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Aufgetaucht - Wie magersüchtige Mädchen lernen - WDR 5

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Leonardo - Wissenschaft und mehr<br />

Sendedatum: 10. September 2008<br />

Schwerpunkt:<br />

<strong>Aufgetaucht</strong> - <strong>Wie</strong> <strong>magersüchtige</strong> <strong>Mädchen</strong> <strong>lernen</strong> können, ihren<br />

Körper besser wahrzunehmen<br />

von Anja Schrumm<br />

O-Ton:<br />

„So sieht der aus... <strong>Wie</strong> son Shirt halt...“<br />

Sprecher: Franzi deutet auf einen schwarzen Neoprenanzug mit kurzen Armen und<br />

Beinen. Über Wochen hat die 15jährige diesen Taucheranzug tragen müssen.<br />

O-Ton:<br />

„Ja, man muss sich schon ein bisschen quälen. Dadurch – also, es ist nicht<br />

so elastisch, es ist schon auf meinen Körper extra angeschneidert. Ja, es ist<br />

schon komisch, sich da reinzufummeln und es stinkt auch...“<br />

Sprecher: Zwei Stunden am Morgen, zwei Stunden am Abend hat Franzi den Anzug<br />

getragen. Manchmal noch ein T-Shirt darüber. Nichts weiter, weil es einfach zu warm<br />

ist. 20 Wochen lang morgens und abends, während ihres stationären<br />

Klinikaufenthalts. Es war Teil ihrer Behandlung. Denn die 15jährige Schülerin leidet<br />

an Bulimie. Sie hungerte, aß dann wieder unkontrolliert und erbrach sich.<br />

O-Ton:<br />

„Ich hab mich ja monatelang nicht angefasst und so. Und dann auf einmal ist<br />

was an der Haut und vorher durfte mich auch keiner anfassen und auf einmal<br />

ist da was ganz Enges an der Haut, was so zwei Stunden, die ganze Zeit die<br />

Haut berührt, das ist total komisch.“<br />

Sprecher: Mit einem Taucheranzug Ess- und Magersucht behandeln – zugegeben:<br />

Das klingt eher nach Voodoo, als nach Wissenschaft. Aber dem Therapieversuch<br />

liegen seriöse wissenschaftliche Untersuchungen zu Grunde. Der „Erfinder“ der<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2008<br />

Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder<br />

vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />

1


Taucheranzug-Therapie kommt aus Leipzig. Dort leitet er Deutschlands einziges<br />

Tast-Labor. An der Klinik für Psychiatrie des Universitätsklinikums.<br />

Sprecher: Dr. Martin Grunwald läuft über das Leipziger Klinik-Gelände. Zwischen<br />

den alten Backsteingebäuden hindurch. Zieht dabei genüsslich an seiner Pfeife<br />

O-Ton:<br />

„Ist natürlich für einen haptisch orientierten Wissenschaftler ein besonderes<br />

Objekt der Begierde, also beim Pfeiferauchen, da hat man was in den<br />

Händen und in der Regel ist es schön gestaltet: Es ist glatt, es ist Holz... Und<br />

da haben die Hände, was zu tun, das ist auch eine Möglichkeit Spannung<br />

abzubauen. ....“<br />

Sprecher: Martin Grunwald: 43 Jahre, weiße Hose, Arztkittel, Gesundheitsschuhe,<br />

randlose Brille. Seit mehr als fünfzehn Jahren beschäftigt er sich mit „Haptik“, der<br />

Lehre vom Tastsinn. In und unter unserer Haut liegen viele verschiedene Arten von<br />

Rezeptoren, also Zellen oder auch Bestandteile von Zellen; die bestimmte Reize<br />

empfangen und weitergeben können. <strong>Wie</strong> viele es genau sind, weiß man noch nicht.<br />

Wahrscheinlich ist es ein millionenfaches Meldesystem aus hochspezialisierten<br />

Einheiten. Jede für sich darauf getrimmt, bestimmte Reize zu registrieren. Die<br />

Puccini-Körper etwa oder die Merkel-Zellen.<br />

O-Ton:<br />

„Die reagieren also ganz hervorragend auf Druck- und Vibrationsreize.<br />

Andere Körper, wie sie genannt werden, sind z.B. die Meißner Körperchen,<br />

die reagieren auch auf Druck und Vibration, haben aber eine andere Position<br />

innerhalb der Haut und sind dadurch auch unterschiedliche sensitiv auf<br />

entsprechende Reize von außen.“<br />

Sprecher: Ob in der Haut, an den Sehnen oder in den Gelenken überall sind die<br />

Rezeptoren verteilt. In unterschiedlicher Dichte. Der Rücken etwa kommt mit einer<br />

Minimalversorgung aus, im Gesicht und auf den Fingerspitzen dagegen drängen sich<br />

die Reiz-Wahrnehmer.<br />

O-Ton:<br />

„... das ist überhaupt das Erstaunliche an diesem gesamten System, dass<br />

alle diese Rezeptoren die hervorragende Eigenschaften haben, immer an zu<br />

sein. D.h. sie sind eigentlich immer in Betrieb und nur im Schlaf finden<br />

bestimmte, aber auch nur ganz wenige Regelprozesse statt, wo man sagen<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2008<br />

Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder<br />

vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />

2


kann: Sie kommen in Ruhe. Eigentlich ist das System ständig aktiv und alle<br />

Gruppen von Rezeptoren arbeiten permanent…“<br />

Sprecher: <strong>Wie</strong> werden die haptischen Signale wahrgenommen, weitergeleitet und<br />

verarbeitet? Welches Gefühlsbild erzeugen die Signalgeber im Gehirn? Das versucht<br />

Grunwald als einer der wenigen deutschen Forscher zu ergründen. Säuglinge und<br />

Kleinkinder „begreifen“ die Welt, lange bevor sie sie optisch wahrnehmen. Der<br />

Tastsinn ist auch maßgeblich für die Selbst-Wahrnehmung verantwortlich. Durch ihn<br />

erschließen sich die Grenzen des eigenen Körpers im Raum. Durch ihn erst „be-<br />

greift“ ein Mensch sein Selbst.<br />

O-Ton:<br />

„Es steigert sich so: Am Anfang, okay, das Essverhalten, ist so ein bisschen<br />

komisch, aber man kann sich anfassen, andere Leute dürfen einen umarmen<br />

und so. Das wird dann immer schlimmer. Ich mochte mich nicht anfassen,<br />

weil ich gedacht habe, ich bin dick und so und es ist alles schwabbelig, dann<br />

möchte mich keiner anfassen, ich mochte mich selber nicht anfassen und<br />

das steigert sich dann so, je länger man das nicht macht, desto schwieriger<br />

wirds auch wieder...“<br />

Sprecher: So erlebte Franzi den Beginn ihrer Bulimie. Vor gut anderthalb Jahren. Sie<br />

magert immer mehr ab. Sie will sich nicht mehr berühren lassen und mag sich nicht<br />

einmal selbst anfassen . Weil sie sich dick und schwabbelig fühlt.<br />

O-Ton:<br />

„Wenn man sich selbst so sieht, fällts auch unheimlich schwer zuzunehmen,<br />

weil man sieht sich ja noch dicker und noch dicker und dann möchte man ja<br />

auch gar nicht zunehmen...“<br />

Sprecher: Franzis Selbstwahrnehmung ist gestört. Ein typisches Symptom.<br />

Essgestörte nehmen ihren Körper völlig anders wahr als ihre Außenwelt.<br />

O-Ton:<br />

„Bevor ich die Krankheit entwickelt hab, hab ich auch immer gedacht: Häää,<br />

warum sind die so dünn? Sehen die das nicht? Finden die das schön oder<br />

was... Ich wusste auch nie, dass man sich so gar nicht sieht. Dass vielleicht<br />

das ganze Umfeld sieht, wie abgemagert die sind, aber man selber sieht das<br />

ja gar nicht. ++Bd. 23’06 Die Leute denken einfach, man ist verrückt oder<br />

man hat einen falsches Schönheitsideal – aber man kann ja nichts dafür,<br />

dass der Kopf da irgendwie falsch schaltet.“<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2008<br />

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Sprecher: Dieser „falschen Verschaltung“ wie Franzi sagt, ist der Haptikforscher<br />

Martin Grunwald auf der Spur. Im Tast-Labor der Universität Leipzig.<br />

Sprecher: Ines Thomas bittet die Probandin in dem bequemen Fernsehsessel aus<br />

blauem Kunstleder Platz zu nehmen. Setzt sich daneben, auf einen leicht<br />

abgewetzten Blümchensessel.<br />

O-Ton:<br />

„Wir untersuchen sie jetzt. Wir schreiben ein EEG, dabei wird der Kopf<br />

untersucht, das ist eine Untersuchung, die überhaupt nicht weh tut. Das EKG<br />

kennen sie sicher schon. Das ist quasi ähnlich, bloß dass die Elektroden<br />

nicht an die Brust kommen, sondern auf den Kopf.“<br />

Sprecher: Die EEG-Assistentin erklärt der Probandin wie es weitergeht.<br />

O-Ton:<br />

„Ich setze ihnen jetzt die Haube auf und markiere die Stellen, wo die<br />

Elektroden hinkommen So, dann werden die Elektroden geklebt.“<br />

Sprecher: Ein Computer misst während des Versuchs den Fluss der Hirnströme. Ines<br />

Thomas bittet die Probandin die Augen zu schließen. Dann greift sie in einen Kasten<br />

mit zwölf Reliefplatten<br />

O-Ton:<br />

„Klackert schön... ich geb ihnen eine, die nicht ganz so schwer ist...klackert,<br />

lacht..., ja, okay…“<br />

Sprecher: Die EEG-Assistentin zieht eine Platte hervor. In die hölzerne Oberfläche ist<br />

ein Muster eingraviert, zwei geometrische Formen sind durch eine Linie verbunden<br />

O-Ton:<br />

„So, sie schließen ihre Augen. Tasten mit beiden Händen diese Platte ab.<br />

Wenn sie das Relief erfasst haben, nehmen sie die Hände zur Seite und<br />

nach meinen Anweisungen dürfen sie die Augen öffnen und im Anschluss<br />

daran zeichnen sie das gemerkte Relief auf…“<br />

Sprecher: Die Finger der jungen Frau gleiten über die Platte. Während dessen<br />

werden die Hirnströme gemessen und im Computer aufgezeichnet.<br />

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O-Ton:<br />

„Das ist tierisch schwer. Sie: Und das ist noch eine der leichterten.<br />

Probandin: Ehrlich, oh Gott... Ich glaube, das werde ich nicht hinkriegen...<br />

Sie: ich gebe ihnen as zum Malen...“<br />

Sprecher: Die EEG-Assistentin drückt der Probandin einen Bleistift in die Hand. Die<br />

junge Frau versucht zu zeichnen, was sie getastet hat.<br />

O-Ton:<br />

„So, in der Art, aber das kann auch voll falsch sein...“<br />

„Voll daneben würde ich sagen... klackert... , echt hab ich das getastet?“<br />

O-Ton:<br />

„Und die Überraschung kam dann eben mit dem einen Fall von<br />

Versuchspersonen, die überhaupt nicht die Stimuli erkennen konnten.“<br />

Sprecher: Erinnert sich Martin Grunwald. 60 Probanden konnten die Reliefs<br />

detailgetreu nachzeichnen. Eine Testperson aber scheiterte komplett. Sie litt unter<br />

Anorexie, also Magersucht.<br />

O-Ton:<br />

„Mit dieser einen Versuchsperson, die sich so gar nicht mit diesem Material<br />

anfreunden konnte und die diese Leistung offensichtlich nicht erbrachte,<br />

begann eigentlich die Fragestellung: Warum kann jemand das nicht?“<br />

Sprecher: Grunwald suchte nach einer Erklärung. Zufällig stieß er auf eine<br />

wissenschaftliche Arbeit, die beschrieb, dass bei Magersüchtigen leichte Störungen<br />

der Sensitivität vorkommen. Der Leipziger Psychologe begann systematisch<br />

<strong>magersüchtige</strong> Patienten zu untersuchen.<br />

O-Ton:<br />

„Und da ist ziemlich klar und deutlich herausgekommen, dass ein Großteil<br />

der Patienten unsere Reliefstimuli nicht richtig verstehen konnte. Und wir<br />

können sehr sicher sagen, dass hier offensichtlich eine Störung in der<br />

haptischen Wahrnehmung bei dieser Population der Erkrankungen vorliegt.“<br />

Sprecher: Grunwalds Untersuchungen sorgten international für Aufsehen. Er fand<br />

heraus, dass die Tastreize im Gehirn im sogenannten rechten Parietalkortex<br />

verarbeitet werden. Essgestörte reagierten bei Tastversuchen – im Vergleich zu<br />

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gesunden Probanden - mit deutlich geringerer Hirnaktivität in dieser Region. Im<br />

rechten Parietalkortex wird aber auch die Eigenwahrnehmung des Menschen, das so<br />

genannte „Körperschema“ erzeugt. Und genau dieses Schema ist bei Essgestörten<br />

häufig verzerrt.<br />

Sprecher: Berlin-Charité: Auf Station 31 der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik<br />

im Kindes- und Jugendalter spielen zwei Teenager Tischtennis. Hier wurde auch<br />

Franzis Bulimie 20 Wochen lang behandelt.<br />

O-Ton:<br />

„Es war gleich die erste Stunde – und ich war total häää??? Irgendwie. Ich<br />

sollte erst auf dem Boden meinen Körperumfang legen, also von meiner<br />

Taille, von meinem Oberarm und von meinem Oberschenkel, sollte ich jetzt<br />

mit einem Seil legen, wie groß ich mir das jetzt so vorstelle. Und dann hat sie<br />

mit einem anderen Seil daneben gelegt, wie es wirklich ist. Also sie hat so<br />

den Bauch abgemessen und so. Und dann sollte ich halt gucken... Also, ich<br />

konnte das gar nicht glauben. Also sie musste dann dreimal nochmal<br />

nachmessen, weil ich dann gesagt habe: Häää, das geht gar nicht.“<br />

Sprecher: Im Therapieraum sitzt jetzt Gabriele Riess im Schneidersitz auf blauen<br />

Turnmatten und zeigt ein paar Polaroid-Fotos. Auf den Bildern sind ein gelbes und<br />

ein rotes Seil zu sehen. Jedes zu einem Kreis gelegt. Jeder Kreis soll den Taillen-<br />

Umfang der Patientin anzeigen. Den subjektiv gefühlten und den objektiv<br />

gemessenen:<br />

O-Ton:<br />

„Das rote, das ist das wie sie sich fühlt, tatsächlich 1,83 und das gelbe ist<br />

das, was wir gemessen haben und dass dann daneben gelegt haben. Und<br />

das verrückte ist, dass sie selber komplett irritiert sind und immer wieder<br />

sagen: Aber, Frau Riess, das kann nicht sein. Und ich sag dann immer:<br />

Komm, ich messe noch mal und du beobachtest mich ganz kritisch und<br />

genau, ob ich meine Hände da verändere und so...“<br />

Sprecher: Die junge Patientin fühlt sich sehr viel dicker als sie ist. Diese so genannte<br />

„Körperschema-Störung“ ist ein typisches Symptom bei Essgestörten, sagt<br />

Körpertherapeutin Riess. Die Patientinnen fühlen sich monströs und sind doch<br />

untergewichtig. Um ihnen zu vermitteln, wo ihr Körper wirklich endet und wo die<br />

Umwelt beginnt, wickelt Gabriele Riess ihnen Decken wie einen Gürtel um den<br />

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Bauch. Die leuchtend orangenen, hellgrünen oder knallroten Decken liegen auf der<br />

Fensterbank.<br />

O-Ton:<br />

„Die Körpertemperatur steigt, das ist auch ein angenehmer Effekt. Und dann<br />

kommen wir jetzt zum Taktilen, zum Haptischen: Sie bewegen sich in dieser<br />

Berührung und <strong>lernen</strong> ihre Ausmaße so noch einmal anders kennen, dass<br />

nämlich über die Haut Signale ans Gehirn gegeben werden, an die rechte<br />

Gehirnhälfte, sozusagen: Hier ist dein Körper zu Ende und das ist etwas, was<br />

ich hier durchaus positiv erlebt...“<br />

Sprecher: Über das Fühlen eine Art haptische „Nachfütterung“ vollziehen – darauf<br />

zielt die Therapie ab.<br />

O-Ton:<br />

„Dass kann ich mit meinen Händen machen, indem ich sie berühre. Ich roll<br />

die ein in Decken, berühre sie mit Gegenständen, ich lass sie taktile<br />

Wahrnehmungen, auch haptische Wahrnehmungen trainieren, immer mit<br />

dem Kontakt auch mit sich alleine, wie gesagt, diese Decken.“<br />

Sprecher: Vor gut zwei Jahren entdeckte Gabriele Riess ein neues<br />

„Berührungsmittel“. Den Neoprenanzug. Eine Patientin, die ihre Diplomarbeit zum<br />

Thema „Essstörungen“ schrieb, hatte sie auf einen Artikel über Martin Grunwald<br />

aufmerksam gemacht. Dort wurde beschrieben wie der Leipziger Haptik-Forscher<br />

einem <strong>magersüchtige</strong>n <strong>Mädchen</strong> durch Anlegen eines Neoprenanzuges helfen<br />

konnte. Der Anzug – so seine Hypothese – stimuliere permanent die haptischen<br />

Rezeptoren und lasse so das alte, verzerrte Selbstbild verblassen. Mittlerweile haben<br />

30 Anorexie- und Bulimie-Patientinnen im Rahmen der Körpertherapie den Neopren-<br />

Anzug getragen. Die Rückmeldungen der <strong>Mädchen</strong> sind durchweg positiv, so<br />

Gabriele Riess. Sie sagen zum Beispiel:<br />

O-Ton:<br />

„Das funktioniert jetzt. Damit hab ich jetzt nicht mehr son Stress. Ich kann<br />

tatsächlich jetzt in den Spiegel schauen, kann mich anschauen und<br />

realistischer einschätzen. Ich kann Kleidung kaufen gehen, ohne dass ich in<br />

Krisen gerate und ich vergleiche mich nicht permanent usw.“<br />

Sprecher: Der Neoprenanzug scheint den essgestörten <strong>Mädchen</strong> auf irgendeine<br />

Weise Halt zu geben:<br />

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O-Ton:<br />

„Was ich immer wieder höre und das ist jetzt auch eine schöne Erfahrung,<br />

dass die <strong>Mädchen</strong> sich sicher fühlen in diesen Neoprenanzügen, das ist auch<br />

ein Indiz für mich, zu sagen, dass ist der richtige Weg, weil da gibt ihnen ihr<br />

Körper zum ersten Mal wieder Halt.“<br />

Sprecher: Das Gefühlte hilft den <strong>Mädchen</strong> offenbar viel mehr als die unzähligen<br />

Beteuerungen, sie seien doch gar nicht dick, sondern total dünn...<br />

O-Ton:<br />

„Ich sag mal jetzt, diesen „Wahn“ zu lindern, zu heilen, da nutzen eben nicht<br />

Worte, die helfen ein bisschen, stützen, aber ich sag mal – und da gebe ich<br />

Herrn Grunwald recht – dieses sensorische Erleben, das Taktile spielt hier in<br />

meiner Arbeit eine sehr große Rolle und natürlich viele andere Methoden<br />

auch.“<br />

Sprecher: Körpertherapie, Gesprächstherapie, regelmäßige Mahlzeiten – auch<br />

Franzi erinnert sich noch gut an ihren Klinikaufenthalt.<br />

O-Ton:<br />

„Lustig war auch in der Klinik, wir hatten so Bauchdecken, so Kissen und<br />

Bauchdecken, als der Umfang in Zentimetern, den man sich verschätzt hatte,<br />

beim Seiltest, wurden einem wieder rangepappt, sozusagen. Und das sah<br />

unglaublich lustig aus.“<br />

Sprecher: Auch wenn Franzis Erinnerungen heute lustig klingen. Für die kranken<br />

<strong>Mädchen</strong> ist die Therapie harte Arbeit. Besonders auch das regelmäßige Tragen des<br />

Neoprenanzuges:<br />

O-Ton:<br />

„Manchmal wollte ich den echt so vom Körper reißen, weil es so ekelig war<br />

und der gestunken hat und ich auch meinen Körper nicht spüren wollte, also,<br />

es war halt komisch, dass zum ersten Mal auch Berührung an den Körper<br />

rankam.“<br />

Sprecherin: Als besonders schön erlebt Franzi das Ausziehen des Anzuges.<br />

O-Ton:<br />

„Also am krassesten war es immer, wenn man den dann ausgezogen hat.<br />

Wenn ich mich dann so angefasst hab, dachte ich immer, so, mmmhhh okay,<br />

ist doch gar nicht so speckig. Also man hat dann ein bisschen mehr das<br />

Gefühl...“<br />

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Sprecher: Seit ihrer Entlassung ist vieles besser geworden. Sie esse wieder<br />

regelmäßig , sagt die 15-jährige .Sie macht eine Gesprächstherapie. Und demnächst<br />

will sie wieder mit der Körpertherapie beginnen. Auch das Körpergefühl habe sich<br />

verbessert. Aber perfekt ist es noch nicht. Ihr Neoprenanzug liegt im Schrank. Sie<br />

trägt ihn nach wie vor. Zum Beispiel abends, wenn sie vor dem Fernseher sitzt.<br />

O-Ton:<br />

„… würd noch sagen, dass der Anzug jetzt nicht so das Allein-Heilmittel für<br />

das Ende der Körperschema-Störung oder so ist. Ich glaube, es braucht auf<br />

jeden Fall Zeit und auch mehr, dass Leute einem einfach sagen: Du siehst<br />

gar nicht dick aus und so und dass man das ein bisschen in seinem Kopf<br />

verinnerlicht. Fühlen ist, glaube ich, schon ein großer Teil, aber auch so<br />

sehen ist, glaube ich, noch ein großer Teil und ich glaube, das braucht<br />

einfach Zeit.“<br />

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