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Homosexual's Film Quarterly - Sissy

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sissy Ausgabe<br />

Homosexual’s <strong>Film</strong> <strong>Quarterly</strong><br />

zwei · Juni bis August 2009 · kostenlos<br />

s Anna & Edith: Der erste deutsche Lesben-<strong>Film</strong> mit Happy End s Drifter: Überleben am Bahnhof Zoo s Zerrissene Umarmungen:<br />

What’s queer about Pedro Almodóvar? s Konservative Anarchisten: Gilbert & George sind sexy s Müßiggänger: Hans Stempel und Martin<br />

Ripkens flirten mit Fellini s Jamie Travis: Eine Lady kommt zum Tee s Keith Haring: Der Verführer s Gregor Buchkremer: Bloß kein<br />

Betroffenheitskino s Cinema Münster: Schwules Kino s Lady Queer: Zum Tod von Eve Kosofsky Sedgwick


DER NEUE FILM VON PEDRO ALMODÓVAR<br />

ZERRISSENE<br />

UMARMUNGEN<br />

PENÉLOPE CRUZ<br />

LLUÍS HOMAR<br />

BLANCA PORTILLO<br />

JOSÉ LUIS GÓMEZ<br />

RUBÉN OCHANDIANO<br />

TAMAR NOVAS www.zerrisseneumarmungen.de<br />

Kamera: RODRIGO PRIETO A.S.C.,A.M.C.<br />

Musik: ALBERTO IGLESIAS<br />

Schnitt: JOSÉ SALCEDO<br />

Produziert von: ESTHER GARCÍA<br />

Ausführender Produzent: AGUSTÍN ALMODÓVAR<br />

Drehbuch und Regie:<br />

PEDRO ALMODÓVAR<br />

<strong>Sissy</strong> zwei<br />

Unser Titelfoto zeigt Benjamin B. Smith in Jamie Travis’ <strong>Film</strong> Der<br />

traurigste Junge der Welt.<br />

Werden traurige Kinder zwangsläufig homosexuell? Sind Ihnen auch<br />

immer alle Haustiere weggelaufen? Und wie war das überhaupt beim<br />

Sportunterricht – wurden Sie in die Mannschaft gewählt?<br />

Wie man zweifelsohne erkennen kann, können <strong>Film</strong>e durchaus auch<br />

praktische psychologische Fragen stellen. Und in aller Ausführlichkeit<br />

beantworten.<br />

SISSY steigt diesmal tiefer ein in die Diskussion, was überhaupt ein<br />

nicht-heterosexueller <strong>Film</strong> ist. Eben für jene Diskussion, für die die<br />

SISSY hier ein 36-seitiges Forum schafft.<br />

Neben den schon erwähnten traurigen Kindern<br />

stellen wir deutsches Genrekino von Gregor<br />

Buchkremer und den Kampf zweier Frauen<br />

um bessere Arbeitsbedingungen in Anna &<br />

Edith vor. Desweiteren beschäftigen wir uns<br />

mit den leidenschaftlichen Heroinen des Pedro<br />

Almodóvar, dem Graffiti-Pop von Keith Haring<br />

und dem Künstler-Herren-Doppel Gilbert &<br />

George. Wir sprechen mit Sebastian Heidinger<br />

über die heutigen Kinder vom Bahnhof Zoo,<br />

die er in seinem <strong>Film</strong> Drifter getroffen hat.<br />

Hans Stempel und Martin Ripkens erzählen<br />

von ihrem schönsten <strong>Film</strong>moment. Wer will<br />

da noch bei seinen festen Kategorien sexueller<br />

Orientierung bleiben?<br />

Für die, die hierbei den Überblick verlieren,<br />

empfehlen wir als weiterführende Lektüre<br />

die Bücher von Eve Kosofsky Sedgwick. Die<br />

Grande Dame der Queer Theory hat diese Welt der geschlechtsspezifischen<br />

Festlegungen, Schranken und Schubladen am 12. April leider<br />

für immer verlassen. Fühlen uns mit dem Weiterdenken beauftragt<br />

und verbeugen uns tief vor ihrer Leistung – denn ohne sie wäre eine<br />

SISSY nicht denkbar.<br />

Auch wenn Sie alle Ihre Haustiere noch haben sollten, wünschen wir<br />

Ihnen viel Spaß und Inspiration beim Ausflug in die Welten des nichtheterosexuellen<br />

<strong>Film</strong>s!<br />

AB 6. AUGUST IM KINO! 3<br />

vorspann


mein dvd-regal<br />

4<br />

Jamie Travis, <strong>Film</strong>emacher<br />

5<br />

jAMiE TRAViS


kino<br />

EDiTion SALZGEBER<br />

DIE gEDulD<br />

DEr FrAuEn …<br />

von diana näcke<br />

Die erste lesbische <strong>Film</strong>romanze Deutschlands mit Happy-End entstand 1975. Anna und Edith<br />

arbeiten bei der Versicherung und kommen sich im gemeinsamen Kampf gegen Chefs, Ehemänner<br />

und für bessere Arbeitsbedingungen näher. im August startet „Anna & Edith“ wieder im Kino.<br />

Unsere Autorin hat recherchiert, wie es zu diesem Projekt kam und warum es am Ende doch ein<br />

Mann gemacht hat.<br />

s „Man muss nicht betrunken sein, um mit Catherine<br />

Deneuve schlafen zu wollen – egal, welche sexuelle<br />

Orientierung man vorher hatte“, sagte Susan Sarandon<br />

gegenüber der Presse, nachdem die Dreharbeiten zu The<br />

Hunger abgeschlossen waren. Während des Drehs hatte<br />

man ihr vorgeschlagen, sich zu betrinken, um sich vor<br />

der Kamera überhaupt von einer Frau verführen lassen<br />

zu können. Das war 1983, zehn Jahre bevor die <strong>Film</strong>kritikerin<br />

B. Ruby Rich den Begriff „New Queer Cinema“<br />

prägte, weil man auf <strong>Film</strong>festivals plötzlich eine unheimliche<br />

Präsenz queerer <strong>Film</strong>e feststellen konnte, die mit<br />

einem bisher nicht da gewesenem Stolz das Spiel mit den<br />

Identitäten und den klassischen Rollenbildern zelebrierten.<br />

Doch dass homosexuelle Gesten wie eine Ladung<br />

Sprengstoff eine gesamte <strong>Film</strong>produktion aufs Spiel setzen<br />

konnte, war 1983 schon Geschichte.<br />

Zehn Jahre zuvor entstand der weltweit erste Lesbenfilm<br />

unter der Regie der US-Amerikanerin Barbara<br />

Hammer – heute eine der ganz großen Lesbenikonen. Im<br />

selben Jahr schreiben in der Bundesrepublik Deutschland<br />

die beiden Drehbuchautorinnen Cillie Rentmeister<br />

und Cristina Perincioli an einem vom ZDF in Auftrag<br />

gegebenen Drehbuch, dessen Verfilmung zum ersten Mal<br />

lesbische Liebe selbstbewusst und deutlich sichtbar ins<br />

deutsche Fernsehen bringen sollte. Anna und Edith ist<br />

das noch ungeborenen Kind der damaligen Redakteurin<br />

des Kleinen Fernsehspiels, Alexandra von Grote, die<br />

Perinciolis Kurzfilm Für Frauen – Kapitel 1 gesehen und<br />

sich dafür stark gemacht hatte, einen solchen <strong>Film</strong> finanziell<br />

zu unterstützen, den das ZDF 1975 auch als seinen<br />

Beitrag zum Jahr der Frau senden sollte. Diese Entscheidung<br />

der selbst lesbisch lebenden ZDF-Redakteurin ist zu<br />

diesem Zeitpunkt ein kleiner Meilenstein in der Fernsehgeschichte.<br />

Schließlich ist das Frauenbild im <strong>Film</strong> bis in<br />

die 1960er-Jahre hinein hauptsächlich durch männlich<br />

geprägte Rollenklischees bestimmt: die Frau als Femme<br />

fatale oder als Mutter. Die Frau in den <strong>Film</strong>en dieser<br />

Zeit ist die Gefangene einer von Männern dominierten<br />

Traumfabrik und lesbische Frauen passten nicht in ihr<br />

Bild. Frauen, die Frauen lieben, gibt es im Kino entweder<br />

gar nicht oder Gesten von Zuneigung für andere Frauen<br />

werden stark chiffriert und führen zumeist ins Verder-<br />

ben oder enden gar im Selbstmord. Der Frauenfilm in der<br />

Bundesrepublik Deutschland ist seit Mitte der 1970er-<br />

Jahre von Regisseurinnen wie Margarethe von Trotta,<br />

Ulrike Ottinger, Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckl,<br />

Helke Sander, Jutta Brückner und Monika Treut geprägt.<br />

Familiäre Gewalt, Abtreibung, Krieg, Politik und Berufsleben<br />

aus spezifisch weiblicher Perspektive sind ihre<br />

zentralen Themen. Sie sind Teil der Bewegung Frauenfilm,<br />

die man aus heutiger Sicht in dieser Form als ein vor<br />

allem bundesdeutsches Phänomen betrachten kann, das<br />

auch international Spuren hinterlässt …<br />

In Deutschland hat sich im Fahrwasser der 1968er<br />

Revolte ein kulturelles Umfeld mit feministisch geprägten<br />

<strong>Film</strong>zeitschriften und eigenen <strong>Film</strong>festivals etabliert.<br />

Anna und Edith hätte zu dieser Zeit als erster <strong>Film</strong> mit<br />

spezifisch lesbischen Szenen im deutschen Fernsehen ein<br />

Skandal sein können, wurde es aber nicht. Warum?<br />

Anna und Edith entsteht in einer radikalen Zeit, als die<br />

„Rote Armee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die<br />

„Revolutionären Zellen“ aktiv sind und die so genannte<br />

zweite Welle der Frauenbewegung gerade ihren Höhepunkt<br />

erreicht. 1973 werden die ersten Frauenzentren,<br />

aber auch die erste Lesbenbewegung gegründet. Eine ihrer<br />

ersten Aktivistinnen ist die junge, lesbisch lebende Drehbuchautorin<br />

Cristina Perincioli, die 1968 aus der Schweiz<br />

nach Berlin kommt, um an der Deutschen <strong>Film</strong>- und<br />

Fernsehakademie zu studieren. Die Studentenbewegung<br />

ist bereits seit gut einem Jahr im Gange, wer studieren<br />

will, gilt als Streikbrecher. Meterweise schleppt Perincioli<br />

das <strong>Film</strong>material heimlich aus der Schule, um ihrem<br />

Traum, Regisseurin zu werden, ein Stückchen näher zu<br />

kommen. Unterricht gibt es für die jungen <strong>Film</strong>studenten<br />

kaum, im Vordergrund stehen politische Debatten,<br />

die einzige Unterstützung erfährt sie durch ihren Lehrer<br />

Klaus Wildenhahn, der durch das amerikanische „Direct<br />

Cinema“ beeinflusst ist und zu den wichtigsten Dokumentarfilmern<br />

der Bundesrepublik Deutschlands zählt.<br />

Perinciolis erste <strong>Film</strong>e sind deshalb politische Dokumentarfilme,<br />

bis sie beim NDR für sich feststellt, dass das<br />

dokumentarische Material selbst am Schnitt so verändert<br />

werden kann, dass ihm jede Brisanz entzogen wird. Sie<br />

AnnA<br />

&<br />

Edith<br />

Ein film von<br />

GErrit nEuhAus<br />

Anna & Edith<br />

von Gerrit Neuhaus<br />

D 1975, 70 Min,<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

Im Kino<br />

August 2009<br />

Die Macht der Männer ist<br />

die geduld der Frauen<br />

von Cristina Perincioli<br />

D 1978, 76 Minuten<br />

Sphinx Medien,<br />

www.sphinxmedien.de<br />

6 7<br />

kino


WoLFRAM EDER<br />

kino<br />

Cillie Rentmeister, Cristina Perincioli (1988)<br />

widmet sich deshalb dem Spielfilm, der ihrer Ansicht nach von solch<br />

einer Kraft und Überzeugung durchdrungen sein kann, dass seine<br />

Grundidee nur schwerlich der Schere zum Opfer fallen dürfte. 1971<br />

leistet sie so die Vorarbeit zu Anna und Edith: Es entsteht ein Farbfilm,<br />

der 36-Minüter Für Frauen – Kapitel 1, die <strong>Film</strong>musik kommt von Ton<br />

Steine Scherben. Alexandra von Grote sieht den <strong>Film</strong> und wird zwei<br />

Jahre später die Initialzündung für Für Frauen – Kapitel 2 liefern, der<br />

später unter dem Titel Anna und Edith sich nicht mehr nur mit der<br />

Unterbezahlung und Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz<br />

auseinandersetzen, sondern auch lesbische Liebe thematisieren wird.<br />

Auf der einen Seite ist Anna und Edith ein klassischer Agit-Prop-<strong>Film</strong><br />

jener Zeit, auf der anderen Seite ein wichtiges Zeitdokument und der<br />

erste selbstbewusste Lesbenfilm der deutschen Fernsehgeschichte, in<br />

der lesbische Liebe nicht direkt ins Verderben führt, in dem zum ersten<br />

Mal ein leidenschaftlicher Kuss zwischen zwei Frauen zu sehen<br />

war. Wenn man sich den <strong>Film</strong> heute ansieht, ahnt man nicht, welche<br />

Bedeutung er zum Zeitpunkt seiner Entstehung für vier daran beteiligte<br />

Frauen erlangte. Für die einen als Lebenselixier, für die anderen<br />

als Albtraum und Sprungbrett zugleich.<br />

Nach der Fertigstellung des Drehbuchs zu Anna und Edith sucht<br />

sich die Autorin Cristina Perincioli, die auch die Regie für den <strong>Film</strong><br />

übernehmen soll, im Auftrag von Alexandra von Grote eine Produzentin.<br />

Ihre Wahl fällt auf Regina Ziegler, die gerade für ihren 1973<br />

produzierten <strong>Film</strong> Ich dachte, ich wäre tot (ihr späterer Ehemann<br />

Wolf Gremm führte Regie) mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet<br />

wurde. Anna und Edith ist Regina Zieglers erste Fernsehproduktion,<br />

die sie zu diesem Zeitpunkt allerdings auch in einen Konflikt bringen<br />

wird: Sie muss im Auftrag von Alexandra von Grote Cristina Perincioli<br />

die Kündigung als Regisseurin aussprechen. Was war passiert,<br />

dass ausgerechnet die Initiatorin des <strong>Film</strong>s plötzlich nicht mehr hinter<br />

der Macherin stand? Alexandra von Grote begründet ihre Entscheidung<br />

heute so: „Dass Frau Perincioli – entgegen der ursprünglichen<br />

Absicht, Regie bei diesem Projekt zu führen – von der Regie<br />

entbunden wurde, lag keineswegs an dem ‚für das ZDF zu radikalen<br />

Drehbuch‘ wie die beiden Drehbuchautorinnen gern behaupten. Es<br />

lag schlicht und einfach daran, dass von Frau Perincioli kein akzeptables<br />

und überzeugendes Regiekonzept vorlag. Dadurch war dem ZDF<br />

das Risiko zu groß, dass Frau Perincioli im Rahmen des Budgets und<br />

angesichts der knappen Drehzeit in der Lage sein würde, den <strong>Film</strong> der<br />

Absprache gemäß und im vorgegebenen Zeitrahmen zu drehen“. Die<br />

lesbische ZDF-Redakteurin beauftragt schließlich einen Mann, der<br />

zuvor ausschließlich Fernsehshows realisiert hatte, mit der Regiearbeit<br />

zum ersten selbstbewussten Lesbenfilm der deutschen Fernsehgeschichte.<br />

Ein Paradox. Laut Perincioli habe sich später Eckhart<br />

Stein, der 1975 die Leitung des Kleinen Fernsehspiels übernahm und<br />

für dessen Neu-Konzeption 1977 den Adolf-Grimme-Preis erhielt, bei<br />

ihr dafür entschuldigt, wie auch Alexandra von Grote, die ihr einige<br />

Jahre später anvertraut haben soll, dass sie „aus Angst so gehandelt<br />

habe“. Perincolis Co-Autorin Cillie Rentmeister verarbeitete diese<br />

Erfahrung später auf ihre Weise: Mit dem Song „Für Frau Dr. A“ , der<br />

auf der LP der ersten deutschen lesbischen Frauenrockband „Flying<br />

Lesbians“ veröffentlicht wurde.<br />

Alexandra von Grote, Regina Ziegler und Cristina Perincoli, alle<br />

zwischen 1944 und 1946 geboren, haben die Zeit des Aufbruchs der<br />

1960er und 1970er Jahren komplett unterschiedlich erlebt und sind<br />

sich selbst treu geblieben – jede auf ihre Weise …<br />

Alexandra von Grote wurde nach ihrer Zeit beim Kleinen Fernsehspiel<br />

Referentin für Kulturpolitik in Berlin, führte bei vier <strong>Film</strong>en<br />

Regie, zu denen sie auch das Drehbuch verfasste, und konzentriert<br />

sich heute ausschließlich auf das Schreiben von Kriminalromanen.<br />

Regina Ziegler gilt laut American Cinema Foundation heute als<br />

die weltweit erfolgreichste Frau im <strong>Film</strong>produktionsgeschäft. Sie<br />

trägt das Bundesverdienstkreuz, den Verdienstorden des Landes<br />

Berlin und den Adolf-Grimme-Preis für besondere Verdienste. Die<br />

Ziegler <strong>Film</strong> GmbH & Co. KG mit Sitz in Berlin hat mittlerweile über<br />

400 <strong>Film</strong>e für Kino und Fernsehen produziert, die nahezu alle Genres<br />

abdecken.<br />

Cristina Perincioli führte schließlich 1978 erfolgreich Regie bei<br />

ihrem ersten, ebenfalls vom ZDF finanzierten Spielfilm Die Macht<br />

der Männer ist die Geduld der Frauen, der weltweit ein Erfolg wurde,<br />

veröffentlichte später Bücher und produzierte Hörfunkbeiträge mit<br />

politischem Hintergrund. Sie erhielt Lehraufträge am <strong>Film</strong>institut in<br />

Kenya, der Hochschule der Künste wie auch der Deutschen <strong>Film</strong>- und<br />

Fernsehakademie Berlin sowie der <strong>Film</strong>hochschule in Babelsberg.<br />

Heute beschäftigt sie sich mit Neuen Medien, dem Herstellen von<br />

Lernsoftware und produziert Kurzfilme in Form von Videobildern.<br />

Cillie Rentmeister machte als Tastenfrau und Mitbegründerin<br />

der Frauenrockband „Flying Lesbians“ Musik, promovierte später in<br />

Kunstwissenschaften, gehörte sozusagen zu den ‚Erfinderinnen‘ der<br />

feministischen Kunst- und Kulturwissenschaft und war Mitglied der<br />

ersten Dozentinnengruppe in Berlin, die „Sommeruniversitäten für<br />

Frauen“ ins Leben riefen. Heute ist sie Professorin an der Fakultät für<br />

Sozialwesen an der Fachhochschule Erfurt und engagiert sich nach<br />

wie vor gegen häusliche Gewalt. s<br />

„IcH bIn JETzT HIEr,<br />

IcH MAg DIcH.“<br />

interview: tobias rauscher<br />

Sich treiben lassen oder verloren gehen. Regisseur Sebastian Heidinger über seinen<br />

ersten Dokumentarfilm „Drifter“, der am 11. juni im Kino startet.<br />

s Vor dreißig Jahren gab es einmal „Wir Kinder vom<br />

Bahnhof Zoo“, als Stern-Buch und als Uli-Edel-<strong>Film</strong>.<br />

Seitdem ist dieser Ort zu einem Synonym für jugendliche<br />

Prostitution und Drogensucht geworden. Edel verfilmt<br />

zwar längst andere Aufreger (z.B. Bushido), aber das<br />

Buch gibt es immer noch im Handel. Und auch die Kinder<br />

am Bahnhof Zoo sind noch da.<br />

Der junge dffb-Absolvent Sebastian Heidinger hat in<br />

seinem Dokumentarfilm Drifter drei Jugendliche begleitet,<br />

die sich am Zoo ihre Drogen besorgen, anschaffen<br />

gehen oder in Notunterkünften unterkommen. Es geht<br />

ihm um ihren Alltag, nicht um ihre Geschichte. Um das<br />

tägliche Durchhalten, Weitermachen und ‚Driften‘, ohne<br />

familiären Halt und mit wenig öffentlicher Unterstützung.<br />

Helfen können sie sich nur selbst, bestenfalls einander.<br />

Obwohl Drifter nichts zu tun hat mit Sensationsgier,<br />

Vorurteilen und Klischees einer ‚lebensfeindlichen<br />

Wirklichkeit‘ ist das ein harter und schonungsloser <strong>Film</strong>.<br />

Auf internationalen <strong>Film</strong>festivals hat er für Aufsehen<br />

gesorgt. Auf der Berlinale 2008 gab es dafür den renommierten<br />

Preis „Dialogue en Perspective“.<br />

SISSY hat sich mit Sebastian Heidinger getroffen und sich<br />

mit ihm über seinen filmischen Zugang, über die moralische<br />

Haltung beim <strong>Film</strong>emachen, über Sexarbeit und den<br />

Mythos Bahnhof Zoo unterhalten.<br />

sissy: Zuerst einmal: Warum hast du dich entschieden,<br />

deinem Dokumentarfilm mit „Drifter“ einen englischen<br />

Titel zu geben und was genau bedeutet er?<br />

Sebastian Heidinger: Das Wort Drift oder driften gibt es<br />

auch im Deutschen und meint etwas Nicht-Verankertes,<br />

was Strömungen ausgesetzt ist. Daneben gibt es auch die<br />

Vokabel des „drifters“, die der Soziologe Richard Sennett<br />

geprägt hat. Er beschreibt Drifter als Phänomen des<br />

modernen Kapitalismus und meint eine gesteigerte Form<br />

vom mobilen und flexiblen Menschen.<br />

Für dokumentarische Arbeiten gibt es sicherlich leichtere<br />

und zugänglichere Themen für einen jungen <strong>Film</strong>emacher<br />

als drogenabhängige Jugendliche. Wie kam dir die Idee zu<br />

„Drifter“?<br />

Am Anfang stand nicht das Projekt, einen <strong>Film</strong> über drei<br />

Drogenabhängige am Bahnhof Zoo zu machen. Ich hatte<br />

lediglich eine vage Idee von jugendlichen Obdachlosen,<br />

die unserem alltäglichen Blick nicht auffallen. Es ging mir<br />

nicht um Straßenpunks oder irgendwelche Abtrünnigen.<br />

Mich interessierte damals das Phänomen unserer Zeit,<br />

dass jemand am Rand unserer Gesellschaft sehr leicht<br />

behaupten kann, zur normalen Gesellschaft dazuzugehören.<br />

Jeder kann ein Handy haben, jeder kann Markenklamotten<br />

tragen und wirkt dabei nicht wie ein Außenseiter<br />

oder fällt auf. Ich hatte diesen Gedanken schon in<br />

einem früheren Projekt mit Jugendlichen in Lichtenberg<br />

verfolgt – Jugendliche in einer Umbruchphase, die dem<br />

EDiTion SALZGEBER<br />

Drifter<br />

von Sebastian Heidinger<br />

D 2007, 81 Min<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

8 9<br />

Im Kino<br />

Ab 11. Juni<br />

kino


kino kino<br />

System entsagen und sich Nischen suchen, die nicht von institutioneller<br />

Kontrolle besetzt sind.<br />

Wie bist du dann im zweiten Schritt vorgegangen und hast deine drei<br />

Protagonisten Aileen, Angel und Daniel gefunden?<br />

Unser erster Gedanke war, über Institutionen und Sozialarbeitervereine<br />

an die Menschen zu kommen. Das haben wir versucht und ich<br />

habe auch eine Zeit lang ehrenamtlich als Sozialarbeiter gearbeitet.<br />

Wir haben aber sehr schnell gemerkt, dass das überhaupt nicht funktioniert,<br />

weil du den Jugendlichen von den Sozialarbeitern vorgestellt<br />

wirst und sich in dieser Position automatisch ein starkes Ungleichgewicht<br />

aufbaut. Dann war uns schnell klar, dass wir selbst auf die<br />

Straße müssen, um die Kontakte herzustellen. Es war eine harte und<br />

aufreibende Zeit, an die Orte zu gehen und sie für sich einzunehmen.<br />

Natürlich haben wir uns anfangs unglaublich unwohl und wie Touristen<br />

gefühlt.<br />

Unsere Suche begann im Osten in Einkaufszentren in Hohenschönhausen,<br />

über den Alexanderplatz, zum Nollendorfplatz und der<br />

Kurfürstenstraße, bis wir dann an den Bahnhof Zoo gegangen und<br />

dort hängen geblieben sind. In unserer Vorlaufzeit sind wir dann vor<br />

Ort mit einem alten VW-Bus in die Jebensstraße gefahren, sind peuà-peu<br />

mit den Jugendlichen ins Gespräch gekommen und haben so<br />

versucht, zu einem festen Inventar der Szene zu werden.<br />

Dabei haben wir relativ früh kommuniziert, dass wir einen <strong>Film</strong><br />

machen, aber keine Gagen zahlen können. Einerseits konnten wir das<br />

vom Budget her nicht, anderseits wollten wir, dass den Jugendlichen<br />

auch selbst etwas daran liegt, den <strong>Film</strong> zu machen und sie es nicht<br />

aus Verdienstgründen machen. Bis zum ersten Drehtag sind dann erst<br />

mal drei Monate vergangen. 80 Prozent des Tages haben wir gewartet<br />

oder haben im Bus gesessen. Ab und zu kam jemand vorbei, um Tee<br />

zu trinken, hat angefangen zu erzählen, dann wurde gefragt, ob man<br />

die Geschichte eventuell auf Tonband aufnehmen dürfe, und so hat<br />

sich langsam das Vertrauen aufgebaut. In dieser Zeit hat sich langsam<br />

der Cast herauskristallisiert. Mit Aileen fing es an, mit ihr kam Angel<br />

ins Spiel, da sie sich nicht getraut hatte, das alleine zu machen. Angel<br />

steht ja auf eine gewisse Form der Selbstdarstellung, das merkt man<br />

im <strong>Film</strong> ja auch ganz deutlich. Während der Drehphase war es dann<br />

so, dass das Casting quasi organisch gewuchert ist. In dieser Szene<br />

gibt es ja kaum echte, durch Pech und Schwefel verbundene Freundschaften,<br />

sondern eher Zweckgemeinschaften, die aber leicht wieder<br />

auseinander brechen können und innerhalb derer es eine hohe Fluktuation<br />

gibt. Auf die Tatsache, dass jeden Moment eine neue Figur<br />

herein kommen kann, mussten wir uns während des Drehs einlassen.<br />

Entweder diese Figur begleitet die Protagonisten oder über ihre<br />

Abwesenheit werden Dinge erzählt. Es musste uns immer klar sein,<br />

dass jeder Tag der letzte mit unseren Protagonisten sein kann. Am<br />

nächsten Morgen konnte alles anders sein und einer der drei konnte<br />

keinen Bock mehr haben. Da gab es keine Verlässlichkeiten.<br />

Das klingt nach einer langen Recherche. Wie lange habt ihr für „Drifter“<br />

dann insgesamt gebraucht und wie lange hat der Dreh gedauert?<br />

Als wir bereits am Zoo waren, gab es eine lange, zweimonatige Vorlaufzeit<br />

ohne jede Kameraarbeit. Das hat uns sehr organisch zum ersten<br />

Drehtag geführt um die Protagonisten langsam an die Kamera zu<br />

gewöhnen und mit ihr auch ihre Privatsphäre zu teilen. Wir haben<br />

sechs Monate vom Spätsommer 2005 bis Frühjahr 2006 gedreht und<br />

saßen dann ein Jahr lang im Schnitt. Immerhin hatten wir 70 Stunden<br />

Material.<br />

Dein <strong>Film</strong> wird vor allem über Leerstellen erzählt. Du hast die mutige<br />

Entscheidung getroffen, viele Dinge im <strong>Film</strong> auszusparen. Wir erfahren<br />

nichts über Familie, über Freundeskreise, es werden auch keine einzelnen<br />

Biographien gezeichnet. War das denn eine Entscheidung, die ihr<br />

auch erst im Schnitt getroffen habt oder stand dieses narrative Konzept<br />

schon vorher fest?<br />

Wir haben erklärende Szenen gedreht, in denen Nebenfiguren, deren<br />

Bedeutung im Endschnitt nicht ganz klar ist, ausführlich erklärt<br />

wurden. Wir haben aber während des Schnitts festgestellt, dass der<br />

stärkste Effekt dadurch erreicht wird, dass man möglichst wenig<br />

schneidet. Der beste Schnitt ist, keinen Schnitt zu machen. Dann<br />

haben wir komplett auf Interviews verzichtet, eine Entscheidung, die<br />

bis zur vorletzten Rohschnittfassung nicht feststand. Und es stimmt,<br />

dass ich keinen <strong>Film</strong> machen wollte, der sich groß für die Biographien<br />

der Protagonisten interessiert. Es interessiert mich insofern nicht, als<br />

dass ich nicht glaube, dass ich einem Mensch gerecht werden kann,<br />

indem ich mir biographische Schlüsselmomente aus seinem Leben<br />

herauspicke. Ich finde auch, dass so etwas wie ein Körper mir über die<br />

Vergangenheit und die Persönlichkeit eines Menschen teilweise mehr<br />

erzählen kann als wenn er mir davon im Interview erzählt. Ein Beispiel<br />

ist die Szene, in der Angel für Bodo, einen der Männer, Schnitzel<br />

kocht. Das ist für mich ein ganz starker biografischer Moment. Man<br />

fragt sich unmittelbar, warum dieser Typ auf Hausfrauenart plötzlich<br />

ein Schnitzel mit Mischgemüse zubereiten kann. Man bekommt durch<br />

eine Aktion ein Gefühl, was sich aber über eine Physis, eine Körperlichkeit<br />

vermittelt. Dem vertraue ich mehr, als wenn ich in psychologisierender<br />

Art und Weise versuche in einem Interview etwas aus<br />

ihm herauszubekommen. In diesem Fall wäre es zudem sehr schwierig<br />

geworden, weil sich alle unsere Protagonisten Legenden zurecht<br />

gelegt haben. Wenn Angel Geschichten erzählt, wo er herkommt und<br />

wer seine Eltern sind, und dass sie in Griechenland leben, dann ist das<br />

seine eigene Wahrheit.<br />

EDiTion SALZGEBER<br />

Bei einem mutigen Dokumentarfilm wie deinem ist sicherlich die Frage<br />

eine Herausforderung, welche Rolle du als <strong>Film</strong>emacher spielst. Zum<br />

einen bist du wie alle Dokumentarfilmer der Beobachter, der seine Protagonisten<br />

als Material braucht. Zum anderen intervenierst du aber<br />

auch nicht, was in einem <strong>Film</strong> über Drogensucht und Jugend natürlich<br />

auch ethische Fragen aufkommen lässt.<br />

Es gab natürlich die Gefahr, beim Drehen in eine Sozialarbeiterrolle<br />

zu verfallen. Du bist Freund deiner Protagonisten und hast natürlich<br />

den Impuls sie zu bekehren, was du aber gar nicht leisten kannst,<br />

denn egal wie sehr du dich darauf einlässt – du bleibst Tourist. Natürlich<br />

behältst du auch später noch den Kontakt, aber diese Beziehung<br />

kann nie die Intensität erreichen, die sie während der Drehzeit hatte.<br />

Grundsätzlich war es bei der Beziehung zu den Protagonisten so,<br />

dass zu Aileen die engste und innigste Beziehung bestand. Zu Daniel<br />

bestand die kühlste Beziehung. Er war auch derjenige, der als Letzter<br />

in den <strong>Film</strong> kam. Zu Angel ist die Beziehung schließlich mit der Zeit<br />

gewachsen, wobei er natürlich auch den dicksten Panzer von allen<br />

hat und der versierteste in diesem Milieu ist. Das Grunddilemma war<br />

immer, dass man sich als Regisseur in dieser schizophrenen Situation<br />

befindet, immer auch Vertrauter, Freund und Ansprechpartner<br />

zu sein, denn das war in unserem Fall absolut nötig, um diesen <strong>Film</strong><br />

überhaupt zu machen. Es war unser Anspruch, uns als Personen<br />

komplett da reinzugeben. Auf der anderen Seite bist du als Regisseur<br />

natürlich ganz stur auf Material und gute Szenen angewiesen. Einerseits<br />

mussten wir im Sinne des <strong>Film</strong>s überall dabei sein, andererseits<br />

aber auch das Gefühl behalten, dass wir ein paar Sachen nicht zeigen<br />

wollen, um die Jugendlichen zu schützen. Und natürlich ist es auch<br />

für uns hart, eine Fixszene zu drehen.<br />

Eine Sache um die sich der <strong>Film</strong> dreht, die aber auch nie gezeigt wird,<br />

ist die Sexarbeit. Es scheint als würden alle drei anschaffen gehen, was<br />

aber immer außerhalb des <strong>Film</strong>s stattfindet.<br />

Daniel nicht. Der hat zu diesem Zeitpunkt vor allem Zeitungen ausgetragen<br />

und war nicht auf dem Strich. Bei Angel ist es ganz klar, dass<br />

er Stricher ist, er war aber auch am erfahrensten. Angel hatte einen<br />

Stammfreierkreis und stand auf der Jebensstraße. Bei Aileen waren<br />

wir nie dabei, weil wir es nicht wollten. Genauso wie wir sie auch<br />

nie beim Konsumieren gefilmt haben. Das ist unserer Vertrautheit<br />

geschuldet. Es ist der schmale Grad bei dieser Form von <strong>Film</strong>arbeit.<br />

Wir haben mit Angel und Daniel auch noch andere Konsumierszenen<br />

gedreht, fragten uns aber ständig, wie wir das überhaupt darstellen<br />

sollen. Wir haben uns immer vorgenommen, das ganz nüchtern als<br />

eine Form von Arbeitsbeschreibung wie Schnitzel kochen oder Zähne<br />

putzen zu machen. Das war aber unglaublich schwierig, weil es so<br />

stark klischeebehaftet ist. Sobald man einen Löffel im Bild hat, auf<br />

dem etwas aufgekocht wird, ist es nicht mehr neutral. Deswegen war<br />

ganz schnell klar, dass Konsumierszenen nur gehen, wenn sie in Kontexten<br />

gezeigt werden, die das Eigentliche erweitern oder brechen.<br />

Was das Darstellen der Sexarbeit angeht, ist es fast unmöglich, das<br />

dokumentarisch darzustellen, zuerst einmal, weil kein Freier seine<br />

Einverständnis gegeben hätte. Dann haben sich unsere Protagonisten<br />

gegen den Gedanken gewehrt. Andererseits bietet dir die Realität<br />

auch Möglichkeiten, die viel spannender sind als eine eins-zu-eins-<br />

Umsetzung wie zum Beispiel eine Totale der Kurfürstenstraße oder<br />

die Szene, in der Aileen eine Hardcore-Broschüre für Nutten laut<br />

vorliest. Sie liest dann auch auf eine so naive Art und Weise, dass die<br />

Diskrepanz in diesem Moment sehr augenscheinlich wird. Letzlich<br />

haben wir uns für eine Platzhaltererzählung entschieden. Voyeurismus<br />

muss man zwar beim Dokumentarfilm nicht diskutieren, da<br />

jeder Dokumentarfilm ja auf seine Weise voyeuristisch ist, aber bei<br />

dem Thema gibt es den Moment, wo eine eklige Form von Voyeurismus<br />

entsteht und dem wollten wir uns entziehen. Gerade wenn man<br />

sieht, wie die Jugendlichen an dem, was sie machen, kaputt gehen,<br />

bestand für uns immer die Gefahr, in eine Art Sozialarbeiterhaltung<br />

reinzurutschen. Im Endeffekt haben sie uns aber auch benutzt, was<br />

überhaupt nicht moralisch wertend gemeint ist. Wir bekamen etwas<br />

von ihnen und sie bekamen etwas von uns.<br />

Wie haben sie euch „benutzt“? Was genau haben sie von euch bekommen?<br />

Aufmerksamkeit zum einen, und Verständnis. Wir haben eben nicht<br />

die Haltung eines Sozialarbeiters an den Tag gelegt, nicht alles getan,<br />

damit die da ihr Leben ändern. Es geht auch darum zu vermitteln: Ich<br />

bin jetzt hier, ich mag dich, und mein Interesse hängt nicht davon ab,<br />

ob du mit den Drogen aufhörst oder nicht.<br />

Zu welchen großen Schwierigkeiten ist es denn beim Dreh gerade in dieser<br />

Szene gekommen?<br />

Es ging uns ja vor allem um die Nischen im System, die immer kleiner<br />

werden. Das wollten wir thematisch in den <strong>Film</strong> einbauen, haben aber<br />

beim Drehen festgestellt, dass es überhaupt nicht machbar ist. Erstens<br />

haben wir aufgrund des Themas überhaupt keine Drehgenehmigung<br />

bekommen, und zweitens hat man gemerkt, dass man selbst in<br />

ursprünglich als öffentlich wahrgenommenen Räumen nicht filmen<br />

darf. Das war am Zoo so, in Bussen und U-Bahnen, alles ist in privater<br />

Hand, überall gilt Hausrecht. Das führt eben wieder dazu, dass<br />

es keine Privatsphäre gibt, keine Privatheit und keinen geschützten<br />

Raum.<br />

Dann war ein Problem, dass wir keine Gagen zahlen konnten,<br />

unsere Protagonisten aber Geld verdienen mussten. Dadurch hatten<br />

sie immer nur ab und zu am Tag Zeit, wenn sie gerade Geld gemacht<br />

hatten und vor dem nächsten Schuss. Die Zyklen bestehen ja aus Geld<br />

machen, Drogen kaufen, Drogen konsumieren. Von diesen Zyklen<br />

gibt es ca. vier am Tag. Dazwischen gibt es höchstens kleine Fenster,<br />

in denen sie nicht unter Druck und vollkommen angespannt waren.<br />

Dann kommen natürlich noch die verschiedenen Aggregatszustände<br />

der Drogensucht hinzu. Ein Mensch ist ein komplett anderes Wesen,<br />

wenn er gerade Drogen braucht, bzw. wenn er gerade konsumiert<br />

hat. Das führt eben zu krassen Schwankungen im Temperament<br />

und auch im Tempo. Einmal haben wir ein Interview mit Aileen<br />

sehr ruhig angefangen. Mittendrin ist sie raus gegangen und hat sich<br />

einen Schuss gesetzt, war vollkommen ausgewechselt und wir sind<br />

gar nicht mehr hinterher gekommen. Oder wir haben vier Stunden<br />

im Bus gewartet und plötzlich kommt einer der drei Protagonisten<br />

vorbei und sagt, wo sie/er jetzt spontan hingeht. Wir sind überhaupt<br />

nicht vorbereitet gewesen, hatten keine Drehgenehmigungen und so<br />

weiter. Da mussten dann drei Leute simultan aufspringen und von<br />

null auf hundert gehen. Es war absolut schwer für uns, aber auch sehr<br />

lehrreich fürs <strong>Film</strong>emachen.<br />

Wenn man eine Inhaltsangabe des <strong>Film</strong>es liest, denkt man automatisch<br />

an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und Christiane F. Der hochsymbolische<br />

Ort und die Drogenthematik wecken sofort Assoziationen. Es stellt<br />

sich da die Frage, ob es von eurer Seite eine bewusste Hinlenkung oder<br />

Ablenkung zu diesem Thema gab?<br />

Natürlich kann ich mich gegen die Verbindung zu Wir Kinder vom<br />

Bahnhof Zoo überhaupt nicht wehren. Wir haben uns den Zoo ja<br />

nicht vorrangig ausgesucht und ich erinnere mich noch, wie ich<br />

damit am Anfang sehr zu kämpfen hatte, dass es diesen Mythos<br />

gibt. Es war auch in der Arbeit mit den Protagonisten ein Problem,<br />

weil sie sich ja dieses Mythos’ auch bewusst sind, und sich anfänglich<br />

auch in diese Richtung hin inszeniert haben. Es hat viel Arbeit<br />

gekostet zu vermitteln, dass es nicht darum geht, eine 2007er-Version<br />

von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zu machen. Ich habe mich am<br />

Anfang dadurch sehr beschränkt gefühlt, denn man wurde ständig<br />

dem Vergleich unterzogen. Am Ende habe ich aber festgestellt, dass<br />

es ein unglaubliches Glück ist, einen mythologischen Unterbau zu<br />

haben. Es ist, als ob du eine moderne Version von Hänsel und Gretel<br />

erzählst. Diese Mythen sind ja auch immer eine Verabredung mit<br />

dem Zuschauer, die es dir erlaubt, freier und fragmentarischer zu<br />

erzählen. In unserem Fall ist es eher so, dass man den Mythos bricht<br />

und den Blick neu definieren kann. s<br />

10 11


kino<br />

ToBiS<br />

EIn KIno DEr<br />

MöglIcHKEITEn<br />

von christoph meyring<br />

Pedro Almodóvars neuer <strong>Film</strong> „Zerrissene Umarmungen“ startet im Kino.<br />

SiSSY fragt sich: Was ist eigentlich das Queere an seinen <strong>Film</strong>en?<br />

s Im kommenden August wird Pedro Almodóvars neueste<br />

Produktion Zerrissene Umarmungen (Los abrazos<br />

rotos), die im Wettbewerb der diesjährigen Internationalen<br />

<strong>Film</strong>festspiele von Cannes ihre Weltpremiere erlebte,<br />

in den deutschen Kinos anlaufen. Die Liebesgeschichte,<br />

die im Mittelpunkt dieses nunmehr schon 17. Spielfilms<br />

des spanischen Ausnahmeregisseurs und zweifachen<br />

Oscar-Preisträgers steht, ist eine zwischen Mann und<br />

Frau, genauer gesagt, zwischen einem Regisseur (Lluís<br />

Homar) und seiner Hauptdarstellerin (Penélope Cruz).<br />

Obwohl eine der Nebenfiguren dieses <strong>Film</strong>s schwul ist,<br />

handelt es sich bei Zerrissene Umarmungen somit, genau<br />

genommen, wohl nicht um einen „schwulen <strong>Film</strong>“.<br />

Aber was genau ist ein „schwuler <strong>Film</strong>“? Einer, der<br />

eine sexuelle Beziehung zwischen zwei Männern thematisiert?<br />

Einer, der eine spezifische schwule Ästhetik oder<br />

Bedeutungspraxis – doch was ist darunter genau zu verstehen?<br />

– erkennen lässt? Oder genügt es schon, dass der<br />

Regisseur eines <strong>Film</strong>s, woran im Falle Almodóvars kaum<br />

ein Zweifel bestehen dürfte, schwul ist, um sein künstlerisches<br />

Erzeugnis mit dem Etikett „schwules Kino“ zu<br />

behaften? Diese Fragen scheinen nicht ohne Grund sehr<br />

schwierig zu beantworten, nicht zuletzt weil sie sehr<br />

grundsätzlicher Natur sind. Aber vielleicht lässt sich im<br />

Blick auf Teile von Pedro Almodóvars bisherigem Œuvre<br />

zumindest ansatzweise ermitteln, was in seinem spezifischen<br />

Fall dasjenige ausmacht, das man mit Attributen<br />

wie „schwul“, „queer“ – oder wie auch immer – begrifflich<br />

umfassen und umarmen kann. Danach wird es unter<br />

Umständen möglich, die Frage zu beantworten, ob auch<br />

Zerrissene Umarmungen einem solchen allgemeinen<br />

künstlerischen Prinzip gehorcht oder ob dieser <strong>Film</strong> sich<br />

aus dessen Umarmung löst.<br />

Betrachtet man die bisherigen <strong>Film</strong>e der Schwulenikone<br />

Pedro Almodóvar einmal etwas eingehender, so vermag<br />

es durchaus zu überraschen, dass nur in den wenigsten<br />

– streng genommen nur in Das Gesetz der Begierde<br />

(La ley del deseo, 1987) und La mala Educación – Schlechte<br />

Erziehung (La mala educación, 2004) – dezidiert schwule<br />

Charaktere im Zentrum des Geschehens stehen. Die<br />

meisten Protagonisten sind Protagonistinnen, Frauen, die<br />

innerhalb einer vorwiegend männlich geprägten Welt mit<br />

ungewöhnlichen Situationen und Schicksalen zu kämpfen<br />

haben und die deshalb nicht selten Frauen am Rande<br />

des Nervenzusammenbruchs (Mujeres al borde de un<br />

ataque de nervios, 1988) darstellen. Neben diesen Frauen,<br />

die aus ihrer traditionellen Rolle ausbrechen (müssen)<br />

und sich auf die Suche nach einem neuen Lebensentwurf<br />

machen, treten häufig auch geschlechtlich nicht<br />

eindeutig markierte Mischwesen auf: Transvestiten und<br />

Transsexuelle. Eines dieser Mischwesen ist die (oder der)<br />

Transsexuelle La Agrado (Antonia San Juan) aus Almodóvars<br />

Oscar-prämiertem Meisterwerk Alles über meine<br />

Mutter (Todo sobre mi madre, 1999). In einer Szene des<br />

<strong>Film</strong>s stellt sich diese artifiziell produzierte Mann-Frau,<br />

deren Name „Liebreiz“ bedeutet, auf die Bühne eines<br />

Theaters, wo an diesem Abend eigentlich Tenessee Williams’<br />

Endstation Sehnsucht gegeben werden sollte, und<br />

gibt Auskunft darüber, welche operative Veränderung sie<br />

wie viele Peseten gekostet hat. Ihre Performance endet<br />

mit folgenden Worten: „Was will ich eigentlich damit<br />

sagen? Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja!<br />

Und in diesen Dingen sollten wir nicht knauserig sein.<br />

Wieso? Weil wir umso authentischer sind, je ähnlicher<br />

wir dem Traum werden, den wir von uns selbst haben.“<br />

Das Natürlich-Authentische des Geschlechts wird hier<br />

nicht als vorgängige Tatsache gesetzt, sondern in grandioser<br />

Verdrehung als Effekt zahlreicher – in diesem Fall<br />

chirurgischer und nicht nur rein diskursiver – Operationen<br />

ausgestellt und somit grundsätzlich in Frage gestellt.<br />

Denn wenn das Authentische das Resultat eines Herstellungsprozesses<br />

ist, dann gibt sich auch die scheinbar<br />

natürliche, streng dichotom strukturierte Kategorie des<br />

Geschlechts prinzipiell als eine Konstruktion zu lesen.<br />

Nicht umsonst findet Agrados Ansprache auf einer Theaterbühne<br />

statt, deutet sich damit doch an, dass die Konstruktion<br />

der Geschlechter durch Akte, Gesten und Inszenierungen<br />

bewerkstelligt und aufrecht erhalten wird,<br />

die – im Anschluss an Judith Butler und die von ihr nicht<br />

unmaßgeblich beeinflusste „Queer Theory“ – als performativ<br />

bezeichnet werden können. Die Geschlechtung<br />

erscheint damit als ein Schauspiel, das auf permanenten<br />

Imitationen kulturell vorgegebener Idealbilder beruht.<br />

Spielen Imitationen und Spiegelungen auch in Almodóvars<br />

Kino eine bedeutende Rolle, so tritt dort jedoch auch<br />

immer der Mechanismus der Verschiebung hinzu, der die<br />

Imitationen erst als solche zu erkennen gibt und darüber<br />

hinaus Raum für Neubestimmungen, Neuinszenierungen<br />

und alternative Entwürfe schafft.<br />

Im Unterschied zum alternativ konzipierten und in<br />

jeglichem Sinne teuer erkauften Körper Agrados, in dem<br />

sich das Drama der Geschlechtwerdung ganz materi-<br />

zerrissene umarmungen<br />

von Pedro Almodóvar<br />

ES 2009, 129 Min<br />

Tobis, www.tobis.de<br />

Im Kino<br />

Ab 6. August<br />

Pedro Almodóvar –<br />

Die große Edition<br />

ES/FR 1982–2009,<br />

14 DVDs, 1411 Min<br />

Ufa/Universum,<br />

www.universum-film.de<br />

12 13<br />

kino


ToBiS (2)<br />

kino<br />

ell manifestiert, kommt die befreiende Neubestimmung des Gegebenen dabei zumeist ohne das Skalpell des Chirurgen<br />

aus. So verdeutlicht der von Gael García Bernal verkörperte Revuestar Zahara in La Mala Educación – Schlechte<br />

Erziehung die performative Konstruktion des Geschlechtes im Rahmen eines ebenso wunderlichen wie wunderbaren<br />

Bühnenauftrittes allein mit den Mitteln der Travestie. Denn er/sie ist in ein – von Jean-Paul Gaultier entworfenes –<br />

atemberaubendes Abendkleid gehüllt, das einen nackten Frauenkörper imitiert: Die austauschbare Hülle bedeutet den<br />

angeblich unveränderlichen Kern, der Kern gibt sich als Hülle zu erkennen. Mit anderen Worten: Das Geschlecht stellt<br />

sich nicht als natürliche Gegebenheit, sondern<br />

als eine kulturell hervorgebrachte Einkleidung<br />

dar. Zu den die Grenzen herkömmlicher<br />

Geschlechtsidentitäten chamäleonhaft überwindenden<br />

Übergangswesen zählt ebenfalls<br />

Juez Domínguez (Miguel Bosé), der in High<br />

Heels – Die Waffen einer Frau (Tacones lejanos,<br />

1991) nicht nur als Untersuchungsrichter<br />

und Polizeispitzel, sondern auch als Travestiestar<br />

„Femme letal“ in Erscheinung tritt und<br />

in dieser Rolle die Mutter der Protagonistin<br />

Rebeca (Victoria Abril) imitiert, welche er später<br />

schwängert und am Ende ehelichen wird.<br />

Und obwohl es darin ausschließlich um heterosexuelle<br />

Paarbeziehungen geht, veranstaltet<br />

auch Sprich mit ihr (Hable con ella, 2002) einen<br />

intensiven „Gender Trouble“, sofern klassisch<br />

männliche und weibliche Rollenattribute in<br />

Bewegung gesetzt und ständig neu verteilt werden:<br />

Während die Torera Lydia (Rosario Flores)<br />

einer ausgesprochen männlichen Profession<br />

nachgeht, umsorgt, bemuttert, schminkt<br />

und frisiert die männliche Krankenschwester<br />

Benigno (Javier Cámara) die ins Koma gefallene<br />

Balletttänzerin Alicia (Leonor Watling).<br />

Dabei wirkt Benigno nicht nur ausgesprochen<br />

schwul, sondern er setzt sein schwules Image<br />

sogar ganz bewusst dazu ein, sein heterosexuelles<br />

Begehren zu verschleiern.<br />

Im Zusammenhang mit der Gender-Thematik<br />

betreibt Alles über meine Mutter überdies<br />

eine Neubestimmung der herkömmlichen<br />

Vorstellung von „Mutterschaft“, indem er<br />

– ausgehend von einer realen, aber nunmehr<br />

zerstörten Mutter-Kind Beziehung zwischen<br />

der Krankenschwester Manuela (Cecilia Roth)<br />

und ihrem verstorbenen Sohn Estéban (Eloy<br />

Nazarin) – diesen Begriff aus seinen ursprünglichen<br />

Bezügen löst, spiegelt, verschiebt, verzerrt,<br />

vervielfältigt und mit neuer Bedeutung<br />

auflädt. Jedoch nicht um ihn zu entwerten<br />

oder ihn lächerlich zu machen, sondern viel-<br />

Oben: Schlechte Erziehung – La mala educación (2004), unten: Zerrissene Umarmungen (Los abrazos rotos, 2009) mehr um seine positive emotionale Essenz<br />

freizulegen und auf zwischenmenschliche<br />

Beziehungen auszudehnen, die keine Mutter-Kind-Verhältnisse darstellen. „Mütterlich“, nämlich solidarisch, mitfühlend<br />

und selbstlos, können sich auch Menschen verhalten, die auf biologische Mutterschaft verzichten oder von ihr ausgeschlossen<br />

sind: Schwule, Lesben, Transsexuelle und kinderlose Heterosexuelle. Diese Botschaft des <strong>Film</strong>s möchte<br />

man immer dann dick unterstreichen, wenn angesichts eines tragischen Kindstodes in den Medien wieder einmal der<br />

unsägliche Satz erschallt: „Wer selber Kinder hat, kann den Schmerz der Eltern nachfühlen.“ Als ob die anderen das<br />

nicht könnten.<br />

Almodóvars filmisches Werk, das seit dem vergangenen Jahr auch hierzulande in Form einer sehr ansprechend ausgestatteten<br />

DVD-Kollektion zugänglich ist, wimmelt von offenen Zitaten und mehr oder weniger kryptischen Anspielungen<br />

sowohl intra- (Bezüge zu anderen <strong>Film</strong>en) als auch intermedialer (Bezüge zu anderen Medien) Natur: Das<br />

trashige Frühwerk Labyrinth der Leidenschaften (Laberinto de pasiones, 1982) rekrutiert sein fast unüberschaubares<br />

Personal offensichtlich direkt aus der Regenbogenpresse; Womit habe ich das verdient? (¿Qué he hecho yo para merecer<br />

esto!!, 1984) stibitzt die Idee, dass eine Hausfrau (Carmen Maura) ihren Ehemann mit einer Hammelkeule erschlägt<br />

und diese anschließend von der Polizei verspeisen lässt, aus einer Episode der TV-Serie Alfred Hitchcock Presents;<br />

in Das Gesetz der Begierde trifft man den schwulen Regisseur Pablo<br />

Quintero (Eusebio Poncela) und dessen transsexuelle Schwester Tina<br />

(Carmen Maura) in der Szenerie eines nächtlichen Cafés an, die deutlich<br />

von Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“ inspiriert ist; in<br />

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs beobachtet Pepa (Carmen<br />

Maura) die beleuchteten Fenster eines Mietshauses und nimmt<br />

dabei exakt das Gleiche wahr wie James Stewart in Hitchcocks Das<br />

Fenster zum Hof (Rear Window, 1954); Fessle mich! (¡Átame!, 1990)<br />

zitiert das billige spanische Horrorkino der 1960er und 1970er Jahre;<br />

in High Heels – Die Waffen einer Frau, der sich auch auf Ingmar Bergmanns<br />

Herbstsonate (Höstsonaten, 1978) beruft, erklingt Musik aus<br />

Stephen Frears Gefährliche Liebschaften (Dangerous Liaisons, 1988);<br />

La mala Educación – Schlechte Erziehung, dessen Vorspannmusik die<br />

berühmten Geigenstakkatos aus Hitchcocks Psycho (1960) variiert,<br />

kann seine Erziehung durch das Genre des „<strong>Film</strong> noir“ nicht verleugnen;<br />

und mit Volver (Volver, 2006) kehren auch die Heroinen des italienischen<br />

Neo-Realismus sowie Hitchcocks Psycho und Marnie (1964)<br />

auf die Leinwand zurück. Etc. Etc.<br />

Almodóvar selbst will die zahllosen Medienzitate und -anspielungen<br />

in seinen <strong>Film</strong>en aber nicht als ehrerbietige, musealisierende<br />

Hommagen oder eitle Präsentationen kultureller Bildung verstanden<br />

wissen, sondern als aktive Collageelemente: „Der beste Weg, so meine<br />

ich, die Gefühle eines <strong>Film</strong>charakters zu vermitteln, ist, sie durch<br />

einen anderen <strong>Film</strong> vermitteln zu lassen, durch Bilder und Worte,<br />

die man schon kennt.“ Die ausgiebigen Medienbezüge, die etwa in<br />

Sprich mit ihr ein vielstimmiges intermediales Gespräch zwischen<br />

den Kunstformen (Stumm-) <strong>Film</strong>, Literatur, Malerei, Bildhauerei,<br />

Ballett und Stierkampf in Gang setzen, und die Tatsache, dass es sich<br />

bei vielen von Almodóvars <strong>Film</strong>figuren um Regisseure, Bühnenstars<br />

oder Literaten handelt, scheinen aber noch mehr zu bedeuten. Sie<br />

weisen nämlich auf eine undurchdringliche Vermischung von Kunst<br />

und Leben, Realität und Fiktion hin. Und zwar in dem Sinne, dass<br />

sich – wie die scheinbar natürliche und unveränderliche Realität des<br />

Geschlechts im Besonderen – auch die angeblich so wirkliche Wirklichkeit<br />

im Allgemeinen durch die permanente Imitation kultureller<br />

Entwürfe, also fiktiver Vorlagen konstituiert. Hat man dies begriffen,<br />

wird es möglich, die gesellschaftlichen Fremdentwürfe umzuschreiben,<br />

sie in einen eigenen zu verwandeln und wie Agrado den Traum<br />

zu leben, den man von sich selbst hat. Almodóvars Umgang mit seinen<br />

filmischen und sonstigen Vorbildern kennzeichnet sich demzufolge<br />

stets durch aneignende Imitation und produktive Verschiebung. So<br />

wird Joseph L. Mankiewicz’ Kinoklassiker Alles über Eva in Alles<br />

über meine Mutter zwar in vielen Einzelheiten offensichtlich imitiert,<br />

dabei aber zugleich entscheidend modifiziert. Denn Manuela (Cecilia<br />

Roth), die in einigen <strong>Film</strong>szenen augenscheinlich in die Rolle Eve<br />

Harrintons (Anne Baxter) schlüpft, stellt charakterlich das genaue<br />

Gegenteil dieser glatten, kalten und berechnenden Erpresserin dar.<br />

Und auch die Theater-Diva Huma Rojo (Marisa Paredes) unterscheidet<br />

sich im Verlauf der Handlung immer stärker vom zickig-selbstbezogenen<br />

Broadway-Star Margo Channing, den Davis in Mankiewicz’<br />

<strong>Film</strong> so eindrucksvoll verkörpert.<br />

Das Verhältnis von Realität und Fiktion thematisiert das Melodram<br />

Mein blühendes Geheimnis (La flor de mi secreto, 1995) auf<br />

besonders eindringliche Weise. Denn die Schriftstellerin Leo Macías<br />

(Marisa Paredes) verhält sich genauso wie die Heldin eines jener kitschigen<br />

Liebesromane, die sie unter dem Pseudonym Amanda Gris<br />

am laufenden Band produziert, und führt auch ansonsten eine geradezu<br />

buchstäbliche Schrift-Existenz. Eine Tatsache, die Almodóvar<br />

an vielen Stellen des <strong>Film</strong>s raffiniert ins Bild setzt: Kurz bevor Leo<br />

morgens erwacht, blättert der Wind durch die Seiten eines auf dem<br />

Nachttisch abgelegten Buches. Wenn sie ihren Ehemann anruft, verschmilzt<br />

die Tastatur ihres Telefons mit ihrer im Hintergrund sichtbaren<br />

Schreibmaschine, so dass es scheint, als ob sie ihn in diesem<br />

Moment erst schreibend erfinden würde. Und als ihre Ehe endgültig<br />

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kino


ToBiS<br />

ToBiS UniVERSUM<br />

UniVERSUM<br />

kino<br />

Von oben: „Volver“ (2006), „Schlechte Erziehung – La mala educatión“ (2004), „Alles über<br />

meine Mutter“ („Todo sobre mi madre“, 1999), Pedro Almodóvar bei den Dreharbeiten zu<br />

„Zerrissene Umarmungen“<br />

entzwei ist, wankt sie orientierungslos durch einen aus den Flugblättern<br />

eines Demonstrationszuges gebildeten papierenen Schneesturm:<br />

Ihr süßlicher Lebensentwurf ist zerrissen. Nach einem gescheiterten<br />

Selbstmordversuch kehrt Leo in ihr Heimatdorf zur Mutter zurück.<br />

Eine Rückkehr zu ihren natürlichen Wurzeln? Wird sie von nun an<br />

ein „authentisches“, von jeder Fiktionalität gereinigtes Leben führen?<br />

Nein, denn an dieser Stelle füllt Almodóvar die Leinwand ganz<br />

mit einem wunderbaren Bild aus: Eine textile Struktur, eine Textur,<br />

eigentlich die Spitzenklöpplerei der sich dabei Geschichten erzählenden<br />

Nachbarinnen, doch im übertragenen Sinne Text. Leo schreibt<br />

an einem neuen Lebensentwurf, und sie wird fortan andere, bessere<br />

Bücher schreiben. Ihre bisherige Arbeit übernimmt ein kleiner, etwas<br />

dicklicher heterosexueller Mann, Ángel (Juan Echanove), der schon<br />

immer Kitschromanautorin werden wollte und auch gerne Leos Liebhaber<br />

wäre. Doch am Ende des <strong>Film</strong>s macht, wie Christoph Haas in<br />

seinem lesenswerten Buch „Almodóvar. Kino der Leidenschaften“<br />

treffend feststellt, ein „Hinweis auf George Cukors letzten <strong>Film</strong> Die<br />

wilden Reichen (Rich and Famous, 1981) klar: Er ist fortan Leos ‚beste<br />

Freundin.‘“<br />

Wenngleich die <strong>Film</strong>e Almodóvars nur selten explizit schwule<br />

Liebesbeziehungen thematisieren, so dürfen sie doch insofern das<br />

Prädikat „schwul“ für sich beanspruchen, als sie – ganz im Sinne der<br />

„Queer Theory“ – eine spielerische Zersetzung und Reformulierung<br />

traditioneller Geschlechter- und Lebensentwürfe betreiben. Dass<br />

dieses – oberflächlich besehen zuweilen recht unschwule – „Kino der<br />

Möglichkeiten“ vor allem auch ein schwules Publikum anspricht, verwundert<br />

wenig, da dieses permanent zur Suche nach Alternativen zu<br />

den gesellschaftlich immer noch vorherrschenden heterosexuellen<br />

Mustern gezwungen ist. Ein Zwang, der andererseits aber auch eine<br />

Chance und eine Freiheit bedeuten kann.<br />

Zerrissene Umarmungen bleibt den Prinzipien von Almodóvars<br />

„Kino der Möglichkeiten“ treu, ja lässt sie vielleicht noch deutlicher,<br />

raffinierter und eleganter zum Zuge kommen. Im strahlenden<br />

Zentrum des <strong>Film</strong>s steht Almodóvars neue Muse und Leading Lady<br />

Penélope Cruz, die Lena verkörpert, eine Schauspielerin, die auch<br />

in ihrem Privatleben mehrere unterschiedliche Rollen – aufopferungsvolle<br />

Tochter, verschlagene Femme fatale und hingebungsvolle<br />

Geliebte – zu spielen hat und dabei in die unterschiedlichsten und<br />

aufregendsten Kostümierungen schlüpft. Lena ist die Hauptdarstellerin<br />

in Mateo Blancos (Lluis Homar) neuester Komödie „Frauen und<br />

Koffer“, die origineller Weise stark an Almodóvars Frauen am Rande<br />

des Nervenzusammenbruchs erinnert. Doch der Dreh entwickelt sich<br />

zu einem wahren Horrortrip. Denn Regisseur und Darstellerin verlieben<br />

sich sofort unsterblich ineinander, werden jedoch pausenlos von<br />

Lenas älterem und extrem eifersüchtiger Lebensgefährten Ernesto<br />

Martell (José Luis Gómez) observiert. Der mächtige Finanztycoon<br />

und Produzent des <strong>Film</strong>s hat nämlich seinen verkappt schwulen Sohn<br />

(Rubén Ochandiano), der ebenfalls ein Auge auf Mateo geworfen hat,<br />

mit einer Making-Of-Dokumentation der Dreharbeiten beauftragt –<br />

in Wahrheit ein Überwachungsvideo. Zu allem Überfluss blickt auch<br />

noch Mateos Produktionsleiterin Judit (Blanca Portillo) mit Argwohn<br />

auf die neue Verbindung ihres Ex-Geliebten. Unweigerlich läuft die<br />

explosive emotionale Gemengelage auf eine schreckliche künstlerische<br />

und menschliche Katastrophe hinaus, die Tod und Verderben<br />

mit sich bringt und deren Sprengkraft selbst 14 Jahre später noch<br />

ihre Wirkung zeigt. Zerrissene Umarmungen ist nämlich auf mehreren<br />

Zeitebenen angesiedelt und knüpft mit seiner kunstvoll verschlungenen<br />

Erzählstruktur an die formale Virtuosität von La mala<br />

Educación – Schlechte Erziehung an. Abgesehen davon treibt dieser<br />

<strong>Film</strong> das hintergründige Vexierspiel mit Realität und Fiktion auf die<br />

Spitze, zitiert ebenso dreist wie lustvoll bekannte Highlights aus der<br />

Kinogeschichte sowie aus Almodóvars eigenem Werk und wimmelt<br />

dementsprechend von Spiegelungen, Verzerrungen und Verdopplungen.<br />

Das muss man gesehen haben. s<br />

MFA<br />

rADIAnT bAby<br />

von jan künemund<br />

Am 23. juli kommt der Dokumentarfilm „Keith Haring“ von Christina Clausen ins Kino. Er feiert das<br />

kurze und wilde Leben eines Künstlers, der den Pop geliebt hat und von diesem zurückgeliebt wurde.<br />

s Keith Haring (1958–1990) war ein großer Verunreiniger<br />

von Kategorien. Seine Kunst machte die Vorstellungen<br />

von High Art auf der einen und Street Culture auf der<br />

anderen Seite gleichermaßen fraglich.<br />

Aber das war nur einer der vielen Verwirrungen, die<br />

Haring mit seiner Pop-Ikonen-Produktion stiftete. Der<br />

Zusammenhang zwischen Kunst und Kommerz beispielsweise<br />

wurde auf der Ladentheke seiner verschiedenen<br />

Pop Shops und in Deals mit Absolut Vodka und<br />

Swatch verhandelt. Der demokratische Slogan „Kunst<br />

für Jeden“ stammte von einem bestens in den internationalen<br />

Kunstmarkt integrierten Kreativen, um den sich<br />

der Museumszirkus zwischen documenta und Whitney<br />

Biennial rissen. Die Verankerung Harings in der schwulen<br />

Subkultur New Yorks der 1980er Jahre stand einer<br />

massenhaften Verbreitung, ja geradezu Ikonisierung<br />

seiner Werkmotive auf Postern, T-Shirts, Stoffbeuteln<br />

keinesfalls im Weg. Keith Haring hat Warhol und Disney<br />

auf eine Stufe gestellt, hat die Kunstwelt mit<br />

Graffiti, Hip Hop und Skateboarding bekannt<br />

gemacht und die lebensfrohesten, buntesten<br />

Bilder über den Tod gemalt. Er hat Populärkultur<br />

aufgegriffen und sie selbst wieder mit<br />

neuen Motiven versorgt, fast so, als sei er nur<br />

das Medium der durch ihn hindurch laufenden<br />

Bilder, die Menschen tagtäglich als Zeichen<br />

der Lust, Erregung, Angst und Schönheit produzieren.<br />

Doch auch dieses Medium hat eine Biografie.<br />

Ein Jahr vor seinem Tod bat Keith Haring<br />

den bekannten Kulturjournalisten und Biografen<br />

John Gruen darum, sie aufzuschreiben<br />

(„Keith Haring: Die autorisierte Biographie“).<br />

In langen Interviews wurde der bis dahin<br />

30-jährige Lebenslauf rekonstruiert, die Tonbänder<br />

davon existieren noch. Haring erzählt<br />

von seiner Kindheit in Pennsylvania, seinen<br />

Anfängen als Werbegrafik-Student, seiner<br />

autodidaktischen Weiterbildung. Dann, 1978:<br />

New York. Der Kunst-Underground, New<br />

Wave und die schwule Subkultur. Performances<br />

im öffentlichen Raum, Zusammenarbeit<br />

mit anderen Künstlern. Der Erfolg. Die HIV-<br />

Diagnose kam 1988. Zwei Jahre später wird er<br />

daran sterben.<br />

Die dänische, in Italien lebende Dokumentarfilmerin<br />

Christina Clausen hat diese Tonbänder<br />

in ihrem Portrait über Keith Haring<br />

verwendet. Über dem aufbereiteten Material<br />

aus den Archiven und Museen liegt die Stimme des<br />

Künstlers. Aber Clausen hat noch weitere O-Töne im<br />

Gepäck, eine Phalanx aus Wegbegleitern und Freunden,<br />

die Harings Werk aus ihrer Perspektive verfolgt haben<br />

oder sogar Teil davon geworden sind, wie Grace Jones, die<br />

sich für ein Musikvideo von Haring hat anmalen lassen.<br />

Auch Andy Warhol taucht auf, Madonna, Bill T. Jones,<br />

Fab 5 Freddy, David LaChapelle, Kenny Scharf, Junior<br />

Vasquez, Yoko Ono – ein Chor von Menschen, ohne die<br />

das New York der 1980er heute kein Begriff mehr wäre.<br />

Nicht weniger als The Universe of Keith Haring (so der<br />

Originaltitel des Dokumentarfilms) soll mit diesem <strong>Film</strong><br />

abgebildet und gefeiert werden. Ein komplexes Gebilde<br />

aus Trends, Stilen, prominenten und ganz normalen<br />

Menschen, aus Straße und White Cube, aus Krankheit<br />

und Lebensfreude, aus Naivität und Kalkül. Die Kunst der<br />

Verführung war Keith Harings großes Spiel. Die meisten<br />

sind ihm erlegen. s<br />

Keith Haring<br />

von Christina Clausen<br />

FR/IT 2008, 90 Min, dt. Voiceover<br />

MFA, www.mfa-film.de<br />

16 17<br />

Im Kino<br />

Ab 23. Juli<br />

kino


kino<br />

EIn roHEr KErl<br />

MIT HAng zur PoESIE<br />

von andré wendler<br />

Am 4. juni startet jan Krügers neuer Spielfilm „Rückenwind“ in den deutschen Kinos. Unser Autor<br />

meint: „Wenn man diese Bilder sieht, muss es einem gut gehen.“<br />

s Es war wohl eine der schönsten, wenn nicht die schönste Einstellung<br />

der diesjährigen Berlinale. Totale. Die Kamera steht in der Mitte<br />

einer gelblichen Betonpiste die am unteren Bildrand breiter ist als<br />

das Bild. Rechts und links gibt es nichts als Bäume. Sehr weit hinten<br />

sieht es so aus, als ob dort Wasser wäre, vielleicht ein Fluss oder ein<br />

See. Langsam sehen wir zwei Jungs auf Fahrrädern aus der Tiefe des<br />

Bildes auf uns zukommen. Es stellt sich heraus, dass das Wasser tatsächlich<br />

Luftspiegelungen im Sommer sind. Dazu hören wir Klaviermusik,<br />

die bald von zwei Sängern ergänzt wird: im Abspann werden<br />

wir erfahren, dass es Händel gewesen ist. Die Einstellung ist sehr lang<br />

und ich wünsche mir, dass sie niemals aufhört. Die Kamera kommt<br />

in Bewegung und begleitet die beiden Jungs, die hier ein Rennen mit<br />

ihren Rädern veranstalten. Am Ende liegen beide auf dem Rücken und<br />

atmen schwer.<br />

Plansequenz nennt man so etwas. Wenn ich noch einmal darüber<br />

nachdenke, wurde darin wahrscheinlich doch irgendwann geschnit-<br />

ten, aber die Musik klebt das ganze auf wunderbare Art und Weise<br />

zusammen. Im Kopf ist der <strong>Film</strong> anders als auf der Leinwand. Überhaupt<br />

passt der Begriff „Plansequenz“ so gar nicht zu diesem <strong>Film</strong>.<br />

Denn obwohl hier vieles geplant beginnt, mit sehr genauen Aufstellungen<br />

und Arrangements, endet es dann irgendwo, im Ungefähren<br />

oder Möglichen. Einmal stehen Johann und Robin sich gegenüber und<br />

schauen sich in die Augen, nur um sich daraufhin voneinander wegzubewegen<br />

und ein seltsames Fangen und Verstecken im nächtlichen<br />

Wald zu spielen, das in einer unheimlich intensiven erotischen Begegnung<br />

endet. Ein anderes Mal stehen sie Rücken an Rücken auf einem<br />

Feld, schauen voneinander weg, bis einer der beiden sich umdreht und<br />

seinen Kopf an den Hals des anderen legt. Anziehung und Abstoßung,<br />

Kontakt und Ferne, Weglaufen und Einfangen sind die beiden Kräfte,<br />

die hier immer, in praktisch jeder Einstellung präsent sind. Es gibt<br />

keine Nähe ohne Alleinsein, kein Blick in seine Augen ohne dort in<br />

einen tiefen Abgrund zu sehen.<br />

EDiTion SALZGEBER<br />

rückenwind<br />

von Jan Krüger<br />

D 2009, 75 Min<br />

Edition Salzgeber<br />

www.salzgeber.de<br />

Im Kino<br />

Ab 4. Juni<br />

Und auch der <strong>Film</strong> ist so ein auseinanderreißendes Zusammensein.<br />

Die aufwendige und feingliedrig durchgearbeitete Tonspur<br />

erzählt eine ganz eigene Geschichte von Brandenburg und dem, was<br />

auf einem Bauernhof geschieht, auf dem die Jungs später landen. Es<br />

überlagern sich Natur- und Menschengeräusche mit Musik und diese<br />

wiederum mit anderen Musikstücken. Oft weiß man nicht mehr, wo<br />

man eigentlich hinhören soll. Das ergänzt sich mit dem Bild nicht zu<br />

einem schönen runden Ganzen, sondern kommentiert es, stellt es in<br />

Frage oder ruft nach Bildern, die man nie zu sehen bekommt. In dem<br />

Haus, in dem die Jungs zusammen in einem Bett übernachten, hört<br />

man einmal Stöhnen und man weiß nicht, wer hier gerade mit wem<br />

etwas macht. Möglichkeiten gibt es genug. Der <strong>Film</strong> projiziert diese<br />

Möglichkeiten immer wieder in die Köpfe der Menschen im Kinosaal<br />

und ist deswegen immer viel mehr als nur ein <strong>Film</strong>. Man kann<br />

sich hier nicht einfach zurücklehnen und die auf der Leinwand mal<br />

machen lassen, sondern man ist dabei: weil man die körperliche Spannung,<br />

die kaum angedeuteten oder handfesten Berührungen förmlich<br />

selbst spürt, weil man nicht so richtig weiß, was die beiden Jungs voneinander<br />

und von anderen eigentlich wollen. Rückenwind appelliert<br />

an unsere eigenen Bilderwünsche: wir wissen wie ein schwuler Kuss<br />

aussehen muss, jeder hat seine eigenen Vorstellungen von schwuler<br />

Liebe. Und die werden hier gründlich, lustvoll, empfindsam und<br />

überraschend durchkreuzt, so dass man als Zuschauer letztlich auf<br />

die selbe Reise geschickt wird wie Robin und Johann.<br />

Der <strong>Film</strong> ist ein roher Kerl mit Hang zur Poesie. Wie Nathan von<br />

Witzlow, der in der Gegend im 18. Jahrhundert immer wieder ausgeweidete<br />

Schwäne auf ihren eigenen Federn drapierte. Wie schön, wie<br />

unverständlich, wie derb ist das. An Rückenwind ist auch nicht alles zu<br />

verstehen. Wenn man aber die Anstrengung aufbringt, ihm die Bürde<br />

der Eindeutigkeit abzunehmen, dann findet man hier einmal einen<br />

<strong>Film</strong>, der schwules Kino ist, wie wir es uns wünschen. Und zwar,<br />

weil er in aller erster Linie Kino ist und nur in zweiter Linie schwul<br />

und sich damit so wohltuend von den furchterregenden Erzählungen<br />

schwuler Liebe abhebt, die Beziehungen zwischen Männern immer<br />

nur im Kontext von Coming Out und HIV situieren. Es gibt mehr<br />

zwischen Männern, Jungs, Kerlen – und Jan Krüger und dem Team<br />

des <strong>Film</strong>s ist die Suche danach mehr als geglückt. Vor allem, weil sie<br />

keine Ergebnisse liefert, die man in die Tasche stecken kann wie Sahnebonbons,<br />

sondern weil der <strong>Film</strong> das Versprechen auf eine wunderbare<br />

Süße ist, die man nur ab und an, in einigen Bildern und Tönen,<br />

in wenigen Augenblicken im Leben spüren kann, weil sie sich nicht<br />

festhalten lässt. Auch davon berichtet der <strong>Film</strong> in seinem Ende und<br />

empfiehlt das Kino, dieses Kino als wirksames Mittel zur Bekämpfung<br />

des Unglücks: wenn man diese Bilder sieht, muss es einem gut<br />

gehen und das beste daran ist: man kann sie immer wieder sehen. s<br />

18 19<br />

kino<br />

Die L-<strong>Film</strong>nacht<br />

und die<br />

Gay-<strong>Film</strong>nacht<br />

im CinemaxX<br />

wünschen Euch<br />

einen schönen<br />

Sommer.<br />

Im September<br />

geht es weiter,<br />

wir freuen uns<br />

auf Euch!<br />

www.l-filmnacht.de<br />

www.gay-filmnacht.de<br />

Wir bedanken uns bei unseren Partnern:


kino kino<br />

TATE LonDon<br />

„Life“, aus „Death Hope Life Fear“, 1984<br />

KonSErvATIvE<br />

AnArcHISTEn<br />

von martin büsser<br />

Gilbert und George finden sich nicht gay, sondern „sexy“. Ende juli startet julian Coles<br />

Langzeitportrait über das skurrilste Herrenpaar der Kunstwelt im Kino.<br />

s Als Paar sind sie zur Ikone geworden, so sehr miteinander<br />

verbunden, dass man sie einzeln womöglich gar<br />

nicht auf der Straße erkennen würde. Der etwas kleinere<br />

Gilbert Prousch, geboren in den Dolomiten, der sich bis<br />

heute seinen Akzent bewahrt hat, und George Passmore,<br />

der intellektuelle Sprecher und leidenschaftliche Sammler<br />

homoerotischer Literatur aus dem viktorianischen Zeitalter,<br />

sind neben Pierre & Gilles das bekannteste männliche<br />

Paar der Kunstgeschichte. Man kennt sie nur adrett<br />

gekleidet, in Maßanzügen, etwas steif in ihren Bewegungen,<br />

ein britischer Anachronismus, so bieder und distinguiert,<br />

dass alleine schon ihr Auftreten für Irritation<br />

sorgt. Die äußerlich zur Schau gestellte Korrektheit, die<br />

weniger an zwei Dandys als an Versicherungsvertreter<br />

erinnert, wirkt wie ein Fall von schwuler Überaffirmation,<br />

also größtmöglicher Anpassung an gesellschaftliche<br />

Etiketten – doch genau das ist sie nicht. Niemand fällt im<br />

modernen Straßenbild Englands so sehr auf wie dieses<br />

seltsam antiquierte Paar, das sich schon von weitem als<br />

„queer“ im Sinne von schräg zu erkennen gibt. „Wir sind<br />

anders“, markiert das strenge Auftreten, das zugleich im<br />

radikalen Kontrast zu dem Umfeld steht, in dem Gilbert<br />

und George seit mehr als dreißig Jahren arbeiten und<br />

dem sie ihre Motive für großformatige Fotoarbeiten entnehmen.<br />

Britische Jugendliche aus der Arbeiterklasse,<br />

Skinheads ebenso wie Migranten, Obdachlose und Graffitis<br />

mit „four letter words“ wie „shit“ und „fuck“ bilden<br />

das Ausgangsmaterial ihrer frühen Arbeiten, die in einem<br />

Milieu entstanden sind, das so gar nicht zu dem korrekten<br />

Auftreten der beiden Herren passen mag.<br />

Im Rahmen der Serie „Dirty Words Pictures“, einer<br />

Montage aus Selbstbildnissen, Hinterhof-Ansichten und<br />

Graffitis, tauchte 1977 erstmals das Wort „queer“ in einer<br />

ihrer Arbeiten auf. „Wir wollten uns dieses Schimpfwort<br />

aneignen“, erklärt George im <strong>Film</strong>, „und es positiv<br />

für uns umdeuten.“ <strong>Film</strong>emacher Julian Cole, der das<br />

Paar für seine Langfilm-Doku With Gilbert And George<br />

18 Jahre begleitet hat, arbeitete 1986 für Gilbert und<br />

George als Model. „Ich stand für sie vor der Kamera“,<br />

lautet die simple Motivation für seinen <strong>Film</strong>, „nun wollte<br />

ich wissen, wie es ist, wenn sie für mich vor der Kamera<br />

stehen.“ Entstanden ist eine faszinierende Annäherung<br />

an zwei Außenseiter, die sich während ihrer Studienzeit<br />

entschieden haben, gemeinsam als lebende Skulpturen<br />

aufzutreten und die inzwischen zu den größten<br />

Exportschlagern des britischen Kunstmarkts zählen.<br />

Gleichzeitig gelingt es Julian Cole, den queeren Charakter<br />

ihrer Kunst herauszuarbeiten, ohne dass das Leben<br />

der beiden Künstler als schwules Paar näher thematisiert<br />

wird. Das ist jedoch keine falsche Scheu, vielmehr<br />

setzen alle am <strong>Film</strong> Beteiligten diese Lebensform als<br />

Selbstverständlichkeit voraus. Das Wort „gay“, erklärt<br />

George im <strong>Film</strong>, habe er nie gemocht. Er bevorzuge das<br />

Wort „sexy“ als neutrale, von Geschlechtszuweisung<br />

unabhängige Zustandsbeschreibung. „Niemand sagt ‚I<br />

feel heterosexy tonight‘“, scherzt George, gerade deshalb<br />

sei der Begriff „sexy“ so gut, um eine universelle<br />

Lust zu bezeichnen. „Erst kämpften die Heterosexuellen<br />

um sexuelle Befreiung, dann kämpften die Homosexuellen,<br />

doch die nächste Schlacht wird für alle sein“, erklärt<br />

George an einer anderen Stelle im <strong>Film</strong>.<br />

Aufgrund solcher Äußerungen verwundert es nicht,<br />

dass Gilbert und George schon früh den Begriff „queer“<br />

in ihre Arbeit eingeführt haben, um darauf hinzuweisen,<br />

dass ihre Kunst darauf abzielt, sämtliche geschlechtliche<br />

Zuweisungen zu überwinden. Vor diesem Hintergrund<br />

wird auch klar, dass ihr scheinbar normatives Auftreten<br />

nicht der Festigung, sondern der Infragestellung von<br />

Normen gilt. Nichts anderes hatten zum Beispiel frühe<br />

Performances wie „Gordon’s Makes Us Drunk“ von 1971<br />

im Sinn: Gilbert und George filmen sich dabei, wie sie<br />

sich hemmungslos mit Gin abfüllen, immer besoffener<br />

werden und dennoch versuchen, die Fassade der korrekten<br />

Englishmen zu bewahren. Das geht natürlich schief<br />

und sorgt für jede Menge Komik. Gleichzeitig haftet diesen<br />

Bildern aber auch etwas Tragisches an. Mit ihrem<br />

zwanghaften Versuch, keinerlei Enthemmung zuzulassen<br />

und krampfhaft ‚sauber‘ zu wirken, zeigen Gilbert<br />

und George, wie sehr sich gesellschaftliche Normen bis<br />

in unser tiefstes Inneres eingefressen und alle Menschen<br />

zu „living sculptures“ gemacht haben, zu fremdbestimmten,<br />

sozial geformten Apparaten. Es ist nur schade, dass<br />

Julian Cole die Originalaufnahmen solcher Performances<br />

nur für wenige Sekunden in seinen <strong>Film</strong> einstreut, so dass<br />

deren ganze Zerrissenheit zwischen Witz und Melancholie<br />

gar nicht ersichtlich wird.<br />

Der tragische Kern im Werk von Gilbert und George,<br />

der tiefe Ausdruck von Entfremdung und der Wunsch,<br />

diese zu überwinden, ist typisch für die radikale Seite der<br />

künstlerischen Avantgarde, in deren Tradition das Paar<br />

steht. Seit Marcel Duchamps „Readymades“, vom Künstler<br />

unverändert zu Kunstwerken erklärten und ins Museum<br />

With gilbert & george<br />

von Julian Cole<br />

GB 2007, 104 Min<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

20 21<br />

Im Kino<br />

Ab 30. Juli


nATionAL GALLERiES oF SCoTLAnD (U), EDiTion SALZGEBER (o)<br />

kino film-flirt<br />

gestellten Alltagsgegenständen, arbeitet die Avantgarde ebenso verzweifelt<br />

wie unerbittlich daran, die Trennung zwischen Kunst und<br />

Leben zu überwinden, das klassische Kunstwerk abzuschaffen und<br />

letztlich das eigene Leben zum Kunstwerk zu deklarieren. John Cage,<br />

der jeden Ton zur Musik erklärte und die Unbestimmtheit des Happenings<br />

einer klar umrissenen Werkstruktur vorzog, steht ebenso<br />

in dieser Tradition wie Andy Warhol, der sich und seine „Factory“-<br />

Gemeinschaft zum 24-Stunden-Kunstwerk erhoben hatte. Gilbert<br />

und George unterscheiden sich von ihren großen Vorgängern lediglich<br />

darin, dass ihr 24-Stunden-Kunstwerk nur in der Konstellation<br />

als Zweierpaar funktioniert. Einzeln sind die Beiden nicht zu haben.<br />

„Ein Großteil der Menschheit ist in Zweiergruppen aufgeteilt“, erklärt<br />

George, „so gesehen ist es völlig normal, dass wir zu zweit auftreten.“<br />

Und noch etwas ist ihm wichtig, wie er im <strong>Film</strong> erklärt: Beide treten<br />

gleichberechtigt auf. Das unterscheidet Gilbert und George von der<br />

patriarchalisch organisierten Gesellschaft, in der Frauen oft nur als<br />

Statussymbol und Anhängsel der Männer wahrgenommen werden.<br />

Die Avantgarde-Geschichte, in die sich Gilbert und George eingereiht<br />

haben, ist eine queere Geschichte. Andy Warhol war für seine<br />

sexuelle Unbestimmtheit bekannt, John Cage lebte mit dem Choreographen<br />

Merce Cunningham in einer nicht zuletzt auch künstlerisch<br />

symbiotischen Beziehung, und selbst von Marcel Duchamp gibt es ein<br />

Selbstbildnis als Frau, „Rose Selavy“, ein Pseudonym, das Duchamp in<br />

den 1920er-Jahren selbst für einige Jahre benutzte, um sexuelle Festschreibungen<br />

in Frage zu stellen. Warum jener Avantgarde-Zweig,<br />

der an einer Überwindung von Kunst und Lebensalltag interessiert<br />

war, so viele queere Aspekte aufweist, liegt eigentlich auf der Hand:<br />

In der queeren Theorie gelten sexuelle Identität und Geschlecht als<br />

etwas Gemachtes, ein soziales Konstrukt und ein performativer Akt,<br />

der eingelernt werden muss. Gerade der Performance-Kunst war stets<br />

daran gelegen, solche sozialen Zwänge aufzudecken und zu überwinden.<br />

Darum handelt auch die Kunst von Gilbert und George stets von<br />

beiden: Die Künstler spiegeln soziale Zwänge, haben sich bereits in<br />

ihrer legendär gewordenen „Singing Sculpture“ von 1968 wie eine<br />

Mischung aus Roboter und Marionetten inszeniert, um gleichzeitig<br />

spielerisch an deren Demaskierung zu arbeiten.<br />

Der einzige Nachteil an Julian Coles filmischem Portrait besteht<br />

darin, dass er solche historischen Zusammenhänge ausblendet und<br />

ganz seinen beiden Objekten der Begierde verhaftet bleibt. Gilbert<br />

und George wirken dadurch ein wenig wie Inseln im Kunstbetrieb,<br />

losgelöst von jeglichem historischen und ästhetischen Kontext, singulär<br />

und damit auch ein wenig verklärt.<br />

Die Stärke des <strong>Film</strong>s besteht allerdings darin, dass er die Solidarität<br />

des Künstlerpaares gegenüber allen Minoritäten herausarbeitet,<br />

die in der Rezeption oft übersehen worden ist. Seit ihren Anfangstagen<br />

als Künstlerpaar arbeiten Gilbert und George bevorzugt in<br />

den ärmeren Gegenden im Osten von London, wo auch das Portrait<br />

„Paki“ (1986) entstand, das Foto eines jugendlichen Einwanderers.<br />

Linke Kritiker haben darauf hingewiesen, dass „Paki“ ein diskriminierendes<br />

Schimpfwort ist, doch George weist solche Kritik im <strong>Film</strong><br />

zurück und wundert sich, dass niemandem aufgefallen ist, wie sexy<br />

der Junge dargestellt worden sei. So fotografiert niemand einen Menschen,<br />

den er zu diskriminieren beabsichtigt. Das Schmähwort „Paki“<br />

wird von Gilbert und George vielmehr als rassistische Zuschreibung<br />

von Außen benutzt und in Kontrast zu dem sympathischen Portrait<br />

des Jungen gestellt. Dieser taucht noch einmal auf einem anderen<br />

Bild auf, dem Foto „Patriots“ von 1980, wo sechs als Patrioten gekennzeichnete<br />

Jugendliche zu sehen sind, darunter auch zwei Skinheads.<br />

Indem Gilbert und George auch den jugendlichen Migranten unter<br />

die Patrioten eingemeinden, machen sie sich über jegliche Form von<br />

Rassismus lustig. Ihre eigene Vorstellung von Patriotismus ist eher<br />

dessen Gegenteil, nämlich die einer universellen Weltgemeinschaft,<br />

die keine Einteilung in Grenzen mehr kennt.<br />

Julian Cole nähert sich dem Künstlerpaar im konventionellen biographischen<br />

Doku-Stil, beginnend bei deren Geburt bis hin zur spektakulären,<br />

von Gilbert und George selbst organisierten Ausstellung in<br />

China. Der <strong>Film</strong> wagt zwar keine formalen Experimente, doch seine<br />

stringente Form trägt sehr viel zum Verständnis der beiden „lebendigen<br />

Skulpturen“ bei und entspricht vielleicht auch deren Selbstverständnis,<br />

das Gilbert am Ende des <strong>Film</strong>es zusammenfasst: „Wir sind<br />

konservative Anarchisten.“ Was das bedeutet, kann man erahnen,<br />

wenn man sieht, wie die beiden das Publikum in ihrer typisch steifen<br />

Art durch die Ausstellung „Naked Shit Pictures“ (1994) führen.<br />

Zu sehen sind Nacktaufnahmen von Gilbert und George, garniert mit<br />

kunstvoll ornamentalen Abbildungen ihrer eigenen Scheiße, die sie<br />

über Jahre für diesen Bildzyklus fotografiert haben. s<br />

Oben: In China. Unten: „In the piss“, 1997<br />

KinoWELT<br />

Der Moment<br />

von hans stempel und martin ripkens<br />

Hans Stempel und Martin Ripkens sind ein Paar, seit sie sich 1957 in Düsseldorf kennen gelernt haben. Gemeinsam<br />

arbeiteten sie als freie <strong>Film</strong>journalisten, schrieben Kinder- und jugendbücher, drehten für TV („Wie<br />

geht ein Mann“) und Kino („Eine Liebe wie andere auch“). Zu ihren Veröffentlichungen gehören „Ach Kerl<br />

ich krieg dich nicht aus meinem Kopf“, „Hyperion am Bahnhof Zoo“, „Hotel-Geschichten“ sowie die Autobiografie<br />

„Das Glück ist kein Haustier“. 2008 erhielten die beiden den Special Teddy Award auf den Berliner<br />

<strong>Film</strong>festspielen für ihr Lebenswerk.<br />

s Einfaches Hinschauen genügt nicht, oft macht erst ein<br />

kritischer Blick, vielleicht geschärft durch eigene, eigenwillige<br />

Erfahrungen, offenbar, dass scheinbare Nebenfiguren<br />

in einem <strong>Film</strong> oder einem Bild eine zentrale Rolle<br />

spielen. So ist in Dürers Gemälde von der Geburt Christi,<br />

dem berühmten Paumgartner Altar (Alte Pinakothek,<br />

München), erst nach genauem Hinsehen ein Freundespaar<br />

zu entdecken, das weit mehr Interesse für einander<br />

als für die Geburt Christi zeigt. Wenn auch dieses Paar<br />

wie ein dezenter Gastauftritt in einem <strong>Film</strong> im Hintergrund<br />

erscheint, so wurde es doch von Dürer genau ins<br />

Zentrum des Flügelaltars platziert und nicht etwa Christi<br />

Geburt.<br />

Mit entsprechendem Blick lässt sich auch in Fellinis<br />

<strong>Film</strong> I Vitelloni eine schwule Komponente entdecken,<br />

die alles andere als unwesentlich ist. Zu einer Gruppe<br />

geschwätziger Frauenhelden, die einen kleinen Badeort<br />

dominieren, zählt auch Moraldo, ein zurückhaltender<br />

junger Mann, der zunächst fast farblos erscheint. Unbeachtet<br />

streunt er nachts durch die toten Straßen der<br />

Kleinstadt und erlaubt sich nur auf einem Maskenball,<br />

wo er als Matrose auftritt, eine ungewöhnliche Geste:<br />

Er greift einem der Tänzer ins Gesicht und äußert sich<br />

begeistert über die schöne Nase.<br />

Aber schon der sehnsüchtige Blick, mit dem dieser<br />

Moraldo dem Zug nachschaut, in dem seine Schwester<br />

Sandra, geschwängert von Fausto, dem großmäuligsten<br />

der Vitelloni, auf Hochzeitreise geht, verrät, wie sehr<br />

Moraldo von einer anderen, offeneren Welt träumt. Nicht<br />

zufällig führen ihn seine nächtlichen<br />

Wege immer wieder zum<br />

Bahnhof, Wege, auf denen er den<br />

noch jungenhaften Guido trifft, der<br />

zu seiner Frühschicht am Bahnhof<br />

eilt. Und sicher ist es kein Zufall,<br />

dass Moraldos Augen leuchten,<br />

wenn er Guido sieht.<br />

Im vordergründigen Getue der<br />

übrigen Vitelloni, sie alle leben noch<br />

bei Mama und verabscheuen Arbeit,<br />

gehen solche Einstellungen fast<br />

unter. Und erst am Ende des <strong>Film</strong>s,<br />

wenn Fellini sichtbar gemacht hat,<br />

wie wenig seine Müßiggänger (so<br />

der deutsche Titel des <strong>Film</strong>s) fähig<br />

oder willens sind, ihr Leben zu<br />

ändern, erzählt er in einer letzten<br />

langen Sequenz, wie Moraldo sich<br />

aus der vermieften Kleinstadt stiehlt, um mit dem Zug<br />

das Weite zu suchen. Nur von Guido bemerkt, der ihn verwundert<br />

fragt, ob er denn wirklich glaube, dass es woanders<br />

besser sei, sagt Moraldo: „Vielleicht nicht besser, aber<br />

anders!“ Weitmehr in den Blicken, die sie tauschen als in<br />

den Worten, die sie sagen, wird deutlich, was Moraldo für<br />

Guido empfindet. So richten sich denn Moraldos letzte<br />

Blicke, Close-ups, die mit Totalen des trostlosen Bahnhofs<br />

wechseln, auf Guido. Und nach Abfahrt des Zuges<br />

sieht man Guido unsicher auf einem Gleis balancierend,<br />

in seiner rechten Hand eine Bahnwärterlampe.<br />

Wie sehr Fellini diese letzte Sequenz als gewichtige<br />

Antithese zum Kleinbürgerelend versteht, lässt er mit<br />

simplen, doch eindrucksvollen Zwischenschnitten erkennen,<br />

die uns die Vitelloni schlafend in ihren Betten zeigen.<br />

– Nie wieder hat Fellini diese Nähe zum Neorealismus<br />

erreicht wie mit dieser Arbeit, die 1953 entstand. s<br />

I vitelloni<br />

von Federico Fellini<br />

IT/FR 1953, 103 Min<br />

Arthaus, www.kinowelt.de/dvd<br />

Liebe Vielleicht<br />

Angstvoll wird er wach, es ist<br />

drei Uhr nachmittags. In welcher<br />

Ecke Münchens der Junge aus<br />

der Bahn wohl wohnen mag?<br />

Er geht noch einmal unter<br />

die Dusche, betrachtet sich<br />

nachdenklich im Spiegel und<br />

überlegt, was er mit dem Rest<br />

des Tages machen soll.<br />

Der neue Roman des<br />

Autorenpaares Hans Stempel<br />

und Martin Ripkens webt um<br />

die Geschäfte und Cafés des<br />

Münchner Gärtnerplatzviertels<br />

ein Geflecht aus Stimmungen,<br />

Gelegenheiten, Blickfängen<br />

und Sommerhitze. Dreimal<br />

müssen der junge Boris und<br />

der doppelt so alte Robert<br />

sich zufällig treffen, bis sie es<br />

wagen, an Liebe zu denken.<br />

So leicht, wie die Menschen<br />

in diesem Roman durch die<br />

Stadt treiben, ist das auch<br />

geschrieben, vom notwendig<br />

dramatischen Ende einmal<br />

abgesehen. Eine klare, präzise<br />

Sprache erfasst die Momente,<br />

in denen alles möglich<br />

erscheint, und die dennoch<br />

so leicht zu verpassen sind.<br />

„Liebe Vielleicht“ ist ein<br />

Szene-Roman aus München<br />

und man fühlt sich beim<br />

Lesen, als säße man selbst<br />

dort, am Gärtnerplatz:<br />

Menschen wie Boris oder<br />

Robert flanierten an einem<br />

vorbei und man bräuchte<br />

ihnen nur eine gemeinsame<br />

Geschichte zu geben.<br />

liebe vielleicht<br />

von Hans Stempel und Martin Ripkens<br />

Querverlag, www.querverlag.de<br />

22 23


profil<br />

Kaltmiete | Speed Dating<br />

von Gregor Buchkremer<br />

D 2007, 76 Min<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

„EIn FIlM MuSS<br />

DIcHT SEIn.“<br />

von hanno stecher<br />

Der junge deutsche Regisseur Gregor Buchkremer macht queeres Genrekino.<br />

SiSSY sprach mit ihm über seine <strong>Film</strong>e „Kaltmiete“ und „Speed Dating“.<br />

s Der 29-jährige Gregor Buchkremer ist Absolvent der<br />

Kölner Hochschule für Medienkunst. Obwohl er in seiner<br />

Arbeit auf klassische Erzähltechniken sowie auf handwerkliche<br />

Präzision setzt und sich immer wieder neu an<br />

herkömmlichen Genregrenzen abarbeitet, zeichnen sich<br />

seine <strong>Film</strong>e durch einen ganz eigenen Duktus aus. Sie<br />

hadern stets mit den Konventionen des Kinos und hebeln<br />

diese bisweilen auch ganz aus. Zu Buchkremers wichtigsten<br />

Stilmitteln gehören dabei insbesondere sein für das<br />

deutsche Kino überraschend trockener und treffsicherer<br />

schwarzer Humor, sowie eine Schwäche für Elemente<br />

der Überzeichnung und Verfremdung, die immer wieder<br />

Assoziationen an alte Grusel- oder Trashklassiker hervorrufen.<br />

Wichtigstes Beispiel dieses Zusammenspiels aus<br />

Humor und Horror ist der <strong>Film</strong> Kaltmiete. Der 45-Minüter<br />

erzählt die Geschichte einer Studenten-WG, deren vier<br />

Bewohner sich einen zermürbenden Kleinkrieg liefern:<br />

Einer von ihnen bleibt für den Zuschauer bis zum Schluss<br />

ein Phantom – er hat sich seit Tagen in seinem Zimmer<br />

verschanzt, was eine eigenartige zwischenmenschliche<br />

Dynamik unter seinen Zimmernachbarn in Gang ruft.<br />

Nach und nach offenbart sich wie in einem Kammerspiel<br />

das komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der WG.<br />

Es dauert nicht lange, bis die Nerven blank liegen und die<br />

Geschichte in gleich mehreren persönlichen Tragödien<br />

endet. Auch in Speed Dating lauert das Grauen direkt<br />

unter der Oberfläche. Das Prinzip des <strong>Film</strong>s ist schnell<br />

erzählt: Wer keinen Partner hat, stirbt. Die Suche nach<br />

Liebe wird für die Protagonisten des <strong>Film</strong>s, egal ob homo<br />

oder hetero, zum Überlebenskampf. Der Kurzfilm kann<br />

so als Satire auf eine Gesellschaft verstanden werden, in<br />

der die monogame Zweierbeziehung nach wie vor idealisiert<br />

wird, während der große Teil der Individuen um<br />

sich selbst kreist und damit letztlich unfähig ist, eine<br />

Beziehung nach den selbst gestellten Vorgaben zu leben.<br />

Gemeinsam ist Buchkremers Debütfilmen, dass sie<br />

fast schon auffällig stark mit den Erwartungshaltungen<br />

und Sehgewohnheiten des Zuschauers spielen und diese<br />

notorisch unterlaufen. Und tatsächlich gehört die Möglichkeit,<br />

den Zuschauer zu führen und immer wieder auf<br />

eine falsche Fährte zu locken, für Gregor Buchkremer zu<br />

den reizvollsten Instrumenten des Mediums <strong>Film</strong>, wie er<br />

im Interview erzählt. Ebenso wie die filmische Reflektion<br />

des eigenen Umfeldes, die er mit viel Liebe zum Detail<br />

und zu seinen Figuren betreibt.<br />

Während der Vorbereitung zu seinem ersten Langfilm hat<br />

sich der Regisseur für SISSY Zeit genommen und ein paar<br />

Fragen beantwortet.<br />

GREGoR LöCHER<br />

sissy: Deine <strong>Film</strong>e spielen – ähnlich wie Seifenopern – fast alle in einem<br />

bestimmten sozialen Milieu. Es sind junge Menschen zwischen 20 und<br />

30 und die meisten von ihnen scheinen Studenten oder Leute aus der<br />

Kreativwirtschaft zu sein. Was reizt Dich daran, deine Geschichten<br />

gerade in diesem Gesellschaftsbereich anzusiedeln?<br />

gregor buchkremer: Ich sehe mich auch selbst in so einem Milieu<br />

– meine Freunde und Bekannten sind alle dort zu finden. Mir liegt<br />

es nicht unbedingt, Geschichten zu schreiben, die zu weit von mir<br />

selbst entfernt sind, ich sehe mich lieber in meinem Umfeld um und<br />

beschäftige mich mit dem, was dort passiert. Das finde ich einfach<br />

spannender und ich fühle mich da sicherer. Ich kenne viele Leute im<br />

<strong>Film</strong>bereich, die bewusst irgendwelche Themen bearbeiten, die weit<br />

weg von ihrem eigenen Leben sind, die sie vielleicht nur aus Zeitungsartikeln<br />

kennen. Ich glaube die Gefahr ist dann groß, dass man etwas<br />

falsch macht.<br />

Geht es bei diesem „vor der eigenen Tür kehren“ auch um den Gedanken,<br />

genauer hinschauen zu können? Mir kommt es manchmal so vor,<br />

als wolltest Du mit Deinen <strong>Film</strong>en auch kleine Milieustudien liefern.<br />

Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinen Drehbüchern<br />

und <strong>Film</strong>en nicht nur dem Zuschauer, sondern auch mir selbst<br />

bestimmte Zusammenhänge erklären will. Ich versuche das, was<br />

mich beschäftigt, in eine Form zu packen, eine Ordnung herzustellen<br />

oder ein Muster zu entwickeln und dadurch einen neuen Blick darauf<br />

zu werfen. Und manchmal finde ich auf diesem Weg tatsächlich etwas<br />

ganz Neues über mich oder meine Umwelt heraus.<br />

Gleichzeitig wird von ‚anspruchsvollen‘ <strong>Film</strong>en ja immer auch verlangt,<br />

dass sie über den Tellerrand blicken können, dass sie sich z.B. mit gesellschaftlichen<br />

Problemen oder mit den speziellen Problemen von sozialen<br />

Minderheiten auseinandersetzen.<br />

Ich will kein Betroffenheitskino machen für Leute, die ins Kino<br />

gehen und sich einen dramatischen <strong>Film</strong> über Drogen, Migration<br />

oder Vergewaltigung ansehen und dann denken, sie seien durch den<br />

Kinobesuch bessere Menschen geworden. Das liegt mir nicht. Es gibt<br />

da sicherlich viele tolle <strong>Film</strong>e in diesem Bereich, aber es gibt auch<br />

viele <strong>Film</strong>emacher, die da auf Nummer sicher gehen und auf Teufel<br />

komm raus einen ‚Problemfilm‘ machen wollen. Natürlich will aber<br />

auch jeder, der <strong>Film</strong>e macht oder Drehbücher schreibt, der Welt seinen<br />

Blickwinkel aufdrängen. Trotzdem ist es mein Hauptanliegen,<br />

mit meinen <strong>Film</strong>en zu unterhalten, Momente zu schaffen, wo ich<br />

als Regisseur dann einfach will, das der Zuschauer genau an dieser<br />

bestimmten Stelle lacht oder erschrickt. Das Timing ist mir da total<br />

wichtig. Ich denke, dass der Zuschauer viel mehr mitnimmt, wenn er<br />

sich unterhalten fühlt und sich nicht die ganze Zeit den Kopf zerbrechen<br />

muss. Mehr auf jeden Fall, als wenn er die ganze Zeit den erhobenen<br />

Zeigefinger auf der Leinwand sieht.<br />

War es für Dich als jemand, der an einer Medienkunsthochschule studiert<br />

hat, schwierig, sich mit diesem Anspruch durchzusetzen? Da hat<br />

man sich ja sicherlich etwas anderes unter Kunst vorgestellt als das,<br />

was Du in Deinen <strong>Film</strong>en machst.<br />

Es war in beide Richtungen schwierig. Ich war ja in der Fächergruppe<br />

Medienkunst, wo es überhaupt nicht üblich ist, narrative <strong>Film</strong>e zu<br />

machen. Und auch meine Prüfer, u.a. Marcel Odenbach und Mattthias<br />

Müller, waren ja größtenteils Medienkünstler. Da war es dann schon<br />

so, dass ich das Narrative verteidigen musste. Auf der anderen Seite<br />

stachen die <strong>Film</strong>e auch im Fachbereich <strong>Film</strong> und Fernsehen heraus,<br />

weil es sich bei Speed Dating ja um eine Komödie bzw. um eine Satire<br />

und bei Kaltmiete um einen Thriller handelt. Alle anderen hatten Dramen,<br />

kurze Dramen, während ich Genrefilme gemacht habe. Das war<br />

da total exotisch, da war ich wirklich der Einzige. Ich hatte oft das<br />

Gefühl, dass ich mich auf beiden Seiten rechtfertigen muss, obwohl<br />

ich meine <strong>Film</strong>e persönlich nicht so außergewöhnlich finde, im Kino<br />

und Fernsehen laufen doch auch fast ausschließlich Genrefilme.<br />

Wobei Du ähnlich wie Alfred Hitchcock, der, wie ich weiß, zu Deinen<br />

Vorbildern gehört, ja auch bewusst mit Genres spielst. Neben den unter-<br />

haltsamen Momenten gibt es auch noch viele andere Ebenen, die man<br />

vielleicht auf den ersten Blick nicht unbedingt bemerkt.<br />

Das stimmt schon. Da geht es aber auch wieder um einen bestimmten<br />

Anspruch, den ich an Unterhaltung habe. Wenn Hitchcock beispielsweise<br />

aus Psycho ein klassisches Drama über einen Mann mit<br />

einer gespaltenen Persönlichkeit gemacht hätte, das dieses Thema<br />

völlig ausreizt, wäre der <strong>Film</strong> sicher weniger hängen geblieben und<br />

wohl auch nicht so gut geworden. Er wirkt ja dadurch, dass die Schizophrenie<br />

eben zum großen Twist der Geschichte gehört. Trotzdem<br />

ist sie Teil des <strong>Film</strong>s. Ich mag einfach die Technik auch, wie <strong>Film</strong> über<br />

Schnitt funktioniert, über Sound, über eingelöste oder nicht eingelöste<br />

Erwartungshaltungen der Zuschauer. So funktioniert <strong>Film</strong> für mich,<br />

das ist das schöne daran, dass man die Zuschauer dirigieren kann.<br />

Deine <strong>Film</strong>e sind auch sehr dicht. Es gibt wenige Flächen. Ist Dir das<br />

wichtig?<br />

Meiner Meinung nach muss ein <strong>Film</strong> total dicht sein und ein gewisses<br />

Tempo haben. Manchmal ist es ganz gut, wenn es Momente gibt,<br />

wo man etwas ruhen lässt und vielleicht nur ein einzelnes Bild zeigt.<br />

Aber das muss schon wirklich total durchkomponiert sein, man darf<br />

ja auch nicht vergessen, dass <strong>Film</strong> unheimlich teuer ist. Ich würde in<br />

einem Drehbuch nie auch nur einen Satz ausgesprochen haben wollen,<br />

den ich eigentlich überflüssig finde. Ich sehe meine <strong>Film</strong>e als<br />

Chance, ein kleines eineinhalbstündiges Universum zu eröffnen und<br />

würde die Protagonisten daher nie Füllwörter sagen lassen, nur weil<br />

man das im normalen Leben so macht. Ich achte darauf, dass auch<br />

in dieser kleinen Geste irgend etwas steckt, was wichtig ist, damit<br />

man nicht aussteigt beim Zusehen. Es gibt ja viele <strong>Film</strong>e, die in sich<br />

total unlogisch sind, wenn man länger darüber nachdenkt. Die haben<br />

dann aber oft so ein tolles Tempo, dass man gar keine Zeit hat darüber<br />

nachzudenken, was da gerade alles schief läuft, das ist dann gar nicht<br />

so wichtig.<br />

Das ist ja dann eigentlich eine sehr klassische Perspektive auf <strong>Film</strong>. Für<br />

Dich steht die Illusion im Vordergrund.<br />

Das ist ja auch der Grund, warum ich Lynch so gerne mag, weil ich<br />

denke, dass er die Leinwand eben für sich so richtig nutzt. Er nutzt<br />

sie um Dinge zu behaupten, egal ob das nun ‚realistisch‘ ist oder nicht.<br />

Ich mag das lieber als das bloße Abbilden, da liegen meine Stärken,<br />

denke ich.<br />

Das Thema Homosexualität spielt zwar immer eine Rolle in Deinen <strong>Film</strong>en,<br />

ist aber immer verwoben in einen größeren Zusammenhang. Hast<br />

Du Dir schon einmal überlegt, einen schwulen <strong>Film</strong> zu machen, bei dem<br />

schwule Beziehungen im Vordergrund stehen?<br />

Das würde ich gerne. Ich glaube nur, dass ich das aus taktischen Gründen<br />

nicht als Debütfilm machen könnte. Ich habe ja gerade erst mein<br />

neues Drehbuch fertiggestellt. Das wird dann vielleicht mein zweiter<br />

oder dritter <strong>Film</strong>. Ich würde gerne eine schwule Komödie machen,<br />

darüber denke ich oft nach. Ein <strong>Film</strong>, in dem wirklich alles durch<br />

und durch schwul ist, der aber eben kein ‚Szenefilm‘ oder Coming<br />

Out-<strong>Film</strong> werden soll, mit rosa <strong>Film</strong>plakat und nackten Oberkörpern<br />

von geilen Typen. Es soll kein Problemfilm werden, einfach eine ganz<br />

gewöhnliche Komödie.<br />

Warum ist es denn Deiner Meinung nach so schwierig, solch einen <strong>Film</strong><br />

als Projekt durchzusetzen?<br />

Die ganzen Redakteure und Produzenten, die ganzen Hände, durch die<br />

so ein Buch geht, die sind genauso schwul wie der Rest von Deutschland,<br />

eben nur zu einem kleinen Prozentsatz. Die werden dann immer<br />

diesen Stempel ‚schwul‘ draufsetzen und dann auch immer nach den<br />

‚Problemen‘ suchen oder das Drehbuch in diese Richtung ändern wollen.<br />

Das wird sich auch leider nicht einfach so ändern. s<br />

24 25<br />

profil


profil<br />

„MEIn<br />

THErAPEuT<br />

IST AnDErEr<br />

MEInung.“<br />

interview: paul schulz<br />

jamie Travis gilt mit 29 als der vielleicht talentierteste <strong>Film</strong>emacher Kanadas und ist einer der meist<br />

ausgezeichneten Regisseure seines Landes. Dabei besteht sein gesamtes Œuvre aus fünf ziemlich<br />

schwulen Kurzfilmen, die jetzt auf einer DVD erschienen sind. Ein Gespräch über Hitchcock,<br />

Waschzwang und Sex unter Teenagern.<br />

sissy: Ich habe gerade alle <strong>Film</strong>e gesehen, die du in den letzten sechs<br />

Jahren gemacht hast. Und zwar in weniger als zwei Stunden. Ist es<br />

nicht frustrierend, dass ich das schaffen kann?<br />

Jamie Travis: Überhaupt nicht. Es sind ja gute <strong>Film</strong>e, auch wenn sie<br />

kurz sind. Und sie passen auch stilistisch sehr gut zusammen. Hattest<br />

du denn Spaß beim Kucken?<br />

Ja. Aber ich würde gern wissen, wie autobiografisch die <strong>Film</strong>e sind.<br />

Das ist mir beim Machen selbst nicht bewusst gewesen, aber retrospektiv<br />

betrachtet sind alle meine <strong>Film</strong>e ziemlich autobiografisch.<br />

Jetzt mache ich mir Sorgen um dich.<br />

Das ist nett, aber unnötig.<br />

Wirklich? Alle deine <strong>Film</strong>e handeln von sehr unglücklichen Kindern<br />

oder psychisch gestörten Erwachsenen, oder beidem.<br />

Das ist wahr.<br />

Warst du ein glückliches Kind?<br />

Ich würde sagen ja. Mein Therapeut ist allerdings anderer Meinung.<br />

Könntest du das ausführen?<br />

Ich war ein Kind mit riesiger Vorstellungskraft, sehr theatralisch.<br />

Und damit auch relativ selbstzufrieden, weil ich in meiner Phantasie<br />

ja immer sein oder werden konnte was ich wollte. Ich habe als Knirps<br />

stundenlang am offenen Kamin gesessen und Tee getrunken. Das war<br />

nie langweilig, weil ich gespielt habe, dass ich eine echte Lady bin, die<br />

Tee trinkt. Der große weibliche <strong>Film</strong>star in mir konnte sich allerdings<br />

auch ab und zu melodramatisch die Treppe herunter werfen, was ich<br />

dann auch getan habe.<br />

Mochten dich deine Eltern?<br />

(lacht) Ja, sehr.<br />

Hattest du viele Freunde?<br />

Nicht wirklich, das war auch nicht notwendig. Als Teenager war ich<br />

nie jemand, der viel getrunken oder Drogen genommen hat. Im Gegenteil,<br />

ich war ein echter Streber und man traf mich Samstag Abend eher<br />

in der Bibliothek als in irgendwelchen Clubs.<br />

Du hast die 90er also eigentlich komplett verpasst.<br />

Ich sehe das nicht so. Es war enorm wichtig für mich, sehr gute Noten<br />

zu bekommen. Eine 2+ war schon ein echtes Problem.<br />

Warum?<br />

Die Schule war meine Arbeit. Ich wollte Dingen auf den Grund gehen<br />

und sie so gut wie irgend möglich machen.<br />

Wo ist da die Grenze zur Obsession, perfekt sein zu wollen, in dem Wissen,<br />

nicht perfekt sein zu können?<br />

Natürlich ist genau das mein Problem. Aber ich arbeite daran, nicht<br />

mehr ein solcher Kontroll-Freak zu sein.<br />

Das ist schade. Denn letzten Endes leben doch deine <strong>Film</strong>e stilistisch<br />

wie inhaltlich genau davon, dass deine Figuren und du alles perfekt<br />

machen wollt.<br />

Ja. Aber das ist weder für meine Figuren noch für mich besonders<br />

schön, menschlich gesehen.<br />

Entschädigt der Erfolg nicht ein bisschen? Du hattest mit unter 30 deine<br />

erste Retrospektive im London Museum of Modern Art und giltst als<br />

einer der besten <strong>Film</strong>emacher Kanadas.<br />

Jetzt stell dir mal vor, ich würde mir die ganze Mühe machen, jede<br />

Vorhangfalte in meinen <strong>Film</strong>en kontrollieren, mir stundenlang den<br />

Kopf über Kleinigkeiten zermartern und hätte damit keinen Erfolg.<br />

Das wäre doch furchtbar!<br />

Ja. Du musst am Set ein echter Alptraum sein.<br />

Nein, bin ich nicht. Wenn ich drehe ist ja alles durchgeplant. Da fühle<br />

ich mich sicher.<br />

Du fungierst bei vielen deiner <strong>Film</strong>e gleichzeitig als Drehbuchautor,<br />

Produzent, Set-Designer und Regisseur. Um das Endergebnis möglichst<br />

genau unter Kontrolle zu haben, richtig?<br />

Ja, natürlich. Aber ich bemühe mich, mich selbst dabei genauso ironisch<br />

zu betrachten wie meine Figuren. Denn letzten Endes sind alle<br />

meine <strong>Film</strong>e ja auch Komödien. Schräge Komödien, aber Komödien.<br />

Wenn ich wie bei Patterns (Muster) einen <strong>Film</strong> mache, der auch davon<br />

Michael Kurliak als Chester in „Warum die Anderson-Kinder nicht zum Essen kamen“<br />

handelt, wie jemand sich zwanghaft die Hände wäscht, dann mache<br />

ich mich dabei ja auch über mich selbst lustig. Ich bin also durchaus<br />

in der Lage, Distanz zu meinen eigenen Topoi aufzubauen. Wie sollte<br />

ich sie sonst auch künstlerisch verarbeiten.<br />

Dein Stil wird oft mit dem von Hitchcock und Kubrick verglichen. Deren<br />

<strong>Film</strong>e sind auch Widerspiegelungen ihrer psychischen Zustände.<br />

Ja, und sie sind beide sehr statische <strong>Film</strong>emacher, die große Freude<br />

daran haben, ein Bild mit Bedeutungen aufzuladen und ihm mehr<br />

als eine Ebene zu geben. Das verstehe ich gut. Ich habe vor ein paar<br />

Wochen zum ersten Mal Marnie gesehen und konnte mich dabei nur<br />

sehr eingeschränkt auf die Handlung konzentrieren, weil ich so fasziniert<br />

davon war, wie Hitchcock in diesem <strong>Film</strong> mit Bildsprache<br />

umgeht. Sein Stil wird oft als kalt angesehen, weil die Bilder so durchkomponiert<br />

und kontrolliert sind. Aber das macht vieles in seinen <strong>Film</strong>en<br />

erst möglich.<br />

Wie bei dir. Nur das deine <strong>Film</strong>e zwar unfassbar durchkomponiert, aber<br />

auch quietschbunt sind. Wie wichtig ist Farbe für dich?<br />

Sehr wichtig. Wie überhaupt das ganze Production Design unglaublich<br />

wichtig für mich ist. Es fällt mir sehr schwer, das aus der Hand<br />

zu geben. Aber bei meinem neuen <strong>Film</strong>, den ich gerade vorbereite, tue<br />

ich es. Die Lösung: Wenn es dir wichtig ist, dass die Vorhänge in einer<br />

Szene auf eine ganz bestimmte Art und Weise hängen, such dir jemanden,<br />

der sie genau so hängt. Auch Hitchcock, Kubrick oder Fassbinder<br />

haben immer wieder mit den selben Leuten gearbeitet. Wenn man<br />

etwas nicht selbst machen kann, muss man sich nur Leute suchen, die<br />

es genauso tun, wie man es selbst machen würde.<br />

Leute mit der gleichen Macke.<br />

Ja, sehr richtig. (lacht)<br />

Wie schwul sind deine <strong>Film</strong>e und Figuren?<br />

So schwul wie ich. Was die Bilder und Sets angeht also sehr. Ich weiß<br />

nicht, ob sich 100%ig heterosexuelle Männer diese Mühe überhaupt<br />

machen würden. Bei den Figuren kann ich dir das nicht klar beant-<br />

worten. Das The saddest boy in the world bei schwulen Männern so<br />

gut an kommt, hat mich überrascht, aber auch hier werden mir viele<br />

Bezüge erst retrospektiv klar. Wahrscheinlich ist das ein schwules<br />

Kind, auch wenn es zu jung ist, um seine Entfremdung zu den anderen<br />

Kindern darauf zurückzuführen.<br />

Warst du so?<br />

Ja. Ich hatte seit ich 14 war Sex mit meinem besten Freund, aber wenn<br />

du mich an einen Lügendetektor angeschlossen hättest, hätte ich bis<br />

zu meinem Coming Out glaubhaft versichern können, heterosexuell<br />

zu sein. Mein Sex mit ihm hatte einfach nichts mit dem zu tun,<br />

was ich als „schwul“ kannte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das<br />

zusammen gebracht habe.<br />

Ist es das, wobei dir deine <strong>Film</strong>e helfen?<br />

Wahrscheinlich. Ich benutze meine <strong>Film</strong>e selbst hauptsächlich dazu:<br />

wenn ich sie ansehe, verstehe ich besser, was in mir vorgeht. Und vielen<br />

im Publikum geht das wohl auch so. s<br />

Der traurigste Junge der Welt<br />

Kurzfilme von Jamie Travis<br />

CA 2003–2006, 70 Min<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Wir bedanken uns bei unseren Partnern:<br />

26 27<br />

profil<br />

EDiTion SALZGEBER


frisch ausgepackt<br />

neu auf DvD<br />

von jan künemund<br />

Good Boys<br />

iL 2005, Regie: Yair Hochner, Gmfilms<br />

Dieser kompromisslose<br />

Spielfilm über zwei<br />

Stricher in Tel Aviv<br />

war die erste Regiearbeit<br />

von Yair Hochner,<br />

der ursprünglich nur<br />

das Drehbuch schreiben<br />

wollte. In 16 Tagen<br />

gedreht, ohne Geld und<br />

Unterstützung durch<br />

das israelische <strong>Film</strong>system, auf der Grundlage<br />

freiwilliger Mitarbeit von Freunden, eroberte<br />

dieser <strong>Film</strong> die schwullesbischen Festivals und<br />

brachte es hierzulande sogar zu einem kleinen<br />

Kinostart. Hochners raue Tel Aviver Nachtstudie<br />

macht das, was man mit einer geringen<br />

Ausstattung machen kann: er bleibt dicht an<br />

der vorgefundenen Realität. Er begleitet die<br />

beiden Jungs durch 1 ½ Tage, in skurrilen und<br />

gefährlichen Situationen ihrer Arbeit und lässt<br />

dabei immer wieder Öffnungen zu einem ‚besseren<br />

Leben‘ aufscheinen: dass die Jungs Halt<br />

in ihrer Szene, dass zwei Stricher vielleicht<br />

miteinander die Liebe finden. Doch Good Boys<br />

ist realistisch genug, um keine einfache Abfahrt<br />

zu nehmen. Sein eigentliches Thema findet der<br />

<strong>Film</strong> im Aufspüren einer Würde, die oft genug<br />

ohne Selbstbestimmung hergestellt wird. Nicht<br />

nur darin gelingt die Verbeugung vor Godards<br />

Vivre sa vie, den Hochner für den besten <strong>Film</strong><br />

hält, der jemals über die Prostitution gemacht<br />

wurde.<br />

AntArticA<br />

iL 2008, Regie: Yair Hochner, Pro-Fun Media<br />

Zeitgleich zu seinem<br />

Debüt Good Boys ist<br />

jetzt auch Yair Hochners<br />

zweiter <strong>Film</strong> in<br />

Deutschland auf DVD<br />

erschienen. Der israelische<br />

Regisseur ist mittlerweile<br />

ein angesehener<br />

<strong>Film</strong>kritiker und<br />

hat 2006 das TLVFest<br />

(Tel Aviv Int. LGBT <strong>Film</strong> Festival) mitgegründet,<br />

dessen künstlerischer Leiter er ist. Anders<br />

als sein radikales Debüt versteht sich Antartica<br />

als leichter urbaner Flirt-Reigen einiger attraktiver<br />

20- und 30somethings in der hippen<br />

Homoszene Tel Avivs, die sich nicht mit den<br />

28<br />

düsteren Seiten der Stadt auseinander setzen<br />

müssen. Doch liegen auch hier die Dramen und<br />

Untiefen der Figuren nicht allzu tief unter der<br />

Oberfläche – denn so verstrickt und verknotet<br />

sich die Szene hier auch darstellt, gerät der<br />

oder die Einzelne doch immer in die Gefahr,<br />

zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Im<br />

Erzählgeflecht des <strong>Film</strong>s weiß man bis zum<br />

Ende nicht, wer denn nun zu wem finden wird<br />

– und ob jemand gar auf der Strecke bleibt. Und<br />

es gelingt Hochner dabei, die schönen Singles<br />

hinreichend komplex zu zeichnen, so dass zum<br />

genussvollen Anschauen auch das Mitfühlen<br />

hinzukommt.<br />

otto; or, up with deAd people<br />

D/CA 2008, Regie: Bruce LaBruce, Gmfilms<br />

„Otto; Or, Up With Dead<br />

People ist ein schwuler<br />

Zombiefilm. Keine reine<br />

Parodie, sondern auch<br />

die vielleicht logischste<br />

Fortführung des Genres<br />

seit langer Zeit. Die<br />

Geschichte um Otto,<br />

einen jungen Zombie,<br />

der sich in einem<br />

unwirklich inszenierten Berlin auf die Suche<br />

nach seiner Todesursache begibt und dabei fast<br />

von der kulturellen Interpretationsmaschine<br />

geschluckt wird, ist ein wahres Heldenepos.<br />

Das Publikum dringt in Welten vor, die ganz<br />

vertraut aber doch unwirklich erscheinen, und<br />

kann nie sicher sein, ob es den <strong>Film</strong> falsch versteht<br />

oder ob man Otto… überhaupt richtig verstehen<br />

kann. Und ob es nicht vielleicht einzig<br />

und allein um das shock-value der Bilder geht,<br />

wenn LaBruce seinen essgestört dürren, aber<br />

ätherisch schönen Hauptdarsteller an scheinbar<br />

echten Hasenleichen herumnagen lässt<br />

oder Untote sich in erst durch Verwesung entstandene<br />

Körperöffnungen hinein begatten. So<br />

sieht heldenhafte Konsequenz aus: für Durchschnittsaugen<br />

eben immer auch ein bisschen<br />

nach Lizzie Borderline.“ (Paul Schulz in der<br />

SISSY 01/09)<br />

der trAuriGste junGe der welt.<br />

kurzfilme von jAmie trAvis<br />

CA 2003–06, Regie: jamie Travis, Edition Salzgeber<br />

Das (wir hoffen: vorläufige) Gesamtwerk des<br />

jungen kanadischen <strong>Film</strong>emachers Jamie<br />

Travis ist ein Katalog aus hysterischen Innen-<br />

einrichtungen,traurigen Kindern und allen<br />

Arten von Mustern (von<br />

Tapeten und von filmischen<br />

Erzählweisen).<br />

In Anlehnung an die<br />

Bezeichnung für <strong>Film</strong>emacher<br />

wie Wes Anderson,<br />

Alexander Payne<br />

oder Todd Solondz darf<br />

man Jamie Travis den ersten der „Canadian<br />

Eccentrics“ nennen. Mehr dazu auf Seite 26.<br />

cominG of AGe, vol. 1<br />

USA/GB/FR 1994–2004, Regie: Raoul o’Connell, W.i.Z.,<br />

Armand Lameloise, CMV Laservision<br />

„Coming of Age“ ist<br />

der unscharfe Begriff<br />

für einen Zwischenzustand.<br />

Der aber schon<br />

impliziert, dass am Ende<br />

der vollwertige Erwachsene<br />

steht, der über sich<br />

Klarheit gewonnen hat<br />

und diese nach außen<br />

auch vermitteln kann.<br />

Jede Lesbe und jeder Schwule wird zwangsläufig<br />

das Coming Out damit verbinden und für<br />

diesen gedanklichen Kurzschluss ist der Klassiker<br />

A Friend of Dorothy von 1994 ein schönes<br />

und sehr charmantes Beispiel. Hier fängt<br />

ein junger Mann, seinen Eltern entronnen,<br />

an zu leben. Zwar mit der Hilfe von Barbara<br />

Streisand, aber das ist spätestens dann nicht<br />

mehr so wichtig, als er einen hübschen Judy-<br />

Garland-Fan trifft. Wie man aber für einen<br />

erotischen Schwebezustand Bilder findet, zeigt<br />

die Kurzfilmentdeckung Baby des Music-Clip<br />

(u.a. für Oasis und Massive Attack)-Regisseurs<br />

W.I.Z. Der schickt seine Figur „Little<br />

Joe“ mit den grünen Augen von Ben Whishaw<br />

durch eine Welt aus erotischen Impulsen, aus<br />

Schwänzen und Stöckelschuhen, Schwimmbädern<br />

und Zeitschriftenauslagen. Hier ist nichts<br />

festgelegt und nichts funktional, hier reift niemand<br />

und gibt niemand Bekenntnisse ab. Es<br />

sind ‚einfach‘ nur 12 Minuten Erregung eines<br />

15-Jährigen.<br />

junGe helden<br />

USA/CA/F/DK 2002–2008., Edition Salzgeber<br />

Ein Sechsjähriger,<br />

ordentlich frisiert und<br />

im feinen Anzug, tritt<br />

vor der versammelten<br />

Familie an ein Mikrophon<br />

und verkündet: „I<br />

am a homosexual!“ Der<br />

stürmische Beifall, den<br />

er damit erntet, spottet<br />

jeglicher Erfahrung und<br />

machte aus Celebration einen Kurzfilmklassiker.<br />

Was Jungs wagen, wenn sie die ersten<br />

Schritte zur Veröffentlichung ihres Anders-<br />

Seins machen, erzählen die anderen <strong>Film</strong>e<br />

dieser Kompilation in vielen Varianten. Schön<br />

sind vor allem die <strong>Film</strong>e, die dicht an einer<br />

jugendlichen Wahrnehmung bleiben – Lloyd<br />

Neck zum Beispiel, der über die Frage der sexuellen<br />

Orientierung hinaus von Freundschaft<br />

und familiären Allianzen erzählt, ohne dass<br />

ein Aspekt dabei die Oberhand gewinnt; oder<br />

Candy Boy von Pascal-Alex Vincent, der souverän<br />

die Möglichkeiten der Animation einsetzt,<br />

um das zu erzählen, was über eine realistische<br />

Wahrnehmung hinausgeht.<br />

GAy fun shorts<br />

D/USA/CA/F/Fi/iS/UK/AUS 2003–08, Edition Salzgeber<br />

Dass Schwule über sich<br />

selbst lachen können,<br />

ist bekannt. Man hat<br />

Übung im Einfühlen in<br />

die ‚andere‘ Perspektive<br />

und lernt fast zwangsläufig,<br />

sich selbst zu<br />

beobachten. Ein Versuch<br />

über schwulen<br />

Humor in 11 <strong>Film</strong>en ist<br />

allerdings gewagt, reicht doch da die Spannbreite<br />

von Ralf König bis Noel Coward. Also<br />

reicht auch hier das Spektrum von <strong>Film</strong>en<br />

mit witziger Pointe (Love Bite, 41 Sekunden),<br />

<strong>Film</strong>en mit witziger Ausgangssituation (Gay<br />

Zombie), über Tragikkomisches (Wrestling,<br />

Der Steingarten), Hysterisches (Die Bedröhnten<br />

und die Getönten, Meins!), bis zu äußerst<br />

Kompliziertem (Ein Harter Schlag, 2 Minuten<br />

nach Mitternacht) – und dann gibt es noch<br />

zwei wirkliche Perlen, die so gar keine Erwartungen<br />

bedienen: Tango Finlandia lässt zwei<br />

Bilderbuch-Männer beim Tanzen schwach<br />

werden, Karaoke Show dagegen ist ein mehrfach-mutiger<br />

Selbstversuch: nackt sein und<br />

Moonwalk tanzen, so dass es gut aussieht. Das<br />

klappt niemals im Leben, aber im <strong>Film</strong> gibt’s<br />

Special Effects. Von einer Kurzfilmsammlung<br />

zum Thema „Männer, die tanzen“ könnte man<br />

sich ziemlich viel erwarten.<br />

freundinnen<br />

D/CH 2007–2008, Edition Salzgeber<br />

Eine Kurzfilmsammlung<br />

zum Thema lesbische<br />

Liebe aus rein<br />

deutschsprachigen<br />

Arbeiten, verschafft<br />

einen guten Überblick<br />

über den Stand des geografisch<br />

nahen <strong>Film</strong>h<br />

o c h s c h u l - O u t p u t s<br />

(denn vor allem dort<br />

werden Kurzfilme gemacht). Die Beiträge sind<br />

grundverschieden in Stil, Ton und filmischem<br />

Zugang. Glioblastom erzählt frei heraus seine<br />

absurde Familiengeschichte mit skurrilem<br />

Humor und Mut zum Nonsense. 510 Meter über<br />

dem Meer dagegen trifft genau und konzentriert<br />

die Stimmung einer Nacht des Wartens,<br />

zwischen Schlafen und Wachen, Müdigkeit und<br />

Sehnsucht – ein <strong>Film</strong>, der selbst irgendwann<br />

zu schweben beginnt. Originell auch Antje &<br />

Wir, in dem lauter gutaussehende junge Menschen<br />

von ihrer erotischen Erfahrung mit ein<br />

und derselben Frau erzählen, die aber im <strong>Film</strong><br />

selbst gar nicht auftaucht. Der <strong>Film</strong>, den man<br />

hier nicht sieht, geht in leuchtenden Farben im<br />

eigenen Kopf los.<br />

die verBorGene welt<br />

ZA/UK 2007, Regie: Shamim Sarif, Pro-Fun Media<br />

Die Autorin und <strong>Film</strong>emacherin<br />

Shamim<br />

Sarif bereichert das<br />

Queer Cinema gerade<br />

durch multimediale<br />

und multikulturelle<br />

lesbische Geschichten.<br />

Die Tochter südasiatischer<br />

Eltern, in Südafrika<br />

aufgewachsen,<br />

heute in London lebend, ist dazu übergegangen,<br />

ihre eigenen preisgekrönten Romane zu<br />

verfilmen. Die verborgene Welt ist ihr Debüt<br />

und macht es sich nicht leicht: Es erzählt in<br />

einem entfernten historischen Setting (Südafrika<br />

in den 1950ern, zu Beginn der Apartheid-<br />

Politik) ein sehr spezifisches Kulturthema (die<br />

Situation von Indern in einem in Schwarz und<br />

Weiß getrennten Land). Darin allerdings entwickelt<br />

sich die universelle Liebesgeschichte<br />

zweier sehr unterschiedlicher Frauen als zarte<br />

Romanze kleiner, versteckter Gesten, gegen<br />

die die Umwelt in Gestalt von prügelnden Ehemännern,<br />

sadistischen Polizisten und böswilliger<br />

Nachbarinnen hartes Geschütz auffährt. „I<br />

wish I’d knew how it feels to be free“ singt Nina<br />

Simone gleich zu Beginn. Diese Blues-Variation<br />

von Grüne Tomaten nimmt sich dennoch das<br />

Recht zum Happy-End heraus.<br />

i cAn’t think strAiGht<br />

UK 2007, Regie: Shamim Sarif, Pro-Fun Media<br />

Auch ihren neuen <strong>Film</strong><br />

I can’t think straight<br />

drehte Shamim Sarif<br />

nach ihrem eigenen<br />

Roman. Diesmal spielt<br />

die Liebesgeschichte<br />

zweier Frauen allerdings<br />

in einer urbanen<br />

Gegenwart, im multikulturellen<br />

London, wo<br />

die christliche Jordanierin palestinensischer<br />

Herkunft Tala auf die muslimische Inderin<br />

Leyla trifft. Das lesbische Coming Out ist in beiden<br />

Fällen kompliziert, von einer gemeinsamen<br />

Beziehung ganz zu schweigen. Sarif vertraut in<br />

diesem Gewirr an kulturellen und emotionalen<br />

Voraussetzungen auf ein kluges Drehbuch, das<br />

all diese Fäden und Kontexte miteinander zu<br />

verknüpfen weiß und profitiert reichlich von<br />

der Schönheit ihrer beiden Hauptdarstellerinnen<br />

Lisa Rey und Sheetal Sheth, die sich einen<br />

Spaß daraus machen, ihre Rollen aus Die verborgene<br />

Welt im neuen <strong>Film</strong> zu tauschen. Visuell<br />

deutet hier nichts auf ein kleines Budget<br />

hin – auch die Songauswahl geht in die Vollen,<br />

Katy Perry’s „I kissed a girl“ inklusive.<br />

mit Geschlossenen AuGen –<br />

trAGe liefde<br />

nL 2007, Regie: Boudewijn Koole, Edition Salzgeber<br />

Ein junger Mann findet<br />

seinen schwulen Vater,<br />

der gar nichts von ihm<br />

weiß, und geht eine<br />

riskante Beziehung zu<br />

ihm ein. Ein mutiges<br />

und radikales Drama,<br />

von mehreren schmerzvollen<br />

Versionen von<br />

Gershwin’s „Summertime“<br />

unterlegt. „Boudewijn Koole erzählt<br />

seine Geschichte eher bruchstückhaft und deutet<br />

vieles nur an. So bleibt Raum für die Fantasie<br />

des Zuschauers, der andererseits womöglich<br />

auf falsche Fährten gelockt und dazu gebracht<br />

wird, Verbindungen herzustellen, die es gar<br />

nicht gibt, und sich Falsches zusammenzureimen.“<br />

(Jan Gympel in der SISSY 1/09)<br />

Autopsy<br />

F 2007, Regie: jérôme Anger, Edition Salzgeber<br />

frisch ausgepackt<br />

Ein harter Cop, der<br />

in seinem Revier klar<br />

kommt, vielleicht etwas<br />

jähzornig, aber so kennt<br />

man das aus Krimis.<br />

Eine Familie steht im<br />

Hintergrund, eine Frau<br />

und ein pubertierender<br />

Sohn – doch der Vater<br />

ist ein einsamer Wolf,<br />

der die Dinge auf eigene Faust regelt. Wie einsam<br />

er ist, merkt er, als sein Männlichkeitskonzept<br />

ins Wanken gerät – er muss einen Serienkiller<br />

stellen, der es auf alte Schwule abgesehen<br />

hat, und er verliebt sich aus heiterem Himmel<br />

in einen Mann, der kaum weniger ‚männlich’<br />

ist als er selbst. Stéphane Freiss spielt das großartig:<br />

einen Mann, der die Konfrontation sucht<br />

und deshalb auch nicht lange fackelt, wenn es<br />

darum geht, sein bisheriges Leben aufzugeben.<br />

29


frisch ausgepackt<br />

Jérôme Angers Versuch, Coming Out-Drama<br />

und Polizeithriller zu verbinden, ist originell<br />

und fesselnd erzählt.<br />

shelter<br />

USA 2007, Regie: jonah Markowitz, Pro-Fun Media<br />

Der junge Zach hat<br />

wenig Gelegenheiten,<br />

ein ‚Teenager‘ zu sein<br />

– er muss seine Familie<br />

unterstützen und sich<br />

um seinen kleinen Neffen<br />

kümmern. Schwierige<br />

Voraussetzungen<br />

für ein Coming Out.<br />

„Wie sich schließlich<br />

alles für alle Beteiligten trefflich fügt, mag<br />

man als große Gunst des Schicksals betrachten<br />

– oder auch als unbedingten Willen des<br />

Drehbuchautors Jonah Markowitz zu einem<br />

umfassenden Happy End. Doch darüber sieht<br />

man gern hinweg, nicht nur wegen der – zumal<br />

in den von Kulturkämpfen geschüttelten USA<br />

– ausgesprochen politischen Botschaft, der<br />

zufolge Familie und ein ideales Umfeld für<br />

Kinder nicht unbedingt aus Mama und Papa<br />

zu bestehen brauchen. Auch erzählt Markowitz<br />

in seinem Spielfilmregieerstling seine<br />

Geschichte von einem Coming Out, generellem<br />

Selbstfinden und Erwachsenwerden, Aufopferung<br />

und Verantwortung einfühlsam und mit<br />

einer schönen Balance aus Zurückhaltung und<br />

Direktheit.“ (Jan Gympel in der SISSY 1/09)<br />

GeGen die schwerkrAft<br />

(defyinG GrAvity)<br />

USA 1997, Regie: john Keitel, Edition Salzgeber<br />

Solange ‚sexuelle Orientierungen’<br />

ein Thema<br />

sind, wird es Coming<br />

Out-<strong>Film</strong>e geben. Auch<br />

Gegen die Schwerkraft<br />

gehört dazu – die sexuelle<br />

Identitätsfindung<br />

eines jungen Mannes ist<br />

sein zentrales Thema.<br />

Trotzdem ist dieser<br />

kleine <strong>Film</strong> eine Entdeckung. Berührend ist die<br />

Ernsthaftigkeit, mit der Keitel in der sonnigen<br />

südkalifornischen College-Welt aus lärmenden<br />

Buddies und kichernden Mädchen das Drama<br />

ausmacht, den naiven, bei allen beliebten Sonnyboy,<br />

der glaubt, diese Rolle ewig weiterspielen<br />

zu können, so lange er seine Gefühle nur<br />

heimlich auslebt. Den Ehrlichkeit einfordernden<br />

Freund kann er so lange ignorieren, bis<br />

dieser Opfer eines Unfalls wird und dadurch<br />

als Sparringspartner für die Selbstfindung<br />

ausfällt. Erst auf sich allein gestellt, gelingt<br />

sie schließlich und der Freund wird aus dem<br />

Koma wachgeküsst. Dieses wunderschön kit-<br />

schige Happy-End ist kein Drehbuch-Trick – es<br />

wundert sich über Probleme, die eigentlich gar<br />

keine waren.<br />

phoenix<br />

USA 2006, Regie: Michael D. Akers, CMV Laservision<br />

Es wird viel geweint<br />

in diesem <strong>Film</strong>. Über<br />

Beziehungen, die einfach<br />

nicht funktionieren.<br />

Über falsch investierte<br />

Gefühle. Über<br />

Verletzungen, die riskiert<br />

und erlitten werden.<br />

Zwei Männer stellen<br />

fest, dass sie Partner<br />

und Geliebter des selben Mannes gewesen<br />

sind. Sie können ihn nicht zur Rechenschaft<br />

ziehen, da er sich aus dem Staub gemacht hat,<br />

also haben sie nur einander. Mit dem Mut der<br />

Verzweiflung werden Schlussstriche gezogen<br />

und Neuanfänge gewagt, bis sie begreifen, dass<br />

sie erst mal verarbeiten müssen, was ihnen<br />

passiert ist. Michael Akers hat wieder einen<br />

Low-Budget-Spielfilm gedreht, der mit großer<br />

Ernsthaftigkeit das Gefühlsleben seiner beziehungssehnsüchtigen<br />

Protagonisten erkundet,<br />

zwischen jugendlicher Naivität und reifem<br />

Zynismus. Dafür kann man sich schon mal 86<br />

Minuten Zeit nehmen.<br />

kiss the Bride<br />

USA 2007, Regie: C. jay Cox, Pro-Fun Media<br />

Hochzeit als Thema<br />

und Variation. Schon<br />

an der schwulen wird<br />

kein gutes Haar gelassen,<br />

gelingt es Lifestyle-Magazin-Redakteur<br />

Matt doch kaum,<br />

Models für einen Titel<br />

über die Homo-Ehe zu<br />

finden. Die heterosexuelle<br />

Ehe allerdings, noch dazu die seines besten<br />

Freundes, in den er immer noch verliebt ist,<br />

ist für ihn eine persönliche Katastrophe. Und<br />

ihre Verhinderung seine Mission. Zurück in<br />

der Provinz, die vielen abschreckenden Beispiele<br />

dauerbetrunkener Hetero-Ehepaare vor<br />

Augen, kommt er erneut seinem Traummann<br />

nahe, doch eine ‚Bekehrung‘ sieht anders aus.<br />

Klarheit schafft die Ehefrau in spe, die die beiden<br />

Männer noch mal aufeinander loslässt,<br />

um potentielle Lebenslügen zu verhindern. So<br />

scharf die Dialoge auch sind, so böse der Blick<br />

auf die Heuchelei der rechtschaffenen Landeier,<br />

so ironisch das Gerede von den „guten<br />

und den schlechten Zeiten“: am Ende machen<br />

alle auf unkonventionelle Art ihren Frieden<br />

mit der gesellschaftlichen Institution und der<br />

Höhepunkt dieses <strong>Film</strong>s darf doch wieder eine<br />

Hochzeit in üppigster Pracht und ironiefreiem<br />

Pathos sein. Und das schöne Titelbild zur<br />

Homo-Ehe wird auch noch gefunden.<br />

out At the weddinG<br />

USA 2007, Regie: Lee Friedlander, Pro-Fun Media<br />

Chaos and the City –<br />

in dieser Screwball-<br />

Comedy um Geschlechterverwirrung<br />

und<br />

va riable sexuelle Orientierungen<br />

ist nichts,<br />

wie es auf den ‚normalen’<br />

Blick scheint. „Die<br />

zwangsläufig folgenden<br />

Verwicklungen stellen<br />

alle vor große Herausforderungen, und ausgerechnet<br />

während ihres ersten ‚Ausflugs‘ als<br />

Lesbe läuft Lexie ihrem zukünftigen Schwiegervater<br />

in die Arme. Katastrophe! Da hilft<br />

nur eins: das Spiel mit noch größerem Einsatz<br />

weiterspielen… Geistreich, selbstironisch,<br />

turbulent, scharf beobachtend und herrlich<br />

schräg spielt Out at the Wedding mit Klischees<br />

und entlarvt genau diese äußerst charmant.<br />

Bevor der <strong>Film</strong> auf sein fulminantes Ende und<br />

einen großartigen Showdown zusteuert, müssen<br />

noch einige Klippen umschifft und harte<br />

Schläge eingesteckt werden, bis am Ende alle<br />

etwas Elementares dazu gelernt haben und<br />

jede das bekommt, was sie immer schon wollte,<br />

auch wenn das nicht vorhersehbar war.“ (Sharon<br />

Adler in SISSY 1/09)<br />

poster Boy<br />

USA 2004, Regie: Zak Tucker, Pro-Fun Media<br />

Eigentlich sollte dieser<br />

<strong>Film</strong> zur US-Präsidentschaftswahl<br />

2004<br />

erscheinen und damit<br />

zur Wahlhilfe für den<br />

demokratischen Kandidaten<br />

John Kerry werden.<br />

Doch die Produktion<br />

bekam kalte Füße,<br />

die Regisseure wechselten,<br />

der A-Cast wurde durch unbekannte<br />

Schauspieler ersetzt und der <strong>Film</strong> kam fern<br />

jeglicher Wahlkämpfe 2006 in die US-Kinos.<br />

Was nichts aussagt darüber, wie interessant<br />

dieser Low-Budget-Independent-<strong>Film</strong> ist.<br />

Die einfache Geschichte (es stellt sich heraus,<br />

dass der Sohn eines republikanischen Senators<br />

schwul ist und daher kaum noch zur Unterstützung<br />

des homophoben Wahlkampfs seines<br />

Vaters taugt) füllt Regisseur Zak Tucker durch<br />

viele interessante Nebenschauplätze und einen<br />

bösen Humor auf, so dass daraus am Ende das<br />

Drama eines permanent manipulierten Menschen<br />

wird, der keine Chance hat, ein eigenes<br />

Leben zu leben. Das Drehbuch riskiert viel<br />

dabei, ohne sein Potential dabei zu verschenken<br />

und die Kameraarbeit ist alles andere als<br />

TV-Standard. Ein fiebrig nervöser Trip durch<br />

die Untiefen politischen Handels, das nicht<br />

davor zurückschreckt, in die Sexualität von<br />

Menschen einzugreifen.<br />

kAtmiete | speed dAtinG.<br />

D 2007, Regie: Gregor Buchkremer, Edition Salzgeber<br />

Deutsche <strong>Film</strong>emacher<br />

versuchen es ja immer<br />

wieder mit den klassischen<br />

Genres: Thriller,<br />

Science-Fiction, Horror.<br />

Wenn man die ersten<br />

<strong>Film</strong>e des noch jungen<br />

Gregor Buchkremer<br />

gesehen hat, hat man<br />

Grund zur Hoffnung,<br />

dass es auch mal jemand kann. Mehr über<br />

Buchkremers queeren Zugang zu klassischen<br />

Erzählformen auf Seite 24.<br />

Boystown (chuecAtown)<br />

ES 2007, Regie: juan Flahn, Pro-Fun Media<br />

Schwule Gentrifizierung.<br />

Madrids ehemaligerRotlichtbezirk<br />

Chueca, von den<br />

Schwulen und Lesben<br />

mit viel Liebe und Kreativität<br />

wieder lebenswert<br />

gemacht, soll<br />

saniert und in ein bürgerliches<br />

Wohngebiet<br />

umgebaut werden – in ein schwullesbisches,<br />

versteht sich. Was da allerdings noch stört, sind<br />

die alten Bewohner, demographisch korrekt:<br />

die Omas, die einfach nicht weichen wollen. In<br />

Juan Flahns drastischer Komödie werden sie<br />

deshalb von einem skrupellosen (heterosexuellen)<br />

Immobilienhai ermordet – soweit die hübsche<br />

Spielfilmidee. Doch wie man es von vielen<br />

spanischen Komödien kennt, läuft’s im Drehbuch<br />

nicht ganz so geschmiert. Hysterisches<br />

Geplapper, skurrile Nebenfiguren, absurde<br />

Konflikte, überraschende <strong>Film</strong>figuren-Tode,<br />

dramatisches Minenspiel stürzen so geballt auf<br />

den Zuschauer ein, dass er vorsichtshalber zwei<br />

Bier trinken sollte, um der Handlung durch<br />

Reduktion von Komplexität folgen zu können.<br />

Als witzige Hauptfiguren fungiert ein nicht<br />

allzu helles Bärenpaar, das ganz sicher nicht<br />

zur angestrebten Zielgruppe des Immobilienmaklers<br />

zählt. Ihrer hundsgemeinen (Schwieger-)<br />

Mutter wünscht man allerdings bald das<br />

für sie bestimmte Gentrifizierungs-Schicksal.<br />

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wAlAnG kAwAlA – ohne AusweG<br />

PH 2008, Regie: joel Lamangan, CMV Laservision<br />

Die Philippinen haben<br />

eine lange <strong>Film</strong>tradition.<br />

Seit der Einführung<br />

der digitalen<br />

Videoproduktion hat<br />

sich die <strong>Film</strong>szene dort<br />

bis zur Unübersichtlichkeitausdifferenziert.<br />

Walang Kawala<br />

ist ein neues Beispiel<br />

für eine Reihe von queeren <strong>Film</strong>en in Tagalog,<br />

von denen The Blossoming of Maximo Oliveiros<br />

(2005) und Der Masseur – Masahista (2005) die<br />

bekanntesten sein dürften. Oft wird eine ähnliche<br />

Geschichte erzählt – junge Männer müssen<br />

aus unterschiedlichen Gründen ihr Heimatdorf<br />

verlassen und stranden in Manila, wo sie<br />

oft genug keine andere Möglichkeit haben als<br />

ihren Körper zu Geld zu machen. Auch Walang<br />

Kawala erzählt so eine Geschichte, erweitert<br />

ihre Themen aber auch. Ausgangspunkt hier<br />

ist eine schwule Lovestory auf dem Land, die<br />

angesichts der traditionellen Sozialkontrolle ihr<br />

vorhersehbares Ende findet. Im ‚Manila-Teil‘<br />

geht es nicht nur um Prostitution, Gay Bars und<br />

Macho Dancing, sondern auch um Menschenhandel.<br />

Daraus entsteht ein grandioses Drama<br />

großer Gesten, in dem das Schicksal den beiden<br />

Liebenden Joaquin und Waldo keine Chance<br />

lässt. Eine radikale Verbindung von antiker<br />

Tragödie und Telenovela, durch die immer die<br />

genau erfasste soziale Realität durchscheint.<br />

solos<br />

SG 2007, Regie: Kan Lume, Loo Zihan, Gmfilms<br />

In ihren Texten zum<br />

<strong>Film</strong> sprechen die beiden<br />

jungen Regisseure<br />

Kan Lume und Loo<br />

Zihan von einer Lehrer-Schüler-Beziehung,<br />

von Sehnsüchten und<br />

Träumen der Figuren,<br />

von Problemen… Zu<br />

sehen ist das alles nicht<br />

in ihrem <strong>Film</strong> Solos. Man sieht drei Menschen<br />

(Boy, Man und Mother), die nicht miteinander<br />

sprechen, weswegen es auch im <strong>Film</strong> keinen<br />

Dialog gibt. Und in einem anderen, puristischerem<br />

Verständnis von Sehen sieht man viel<br />

mehr in diesem <strong>Film</strong>. Eine Beziehung, einen<br />

älteren und einen jüngeren Mann. Sie schlafen<br />

miteinander, sie fahren Auto, sie packen<br />

einen Koffer. Wie sie diese Dinge tun, von einer<br />

unbewegten Kamera in Schwarzweiß aufgezeichnet,<br />

erzählt mehr als das, was sie tun. Von<br />

einer Beziehung, die am Ende ist, von kleinen<br />

Gemeinheiten und kleinen Liebesbeweisen,<br />

von Angst und Einsamkeit. Immer wieder,<br />

32<br />

überfallartig, werden farbige Sequenzen hineingeschnitten,<br />

Bilderexzesse, kleine Explosionen,<br />

die die Wucht der Gefühle andeuten, die<br />

in den kleinen Alltagsgesten verborgen sind.<br />

Das ist ein freies, rein visuelles Kino, das sich<br />

nicht den restriktiven Strukturen des Produktionslandes<br />

anbiedert, sondern ein künstlerisches<br />

Signal setzt, das weiter geht als jegliches<br />

abgesichertes Reden darüber (wie das von Ian<br />

McKellen im Bonusmaterial). Solos läuft natürlich<br />

nicht in den Kinos in Singapur. (Auch nicht<br />

in den deutschen.) Aber er erweitert die Möglichkeiten<br />

des <strong>Film</strong>s.<br />

the fruit mAchine – rendezvous<br />

mit einem killer<br />

UK 1988, Regie: Philip Saville, Pro-Fun Media<br />

Was für eine Wiederentdeckung!<br />

Diesen<br />

<strong>Film</strong> Ende der 1980er zu<br />

sehen, war ein herzergreifendes<br />

Vergnügen.<br />

Ihn heute zu sehen, ist<br />

ein Erinnern und Vermissen.<br />

Ein Vermissen<br />

von <strong>Film</strong>en dieser Art,<br />

in denen der Härte und<br />

Traurigkeit der Realität eine ganz naive Flucht<br />

in die Phantasie und die selbst erschaffenen<br />

Welten entgegengesetzt wurde. Zwei Teenager<br />

hauen aus ihren homophoben Familien<br />

und Heimen ab, aber sie haben dabei Marilyn<br />

im Ohr: „Runnin’ wild!“. Obwohl sie so unterschiedlich<br />

sind, der eine völlig aufgehend in<br />

seinem WONDERLAND (so eine Neonschrift<br />

am Anfang) der Realitätsflucht und der andere<br />

ein Straßenkind, der das Leben und seine<br />

Grausamkeiten kennt und sich darin eingerichtet<br />

hat, spielen sie hier doch eine der schönsten<br />

Fast-Liebesgeschichten der schwulen <strong>Film</strong>geschichte.<br />

Gejagt von einem Killer, beschützt<br />

von einem ‚Delfin-Mann‘, eingebettet in eine<br />

Synthieoper von Hans Zimmer und angefeuert<br />

von Robbie Coltrane in Frauenkleidern, treiben<br />

die beiden durch ein kaltes England und<br />

opfern sich schließlich für einander und für<br />

die Phantasie eines besseren Lebens auf. Der<br />

<strong>Film</strong> des Schauspielers und Regisseurs Philip<br />

Saville ist pures Kino: im Zeigen und anschließenden<br />

Verzaubern der Realität und im unbedingten<br />

Bekenntnis zur Kraft der Poesie. Wenn<br />

am Ende ein Delfin befreit wird, mag man das<br />

kitschig finden. Doch dass sich damit der Wonderland-Junge<br />

aus der realen Welt und damit<br />

von seinem street-weisen Freund verabschiedet,<br />

trifft den mit-träumenden Kinozuschauer<br />

hart, auch 2009 noch.<br />

Impressum<br />

Herausgeber Björn Koll<br />

Verlag Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />

Mehringdamm 33 · 10961 Berlin<br />

Telefon 030 / 285 290 90<br />

Telefax 030 / 285 290 99<br />

Redaktion Jan Künemund,<br />

presse@salzgeber.de<br />

Art Director Johann Peter Werth,<br />

werth@salzgeber.de<br />

Autoren Martin Büsser, Stefan Jung,<br />

Jan Künemund, Christoph<br />

Meyring, Diana Näcke,<br />

Tobias Rauscher, Martin Ripkens,<br />

Ringo Rösener, Paul Schulz,<br />

Hanno Stecher, Hans Stempel,<br />

Jamie Travis, André Wendler<br />

Lektorat Rut Ferner<br />

Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />

Druck Westermann, Braunschweig<br />

Rechte Digitale oder analoge<br />

Vervielfältigung, Speicherung,<br />

Weiterverarbeitung oder<br />

Nutzung sowohl der Texte als<br />

auch der Bilder bedürfen einer<br />

schriftlichen Genehmigung des<br />

Herausgebers.<br />

Verteilung deutschlandweit in den<br />

schwul-lesbischen Buchläden,<br />

in den CinemaxX-Kinos in<br />

Augsburg, Berlin, Bielefeld,<br />

Bremen, Dresden, Essen,<br />

Freiburg, Hamburg-Wandsbek,<br />

Hannover, Kiel, Magdeburg,<br />

München, Offenbach, Oldenburg,<br />

Regensburg, Stuttgart,<br />

Wuppertal, Würzburg und<br />

weiteren ausgewählten Orten.<br />

Haftung Für die gelisteten Termine<br />

und Preise können wir keine<br />

Garantie geben. Alle Angaben<br />

entsprechen dem Stand des<br />

Drucklegungstages.<br />

Bildnachweise Die Bildrechte liegen bei den<br />

jeweiligen Anbietern.<br />

Anzeigen Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 1<br />

vom Januar 2009.<br />

Abo Sie können SISSY kostenfrei<br />

abonnieren. E-Mail genügt:<br />

abo@sissymag.de<br />

SISSY erscheint alle drei Monate,<br />

jeweils für den Zeitraum<br />

Dezember/Januar/Februar –<br />

März/April/Mai – Juni/Juli/<br />

August – September/Oktober/<br />

November. Auflage: 40.000<br />

Exemplare (Druckauflage).<br />

Unterstützung SISSY bedankt sich bei der<br />

<strong>Film</strong>förderungsanstalt FFA<br />

ISSN 1868-4009<br />

„WIr SInD<br />

KEInE<br />

cInEASTEn.“<br />

von stefan jung<br />

Mit Pasolini und Salzgeber gegen den Mainstream:<br />

Vor 20 jahren entdeckten die Münsteraner Kinomacher<br />

Thomas Behm und jens Schneiderheinze ihre Liebe<br />

zum <strong>Film</strong>.<br />

s Im April 1989 starteten Thomas Behm und Jens Schneiderheinze<br />

ihre erste schwule <strong>Film</strong>reihe in Münster. Für den Drogisten aus Bremen<br />

und den Spiel- und Theaterpädagogen aus Mülheim an der Ruhr,<br />

zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren ein Paar, markierte dies<br />

den Einstieg ins Kinogeschäft. Heute sind die beiden 46-Jährigen<br />

Geschäftsführer des Programmkinos Cinema in der Westfalenmetropole,<br />

das für seine Programme immer wieder ausgezeichnet wird und<br />

nach wie vor viel Wert auf queeres <strong>Film</strong>gut legt.<br />

Die erste schwule <strong>Film</strong>reihe von Behm und Schneiderheinze präsentierte<br />

in einem friedensbewegten Weiterbildungsinstitut 16-Millimeter-<strong>Film</strong>e<br />

wie Ein Mann namens Herbstblume und Wie man sein<br />

Leben lebt. 1990 konnten die beiden Kinofans ins soziokulturelle Zentrum<br />

Cuba umziehen, wo sie mit einer professionellen 35-Millimeter-<br />

Anlage und vier Tagen Betrieb pro Woche zum ernst zu nehmenden<br />

Off-Kino avancierten. Das Spektrum erweiterten sie rasch um lesbische<br />

<strong>Film</strong>e und andere, die in Münster kein Forum fanden. Ein Highlight<br />

der Cuba-Epoche war die Reihe „20 Jahre Schwulenbewegung<br />

im <strong>Film</strong>“ (1993). In dieser Phase entstand die Freundschaft mit Manfred<br />

Salzgeber, dessen Credo „Mit Kino kann man die Welt verändern“<br />

die beiden Kinomacher stark beeindruckte und in schwierigen Zeiten<br />

zum Weitermachen motivierte. „Bis heute hängt ein Salzgeber-Foto<br />

im Cinema-Büro“, berichtet Behm.<br />

1997 erreichte die Professionalisierung der beiden Münsteraner<br />

mit der Übernahme des Programmkinos Cinema seinen Höhepunkt.<br />

Als Geschäftsführer der Cinema <strong>Film</strong>theater GmbH eigneten<br />

sich die Kino-Quereinsteiger gewohnt engagiert alle dafür<br />

nötigen Kenntnisse an. 1998 bauten Behm und Schneiderheinze das<br />

Kinofoyer um und schufen mit dem „Café Garbo“ einen gastronomischen<br />

Treffpunkt für Kinofans, Nachbarschaft, Gay- und Alternativszene.<br />

Und 2005, kurz nach einer Beinahe-Insolvenz, renovierten<br />

sie die drei Kinosäle (158, 58 und 52 Plätze) und verhalfen<br />

Thomas Behm, Monika Treut und Jens Schneiderheinze<br />

rubrik<br />

ihnen so zu mehr Besuchern. Die finanziell oft schwierige Lage des<br />

Kinos entschärfen die Betreiber durch die Einnahmen des Cafés.<br />

Ähnliches leisten auch das originelle Zwei-Säulen-Modell – neben<br />

der GmbH existiert der Verein „Die Linse“ (ursprünglich „Rosa<br />

Linse“), der städtische Zuschüsse und Mitgliedsbeiträge einfährt<br />

– sowie die Prämien, mit denen Land, Bund und Europa das ambitionierte<br />

Programm der Münsteraner jährlich honorieren. Neben<br />

dem aktuellen Repertoire bietet das Cinema stets umfangreiche<br />

Reihen und Werkschauen, die zum Teil in Zusammenarbeit mit<br />

lokalen Initiativen entstehen. Die Palette reicht vom Dokumentarfilm-<br />

und Zivi<strong>Film</strong>Fest über <strong>Film</strong>reihen wie „Stumm<strong>Film</strong> in der<br />

Stadt“ und „Psycho – <strong>Film</strong> und Analyse“ bis hin zu Werkschauen<br />

über Pedro Almodóvar und Gus Van Sant.<br />

Fester Bestandteil des Cinema-Spielplans sind seit jeher die<br />

Queerfilme. Aktuelle Streifen wie Brokeback Mountain, Mein<br />

Freund aus Faro und Ghosted laufen soweit möglich im regulären<br />

Programm. Das <strong>Film</strong>festival Queerstreifen, das jährlich über<br />

vier Tage hinweg im Herbst stattfindet, dieses Jahr bereits zum<br />

elften Mal, präsentiert schwule, lesbische und Transgender-Produktionen<br />

aus aller Welt erstmals in Münster. Ebenfalls zur festen<br />

Institution avanciert ist der Queer Monday mit aktuellen schwullesbischen<br />

<strong>Film</strong>en.<br />

In 20 Jahren Kinoarbeit haben sich für Behm und Schneiderheinze<br />

viele Rahmenbedingungen verändert, ihr Selbstverständnis<br />

aber nicht. Pasolinis Idee von „Kino als Widerstandsarbeit gegen<br />

die Mainstreamisierung des Geschmacks“ halten sie für unverändert<br />

aktuell. Die beiden Kinomacher definieren ihre Arbeit durchaus<br />

auch ästhetisch, vor allem aber politisch-emanzipatorisch: „Wir sind<br />

keine Cineasten. Mit unseren <strong>Film</strong>en wollen wir vielmehr Identifikationsmodelle<br />

anbieten, die in den regulären <strong>Film</strong>theatern nicht vorkommen“,<br />

formuliert Schneiderheinze. s<br />

33<br />

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wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />

bErlIn b_booKS Lübbenerstraße 14 · bruno’S Bülowstraße 106,<br />

030/61500385 · bruno’S Schönhauser Allee 131, 030/61500387 ·<br />

DuSSMAnn Friedrichstraße 90 · gAlErIE JAnSSEn Pariser Straße 45,<br />

030/8811590 · KADEWE Tauentzienstraße 21–24 · MEDIA MArKT AlExA<br />

Grunerstraße 20 · MEDIA MArKT nEuKölln Karl-Marx-Straße 66<br />

· nEgATIvElAnD Dunckerstraße 9 · PrInz EISEnHErz bucHlADEn<br />

Lietzenburger Straße 9a, 030/3139936 · SATurn EuroPAcEnTEr Tauentzienstraße<br />

9 · vIDEo WorlD Kottbusser Damm 73 · vIDEoDroM<br />

Fürbringer Straße 17 DorTMunD lITFASS DEr bucHlADEn Münsterstraße<br />

107, 0231/834724 DüSSElDorF booKxxx Bismarckstraße<br />

86, 0211/356750 · MEDIA MArKT Friedrichstraße 129–133 ·<br />

SATurn Königsallee 56 · SATurn Am Wehrhahn 1 FrAnKFurT/<br />

MAIn oScAr WIlDE bucHHAnDlung Alte Gasse 51, 069/281260 ·<br />

SATurn Zeil 121 HAMburg bucHlADEn MännErScHWArM Lange<br />

Reihe 102, 040/436093 · bruno’S Lange Reihe/Danziger Straße<br />

70, 040/98238081 · clEMEnS Clemens-Schultz-Straße 77 · EMPIrE<br />

MEgASTorE Bahrenfelder Straße 242–244 · MEDIA MArKT Paul-Nevermann-Platz<br />

15 Köln bruno’S Kettengasse 20, 0221/2725637 ·<br />

MEDIA MArKT Hohe Straße 121 · SATurn Hansaring 97 · SATurn Hohe<br />

Straße 41–53 · vIDEoTAxI Ebertplatz 9 · vIDEoTAxI Salierring 42 · vI-<br />

DEoTAxI Hohenzollernring 75–77 MAnnHEIM DEr AnDErE bucHlADEn<br />

M2 1, 0621/21755 MüncHEn bruno’S Thalkirchner Straße<br />

4, 089/97603858 · lIllEMor’S FrAuEnbucHlADEn Barerstraße 70,<br />

089/2721205 · MAx & MIlIAn Ickstattstraße 2, 089/2603320 · SATurn<br />

Schwanthalerstraße 115 · SATurn Neuhauser Straße 39 STuTTgArT<br />

bucHlADEn ErlKönIg Nesenbachstraße 52, 0711/639139 TübIngEn<br />

FrAuEnbucHlADEn THAlESTrIS Bursagasse 2, 07071/26590<br />

WIEn bucHHAnDlung löWEnHErz Berggasse 8, + 43/1/13172982<br />

KInoS<br />

Nicht-heterosexuelle <strong>Film</strong>e können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die<br />

Auswahl wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />

AScHAFFEnburg cASIno FIlMTHEATEr Ohmbachsgasse 1,<br />

06021/4510772 AugSburg cInEMAxx Willy-Brandt-Platz 2,<br />

0821/3258080 bErlIn ArSEnAl Potsdamer Straße 2, 030/26955100<br />

· KIno InTErnATIonAl Karl-Marx-Allee 33, 030/24756011 · xEnon<br />

KIno Kolonnenstraße 5–6, 030/78001530 · cInEMAxx PoTSDAMEr<br />

PlATz Potsdamer Straße 5, 030/25922111 bIElEFElD cInEMAxx<br />

Ostwestfalenplatz 1, 0521/5833583 bocHuM EnDSTATIon KIno IM<br />

bHF. lAngEnDrEEr Wallbaumweg 108, 0234/6871620 brEMEn KIno<br />

46 Waller Heerstraße 46, 0421/3876731 · cInEMAxx Breitenweg 27,<br />

0421/3010101 DrESDEn KID – KIno IM DAcH Schandauer Straße 64,<br />

0351/3107373 · cInEMAxx Hüblerstraße 8, 0351/3156868 ESSEn cInEMAxx<br />

Berliner Platz 4–5, 0201/8203040 ESSlIngEn KoMMunAlES<br />

KIno Maille 4–9, 0711/31059510 FrAnKFurT/MAIn MAl SEH’n<br />

Adlerflychtstraße 6, 069/5970845 · orFEoS ErbEn Hamburger Allee<br />

45, 069/70769100 FrEIburg KoMMunAlES KIno Urachstraße 40,<br />

0761/709033 · cInEMAxx Bertholdstraße 50, 0761/20281410 göT-<br />

TIngEn KIno luMIèrE Geismar Landstraße 19, 0551/484523 HAMburg<br />

METroPolIS KIno Steindamm 52–54, 040/342353 ·<br />

cInEMAxx WAnDSbEK Quarree 8-10, 040/68860778 HAnnovEr<br />

APollo STuDIo Limmerstraße 50, 0511/452438 · cInEMAxx Nikolaistraße<br />

8, 0511/9110319 · KIno IM KünSTlErHAuS Sophienstraße 2,<br />

0511/16845522 KArlSruHE KInEMATHEK KArlSruHE KIno IM PrInz-<br />

MAx-PAlAIS Karlstraße 10, 0721/25041 KIEl DIE PuMPE – KoMMunAlES<br />

KIno Haßstraße 22, 0431/2007650 · cInEMAxx Kaistraße 54–56,<br />

0431/6618010 Köln FIlMPAlETTE Lübecker Straße 15, 0221/122112<br />

· KölnEr FIlMHAuS Maybachstraße 111, 0221/2227100 KonS-<br />

TAnz zEbrA KIno Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 lEIPzIg PAS-<br />

SAgE KIno Hainstraße 19 a, 0341/2173865 MAgDEburg cInEMAxx<br />

Kantstraße 6, 0391/5990077 MAnnHEIM cInEMA quADrAT Collinistraße<br />

5, 0621/1223454 MArburg cInEPlEx Biegenstraße 1a,<br />

06421/17300 MüncHEn nEuES ArEnA FIlMTHEATEr Hans-Sachs-<br />

Straße 7, 089/2603265 · cITy KIno Sonnenstraße 12, 089/591983 ·<br />

cInEMAxx Isartorplatz 8, 089/21211411 MünSTEr cInEMA FIlM-<br />

THEATEr Warendorfer Straße 45–47, 0251/30300 nürnbErg KoMM-<br />

KIno Königstraße 93, 0911/2448889 oFFEnbAcH cInEMAxx Berliner<br />

Straße 210, 069/80907210 olDEnburg cInE K Bahnhofstraße 11,<br />

0441/2489646 · cInEMAxx Stau 79–85, 0441/21 77103 PoTSDAM THAlIA<br />

ArTHouSE Rudolf-Breitscheid-Straße 50, 0331/7437020 rEgEnSburg<br />

WInTErgArTEn Andreasstraße 28, 0941/2980963 · cInEMAxx<br />

Friedenstraße 25, 0941/7802121 SAArbrücKEn KIno AcHTEInHAlb<br />

Nauwieser Straße 19, 0681/3908880 · KIno IM FIlMHAuS Mainzer Straße<br />

8, 0681/372570 ScHWEInFurT KuK – KIno unD KnEIPE Ignaz-Schön-<br />

Straße 32, 09721/82358 STuTTgArT cInEMAxx An DEr lIEDErHAllE<br />

Robert-Bosch-Platz 1, 0711/22007978 TrIEr broADWAy FIlMTHEATEr<br />

Paulinstraße 18, 0651/96657200 WEITErSTADT KoMMunAlES KIno<br />

Carl-Ulrich-Straße 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185 WuPPEr-<br />

TAl cInEMAxx Bundesallee 250, 0202/4930 1181 Würzburg cInE-<br />

MAxx Veitshöchheimer Straße 5a, 0931/3040140<br />

34<br />

nAcHruF<br />

von ringo rösener<br />

Zum Tod von Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009),<br />

der Pionierin der Queer Theory.<br />

s Natürlich ist Homosexualität keine Tatsache, die primär auf eine<br />

sexuelle Orientierung hinweist. Homosexualität rekurriert auf ein<br />

Geständnis, das wir zumeist alle abgelegt haben und es blumig als<br />

Coming Out bezeichnen. Unsere Sexualität ist somit, mehr als die der<br />

anderen, an ein Wissen gebunden, das sich zum Ziel gesetzt hat, alles<br />

über das Liebesleben zu erfahren und es zu bestimmen. Denn „The<br />

special centrality of homophobic oppression […], has resulted from<br />

its inextricability from the question of knowledge and the processes<br />

of knowing in modern Western culture at large.“ Die Literaturwissenschaftlerin<br />

Eve Kosofsky Sedgwick ist in ihren Büchern diesem<br />

Thema nachgegangen. Sie klagt darin den offensichtlichen Schleier<br />

an, den eine bürgerliche Moral über die gleichgeschlechtliche Anziehung<br />

fallen ließ und so erst „Homosexualität“ zu einem existentiellen<br />

Dilemma konstituierte – ein Versteckspiel begann.<br />

Am 12. April dieses Jahres verstarb Eve Kosofsky Sedgwick.<br />

Damit verschwindet eine der Gründerinnen der Queer-Theorie und<br />

Kämpferinnen für ein selbst bestimmtes Sexualleben ohne Geständniszwang.<br />

Uns obliegt es nun, ihre Theorie fortzuführen und sie<br />

nicht auf literarische Texte zu beschränken. Wir werden lernen<br />

müssen, <strong>Film</strong>e ebenso zu betrachten. Denn was wir sehen, ist nicht<br />

unschuldig. Die <strong>Film</strong>historie weist genügend Beispiele auf, in denen<br />

das Wissen von der Anderen Liebe als Ausgeschlossenes, Albernes<br />

oder zu Versteckendes für die Behauptung eines heterosexuellen<br />

Ideals eine wesentliche Rolle spielt. Der Dokumentarfilm The Celluloid<br />

Closet setzt hier an: Ein Hollywood ohne Homosexualität hat es<br />

nie gegeben. Und es wird gezeigt, wie perfide die Traumfabrik sich<br />

selbst zensierte und betrog. <strong>Film</strong> und Theorie arbeiten die Strategien<br />

des Versteckens heraus, das die schamlose Entblößung geradezu provoziert.<br />

Kosofsky Sedgwick lebte ein Leben ohne Versteckspiele. Sie war<br />

immer eine Freundin der Homosexuellen und schien sich in ihrer<br />

Gegenwart mindestens genauso wohl gefühlt zu haben wie in der ihres<br />

Mannes. Daran sollten wir uns erinnern und uns die Mühe machen,<br />

der Konstruktion von Geheimnissen mit Offenheit zu begegnen. s<br />

DAViD SHAnKBonE<br />

<strong>Film</strong>patenschaft<br />

A Florida<br />

Enchantment<br />

USA 1914 regie und produktion Sidney Drew<br />

für Vitagraph Company of America mit Ethel Lloyd,<br />

Charles Kent, Grace Stevens, Ada Gifford, Lillian Burns,<br />

Frank O'Neil, Allan Campbell und Cortland Van Deusen<br />

In diesem ersten lesbisch-schwulen <strong>Film</strong> der <strong>Film</strong>ge-<br />

schichte überhaupt findet eine junge Frau exotische<br />

Geschlechtsumwandlungs-Pillen und eine ganze<br />

Stadt in Florida steht Kopf, nachdem sich diverse<br />

Frauen in Männer und Männer in Frauen verwandelt<br />

haben.<br />

Unsere 1988 erworbene 16mm-Kopie ist mittlerweile<br />

nicht mehr spielbar und A Florida Enchantment<br />

soll neu abgetastet, restauriert und mit deutschen<br />

Zwischentiteln versehen werden. Außerdem soll eine<br />

Klavierbegleitung eingespielt und der <strong>Film</strong> für eine<br />

digitale Kinoauswertung bearbeitet und auf DVD veröffentlich<br />

werden.<br />

Die Kosten dafür übersteigen die planbaren Einnahmen.<br />

Wenn Sie Interesse daran haben, dass dieser<br />

wichtige Meilenstein unserer <strong>Film</strong>geschichte wieder<br />

verfügbar ist und Sie sich zum Beispiel eine Patenschaft<br />

für A Florida Enchantment vorstellen können,<br />

dann setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung.<br />

Björn Koll<br />

Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />

Mehringdamm 33<br />

10961 Berlin<br />

koll@salzgeber.de<br />

Telefon 030 / 285 290 90


Fotos: studio canal+; Paramount Pictures<br />

WIr lIEbEn MännEr.<br />

und guTE fIlME.<br />

After stonewAll Von john ScaglIoTTI<br />

i‘m no Angel MIT MaE WEST<br />

in hAssliebe lolA Von loThar laMbErT<br />

ich küsse nicht Von andré TéchIné<br />

the dAme ednA treAtment<br />

MIT daME Edna EVEragE<br />

TIMM ist der erste TV-Sender für schwule<br />

Männer. TIMM ist digital über Kabel,<br />

Satellit und Internet frei empfangbar.<br />

Weitere Informationen zum Empfang und<br />

zum Programm auf:<br />

www.timm.de<br />

Jetzt auch im<br />

analogen<br />

kabel<br />

von berlin, köln und<br />

dem rhein-main-gebiet

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