstling Frisk<br />
erscheint auch Todd<br />
Verows aktueller <strong>Film</strong><br />
Licht und Schatten<br />
auf DVD. Und es ist<br />
schön zu sehen, dass<br />
da jemand bei seiner<br />
Underground-Ästhetik<br />
geblieben ist. Denn bei<br />
Verow hat die Verweigerung von Glätte und<br />
schöner Oberfläche System – der Ton ist direkt,<br />
das Licht ist natürlich, die Schauspieler sind<br />
Freunde und alles wird schnell abgedreht,<br />
damit erst gar keine filmischen Überhöhung<br />
der dreckigen kleinen Geschichte stattfinden<br />
kann. Man ist nah dran, und das ist hierbei<br />
insbesondere ein Geschenk, da Verow nach<br />
Vacationland zum zweiten Mal die Geschichte<br />
seiner eigenen Jugend erzählt – ein atemloses<br />
Dahintreiben zwischen Kunstakademie,<br />
Strich und Nachtleben, das sich genauso atemlos<br />
im <strong>Film</strong> überträgt. Man möchte hier nicht<br />
von „Authentizität“ sprechen – eher von einer<br />
sehr persönlichen Art, eine sehr persönliche<br />
Geschichte zu erzählen.<br />
BUTTERFlY – hU DIE<br />
Cn 2004, Regie: Yan Yan Mak, Edition Salzgeber<br />
Das ist ein bekanntes<br />
poetisches Bild für einen<br />
Emanzipationsprozess:<br />
den (gesellschaftlichen)<br />
Kokon aufbrechen und<br />
als schöner Schmetterling<br />
in die Welt hinausflattern.<br />
Das erzählt die<br />
junge <strong>Film</strong>emacherin<br />
yan yan Mak in ihrem<br />
zweiten Spielfilm Butterfly – Hu Die. Verwoben<br />
ist das lesbische Coming-Out ihrer Heldin<br />
allerdings mit einer zweiten Zeitebene, in der<br />
ihr dieses Schmetterling-Werden nicht gelingt,<br />
und mit einer präzisen Kokon-Beschreibung,<br />
die auf allgemeine politische Unterdrückung<br />
und den Kampf um Menschenrechte verweist.<br />
31
frisch ausgepackt<br />
Eine kritische Untersuchung Hongkong-chinesischer<br />
Verhältnisse, nach einer taiwanesischen<br />
Kurzgeschichte, eine doppelte lesbische<br />
Liebesgeschichte, die als Sinnbild für die<br />
Selbstverständlichkeit von Menschenrechten<br />
inszeniert ist – darin entwickelt Butterfly seine<br />
äußerst filmisch aufgelöste Komplexität, die<br />
nicht von ungefähr mit einer Einladung zu<br />
den <strong>Film</strong>festspielen von Venedig im Jahr 2004<br />
belohnt wurde.<br />
lANDlIEBE – JUNGS IN DER PROvINz<br />
CH & D 2004–2008, Edition Salzgeber<br />
Fünf deutschsprachige<br />
Kurzfilme, die eine Fantasie<br />
umkreisen – um in<br />
ihrer Unterschiedlichkeit<br />
und Vielschichtigkeit<br />
dann sehr konkret<br />
zu werden. Das Leben<br />
von Jungs außerhalb<br />
der schwulen Szenen ist<br />
ja aus der Großstadtperspektive<br />
oft unvorstellbar oder – wie in vielen<br />
Fällen – mit unangenehmen eigenen Erinnerungen<br />
verbunden. Aber wo die meisten dieser<br />
filmischen Peripheriebegehungen tatsächlich<br />
zu der Erkenntnis kommen, dass man als<br />
Schwuler dort, wo man aufwächst, zwar seine<br />
Freunde hat, für alles, was darüber hinaus<br />
gehen soll, aber dort weg muss – steigt Cowboy<br />
von Til Kleinert tief in die schwulen Projektionen<br />
einer versauten Landjugend ein – und<br />
geht dann weit über alles Vorstellbare hinaus.<br />
Da wo angeblich nichts passiert, ist in Wahrheit<br />
die Hölle los, kann man daraus schließen.<br />
Oder genau hinsehen, wie es die anderen <strong>Film</strong>e<br />
tun. Mit den <strong>Film</strong>en Landleben (Lukas Egger),<br />
nachmittage (Nicholas Hessenkamp), Anfänger!<br />
(Nicolas Wackerbarth), Freunde die du<br />
hast (Haik Büchsenschuss) und Cowboy (Till<br />
Kleinert).<br />
ThE hOUSEBOY<br />
USA 2007, Regie: Spencer Schilly, bildkraft<br />
Ein kleiner aufregender<br />
<strong>Film</strong>, mit einfachsten<br />
Mitteln hergestellt.<br />
Über Ricky, der einem<br />
älteren schwulen Paar<br />
als Spielzeug dient und<br />
über Weihnachten ihr<br />
Haus hüten soll. Und<br />
eigentlich schon weiß,<br />
dass er bald durch<br />
einen neuen Jungen ersetzt wird. Jetzt sitzt er<br />
in einem mit bunter Weihnachtsdekoration aus<br />
allen Nähten platzenden Apartment, unter Katzen,<br />
Kaninchen, Schildkröten und Fischen, und<br />
bestellt sich ein gefühlloses Sexdate nach dem<br />
nächsten in das fremde Apartment. Eigentlich<br />
32<br />
sucht er nur etwas menschliche Wärme. Und<br />
beschließt schließlich aus lauter Enttäuschung,<br />
am Weihnachtsabend aus dem Leben zu scheiden<br />
(wobei seine eigentliche Traurigkeit daher<br />
rührt, dass es niemandem auffallen wird). Das<br />
alles ist tragisch und komisch zugleich, hingebungsvoll<br />
von Nick May gespielt, mit sehr<br />
vielen skurrilen Episoden angereichert und im<br />
Ton völlig originell. Ein <strong>Film</strong>, der wunderbar<br />
ohne großes Budget auskommt und dafür ganz<br />
bei sich bleibt.<br />
ANOThER GAY SEQUEl –<br />
GAYS GONE wIlD<br />
USA/D 2008, Regie: Todd Stephens, pro-Fun<br />
Media<br />
Noch ein schwuler <strong>Film</strong>,<br />
noch eine <strong>Film</strong>-Fortsetzung,<br />
another gay<br />
sunshine day. Zweite<br />
Runde für Nico, Andy,<br />
Jarod und Griff auf dem<br />
Spielplatz der schwulen<br />
Nischenproduktionen.<br />
Dieser <strong>Film</strong> ist, wie sein<br />
Vorgänger Another Gay<br />
Movie, der Versuch, SCHWUL SEIN in filmischen<br />
Großbuchstaben zu schreiben. Also hat<br />
ein Spektrum schwuler Jungs ein Spektrum<br />
an schwulem Sex, alle Nebenfiguren kommen<br />
aus der schwulen Kult-Ecke (Ru Paul, Amanda<br />
Lepore), es hagelt Zitate zu anderen schwulen<br />
<strong>Film</strong>en – und das Ganze ist vor allem eins: eine<br />
Komödie. Eine, vor allem was die Ausstattung<br />
und die Präzision der geschriebenen Gags<br />
angeht, ziemlich liebevoll produzierte. Und<br />
sie ermöglicht die Befriedigung zweier Grundbedürfnisse<br />
des schwulen Mannes: über sich<br />
selbst zu lachen und 99 Minuten lang auf pralle<br />
Badehosen zu schauen. Die ‚unbeschnittene‘<br />
DVD-Ausgabe hat sich die Mühe einer deutschen<br />
Fassung gemacht und kann außerdem<br />
umfangreiches Bonusmaterial bieten.<br />
IN ThE BlOOD – DIE DUNKlE GABE<br />
USA 2007, Regie: Lou peterson, Edition Salzgeber<br />
Ein neuer Aspekt des<br />
Queer Cinema ist, dass<br />
es nach und nach auch<br />
in die klassischen <strong>Film</strong>genres<br />
eindringt. Das<br />
Interessante an diesem<br />
Psychothriller mit seinen<br />
Mystery- und Horror-Elementen<br />
ist, dass<br />
er dort, wo er am tiefsten<br />
in den Genregesetzen steckt, seinen narrativen<br />
Auslöser in einem rein schwulen Thema<br />
findet. Es sind die Coming-Out-Probleme Cassidys,<br />
die bei ihm blutige Visionen auslösen<br />
und erst über den schwulen Sex kann er her-<br />
ausfinden, was es damit auf sich hat. Ansonsten<br />
werden hier Genre-Fans bedient – Serienkiller<br />
gehen um, mit unerwarteten narrativen Twists<br />
werden immer dann neue Aspekte präsentiert,<br />
wenn man sich schon zu sicher ist, und mit<br />
großer Lust verfolgt man, wie die kleine Welt<br />
eines College-Studenten in einem Strudel von<br />
Verdrängung, Wahn, Ängsten und Verdächtigungen<br />
versinkt.<br />
XXY<br />
AR 2007, Regie: Lucía puenzo, Kool<br />
Das junge argentinische<br />
Kino macht gerade sehr<br />
auf sich aufmerksam.<br />
In einer Gesellschaft,<br />
in der in den letzten<br />
Jahren fast sämtliche<br />
Sicherheiten ins Wanken<br />
gekommen sind,<br />
scheinen auch die Konzepte<br />
der Sexualität zu<br />
schweben (man denke an Glue von Alexis dos<br />
Santos oder La León von Santiago Otheguy).<br />
Der Festivalerfolg XXY ist ein außergewöhnlich<br />
sinnlicher <strong>Film</strong> über die Gefühlswelt von<br />
Teenagern, von denen eine(r) intersexuell ist.<br />
Mit diesem medizinischen Begriff sind Leidensgeschichten<br />
vieler Menschen verbunden, deren<br />
Geschlecht nach der Geburt operativ vereindeutigt<br />
wurde, auf Betreiben der Eltern und – indirekt<br />
– der Gesellschaft. Lucía Puenzos Zugang<br />
zu dieser Problematik führt tief in die Erlebniswelt<br />
der Jugendlichen, die sexuelles Erwachen<br />
mit dem Neuentdecken des eigenen Körpers in<br />
Einklang zu bringen versuchen. Und stellt die<br />
gewagte These auf, dass sich Menschen ineinander<br />
verlieben, nicht biologische Geschlechtsträger.<br />
Und die phänomenale Kamera von Natasha<br />
Braier stellt eine Nähe zu den nicht minder<br />
phänomenalen Gesichtern der Schauspieler her,<br />
die jeglichen medizinischen Identitäts-Diskurs<br />
lebensfremd erscheinen lässt.<br />
ChANSON DER lIEBE –<br />
lES ChANSONS D’AMOUR<br />
FR 2007, Regie: Christoph Honoré, pro-Fun<br />
Media<br />
Das fängt alles sehr<br />
nervig an – eine großbürgerliche<br />
Familie<br />
trifft sich und es wird<br />
bis zur Schmerzgrenze<br />
geplaudert. Ein junges<br />
Paar hat mit einem<br />
anderen Mädchen eine<br />
Dreierkiste (wie französisch!).<br />
Außerdem<br />
wird in diesem <strong>Film</strong> viel gesungen und gelesen.<br />
Doch plötzlich gibt es einen Riss. Eins<br />
der beiden Mädchen stirbt – und plötzlich ver-<br />
schieben sich die Konstellationen, die Gefühle<br />
und die bürgerlichen Grundfesten. Christoph<br />
Honorés <strong>Film</strong> ist ausgesprochen mutig in seiner<br />
Verbindung von Leichtigkeit und Ernst, von<br />
Pop und Drama. Er scheut weder Emotionen<br />
noch Kitsch. Alles dreht sich um die Frage (wie<br />
sie in einem Chanson gestellt wird), ob man<br />
bei der Liebe nicht immer in das Verliebtsein<br />
selbst verliebt ist. Und in seinen künstlichsten<br />
Augenblicken, wenn die heftigsten Gefühle auf<br />
die klarsten Bilder und die naivsten Poplieder<br />
treffen, ist Chanson der Liebe am meisten bei<br />
sich und genau so schön wie rätselhaft.<br />
SEBASTIANE<br />
UK 1976, Regie: Derek Jarman, Edition Salzgeber<br />
Man weiß das mittlerweile<br />
alles: Sebastiane<br />
ist das Debüt von<br />
Derek Jarman, der einzige<br />
jemals auf Latein<br />
gedrehte <strong>Film</strong>, ein<br />
Softporno, ein schwuler<br />
Kultfilm über einen<br />
schwulen Mythos. Wie<br />
bei Jarman üblich,<br />
wird kein Historiendrama inszeniert, sondern<br />
Vergangenes mit aktuellem Interesse aufgeladen.<br />
Ganze 70 Minuten davon langweilen<br />
sich die römischen Soldaten unter sengender<br />
Sonne und treiben laszive Späße miteinander.<br />
Dazwischen trifft der Sadist Severus auf den<br />
Masochisten Sebastian, der zeitgemäß seine<br />
Qualen als Zeichen göttlicher Liebe versteht.<br />
Wir lernen etwas über Männergruppen im<br />
Ausnahmezustand, sehen diese heute wieder<br />
so attraktiven 70er-Jahre-Männerkörper und<br />
verstehen, warum der Heilige Sebastian durch<br />
die schwule Bildertradition wandert. Einen<br />
schönen Vergleich bietet der Kurzfilm Saint<br />
von Bavo Defurne, als Bonusmaterial in der<br />
DVD enthalten. Ein nicht weniger ästhetisierender<br />
Zugang, in poetischem Schwarzweiß,<br />
in dem die Hinrichtung als geheimnisvolle<br />
Sexszene mitten im Wald inszeniert ist. Hier<br />
lassen die Soldaten im Angesicht von männlicher<br />
Schönheit sogar die Bogen wieder sinken<br />
und aus gewittrigem Himmel regnet es auf den<br />
nicht tot zu kriegenden Sebastian nieder.<br />
DEREK<br />
UK 2007, Regie: isaac Julien, Edition Salzgeber<br />
Dafür Sorge tragen, dass Derek Jarman nicht<br />
vergessen wird – das ist das Anliegen seiner<br />
ehemaligen Freunde, Mitstreiter und Nachfolger.<br />
Tilda Swinton, Isaac Julien, Colin McCabe,<br />
Simon Fisher Turner und andere haben ein<br />
Porträt über den 1994 verstorbenen Künstler<br />
gemacht, das weit über ein handelsübliches<br />
Biopic hinausgeht. Ein Medium wählen, es mit<br />
Wut, Liebe und Witz aufladen, die üblichen<br />
Produktionsbedingungen<br />
ignorieren, sich eine<br />
Familie suchen und einfach<br />
machen. Dass ist<br />
das, was dieser <strong>Film</strong> als<br />
den lebendigen Spirit<br />
des Künstlers herausarbeitet<br />
– und weiterträgt.<br />
Wie einst Jarman<br />
hält Tilda Swinton in<br />
ihrem Off-Kommentar ein pointiertes Pamphlet<br />
gegen die bürokratische <strong>Film</strong>industrie.<br />
Wie einst Jarman lässt Isaac Julien assoziative<br />
Bildmontagen den <strong>Film</strong>rhythmus bestimmen,<br />
lädt die ‚guten alten‘ Jarman-Zeiten mit<br />
einem aktuellen Blick auf. Wie in Jarmans <strong>Film</strong>en<br />
erzeugt Simon Fisher Turners Musik eine<br />
atmosphärische Tiefe, ist harmoniesüchtig und<br />
gebrochen zugleich. Dieses Jarman-Porträt ist<br />
voll und ganz in dessen Sinn. Es ist Erinnerung<br />
und Aufruf, Archiv und kreatives Störmoment<br />
zugleich. Aber vor allem: eine Liebeserklärung.<br />
ThE TIMES OF hARvEY MIlK<br />
USA 1985, Regie: Robert Epstein, Edition Salzgeber<br />
Rob Epsteins Dokumentarfilm<br />
war schon<br />
zu Milks Lebzeiten<br />
geplant. Seine Ermordung<br />
fiel in die Dreharbeiten<br />
und ließ den<br />
<strong>Film</strong> zu einem einflussreichen<br />
Porträt eines<br />
Helden der Schwulenbewegung<br />
werden –<br />
mittlerweile selbst schon ein filmgeschichtlicher<br />
Klassiker. Mehr dazu auf Seite 14.<br />
STRAIGhT<br />
D 2007, Regie: nicolas Flessa, Edition Salzgeber<br />
Wenn Deutschtürken<br />
und deutsche Schwule<br />
aufeinander treffen,<br />
kol lidieren traditionell<br />
die Vorstellungen von<br />
Männlichkeit. Vorurteile,<br />
Ängste, erotische<br />
Fantasien entstehen,<br />
wo man nah beieinander<br />
ist, sich aber trotzdem<br />
kaum kennt. In St. Georg oder Kreuzberg<br />
z.B. ist man im selben Kiez unterwegs. Nicolas<br />
Flessa siedelt seine Dreiecks-Liebesgeschichte<br />
um zwei Männer und eine Frau, um straighten<br />
und schwulen Sex, um drei verschiedene<br />
kulturelle Hintergünde in Berlin-Neukölln<br />
an. Meist nachts und auf der Straße, wo Blicke<br />
unterwegs sind und Fremde sich treffen.<br />
Und so hat ein Hetero plötzlich eine Affäre mit<br />
einem Mann, ist eine Frau mit zwei Liebha-<br />
frisch ausgepackt<br />
bern plötzlich fünftes Rad am Wagen und ein<br />
deutschtürkischer Dealer erlebt etwas, das er<br />
seinen Kumpels verheimlichen muss. Großes<br />
Kapital des <strong>Film</strong>s ist natürlich, dass Teenie-<br />
Idol Eralp Uzun sich auf eine solche Rolle<br />
einlässt. Aber darüber hinaus weiß auch der<br />
Regisseur, wie man eine solche Story erzählen<br />
kann: vor Ort, direkt, und mit Raum für Improvisation.<br />
(Inklusive Kurzfilm The City von<br />
Nicolas Flessa.)<br />
FRÜhSTÜCK MIT SCOT<br />
CA 2007, Regie: Laurie Lynd, pro-Fun Media<br />
Familienunterhaltung.<br />
Und Familie selbst ist<br />
auch das Thema. Allerdings<br />
wird hier in Form<br />
einer mainstreamigen<br />
Feel-Good-Komödie<br />
der Familienbegriff<br />
nicht nur erweitert (es<br />
geht um ein schwules<br />
Paar, das plötzlich Verantwortung<br />
für ein Kind übernehmen muss),<br />
sondern eigentlich ein rein schwules Problem<br />
thematisiert. Da sind zwei Männer, die ihr<br />
ganzes Leben damit verbracht haben, straight<br />
zu wirken, auf dem Eishockeyplatz und in der<br />
Anwaltskanzlei den Heteromännern gegenüber<br />
nicht zurückzustecken. Und dann steht<br />
da ein schwuler Junge auf der Matte, der sich<br />
offensichtlich selbst noch nie die Frage gestellt<br />
hat, ob er ausreichend männlich wirkt. Scot ist<br />
bunt, unangepasst und gender-resistent. Was<br />
prekärerweise dazu führt, dass die schwulen<br />
Ersatzeltern erst mal versuchen, einen richtigen<br />
Jungen aus ihm zu machen – bzw. zu dem,<br />
was sie darunter verstehen. Man enthüllt kein<br />
Geheimnis, wenn man verrät, dass der Erziehungsprozess<br />
schließlich umgekehrt verläuft.<br />
So erscheint das traditionelle Thema der fehlenden<br />
Akzeptanz von Homosexuellen in der<br />
heteronormativen Gesellschaft auf interessante<br />
Weise variiert: als schwule Selbstbespiegelung<br />
und Selbstkritik. Das gleichwohl produziert für<br />
ein so breit wie möglich gedachtes Publikum.<br />
BORN IN FlAMES<br />
USA 1983, Regie: Lizzie bordon, Edition Salzgeber<br />
Lizzie Bordons radikalfeministischerKlassiker<br />
aus einem revolutionär-utopischen<br />
US-Amerika erscheint<br />
nach seinem L-<strong>Film</strong>nacht-Einsatz<br />
natürlich<br />
auch auf DVD. Mehr<br />
dazu auf Seite 9.<br />
33
service<br />
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34<br />
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Impressum<br />
Herausgeber Björn Koll<br />
Verlag Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
Mehringdamm 33 · 10961 Berlin<br />
Telefon 030 / 285 290 90<br />
Telefax 030 / 285 290 99<br />
Redaktion Jan Künemund, presse@salzgeber.de<br />
Art Director Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de<br />
Autoren dieser Ausgabe Thomas Abeltshauser, Sharon Adler, Doris Bandhold, Stefanie Denkert, Franz<br />
Dinda, Jan Gympel, Jan Künemund, Edina Lautenschläger, Silvy Pommerenke,<br />
Tobias Rauscher, Paul Schulz, Tim Staffel<br />
Lektorat Rut Ferner<br />
Anzeigenleitung Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />
Druck Westermann, Braunschweig<br />
Rechte Digitale oder analoge Vervielfältigung, Speicherung, Weiterverarbeitung oder<br />
Nutzung sowohl der Texte als auch der Bilder bedürfen einer schriftlichen<br />
Genehmigung des Herausgebers.<br />
Verteilung deutschlandweit in den schwul-lesbischen Buchläden, in den CinemaxX-Kinos<br />
in Augsburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Dresden, Essen, Freiburg, Hamburg,<br />
Kiel, München, Mülheim, Offenbach, Oldenburg, Regensburg, Stuttgart, Trier,<br />
Wuppertal, Würzburg und weiteren ausgewählten Orten.<br />
Haftungsausschluss Für die gelisteten Termine und Preise können wir keine Garantie geben.<br />
Alle Angaben entsprechen dem Stand des Drucklegungstages.<br />
Bildnachweise Die Bildrechte liegen bei den jeweiligen Anbietern.<br />
Erscheinungsweise SISSy erscheint alle drei Monate, jeweils für den Zeitraum Dezember/<br />
Januar/Februar – März/April/Mai – Juni/Juli/August – September/Oktober/<br />
November. Auflage: 40.000 Exemplare (Druckauflage).<br />
Anzeigen Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 1 vom Januar 2009.<br />
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• 1.200 Seiten<br />
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