verzeichnis_21.pdf - Gansel, Prof. Dr. Carsten
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<strong>Carsten</strong> <strong>Gansel</strong><br />
Für »Vielfalt und Reichtum« und gegen »Einbrüche<br />
bürgerlicher Ideologie«<br />
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
1 Ein Beispiel 1958<br />
»Die richtige Forderung nach Vielfalt und Reichtum in der Literatur wurde<br />
in vielen literaturverbreitenden Institurionen in ihrem Wesen ins Gegenteil<br />
verkehrt. Damit wurde ein breiter Einbruch bürgerlicher Ideologie möglich.<br />
An unseren Universitäten, in unseren Verlagen und in der Literaturkritik<br />
wurde kein entschiedener Kampf gegen solche liberalistischen Erscheinungen<br />
geführt, wobei die sozialistische Literatur zugunsten der bürgerlichen<br />
zurückgedrängt wurde, durch falsche Proportionen in der thematischen Verlagsplanung,<br />
durch unzureichende Nachauflagenpolitik in bezug auf die<br />
sozialistischen Werke und durch ungenügende Propagierung der sozialistischen<br />
Literatur in Presse, Funk, Buchhandel usw. Die Mayersche Opulenz<br />
Theorie und seine Periodisierung der Literatur trugen zu den Versuchen bei,<br />
die bürgerliche Literatur über die sozialistische Literatur zu stellen.«!<br />
Bei der zitierten Passage handelt es sich um einen Auszug aus dem»Bericht<br />
zur Untersuchung der literaturverbreitenden Institutionen« vom 2 I. April<br />
1958. 2 Der Ausschnitt aus dem Dokument zeigt, womit es Untersuchungen<br />
zu tun bekommen, die sich mit dem »Literatursystem DDR« beschäftigen<br />
und in diesem Kontext Fragen von Kanon wie Kanonisierung nachgehen.<br />
Auf den ersten Blick scheint sich zu bestätigen, dass ein Kanon in der DDR<br />
mit »imperativen Normen« gewissermaßen »von oben« verordnet wurde und<br />
in Reaktion darauf Gegenkanones entstanden. 3 Doch nicht erst das zitierte<br />
Dokument enthält eine Reihe von Indizien, die genau diese Vorstellung in<br />
Frage stellen. Unübersehbar ist nämlich, in welcher Weise Anspruch und<br />
Wirklichkeit auseinander klaffen. Wohl waren Instanzen von Partei und Staat<br />
bemüht, den Prozess von Kanonisierung zu diktieren, ja einen Kanon »von<br />
oben« zu setzen, dies hat jedoch - wie die Replik zeigt - nur bedingt funktioniert.<br />
Grundsätzlich hat man daher davon auszugehen, dass es sich bei<br />
Fragen von Kanon und Kanonisierung um dynamische Prozesse handelt, an<br />
denen - gerade in der DDR - verschiedene Instanzen und Akteure mit- und<br />
gegeneinander wirkten. 4 Insofern bekommen Untersuchungen es mit einem<br />
Netzwerk unterschiedlichster Beziehungen zu tun und mit divergierenden<br />
Handlungsrollen. Das sei nachfolgend exemplarisch untersucht, wobei mit<br />
Blick auf die Kanondiskussion der neunziger Jahre zunächst für den Gegen<br />
233
<strong>Carsten</strong> <strong>Gansel</strong><br />
stand maßgebliche Prämissen knapp skizziert seien. Nachfolgend wird an der<br />
Struktur wie Funktionsweise ausgewählter literarischer Instanzen gezeigt, in<br />
welchem Maße Kanonisierungsvorgänge in der DDR in einem dynamischen<br />
und widerspruchsvollen Prozess abliefen. In diesem Rahmen erfolgt dann<br />
eine Konzentration insbesondere auf Kanonisierungshandlungen, die die<br />
westeuropäische Literatur betreffen.<br />
2 Kanonfragen und Literatursystem DDR<br />
In der Kanondiskussion der neunziger Jahre sind wiederholt Fragen nach<br />
den Begrifflichkeiten, dem Entstehen von Kanones (Kanonbildung) und<br />
ihrer Funktion sowie nach dem gesellschaftlichen Wirken von Kanones<br />
gestellt worden. 5 Danach besteht eine Art Konsens zum Begriff Kanon,<br />
wonach der Kanon eine »strenge Auswahl von Autoren und Werken der Literatur«<br />
bezeichnet, die »eine Gemeinschaft für sich als die vollkommensten<br />
anerkennt und mit Argumenten verteidigt«.6 Auch die Differenzierung in<br />
einen »materialen Kanon« (als Menge von Auroren und Werken) sowie einen<br />
»Deutungskanon«, der die »jeweilig maßgeblichen Kriterien (Kriterienkanon)<br />
und Methoden (Methodenkanon)« enthält, auf»Grund deren das kanonisierte<br />
Textverständnis entsteht«, scheint weitgehend akzeptiert.? Am »materialen<br />
Kanon« unterscheidet Renate von Heydebrand den sogenannten<br />
»Kernkanon«, den sie als »sehr langlebige >große Tradition< auch weltliterarisch<br />
gültiger Autoren und Werke« sieht, sowie einen »akuten Kanon« von<br />
»geringerer Festigkeit«, der »nach dem Bedürfnis der jeweiligen Stunde eine<br />
Auswahl aus der weiteren Literaturtradition und aus der gegenwärtigen Literatur<br />
(enthält)«.8 Die Definitionsvorschläge wurden durch dichotomische<br />
Begriffspaarungen wie »gepflegter« Kanon vs. »wilder« (Eibl)9; »postulierter«<br />
vs. »akuter« (Zymner) 10; »Negativkanon« (Winko)ll; »Cegenkanon« ergänzt<br />
und - so der Eindruck - insgesamt bestätigend übernommen.<br />
Doch auch und gerade die Diskussion um Kanonfragen in der DDR zeigt,<br />
dass der Kanon keineswegs - wie dies der Begriff »materialer Kanon« nahelegen<br />
könnte -, eine naturgegebene Größe ist, vielmehr können Kanones als<br />
»Produkte sozialer Handlungen« gefasst werden, "deren Entstehungs- und<br />
Tradierungsmechanismen zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen«<br />
sind. 12 Der Hinweis auf Kanones als »Produkte von sozialen Handlungen«<br />
stellt die Kanondiskussion in system- und modernisierungstheoretische Kontexte.<br />
Und in der Tat scheint es - gerade in Hinblick auf die DDR - angeraten,<br />
systemtheoretische Ansätze für die Systematisierung von Begriffen wie<br />
die Erforschung von Kanonbildung produktiv zu machen. 13 Angesichts des<br />
zur Verfügung stehenden Raumes sei an dieser Stelle lediglich darauf aufmerksam<br />
gemacht, dass mit Blick auf den Begriff »Literatursystem« im<br />
234
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Wesentlichen zwei Konzepte koexistieren: Erstens gibt es den strukturellsemiotischen<br />
Ansatz, »Literatur als Symbolsystem« zu beschreiben. Michael<br />
Titzmann etwa fasst unter Literatursystem »eine Abstraktion über eine Menge<br />
von Systemen, nämlich den interpretierten Texten eines repräsentativen<br />
Korpus eines raumzeitlichen Segments«.14 Kurz gesagt, es geht um die Texte<br />
selbst. Begriffe wie »materialer Kanon«, »Kernkanon«, »Negativkanon«,<br />
»Gegenkanon« sind auf der Ebene des Symbolsystems angesiedelt. Auch der<br />
Streit darüber, welche Texte in den Kanon gehören, ob es ihn gibt oder geben<br />
soll, ist hier zu verorten. Zweitens existiert das mit unterschiedlicher Akzentsetzung<br />
favorisierte Vorhaben, Literatur auf der Grundlage »sozialwissenschaftlicher<br />
und systemtheoretischer Prämissen« als »Handlungs- bzw.<br />
Sozialsystem« darzustellen. 15 Der Effekt dieses Ansatzes besteht in der interdisziplinären<br />
Erweiterung durch sozialgeschichtliche Dimensionen sowie im<br />
Aufsprengen der Textlastigkeit. Sämtliche der kanonbezogenen Handlungen<br />
wie (De-), (Re)Kanonisierung, Negativkanonisierung, Kanonrevision, Kanonerweiterung,<br />
Kanonöffnung, Kanonpflege, Kanonkritik, Kanonreflexion<br />
gehören - ausgesprochen oder nicht - auf diese Ebene. Denn in jedem<br />
Fall geht es bei den Bemühungen um aufLiteratur bezogene Handlungen,<br />
konkret nämlich um jene drei beziehungsweise vier elementaren Handlungsrollen,<br />
die die Struktur des Handlungssystems Literatur ausmachen:<br />
literarische Produktion (u. a. durch Autoren, Verleger) Vermittlung (u. a.<br />
durch Verleger, Lektoren, Lehrer, Kritiker), Rezeption/Verarbeitung (u. a.<br />
durch Leser, Kritiker). Eben diese verschiedenen Handlungsrollen werden<br />
in dem eingangs zitierten »Abschlußbericht der Kommission zur Untersuchung<br />
der literaturverbreitenden Institutionen« angesprochen. Es ist die Rede<br />
von: Autoren, Verlegern, Kritikern, der Presse, dem Funk, dem Buchhandel.<br />
Für die sehr heterogene Personengruppe ein monolithes Verständnis von<br />
Literatur anzusetzen und sie gewissermaßen als Vertreter des »üben« zu setzen,<br />
trifft nicht. Im Gegenteil, die an Kanonisierungsprozessen in der DDR<br />
Beteiligten hatten sehr verschiedene Literaturauffassungen und sahen in<br />
Abhängigkeit davon ihre Handlungsrolle. Dabei kann man grundsätzlich<br />
davon ausgehen, dass die Handlungsrollen von Literatur-Produktion, Literatur-Vermittlung,<br />
Literatur-Rezeption und Literatur-Verarbeitung bestimmen,<br />
was die jeweils erlaubten »Handlungsspiele« um Literatur sind. Sie sind<br />
über Regeln, Konventionen, Codes, Leitdifferenzen im Handlungshaushalt<br />
des Einzelnen wie der Gesellschaft verankert (Werte, Wertorientierungen,<br />
Normen, Literaturbegriff) und bieten Strategien angemessenen Umgehens<br />
mit literarischen Texten. Doch auch für die DDR gilt, dass es sehr unterschiedliche<br />
Auffassungen eben über die »Handlungsspiele«, die Regeln, die<br />
Konventionen, die Codes gab und die meisten Entscheidungen nicht einfach<br />
»von oben« kamen, sondern Ergebnis von mitunter komplizierten »Aushandlungsprozessen«<br />
auf verschiedenen Ebenen waren. Freilich soll damit<br />
235
Carsren Ganse!<br />
nicht in Abrede gestellt werden, dass im Literatursystem DDR die literaturspezifischen<br />
Handlungsrollen - auch das signalisiert der Bericht - zunächst<br />
bestimmt waren durch Vorgaben aus dem Bereich der (Kultur)Politik. Abgesehen<br />
von dieser Besonderheit der Kanonisierungsvorgänge in der DDR<br />
erscheint es dennoch fraglich, ob man für die DDRwirklich von einem Deutungs-,<br />
Kriterien-, Methodenkanon sprechen kann, wenn darunter die<br />
»jeweilig maßgeblichen Kriterien« verstanden werden. 16 Abgesehen davon,<br />
dass es diese »maßgeblichen Kriterien« nicht gab beziehungsweise sie nur<br />
sehr vage formuliert waren, lässt sich kanontheoretisch sagen: Der sich in<br />
einer Auswahl von Texten manifestierende »materiale Kanon« kann nur zustande<br />
kommen über Deutung, über Interpretationen; aber Deuten wie<br />
Interpretieren sind letztlich wertende Tätigkeiten, mithin literarisches HandelnY<br />
Und genau dieses Handeln muss an konkreten »Fällen« empirisch erhoben<br />
werden. Nur über beständiges Deuten, Interpretieren kann ein »materialer<br />
Kanon« überhaupt erst entstehen. Selbst für jene Texte, die schließlich<br />
Opfer eines Zensuraktes wurden und kurz- oder längerfristig weder in den<br />
»Kernkanon« noch den »akuten Kanon« gelangten, gilt: Sie waren Gegenstand<br />
von Kommunikation mit einer Vielzahl von Deutungen, was den besonderen<br />
Status dieser Texte öffentlich machte und Anschlusskommunikationen<br />
ermöglichte. Damit bestand die Chance, diese Autoren/Texte bei<br />
nächster Gelegenheit in den Kanon zu (re)integrieren. Mit anderen Worten:<br />
Ein Kanonstreit erhöhte unübersehbar das »symbolische Kapital« eines<br />
Autors/Textes in der literarischen wie politischen Öffentlichkeit, provozierte<br />
weitere Kommunikation, führte gegebenenfalls zu Umdeutungen, die<br />
wiederum die Grundlage bildeten, die »Verwandtschaft« mit bereits Kanonisiertem<br />
herauszustellen. Die geglückte Aufnahme eines bisher ausgeschlossenen<br />
Autors/Textes in den Kanon bedeutete immer auch eine Modifizierung<br />
beziehungsweise Ausweitung bisheriger »Kriterien«, was wiederum<br />
Voraussetzung für die Aufnahme von weiteren Autoren/Texten war,<br />
solchen, die sich bislang im Status einer »Außen-« oder »Nebenstimme«<br />
befanden. 18<br />
Die Vielzahl von Kanonisierungshandlungen, die in der DDR beständig<br />
auf ganz verschiedenen Ebenen des Literatursystems über Jahrzehnte abliefen,<br />
machen es ratsam, Kanonfragen in systemtheoretischer Perspektive im<br />
Rahmen eines »Handlungs- und Sozialsystems« zu betrachten. Dies bietet<br />
die Gewähr, die Spezifik von Kanonisierung in der Besonderheit des Systems<br />
aufzusuchen. Einige ausgewählte Strukturmerkmale des Literatursystems<br />
DDR seien der weiteren Darstellung zu Kanonfragen vorangestellt:<br />
1. Bei allen Veränderungen im Gesellschaftsgefüge blieb bis zum Ende der<br />
DDR das Primat der Politik erhalten. Mit anderen Worten, das politische<br />
System wirkte in alle anderen Teilsysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur)<br />
hinein. Dies galt in besonderer Weise für die kulturell-literarische<br />
236
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Sphäre, die einen wie auch immer gewichteten autonomen Status nie wirklich<br />
erreichen konnte. Kanonentscheidungen, Kanonisierungsvorgänge<br />
und -debatten waren insofern nur bedingt »innerästhetisch« begründet,<br />
sondern zunächst erst einmal »politisch«. Die Vermutung aber, dass das<br />
politische Primat zu einer permanenten Ausgrenzung von Texten aus dem<br />
Kanon geführt habe und es feste Prinzipien von Kanonisierung gab, kann<br />
nicht bestätigt werden. Im Gegenteil: In stetigen »Aushandlungsprozessen«<br />
zwischen den unterschiedlichen Instanzen des Literatutsystems wurden<br />
zunehmend mehr Autoren, Texte, literarische Strömungen in den<br />
»materialen Kanon« (re)integriert. Selbst literarische Strömungen, die wie<br />
die Romantik oder die Moderne des 20. Jahrhunderts (insbesondere der<br />
Expressionismus) im Rahmen eines engen Realismus-Konzepts ausgeschlossen<br />
blieben, wurden sukzessive in den »materialen Kanon« aufgenommen<br />
und durch beständige Deutungen anschlussfähig an herrschende<br />
Literaturbegriffe, Codes, Konventionen gemacht. In diesem Rahmen<br />
haben Autoren eine maßgebliche Rolle gespielt, indem sie durch Essays<br />
auf ausgeschlossene Traditionen aufmerksam machten und die dekanonisierten<br />
Autoren / Texte in die literarische Öffentlichkeit brachten. 19 Bei<br />
Werken der Gegenwartsliteratur, denen eine wirkliche oder vermeintliche<br />
(politische) Sprengkraft innewohnte, setzte oftmals schon bald nach dem<br />
Abflauen der (politischen) Erregung der Versuch ein, sie durch eine entsprechende<br />
Deutung beziehungsweise Interpretation »kanonfähig« zu<br />
machen. 20<br />
2. Im Literatursystem DDR hatte ein autonomieästhetisches Denken über<br />
Jahrzehnte keinen Platz. Es wurde vielmehr die »gesellschaftliche Funktion«<br />
von Literatur betont und ihre Chance herausgestellt, in die Gesellschaft<br />
»einzugreifen«. Dieses Verständnis bestimmte sämtliche Handlungsrollen<br />
und wurde von der Mehrzahl der Autoren mitgetragen. Von<br />
daher hatten Kanonentscheidungen sich weniger an »formalen Werten«<br />
wie »Vieldeutigkeit«, »Innovation« »Stimmigkeit«, »Intensität«, »Dichte«<br />
zu orientieren, sondern eher an »inhaltlichen«, »relationalen« und »wirkungsbezogenen«.21<br />
In der DDR war jede (Kanon)Entscheidung für und<br />
gegen einen Text zunächst eine Entscheidung über die antizipierte Wirkung.<br />
Das Nützlichkeitsgebotwie die Frage nach dem Gebrauchswert von<br />
Literatur - Kategorien, die mit literarischer Autonomie wenig zu tun<br />
haben - führten neben der Kampfmetapher »formalistisch« zunächst zur<br />
Abwehr der ästhetischen Moderne und dem >von oben< verfügten Bemühen,<br />
sie aus dem »materialen« Kanon auszuschließen.<br />
3. Weil Literatur als Erziehungsinstanz in der DDR eine entscheidende Aufwertung<br />
erfuhr, erreichte sie hohe gesellschaftliche Bedeutung und Wertschätzung.<br />
Dies hatte zur Folge, dass in besonderer Weise über sie<br />
»gewacht« wurde. Nach wechselnden Prinzipien galten literarische Texte<br />
237
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
beziehungsweise Textgruppen als kanonwürdig - man denke an die besondere<br />
Rolle, die die Sowjetliteratur etwa in den funfZiger Jahren spielte -,<br />
andere als kanonunwürdig - etwa bestimmte Autoren der westeuropäischen<br />
Literatur.<br />
4. Das Literatursystem SBZ/DDR kann daher - dies sei einmal mehr betont<br />
- nicht als seine Teilfunktionen erfullende Sphäre eines ausdifferenzierten<br />
modernen Gesellschaftsgefuges in westeuropäischem Sinne angesehen<br />
werden. Es ist vielmehr Abbild der anders arbeitsteilig organisierten<br />
DDR-Gesellschaft mit veränderten Handlungsrollen und spezifischen<br />
Makro-Konventionen. Den »literarischen Handlungen« in dem so beschriebenen<br />
System ist mit moralisierenden Wertungen nur bedingt beizukommen.<br />
In einer geschlossenen Gesellschaft stellen Eingriffe nichts<br />
anderes dar, als das Wahrnehmen einer von Partei beziehungsweise Staat<br />
übertragenen und rechtlich legitimierten Aufgabe auf Bestimmung, Ausgestaltung,<br />
Kontrolle des Literatursystem. Die einzelnen Institutionen<br />
(Amt fur Literatur u. a.) und Personen (u. a. Politiker, Funktionäre, Autoren,<br />
Lektoren, Kritiker) erfullten insofern Funktionen (Handlungsrollen),<br />
die ihnen gewissermaßen in dem zentralistisch organisierten gesellschaftlichen<br />
System »von Rechts wegen« zustanden. Mit anderen Worten: Der<br />
Eingriff eines Literaturfunktionärs oder Politikers stellte kein Hineinwirken<br />
»von außen« in das Literatursystem dar, sondern war Bestandteil des<br />
Systems selbst, geriet gewissermaßen in den Status einer »literarischen<br />
Handlung«.<br />
3 Kanonisierungsinstanzen in der DDR - Chronologie und Beispiele<br />
Im Weiteren seien in komprimierter Form Instanzen vorgestellt, die zunächst<br />
als Schaltstellen von Literatur-Produktion und Distribution funktionierten<br />
und somit maßgeblich Kanonisierungshandlungen in der DDR mit betrieben.<br />
Die Skizzierung der Institutionen wie ihrer Aufgaben mag einen exemplarischen<br />
Eindruck davon vermitteln, was fur ein komplizierter und >von<br />
oben< gerade nicht mehr steuerbarer Prozess die Kanonisierung darstellte.<br />
Wegen der Komplexität der Vorgänge werden lediglich jene Phasen skizziert,<br />
die fur die Entwicklung des Verlagswesens und den Buchhandel maßgeblich<br />
waren und die Teil einer Geschichte des Literatursystems SBZI DDR sind.<br />
Eine Kenntnis der Institutionen ist fur den in Rede stehenden Zusammenhang<br />
auch deshalb von Bedeutung, weil die in ihnen literarisch Handelnden<br />
beständig und über Jahre mit Fragen von Kanonisierung und Zensurierung<br />
beschäftigt waren. 22<br />
238
Phase 1 - Lizenzvergabe an Verlage<br />
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Für die Neugestaltung des kulturellen Lebens in Deurschland spielte die<br />
Reorganisation der für die Literatur-Produktion und -Vermittlung maßgeblichen<br />
Instanzen eine entscheidende Rolle. Dazu gehörten Verlage, Bibliotheken<br />
und Buchhandlungen. Zunächst zielten die Besatzungsmächte<br />
einheitlich darauf, faschistische und militaristische Literatur aus den Bibliotheken,<br />
Buchhandlungen und von Privatpersonen auszusondern. Der Alliierte<br />
Kontrollrat gab entsprechend dem Potsdamer Abkommen für alle<br />
Zonen einen Befehl zur »Einziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen<br />
und militaristischen Charakters«.23 In der SBZ wurde die<br />
»Konfiskation nazistischer und militaristischer Literatur« durch den Befehl<br />
Nr. 039 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD)<br />
geregelt. Dieser verlangte von allen privaten und staatlichen Bibliotheken,<br />
Buchhandlungen und Verlagen sowie von allen Privatpersonen, Literatur mit<br />
faschistischen, militaristischen und antisowjetischen Inhalten an die Bezirkskommandaturen<br />
der SMA abzuliefern. 24<br />
Lizenzen für die Gründung von Buch- und Zeitschriftenverlagen erteilten<br />
die Besatzungsmächte. In der SBZ erhielten zunächst nur »antifaschistische<br />
Parteien und Organisationen«25 Lizenzen. Ab 1946 wurden in der SBZ Lizenzen<br />
auch an Einzelpersonen vergeben. Bis zum Dezember 1946 waren es<br />
55 Buch- und Zeitschriftenverlage, die von der SMA die Lizenz erhielten.<br />
Auf der Verleger-Tagung am 19. Dezember 1946 in Berlin wurden an weitere<br />
neun Verlage und vierzehn Zeitschriften Lizenzen erteilt. 26 Bis zum<br />
Herbst 1946 erfolgte die Lizenzvergabe allein durch die Informationsabteilung<br />
der SMAD. Danach überprüfte das Referat für Verlagswesen in der<br />
Deutschen Verwaltung für Volksbildung die Lizenzierungen, wobei die<br />
SMAD die letzte Entscheidungsinstanz blieb. 27 Die Lizenzen wurden für eine<br />
unbestimmte Zeit erteilt und konnten durch die SMAD jederzeit wieder<br />
gekündigt werden. Sie waren nicht übertragbar und kein Eigentum des jeweiligen<br />
Lizenzträgers. Die Lizenzurkunde enthielt die allgemeinen Pflichten<br />
und Rechte des Verlegers.<br />
Phase 2 - Der Kulturelle Beirat<br />
Die Veröffentlichung des Befehls Nr. 25 über die »Einrichtung eines ,Rates<br />
für ideologische Fragen des Verlagswesens< in der Sowjetischen Besatzungszone<br />
Deutschlands« weist aus, dass es im Januar 1947 zur Gründung einer<br />
Institution kam, die auch als »Kultureller Beirat« bezeichnet wurde. 28 Der<br />
Kulturelle Beirat spielte dann bis zu seiner Auflösung im August 1951 eine<br />
entscheidende Rolle bei der Erteilung von Verlagslizenzen sowie der Kon<br />
239
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
trolle der entsprechenden Verlagspublikationen. 29 Gleichzeitig kann davon<br />
ausgegangen werden, dass der Beirat nur für einen Teil der Verlage in der<br />
SBZ verantwortlich war. Parallel dazu genehmigte die Informationsabteilung<br />
der SMAD weiterhin das Papier für einflussreiche Verlage wie Aufbau, Kultur<br />
und Fortschritt, Neues Leben, Volk und Welt, den Berliner Verlag. Einzelne<br />
Verlage, wie zum Beispiel Petermänken in Schwerin und Ro-Ro-Ro<br />
erhielten Papier sowohl von der Informationsabteilung der SMAD als auch<br />
vom Kulturellen Beirat zugewiesen. 3o Der Kulturelle Beirat war der Deursehen<br />
Verwaltung für Volksbildung zugeordnet.3l Vorsitzender des Beirats<br />
war Erich Weinert in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der DVV.32 Die<br />
Hauptaufgabe des Kulturellen Beirats bestand in der »Kontrolle über den<br />
ideologischen Inhalt« der in der SBZ erscheinenden Literatur. Diese Funktion<br />
umfasste die Durchsicht der Verlagspläne der lizenzierten Verlage, die<br />
Überprüfung der Beschäftigten der Verlage sowie die »Bearbeitung von Plänen<br />
und Vorschlägen für die Verlagstätigkeit«. Der Kulturelle Beirat sollte<br />
außerdem wesentlich bei der »Heranbildung neuer Schriftstellerkräfte des<br />
neuen demokratischen Deutschlands« tätig werden. 33 In den ersten Monaten<br />
seines Bestehens, bis zur Aufhebung der Vorzensur Anfang 1947, war der<br />
Beirat vor allem eine »vor die SMA Karlshorst geschaltete Befürwortungsstelle«.34<br />
Die Verlage reichten ihre Planungen und zur Veröffentlichung vorgesehene<br />
Manuskripte ein. Innerhalb des Beirats wurde dazu Stellunggenommen<br />
und die positiv bewerteten Manuskripte an die »Propagandaabteilung<br />
der SMA« weitergeleitet. Hier erfolgte die abschließende und maßgebliche<br />
Kontrolle, die über Genehmigung oder Ablehnung der vom Beirat vorgeschlagenen<br />
Texte entschied. Der Kulturelle Beirat hatte insofern zunächst<br />
nur eine »befürwortende« Funktion. 35 Das änderte sich nach Aufhebung der<br />
Vorzensur, der Kulturelle Beirat versuchte - wie es in Kritiken hieß - einen<br />
»100 %igen Lenkungsansptuch« durchzusetzen, in dessen Folge Manuskripte<br />
einen langen Instanzenweg zu durchlaufen hatten. Dabei waren oftmals die<br />
Gründe für Ablehnungen nicht nachvollziehbar. Wiederholt gab es daher<br />
Proteste und scharfe Angriffe von Seiten der Autoren wie auch führender<br />
SED-Politiker. Schließlich wurde der Kulturelle Beirat im August 1950 aufgelöst,<br />
bisherige Aufgaben übernahm das neu gegründete Amt für Literatur<br />
und Verlagswesen sowie die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten.<br />
36<br />
Phase 3 - Das Amt für Literatur und Verlagswesen<br />
Das Amt für Literatur und Verlagswesen bestand zwischen 1951 und 1956.<br />
Es spielte in dieser Zeit eine entscheidende Rolle innerhalb der Verlagsproduktion<br />
der 0 D R und für den Kanonisierungsprozess. Gegründet wurde das<br />
240
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Amt für Literatur und Verlagswesen am 1. September 1951. Det Entschluss<br />
der Regierung der DDRwird in der »Verordnung über die Enrwicklung fortschrittlicher<br />
Literatur« begründet: Um eine planmäßige Weiterenrwicklung<br />
der fortschrittlichen Literatur zu gewährleisten, »ist eine verstärkte, planmäßigere<br />
und systematische Lenkung und Förderung der Buch- und Zeitschriftenproduktion<br />
sowie Verteilung norwendig«Y Der Anspruch mit dem<br />
Amt zentralistisch »von oben« die Literatur-Produktion, -Vermittlung wie<br />
-Rezeption zu regulieren und ein Instanz zu schaffen, die Kanonisierungsvorgänge<br />
kontrolliert, steht außer Frage. Zudem verband sich mit der Einrichtung<br />
des Amtes die Hoffnung, dass sich dieArbeitsbedingungen der lizenzierten<br />
Verlage in der DDR verbessern würden. Aufgaben, die bis zu diesem<br />
Zeitpunkt an verschiedene Verwaltungsstellen verteilt waren, sollten nun<br />
»zentral zusammengefaßt, koordiniert und wahrgenommen« werden. Mit<br />
der Gründung des »Amtes für Literatur und Verlagswesen« wurde die Hauptabteilung<br />
Literatur des Ministeriums für Volksbildung aufgelöst. Es kam zu<br />
Festlegungen über die Aufgaben des neugegründeten Amtes. Dabei ging es<br />
um folgende Schwerpunkte:<br />
1. Die Enrwicklung und Förderung der Literatur aller Gebiete in Zusammenarbeit<br />
mit »demokratischen Organisationen und Fachministerien«.<br />
2. Die Hebung der Qualität durch Begutachtung und Beratung der Verleger.<br />
3. Eine planmäßige Unterstützung der Verlage bei der Herausgabe von Werken<br />
aus der Sowjetunion und anderer Volksdemokratien.<br />
4. Die Lizenzerteilung für Buchverlage und Zeitschriften.<br />
5. Verteilung des »für die Buch- und Zeitschriftenproduktion bestimmten<br />
Papierkontingents«.<br />
6. Die Verbesserung der Arbeit des Buchhandels in der DDR, »zur Sicherung<br />
der Versorgung der Bevölkerung mit fortschrittlicher Literatur«.38<br />
Die Aufgaben des Amtes waren also auf ein literarisches Handeln orientiert,<br />
bei dem es immanent um Kanonisierungsmaßnahmen (Förderung, Kontrolle,<br />
Einschränkung beziehungsweise Zensur) ging. Freilich lässt sich die<br />
Arbeit des Amtes für Literatur nicht aufdie Tätigkeit als »Zensurstelle«, »Zensurinstanz«<br />
oder als »Zensurbehörde« reduzieren. Und ebenso wenig bestand<br />
die Funktion primär darin, »die literarische Enrwicklung (zu) fördern und<br />
(zu) lenken«. Vielmehr war in dem Amt ein Komplex von Aufgaben vernetzt.<br />
Dazu gehörten unter anderem Devisenlenkung, Themenplanung, Verlagspolitik,<br />
Zusammenarbeit mit <strong>Dr</strong>uckereien. 39 Insofern handelten die Personen<br />
des Amtes gewissermaßen beständig im »literarischen« wie »meta-literarischen«<br />
Sinn. Für das Handeln selbst allerdings war kennzeichnend, dass es<br />
auf der Ebene der konkreten Anweisungen, der Regulative, der formalrechtlichen<br />
Verfügungen kaum Verbindliches gab. Insofern war absehbar,<br />
dass das Amt seine Aufgaben nur bedingt erfüllen konnte. Mit Beschluss vom<br />
241
<strong>Carsten</strong> <strong>Gansel</strong><br />
28.6.1956 wurde das Amt für Literatur dann in das Ministerium für Kultur<br />
(MfK) integriert. Von Mitte 1956 bis 1958 hieß die Behörde Hauptverwaltung<br />
Verlagswesen. Im Sommer 1958 wurde sie unter dem neuen Namen<br />
Abteilung Literatur und Buchwesen mit der Hauptabteilung Schöne Literatur<br />
des Ministeriums für Kultur zusammengelegt. 40<br />
Phase 4 - Gründung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im<br />
Ministerium für Kultur (1963)<br />
Eine letzte und entscheidende Phase der Umstrukturierung setzte 1963 ein.<br />
Bis dahin gehörten die meisten belletristischen Verlage zur ZENTRAG (Zentrale<br />
<strong>Dr</strong>uckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft m.b.H.) beziehungsweise<br />
zum <strong>Dr</strong>uckerei- und Verlagskontor (DVK), einem Kontrollorgan der<br />
Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe des ZK der SED, der auch<br />
der Volksbuchhandel und der zentrale Kommissions- und Großbuchhandel<br />
(LKG) unterstellt waren. Erst mit Gründung der Hauptverwaltung Verlage<br />
und Buchhandel im Ministerium für Kultur zum 1.1.1963 wurde die Dominanz<br />
des Parteieigentums im Buchhandel und Verlagswesen überwunden. 41<br />
Die Entwicklung bis Mitte der sechziger Jahre kann man als allmählichen<br />
Zentralisierungsprozess beschreiben, der kennzeichnend für einen DDR-eigenen<br />
Prozess von Modernisierung ist. Entgegen mitunter bis heute stereotyp<br />
wiederholter Thesen, wonach die DDR als eine in allen Bereichen durchstrukturierte<br />
totalitäre Gesellschaft gesehen wird, lassen sich zwei Positionen<br />
formulieren:<br />
1. Noch zu Beginn der fünfZiger Jahre herrschten im Buchhandel der DDR<br />
eher chaotische Strukturen, wobei angestrebt war, dass die Umsetzung der<br />
Maßgaben von »Oben« nach »Unten« funktioniert.<br />
2. Im weiteren Verlauf entstanden für die staatliche Bürokratie in der DDR<br />
relative Spielräume für eigenes Handeln, ja man kann in systemtheoretischer<br />
Perspektive sogar davon sprechen, dass das Teilsystem für sich funktionierte<br />
und keineswegs einzig auf Vorgaben von »üben« reagierte. Insofern<br />
ist zutreffend, wenn in Forschungen zur DDR diese mitunter als<br />
»rechtsfreier Raum« charakterisiert wird, der sich in der "Abwesenheit formalrechtlicher<br />
und klar kalkulierbarer Regulierungsverfahren« äußerte. 42<br />
Unabhängig davon lässt sich sagen: bis zur Mitte der sechziger Jahre bildeten<br />
sich die entscheidenden Strukturen des Verlagssystems in der<br />
SBZ/DDR heraus, und sie blieben bei allen Modifizierungen bis zum<br />
Ende der DDR 1989/90 erhalten. 43<br />
242
4 Zwischen (De)Kanonisierung und Zensurierung<br />
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Bis zum Ende der DDR galt als entscheidende Voraussetzung für die Veröffentlichung<br />
die Erteilung der »<strong>Dr</strong>uckgenehmigung«, eine metaphorische<br />
Umschreibung für den Akt der Zensur. Spätestens seit Mitte der fünfziger<br />
Jahre gab es immer wieder Versuche, das sogenannte »<strong>Dr</strong>uckgenehmigungsverfahren«<br />
abzuschaffen und den Verlagen die Verantwortung für die Produktion<br />
zu übertragen. Sämtliche Bemühungen scheiterten, und die Zensur<br />
galt als ein Phänomen, das jeder in und außerhalb der DDR kannte, über<br />
das es aber keine öffentlichen Diskussionen mehr gab. Erst aufdem X. Schriftstellerkongress<br />
1987 kennzeichnete Christoph Hein das Verfahren der<br />
»<strong>Dr</strong>uckgenehmigung« unmissverständlich als Zensur: »Das Genehmigungsverfahren,<br />
die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die<br />
Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos,<br />
volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar. «44 Die mittlere wie junge Autorengeneration<br />
in der DDR war nicht mehr bereit, sich in kompromissvolle<br />
wie zähe »Aushandlungsprozesse« um Kanonisierung und Zensurierung einzulassen<br />
und einem Literaturverständnis zu folgen, das mit seinen Kanonentscheidungen<br />
einseitig Texte im »materialen Kanon« festzuschreiben suchte,<br />
die in Form wie Inhalt den Literaturbegriffen, Werten, Codes der<br />
Gründergeneration verpflichtet waren.45 Nicht zuletzt ging es Ende der achtziger<br />
Jahre darum, jene »weißen Flecken«46 zu füllen, die aufder literarischen<br />
Landkarte nach wie vor existierten und auch und gerade Literatur aus Westeuropa<br />
betrafen. Mit dem in der DDR beständig schwelenden Kanonstreit<br />
und den Versuchen, den »materialen« Kanon, den »Kernkanon«, den »akuten<br />
Kanon« zu ergänzen, wurde immer auch die Struktur des institutionalisierten<br />
Gedächtnisses problematisiert. Für die DDR lässt sich in kulturgeschichtlicher<br />
Perspektive feststellen, dass in dem Maße, wie die Diskrepanz<br />
zwischen institutionalisierter Geschichte (Kernkanon) und ausgegrenzter<br />
Geschichte (Gegenkanon, Negativkanon), »unerträglich« wurde und die<br />
Kultur »in eine Aporie« trieb, »Modi der Rekonstruktion durchgesetzt« wurden,<br />
die dazu angetan waren, »Fälschungen auf(zu)decken und Lücken (zu)<br />
schließen« und insofern »globale Reinterpretationen der Nationalgeschichte<br />
bzw. des Kanons« (Beate Lachmann) versuchten. 47<br />
Im Kontext mit Kanonisierungshandlungen hatten seit den fünfziger Jahren<br />
strenge Regelungen für die Publikation etwa von literarischen Texten aus<br />
der Bundesrepublik und dem sogenannten »kapitalistischen Ausland« gegolten.<br />
Bereits in der Gründungsverordnung des Amtes für Literatur und Verlagswesen<br />
von 1951 war als entscheidende Aufgabe die »Verbesserung der<br />
Arbeit und die Anleitung des gesamten Buchhandels der DDR zur Sicherung<br />
der Versorgung der Bevölkerung mit fortschrittlicher Literatur« festgelegt.<br />
48 Um dieser Zielstellung gerecht werden zu können, gliederte sich das<br />
243
Carsren Ganse!<br />
Amt in zwei Hauptabteilungen, zwei selbstständige Abteilungen und innerbetriebliche<br />
Abteilungen. Die Abteilungen wiederum waren unterteilt in<br />
Hauptreferate, Referate, Hauptlektorate und Lektorate. 49 Es sei in diesem<br />
Rahmen lediglich die erste Abteilung beschrieben, weil sie für den Prozess<br />
der Kanonisierung eine maßgebliche Rolle spielte. Es handelt sich dabei um<br />
die Hauptabteilung Inhalts-Kontrolle und -Begutachtung. Allein die Bezeichnung<br />
der Behörde unterstreicht, in welcher Weise die Kanonisierung<br />
funktionierte und welches allgemeine Kriterium als maßgeblich galt: die<br />
Inhalts-Kotrolle. Diese Hauptabteilung nun wurde in internen Berichten<br />
Abteilung A genannt. Sie hatte die Aufgabe, die zur <strong>Dr</strong>uckgenehmigung eingereichten<br />
Manuskripte zu prüfen, die »Entscheidungsunterlagen für die<br />
<strong>Dr</strong>uckgenehmigung« auszuarbeiten sowie »gutachterliche Stellungnahmen«<br />
zu erstellen. Des weiteren kam dieser Abteilung die Beratung der Verlagslektorate<br />
zur »Verbesserung der Manuskriptbearbeitung« und die Schulung<br />
der Verlagslektoren zu. Darüber hinaus war die Hauptabteilung verantwortlich<br />
für die »Durchführung schwerpunktmäßiger Analysen« auf den<br />
Gebieten der Literatur und der Zeitschriften. Sie hatte die )thematischen<br />
Entwicklungspläne« der verschiedenen Literaturgebiete zu koordinieren<br />
und diese zu einem »zentralen Literatur-Entwicklungsplan« zusammenzuführen.<br />
50 Es waren 40 Verlage mit belletristischer Orientierung zu »)betreuen«.<br />
Die Arbeit koordinierten sieben Planungsgemeinschaften. Jährlich<br />
war der enorme Umfang von 3000 Manuskripten wissenschaftlicher Literatur<br />
sowie von 5000 Manuskripten künstlerischer Literatur zu begutachten.<br />
Daneben analysierte und koordinierte diese Abteilung 70 Zeitschriften<br />
mit künstlerischen Schwerpunkten. Über die allgemeinen Funktionen<br />
hinaus hatte die Hauptabteilung Inhalts-Kontrolle und -Begutachtung<br />
sogenannte ),Sonderaufgaben« zu erfüllen. Dazu gehörten im Jahre 1955<br />
unter anderem die Ausarbeitung von Vorschlagslisten für westdeutsche<br />
Bücher innerhalb des gesamtdeutschen Literaturaustauschs, die Beurteilung<br />
von Einsendungen für literarische Preisausschreiben des Ministeriums<br />
für Kultur und die Beurteilung von )ausländischen deutschsprachigen<br />
Büchern«.51<br />
Die Frage der Begutachtung stellte sich als ein schwieriges Problem dar,<br />
eindeutige Kriterien existierten nicht, vielmehr waren sie von den wechselnden<br />
politischen und ideologischen Positionen abhängig. 52 So wurde im April<br />
1952 im Rahmen des Friedenskampfes die )Ausmerzung pazifistischer Tendenzen«<br />
vorgeschrieben. Entsprechend sollten Titel des »)kulturellen Erbes«<br />
sowie »Neuschöpfungen« bevorzugt werden, die dieser Vorgabe entsprachen.<br />
Wichtige Kriterien lieferte beispielsweise auch eine auf den 24. Februar<br />
datierte )Liste von Agenten imperialistischer Mächte«, die das Amt für Literatur<br />
(AfL) erstellt hatte.5 3 Es handelte sich hier um Personen, die während<br />
der stalinistischen Schauprozesse als vermeintliche Agenten »entlarvt« wor<br />
244
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
den waren, zum Beispiel RudolfSlansky. Dazu hieß es: ,)Werke solcherAgenten<br />
müssen aus unserer Literatur ausgemerzt werden.«54<br />
Der kurzzeitige politische Kurswechsel 1953 brachte umgehend Bewertungsprobleme<br />
mit sich, die Frage stellte sich, welches nunmehr die<br />
»gültigen Kriterien« sein sollten. 55 Noch Anfang des Jahres war im Zusammenhang<br />
mit einer Papierkrise vom AfL ein »Schwerpunkt-Literaturentwicklungsplan«<br />
erarbeitet worden. Dabei ging es darum, sechs Themengruppen<br />
zu fördern: ),Kampf um nationale Einheit und Entlarvung des<br />
Imperialismus«; die deutsch-sowjetische Freundschaft; die Entwicklung der<br />
sozialistischen Industrie; die sozialistische Umgestaltung des Dorfes; die<br />
Schaffung der nationalen Streitkräfte und die Hebung der Verteidigungsbereitschaft;<br />
die fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes und speziell<br />
der Arbeiterbewegung. 56 Die Folge waren Streichungen beziehungsweise<br />
die Herabsetzung der Auflage solcher Werke, die nicht zum klassischen<br />
oder revolutionären Erbe zählten. Dazu gehörten auch solche Autoren die<br />
»die bürgerliche Literaturgeschichte zur Weltliteratur« rechnete, aber die<br />
»tatsächlich nicht zu ihr gehörten« oder »Werke, deren Autoren nicht die<br />
erforderliche Höhe der Ideologie erwarten ließen«.57 Es versteht sich von<br />
selbst, dass dieser Katalog von Schwerpunkt-Themen bald überholt war, um<br />
so mehr nach dem 17. Juni 1953. Mit Politbürobeschluss vom 9. Juni 1953<br />
war die Orientierung in der DDR auf das Großziel des »sozialistischen Aufbaus«<br />
revidiert worden, das Wort ,)sozialistisch« wurde nunmehr durch »demokratisch«<br />
ersetzt. Anstelle von »sozialistischem Aufbau« sprach man nun<br />
von ),Friedenswinschaft«. Gleichwohl ging die Begutachtung mit den daran<br />
gebundenen fragwürdigen Konsequenzen weiter, nur erfolgte jetzt eine Veränderung<br />
in der Schwerpunktsetzung: die Förderung etwa von sowjetischer<br />
Kriegsliteratur entsprach nicht der neuen Vorgabe »Frieden«, weswegen ihre<br />
Auflagen herabgesetzt wurden.<br />
Mitte der fünfziger Jahre hatte sich allerdings im AfL die Position durchgesetzt,<br />
dass die Begutachtungstätigkeit zu einer Behinderung der Planung<br />
führe. Man erkannte, wie ungemein hoch der Aufwand war und in welchem<br />
Maße jedes Buch den Begutachter vor ein neues Problem stellte, denn politisch-ideologische,<br />
moralische, ästhetische Motive mischten sich. Bei lizenzen<br />
aus dem Westen kam ein Problem hinzu, das die Ökonomen in den Verlagen<br />
wie im Amt für Literatur und den Ministerien zunehmend ratlos<br />
machte: die Tatsache, dass für die Importe Devisen zu zahlen waren, über<br />
die die DDR nur unzureichend verfügte. Es muss dieser Umstand nachdrücklich<br />
betont werden, weil im Literatursystem DDRkulturpolitische und<br />
devisentechnische Fragen bei sogenannten Westimporten bis 1989 in enger<br />
Verbindung standen. Gegen das Argument, ökonomische Gründe würden<br />
die Publikation eines Textes aus dem ),nichtsozialistischen Ausland« nicht<br />
möglich machen, konnten die Verlage nur schwer etwas einwenden.<br />
245
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
Nach dem 17. Juni 1953 waren bereits vom Kulturbund Forderungen nach<br />
Abschaffung der Zensur laut geworden, Bertolt Brecht hatte gar auf das<br />
Amt für Literatur ein Gedicht verfasst (»Das Amt für Literatur«).58 Aufdem<br />
IV. Schriftstellerkongress 1956 spielte das Problem der Begutachtung in den<br />
Beiträgen verschiedener Autoren eine Rolle (u. a. Wolfgang Joho, Stefan<br />
Hermlin). Mit dem Aufgehen des AfL im Ministerium für Kultur wuchs im<br />
Apparat selbst das Bestreben, die Begutachtung auszusetzen, und schließlich<br />
ging am 8. November 1956 der Leiter der Hauptverwaltung Verlagswesen,<br />
Karl Böhm, mit einer Mitteilung über eine bevorstehende Verfügung zur<br />
Aufhebung der Zensur an die Öffentlichkeit. Walter Janka, der Leiter des<br />
Aufbau-Verlags, hatte schon am 5.8.1956 im »Sonntag« diese Pläne an die<br />
Öffentlichkeit getragen. Dochauch vor dem Hintergrund der Ungarn-Ereignisse<br />
kam es zu einem Politikwechsel. Walter Janka wurde am 6. Dezember<br />
1956 verhaftet, und damit begann ein »harter Kurs«, der alles Angedachte<br />
zurücknahm.5 9 Der eingangs zitierte Bericht »über die literaturverbreitenden<br />
Institutionen« schätzte die politischen Auswirkungen der Eingliederung<br />
des Amtes für Literatur in das Ministerium für Kultur als unzureichend ein.<br />
In der Hauptverwaltung Verlagswesen hätte sich vielmehr ein »versöhnlerisches<br />
Verhalten gegenüber bürgerlichen und opportunistischen Tendenzen<br />
in der Tätigkeit einiger Verlage« gezeigt. Als besonders gefährlich wurde vermerkt,<br />
dass es »sogar zahlreiche Beispiele mangelnder politischer Wachsamkeit<br />
bei der Vergabe von <strong>Dr</strong>uckgenehmigungen« gab: »Eine falsche Auslegung<br />
der Diskussion über die weitere Demokratisierung im Sommer 1956<br />
und die Verkennung der Kadersituation in den Verlagen führte bei leitenden<br />
Genossen im Ministerium für Kultur zu der Auffassung, daß die Begutachtung<br />
der Manuskripte zukünftig durch die Verlage selbst erfolgen solle.<br />
Obwohl dies im Kollegium des Ministeriums korrigiert wurde, stärkte auch<br />
das Nachwirken dieser Auffassung die liberalistische Praxis bei der Erteilung<br />
von <strong>Dr</strong>uckgenehmigungen.«6o<br />
In den 39 Seiten des Berichtes gab es mit Blick auf die Schwerpunkte der<br />
Rezensionstätigkeit, also den Bereich Literaturkritik, scharfe Angriffe darauf,<br />
dass Bücher, »deren Thematik dem sozialistischen Aufbau in der Deutschen<br />
Demokratischen Republik gewidmet« sind, ungenügend hervorgehoben<br />
würden. Noch schärfere Kritik übte ein Bericht der Zentralen Parteikontrollkommission<br />
»über die politischen Ursachen für die Verletzung der Plandisziplin<br />
und die Vergeudung von Staatsgeldern durch Genossen des Ministeriums<br />
für Kultur« vom 7. Januar 1958. Der Bericht konstatierte »das<br />
verstärkte Eindringen westlicher Unkultur auf den verschiedensten Gebieten<br />
des kulturellen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik, wie<br />
z. B. in der Musik, des Tanzes, des Films und in der Literatur« [sic!] .61<br />
In Auswertung der vermeintlichen Defizite lagen schließlich mit Datum<br />
vom 25.7.1960 »Richtlinien für die Begutachtung« vor, die bis 1989 die ein<br />
246
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
zig existierende Vorlage bildeten. 62 Wirklich bekannt war die Richtlinie nur<br />
wenigen, was einmal mehr unterstreicht, inwieweit handlungsregulierende<br />
Maßgaben für eventuelle Kanonisietungen fehlten. Die Aufgaben der Abteilung<br />
Literatur und Buchwesen wurden in dem Satz zusammengefasst: »Das<br />
richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände.«63 Die Frage allerdings,<br />
wie das »richtige Buch« aussieht, wann die »richtige Zeit« ist und<br />
welches die »richtigen Hände« beziehungsweise Leser sind, blieb unbeantwortet,<br />
womit subjektiven und gerade nicht »von oben« abgesicherten Entscheidungen<br />
eine besondere Bedeutung zukam. Um das »richtige Buch« zur<br />
»richtigen Zeit« herauszufinden, war eine kontinuierliche Dokumentation<br />
angestrebt, um eine »möglichst vollkommene Übersicht über die Produktion<br />
eines bestimmten Literaturgebietes« zu erhalten. Dazu gehörten Verlagsgutachten,<br />
Außengutachten, schriftlich niedergelegte Einschätzungen sowie<br />
»nach Schwerpunkten erarbeiteteAnalysen bestimmterLiteraturgebiete«. Als<br />
maßgebliche Aufgabe von Begutachtung war die »Verhinderung der Literatur«<br />
ausgewiesen, die »nicht mit den Gesetzen unseres Staates in Einklang<br />
steht und die sozialistische Entwicklung gefährdet«.64 Die »Verhinderung<br />
schädlicher Literatur« wurde als ein »Teil der Ausübung der Machtfunktion<br />
unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates gegenüber den Kräften, die unsere Entwicklung<br />
hemmen«, gesehen. Die Verlage standen in der Pflicht, nur »kulturpolitisch<br />
wertvolle druckreife Manuskripte« zur Vorlage zu bringen. Es hieß:<br />
»<strong>Dr</strong>uckreif bedeutet: Mit seiner Unterschrift bestätigt der Cheflektor, daß<br />
das Erscheinen des Buches politisch und wissenschaftlich notwendig ist und<br />
Inhalt und Form den höchstmöglichen Anforderungen entsprechen.« 6S<br />
Dabei sollte der Verlag von sich aus auf mögliche ideologische Probleme<br />
hinweisen. Dem Antrag waren »mindestens ein, unter Umständen mehrere<br />
Außengutachten« beizufügen sowie ein Verlagsgutachten, das sich an folgenden<br />
Fragen orientieren sollte:<br />
»a) Weshalb wurde das Buch in den Jahresthemenplan aufgenommen? Entspricht<br />
der Titel den von der Literatur-Arbeitsgemeinschaft bestätigten<br />
Grundsätzen des Literaturentwicklungsprogramms?<br />
b) Entspricht der politisch-ideologische Gehalt und die wissenschaftliche<br />
Qualität den gesellschaftlichen Bedürfnissen?<br />
c) Kurze Charakterisierung des Autors<br />
d) Für welchen Leserkreis ist die Publikation bestimmt und ist die inhaltliche<br />
Gestaltung und die Form der Darstellung dementsprechend?<br />
e) Hinweis aufalle ideologischen Probleme, die im Zusammenhang mit der<br />
Bearbeitung des Manuskripts aufgetreten sind.«<br />
Ein Außengutachten sollte dabei folgenden Grundsätzen entsprechen:<br />
»a) Kurze Darlegung des Inhalts des Buches<br />
b) Parteiliche Einschätzung des ideologischen und wissenschaftlichen Inhalts<br />
des Buches vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus ausgehend.<br />
247
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
»keine ernsthafte Kontrolle der 85 Verlage in der DDR mit Lizenzen« gegeben<br />
habe. Einmal mehr wurde offenbar, dass die angestrebte »Durchherrschung«<br />
aller Teile der DDR-Gesellschaft gerade nicht funktionierte und<br />
ein wirklicher Überblick nicht existierte. Besonders war der Kommission<br />
aufgefallen, dass nicht beachtet worden war, »in welchem Verhältnis die abgeschlossenen<br />
Verträge von und nach Westdeutschland und dem kapitalistischen<br />
Ausland stehen«. Allein in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum<br />
5. August 1957 hätte man von Westdeutschland »250 Verträge hereingenommen<br />
und nur 11 nach Westdeutschland abgeschlossen, gegenüber dem<br />
kapitalistischen Ausland 123 hereingenommen und nur 9 vergeben«.67 Nicht<br />
nur politisch-ideologische Gründe waren also für die Verschärfung der Situation<br />
mit veranrwortlich, sondern erneut die permanente Devisenknappheit<br />
der DDR. Dies unterstreicht einmal mehr, in welchem Maße ganz unterschiedliche<br />
Faktoren gerade im Kontext von Kanonisierung und Zensurierungmit-<br />
und gegeneinander wirkten.68 Offenkundig setzte aber bereits Mitte<br />
der fünfziger Jahre eine Ausdifferenzierung ein, die nur schwer auf einen<br />
Punkt zu bringen ist. Es gab a) das ökonomische Interesse der Verlage, Gewinn<br />
zu machen, also Titel herauszubringen und die möglichst gut zu verkaufen;<br />
b) standen immer mehr Lektoren in den Verlagen einem engen Realismusbegriffkritisch<br />
gegenüber, suchten beständig den »materialen Kanon«<br />
wie den »Kernkanon« mit Blick auf »formale« Kriterien zu erweitern und<br />
zunehmend Literatur aus Westeuropa in das Programm zu bringen; c) die<br />
im SED-Apparat handelnden Personen suchten die Ausweitung des Kanons<br />
unter Verweis auf »inhaltliche« beziehungsweise »politische« Parameter abzubremsen.<br />
Der Mauerbau 1961 veränderte die (kultur)politische Situation und führte<br />
langfristig zu einer neuen Strategie gegenüber westdeutschen beziehungsweise<br />
westlichen Autoren. Wo die Bundesrepublik als Ausland galt, ging es<br />
der DDR darum, eine zielgerichtete deutsch-deutsche Kultur- und Literaturpolitik<br />
in Gang zu bringen, die der eigenen Anerkennung diente. Einen<br />
Einschnitt bildete der Mauerbau auch deswegen, weil sich die Möglichkeiten<br />
für die Einfuhr der Literatur drastisch veränderten. Die »Ausübung« der<br />
Handlungsrolle Literatur-Rezeption/Verarbeitung war somit nur eingeschränkt<br />
möglich. Mit dem Ministerratsbeschluss vom 22.8.1961 wurde Privatpersonen<br />
der käufliche Erwerb sogenannter »kontingentierter« Literatur<br />
verboten. Mit anderen Worten: auch aufpostalischem Wege war die Einfuhr<br />
von Literatur aus dem westlichen Ausland unter Strafe gestellt. Ab diesem<br />
Zeitpunkt wurde Literatur der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreichs<br />
- sofern sie nicht in der DDR erschien - in den sogenannten Kontingentmagazinen<br />
gelagert, und es bedurfte eines Nachweises der »wissenschaftlichen<br />
Verwendung«, um hier in besonderen Lesesälen Einsicht nehmen zu<br />
können. 69 Die Tatsache, dass es weder Normallesern, Autoren, Studieren<br />
249
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
den, Wissenschaftlern ohne weiteres möglich war, sich selbstständig ein Bild<br />
von der Welt- und Gegenwartsliteratur zu machen, war insofern unter dem<br />
Gesichtspunkt von Kanonisierung von Bedeutung, als »Anschlußkommunikationen«<br />
behindert beziehungsweise verhindert wurden. Aber erst über<br />
»Anschlußkommunikationen«, das heißt über das beständige Gespräch, den<br />
Austausch von Deutungen und Interpretationen kann ein »materialer Kanon«<br />
überhaupt entstehen. Kanonisierungen verengen eine »vorgängige«<br />
Tradition. Es wird ein bestimmtes Feld abgesteckt, auf das sich die Aufmerksamkeit<br />
der im Literatursystem Handelnden richtet. »Jeder Kanon«, so<br />
die bekannte These von Aleida und Jan Assmann, »entsteht mit einem Trennungsstrich«,<br />
denn es wird eine Dialektik zwischen dem produziert, »was<br />
hineinkommt« und dem, was »draußen bleibt«. Wo ein Kanon existiert, geraten<br />
bestimmte Texte in den Status des Außen-Seiters, der Neben-Stimme.<br />
Das reicht von der »Marginalisierung bis zur Tabuisierung«,lo<br />
DieVorstellung aber, in der DDRwären Kanonisierungsprozesse aufeinem<br />
einmal verfügten Stand eingefroren worden, trifft nicht, denn es handelte<br />
sich bei den Kanonisierungsvorgängen in der DDR um einen stetigen und<br />
dynamischen Prozess, in dem es Ungleichzeitigkeiten, Überlagerungen, Paradoxien,<br />
Wendungen, Wandlungen gab,ll Um eine simple Zensurierung, wie<br />
von einzelnen Funktionären etwa angestrebt, ging es den in den literarischen<br />
Institutionen für Kanonhandlungen Verantwortlichen wohl nur in Ausnahmefällen.<br />
Das erklärt, warum beispielsweise die Hauptverwaltung Verlage<br />
1964 ein Konzept entwickelte, das langfristig die Aufnahme von solchen Texten<br />
anvisierte, die in der DDR noch keine Rolle spielten. So hieß es: »Einige<br />
Literaturströmungen haben wir bisher in der DDR (im Unterschied zu<br />
den anderen sozialistischen Ländern) noch nicht vorgestellt:<br />
1. sogenannte >Klassiker der bürgerlichen Moderne< (Musil, Joyce, Kafka)<br />
2. die amerikanische >Beatliteratur<<br />
3. den >Nouveau roman< Frankreichs<br />
4. das absurde Theater<br />
5. eine Reihe dekadenter Schriftsteller oder Schriftsteller mit dekadenten<br />
Zügen<br />
In den Perspektivplänen unserer zuständigen Verlage (...) finden sich einige<br />
Titel der angeführten Gruppen. Die Verlage sind angehalten, den Begutachtungsprozeß<br />
und die verlegerischen Entscheidungen zu beschleunigen.<br />
Wir werden uns auch stärker um Analysen dieser Literaturströmung bemühen.«72<br />
Das Bemühen um eine Analyse hing - das sei vermerkt - nicht zuletzt mit<br />
einer veränderten Position gegenüber Intellektuellen in Westdeutschland,<br />
Österreich und der Schweiz zusammen. Mit dem Mauerbau und der Installierung<br />
einer »geschlossenen Gesellschaft« nahm der Versuch zu, unter westlichen<br />
Intellektuellen Bündnispartner zu finden und sie gezielt in DDR<br />
250
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
Verlagen zu drucken. Diese Strategie zog das mitunter paradox anmutende<br />
und sich auch aufdie Literaturwissenschaft auswirkende Bemühen nach sich,<br />
in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Westeuropas Gruppierungen,<br />
Strömungen, Tendenzen auszumachen, die als sogenannte »Bündnispartner«<br />
in Frage kamen. Für den Umgang mit ihnen sollten dann entsprechend abgestimmte<br />
Strategien entwickelt werden. Dieser Grundansatz war bei allen<br />
Modifizierungen im politischen Apparat- nicht in den Verlagen und Lektoraten<br />
- der entscheidende Bewertungsansatz und bestimmte die »<strong>Dr</strong>uckgenehmigungen«<br />
bis 1989. Analysen etwa für das ZK der SED versuchten in<br />
der Folgezeit beständig, die Literaturen dieser Länder nach möglichen »antimonopolistischen<br />
Kräften« zu durchforsten. Theoretischer Hintergrund für<br />
dieses Vorgehen war die Leninsche Theorie von den »zwei Kulturen« in jeder<br />
nationalen Kultur. »In jeder nationalen Kultur« - so Lenins These - »gibt es<br />
- seien es auch unentwickelte - Elemente einer demokratischen und sozialistischen<br />
Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete<br />
Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische<br />
und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine<br />
bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale)<br />
Kultur, und zwar nicht nur in Form von Elementen, sondern als herrschende<br />
Kultur.echte, andauernde, aus<br />
251
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
baufähige Bündnisbeziehungen mit den wichtigsten Vertretern der literarischen<br />
Opposition herzustellen«. Dazu gehörte eben auch die »Kenntnisnahme<br />
und die polemische Auseinandersetzung«. Abschließend wurde eine<br />
Empfehlung gegeben, die in ihrer Wirkung für die Verlage von entscheidender<br />
Bedeutung war. Hingewiesen wurde auf die <strong>Dr</strong>inglichkeit, »neben<br />
der Publikation ganzer Werke Teilauszüge in Zeitschriften, in Funklesungen<br />
zu veröffentlichen«. Damit ergaben sich für die Verlage neue Freiräume für<br />
»<strong>Dr</strong>uckgenehmigungen«, und dies betraf auch die Literaturen in der Bundesrepublik,<br />
Österreich und der Schweiz. War es bis zum Beginn der sechziger<br />
Jahre bevorzugt darum gegangen, durch Deutung vermeintliche weltanschauliche<br />
Defizite beziehungsweise Unterschiede herauszuarbeiten, trat<br />
dieses Bemühen nunmehr in den Hintergrund. Die bis dahin kanonisierte<br />
simple Bindung von Ethik und Ästhetik verlor an Bedeutung, was Verlage<br />
wie später Wissenschaft freier machte. Andererseits standen literaturwissenschaftlich<br />
wenig gebildete Begutachter nunmehr vor einem weitaus größeren<br />
Problem. Wo es nicht mehr um die »Weltanschauung« ging, sondern um<br />
Erzählstrukturen, war den Texten einzig mit politisch-ideologischen Argumenten<br />
nicht mehr beizukommen. Wenngleich also ab Mitte der sechziger<br />
Jahre politisch-ideologische Bewertungen, mithin moralische und politische<br />
Werte, ihre dominante Stellung einbüßten, spielten sie unter umgekehrten<br />
Vorzeichen weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ging es vorher<br />
darum, die moralischen wie politischen Defizite der westlichen Autoren herauszuarbeiten,<br />
wurde nunmehr auf die Gemeinsamkeiten abgehoben.<br />
Der Blick auf die Vor- und Nachworte von Textausgaben zeigt, wie einseitige<br />
politisch-ideologisch motivierte Argumentationen abnahmen und<br />
durch ernsthafte Deutungen wie Interpretationen ersetzt wurden. Die Nachworte<br />
beispielsweise zielten auf eine »Anschlusskommunikation« des jeweiligen<br />
Autors/Textes, waren darum bemüht, ihn in die »vorgängige« Tradition<br />
einzuordnen, aber markierten gleichzeitig jene Punkte, die in das in der<br />
DDR dominante Literaturverständnis mit dem wertsetzenden Literaturbegriff<br />
oder der Traditionsbildung nicht hinein passten.7 5<br />
6 Abschluss - Das Beispiel Hans Magnus Enzensberger<br />
Abschließend sei an der nicht gelungenen Verlegung einer Auswahl der<br />
Gedichte von Hans Magnus Enzensberger die Widersprüchlichkeit der in<br />
der DDR ablaufenden Kanonisierungsvorgänge nochmals unterstrichen.<br />
Bereits seit Mitte der sechziger Jahre liefen im Aufbau Verlag Bemühungen,<br />
eine Auswahl der Gedichte von Hans Magnus Enzensberger zu publizieren.<br />
Mit Datum vom 2.10.1968 war unter der Nr. 120/266/69 die <strong>Dr</strong>uckgenehmigung<br />
für eine Auflage in Höhe von 5000 Exemplaren erteilt. Nach<br />
252
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
»nochmaliger Rücksprache« mit Bruno Haid, Leiter der Abteilung Literatur<br />
und Buchwesen im Ministerium für Kultur, zog Anneliese Kocialek als Abteilungsleiterin<br />
der Abteilung Belletristik, Kunst- und Musilditeratur die<br />
Genehmigung mit Wirkung vom 6. Februar 1969 zurück. In vier Punkten<br />
wurde die Entscheidung begründet. Dabei wurde erstens eine Auswahl von<br />
Enzensberger nur dann für möglich gehalten, wenn sie »für sein Werk repräsentativ«<br />
und »für uns politisch vertretbar ist«. Eben dies würde sich »auf<br />
Grund der politischen Haltung von E. nicht in Übereinstimmung bringen«<br />
lassen. Insbesondere in »Landessprache« zeige sich, dass der Autor )'gegenüber<br />
dem Marxismus und der sozialistischen Gesellschaftsordnung eine revisionistische<br />
Haltung« einnehme,76 Zweitens vermerkte Kocialek die Forderung,<br />
mit einer geplanten Auswahl »eine gründliche Einschätzung seiner<br />
politischen Haltung und Entwicklung« vorzunehmen. Dabei reiche es eben<br />
nicht, lediglich eine Nummer der Zeitschrift »Kursbuch« zu berücksichtigen,<br />
vielmehr müsse man - da Enzensberger als Herausgeber fungiere <br />
Konzeption wie Entwicklungstendenzen verfolgen. Der Aufbau Verlag<br />
erhielt drittens die Empfehlung, die »schriftstellerische und politische Entwicklung<br />
von E.« weiter zu verfolgen und gegebenenfalls »zu einem späteren<br />
Zeitpunkt einen neuen Vorschlag zu unterbreiten«.7l<br />
Der Vorgang um Enzensberger könnte einmal mehr als Beleg für Zensurierung<br />
und Dekanonisierung »von oben« dienen, und letztlich handelt es<br />
sich darum in diesem Fall auch. Denn: die Auswahl erschien beim Aufbau<br />
Verlag nicht. Doch eine solche Darstellung griffe zu kurz, weil sie aus einem<br />
widerspruchsvollen Prozess lediglich bestätigend das Negativ-Ergebnis herauspräparierte<br />
und somit betonte, dass Enzensberger 1969 aus dem »materialen<br />
Kanon« ausgeschlossen blieb beziehungsweise in ihn nicht hineinkam.<br />
Nicht ins Blickfeld geriete, welch enormer Aufwand und in wie - man muss<br />
sagen - listiger Weise eine ganze Gruppe von Verantwortlichen im Ministerium<br />
für Kultur, im Aufbau Verlag, im Wissenschaftsbetrieb argumentierten,<br />
um die Enzensberger-Auswahl für die DDR anschlussfähig zu machen.<br />
In einem internen Schreiben an Anneliese Kocialek wird nicht ohne Grund<br />
notiert, dass der Suhrkamp Verlag wie Enzensberger das »potentielle Nachwort<br />
geschluckt« hätten und das Nachwort zudem zeige, »weshalb Enzensberger<br />
keine Alternative bildet«.78 Das Außengutachten von Dieter Schlenstedt wie<br />
das Verlagsgutachten argumentierten zudem gleichermaßen geschickt wie eindringlich<br />
für die Publikation von Enzensberger. Die Verweigerung der <strong>Dr</strong>uckgenehmigung,<br />
die in der Tat den Akt von Zensur deutlich machte, war daher<br />
Ausdruck eines nicht geglückten Kanonisierungsversuches beziehungsweise<br />
der Aufnahme des Autors Enzensberger in den »materialen Kanon«. Gleichwohl<br />
aber ist zu erahnen, auf welche Weise in vielen anderen Fällen eine<br />
erfolgreiche Vermittlung erfolgte und wie hoch letztlich der Anteil jener war,<br />
die an Kanonisierungsvorgängen in der DDR beteiligt waren,79<br />
253
<strong>Carsten</strong> Ganse!<br />
Dies führt abschließend zu einer Frage, die in diesem Beitrag nicht Gegenstand<br />
der Erörterung war, weswegen eine mögliche Antwort nur angedeutet<br />
werden kann: Wie also war es um den »materialen Kanon« in der DDR<br />
bestellt, und inwiefern unterschied dieser sich von dem in der damaligen<br />
Bundesrepublik. Geht man von Renate von Heydebrands Ausdifferenzierung<br />
des »materialen Kanons« in einen »Kernkanon« (Stichwort: »sehr langlebige<br />
'große Tradition< auch weltliterarisch gültiger Autoren und Werke«)<br />
und einen »akuten Kanon« (Stichwort: »geringere Festigkeit«, »nach dem<br />
Bedürfnis der jeweiligen Stunde eine Auswahl aus der weiteren Literaturtradition<br />
und aus der gegenwärtigen Literatur«) aus 80 , dann lässt sich sagen: In<br />
Hinblick auf den »Kernkanon« kam es in Ost und West in diachroner Perspektive<br />
zu einer zunehmenden Angleichung in dem Maße, wie in der DDR<br />
eine Modifizierung des Literaturbegriffs einsetzte und enge Realismusvorstellungen<br />
aufbrachen. In diesem Zuge wurde der »Kernkanon« durch Reintegration<br />
vorher ausgeschlossener langlebiger Traditionen reicher. 81 Dies<br />
betrifft etwa die »Rehabilitierung« der Romantik oder das veränderte Verhältnis<br />
zur Moderne des 20. Jahrhunderts. 82 Worin sich die Kanones in Ost<br />
und West unterschieden, das waren die Deutungen von ausgewählten Autoren,<br />
Texten, literarischen Strömungen. Exemplarisch ließe sich dies am Beispiel<br />
etwa von Goethes »Faust«-Dichtung, ja der Deutung der Deutschen<br />
Klassik insgesamt zeigen. Die wirklichen und permanenten »Kanonkämpfe«<br />
betrafen in der DDR ab den siebzigerJahren aber weniger den »Kernkanon«,<br />
denn den »akuten Kanon« und damit insbesondere die Gegenwartsliteratur.<br />
In dem Maße, wie neue (Autoren)Generationen mit den ihnen eigenen Poetologien<br />
in das (Literatur)System drängten, entstanden permanente »Kampflinien«<br />
um das, was in der DDR-Gesellschaft »zulässig«, ja kanonwürdig war.<br />
Bei diesen Auseinandersetzungen um den »akuten Kanon« handelte es sich<br />
immer auch um symbolische Kämpfe, denn die permanenten Bemühungen<br />
um eine »Kanonöffnung« waren letztlich Forderungen nach einer demokratischen<br />
Verfasstheit von Gesellschaft, einer funktionierenden Öffentlichkeit<br />
wie der Autonomie des Literatursystems. Insofern führten die permanenten<br />
»Kanonkämpfe« in der DDR zur stetigen Konditionierung der Akteure und<br />
bereiteten das Handeln der dann im Herbst 1989 einsetzenden Bewegungen<br />
mit vor.<br />
1 »Abschlußbericht der Kommission zur Untersuchung der literaturverbreitenden Institutionen«,<br />
in: SAPMO, BArch, Sign. N/2/2026/Bd. 3, BI. 42. - 2 Zum historischen Kontext<br />
vgI. <strong>Carsten</strong> Ganse! (Hg.): »Der gespaltene Dichter. Johannes R. Becher. Gedichte, Briefe,<br />
Dokumente 1945-1958«, Berlin 1991,5.11-30 sowie ausführlich: Ders.: "Parlament des<br />
Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression (1949-1961)«, Berlin 1996. - 3 VgI.<br />
254
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
dazu Renare von Heydebrands frühe Posirion vom Anfang der neunziger Jahre: »Probleme<br />
des ,Kanons< - Probleme der Kultur- und Bildungspolirik«, in: Johannes Janorta (Hg.): »Kultureller<br />
Wandel und die Germanisrik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages<br />
(1991)«, Bd.4, Tübingen 1993, S.IOff. - 4 Vgl. dazu auch Martina Langermann/Thomas<br />
Taterka: »Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft.<br />
Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR«, in: Birgit Dahlke/Martina<br />
Langermann/Thomas Taterka (Hg.): "LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und<br />
ihre Geschichre(n)«, Sturtgart, Weimar 2000, S. 10.-5Vgl. u. a. ThomasAnz: »EinfUhrung«,<br />
in: "Kanonisierungsbedarf und Kanonisierung in der deutschen Literaturwissenschaft<br />
(1945-1995)«, in: RenatevonHeydebrand (Hg.): »Kanon Macht Kultur. Theoretische,historische<br />
und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung«, Sturtgart, Weimar 1998, S. 3-8, sowie<br />
Renate von Heydebrand: "Kanon Macht Kultur - Versuch einer Zusammenfassung«, ebd.,<br />
S. 612-626. - 6 von Heydebrand: "Probleme des ,Kanons«
<strong>Carsten</strong> <strong>Gansel</strong><br />
lung bei Renate von Heydebrandl Simone Winko: »Einführung in die Wertung von Literatur«,<br />
Paderborn u. a. 1996, S. 111 ff. - 22 Zur Entwicklung der ausgewählten Institutionen<br />
wie ihrer Aufgaben vgl. <strong>Carsten</strong> GanseI: »Leit- und Zensurorgane«, in: Ders.: »Parlament des<br />
Geistes«, a. a. 0., S. 26-31, S. 117-154, S. 253-276, sowie Beiträge von Siegfried Lokatis:<br />
>,Vom Amt für Literatur und Verlagswesen zur Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium<br />
für Kultur«, in: Simone Barck/Martina Langermannl Siegfried Lokatis (Hg.): »'Jedes<br />
Buch ein Abenteuer
Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR<br />
als vermuret. So überprüfte der Hauptausschuss des Kulturellen Beirats zwischen Oktober<br />
1947 und März 1950 insgesamt 12125 Manuskripte, von denen 8373 genehmigt wurden.<br />
Etwa ein Viertel det eingeteichten Manuskripte erhielt also einen ablehnenden Bescheid; vgl.<br />
auch Welsh: »Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung«, a. a. O. S. 235. - 37 ,>Verordnung<br />
übet die Entwicklung fortschtittlicher Literatur« vom 16. August 1951, in: "Gesetzblatt<br />
der Deutschen Demokratischen Republik. - Berlin, 27. August 1951, Nr. 100«. <br />
38 Ebd. - 39 Vgl. Lokatis: »Vom Amt für Literatur und Verlagswesen«, a.a.O., S. 22.<br />
40 Ebd., S. 19f. - 41 Ebd. - 42 Vgl. den Hinweis bei Langermann/Taterka: "Kanon und<br />
Norm«, a.a.O., S.13. - 43 Vgl. dazu ausführlich GanseI: »Parlament des Geistes«, a.a.O.,<br />
S. 11-41, S. 155-203. - 44 Christoph Hein: »Diskussionsgrundlage (Arbeitsgruppe IV:<br />
Literatur und Wirkung)«, in: »X. Schriftstellerkongreß der DDR. Arbeitsgruppen. 24.-26.<br />
November 1987«, Berlin 1988, S. 225. - 45 Thomas Brussig hat im Gespräch notiert, in<br />
welcher Weise die in der DDR letztlich kanonisierten Texte das Lebensgefühl seiner Generation<br />
nicht mehr zu treffen verstanden. »Die Texte« so Brussig, "hatten irgendwann nichts<br />
mehr mit mir zu tun. Die spielten bei Hofe, es ging um vergangene Autoren wie Kleist oder<br />
Emigrantenschicksale. Es ging nicht um meine Probleme, Armee kam nicht vor, oder auch<br />
nicht die Frage, wie einen die Schule zurück läßt. Ich fand nicht dieses Gefühl, wie einem die<br />
Zeit wegläuft, nichts passiert und man als Junger die lebenslange Langweile vor sich hat. Das<br />
habe ich nicht mehr ausgehalten.« <strong>Carsten</strong> Ganse11Thomas Brussig: »Ich schreibe nur das,<br />
was ich selbst gern lesen würde«, Gespräch, in: »Nordkurier«, 22/23.9.2001. - 46 Dazu<br />
gehörten nach wie vor bestimmte »Themen«, über die die »herrschenden Interessen« das<br />
Schweigen gelegt hatten. Einem dieser Tabu-Themen und ihrer Gestaltung bzw. Nichtgestaltung<br />
in der Literatur in der DDR, den Vergewaltigungen in Folge des Zweiten Weltkrieges,<br />
geht Birgit Dahlke nach. Vgl. dies.: »,Frau komm!< Vergewaltigung 1945 - zur Geschichte<br />
eines Diskurses«, in: Dies./Langermann/Taterka (Hg.): "LiteraturGesellschaft DDR«,<br />
a.a.O., S.275-312. - 47 Beate Lachmann: »Kultursemiotischer Prospekt«, in: Kai-Uwe<br />
Hemken (Hg.): »Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst«, Leipzig<br />
1996, S.47-64. - 48 "Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur«,<br />
16. August 1951, Gesetzblart Nr. 100,27.8.1961. Vgl. dazu auch GanseI: "Parlament des<br />
Geistes«, a. a. 0., S. 117 ff., S. 269 ff, sowie Lokatis: »Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel«,<br />
a. a. 0., S. 173 ff. - 49 Vgl. »Statut des Amtes füt Literatur und Verlagswesen bei<br />
der Regierung der DDR«, in: DR 1/919, S. 1E-50Ebd.,S.2E Diese Abteilung hatte zudem<br />
die Aufgabe, die Anleitung und Kontrolle der <strong>Dr</strong>uckgenehmigungsstellen bei den Räten der<br />
Bezitke und Kreise in der DDR vorzunehmen. - 51 "Entwurf eines Aufgabenspiegels des<br />
Amtes für Literatur und Verlagswesen«, 10.10.1955, in: DR 1/1898, S. 1E - 52 Det Begriff<br />
»Sozialistischer Realismus« wie seine Theorie stellten letztlich nur vage Kriterien für Kanonentscheidungen<br />
zur Verfügung. Zu diesem Komplex vgl. Martina Langermann: »Kanonisierungen<br />
in der DDR Der Sozialistische Realismus«, in: Heydebrand (Hg.): Kanon Macht<br />
Kultur«, a.a. 0., S. 540-559. - 53 Vgl. den Abdruck der »Liste von Agenten imperialistischer<br />
Mächte« in GanseI: »Parlament des Geistes«, a. a. 0., S. 270 ff. - 54 Ebd., S. 270. <br />
55 Vgl. dazu auch die profunde Datstellung bei Lokatis: »Vom Amt für Literatur«, a.a.O.,<br />
S.34ff. - 56 Ebd., S. 35. - 57 BA DR 1, 1889, "Aufgaben des ALV auf dem Gebiet der<br />
Schwerpunktlitetatur und Richtlinien für ihre Durchführung (31.3.1953)«, zitiert in: ebd.,<br />
S.35. - 58 Vgl. <strong>Carsten</strong> GanseI: »Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft<br />
(1947-1956)«, in: Jan Knopf(Hg.): »Brecht-Handbuch«, Bd. 3, Stuttgart 2002 (im Erscheinen).<br />
- 59 Vgl. GanseI: "Der gespaltene Dichter«, a. a. 0., S. 23 ff., sowie: Ders.: »Parlament<br />
des Geistes«, a. a. 0., S. 192 ff - 60 "Abschlußbericht der Kommission zur Untersuchung<br />
der literaturverbreitenden Institutionen«, a. a. 0., BI. 43. - 61 Bericht der Zenttalen Parteikontrollkommission<br />
»über die politischen Ursachen für die Verletzung der Plandisziplin und<br />
die Vergeudung von Staatsgeldern durch Genossen des Ministeriums für Kultur« vom 7. Januar<br />
1958. Der Beticht istin Auszügen abgedruckt in GanseI: "Parlament des Geistes«, a. a. 0.,<br />
S.365-370, hier S.365. - 62 BA DR 1, 1287, »Richtlinien für die Begutachtung«,<br />
25.7.1960. - 63 Ebd., S. 1. - 64 Ebd. - 65 Ebd., S. 5. - 66 BA DR 1, 1287, »Richtlinien<br />
für die Begutachtung«, 25.7.1960, S. 4 ff, S. 7 E- 67 »Bericht über die politischen Ut<br />
257
<strong>Carsten</strong> <strong>Gansel</strong><br />
sachen für die Verletzung der Plandisziplin und Vergeudung von Staatsgeldern durch Genossen<br />
des Ministeriums für Kultur«. Vgl. dazu GanseI: »Parlament des Geistes«, a.a. 0., S. 368.<br />
In diesem Zusammenhang wurde auch die »schwankende Haltung« von Genossen gerügt,<br />
die für die Aufhebung des »<strong>Dr</strong>uckgenehmigungsverfahrens« eingetreten seien. - 68 Es sei<br />
nur angemerkt, dass natürlich auch die westdeutsche Verlagspolitik nicht ohne Einfluss auf<br />
die DDR blieb. Die Tatsache etwa, dass zeitweise größere Teile von Literatur aus der DDR<br />
boykottiert wurden, schlug sich wiederum auf den Umgang mit der »Literatur der Bundesrepublik«<br />
nieder. - 69 Erich Loest beschreibt in »Es geht seinen Gang« sehr plastisch die<br />
Situation etwa im »Giftturm« der Deutschen Bücherei in Leipzig. - 70 A1eida und Jan<br />
Assmann: »Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien«, in: Dies. (Hg.): »Kanon<br />
und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation«, München 1987,<br />
S. 11, S. 15. -71 Vgl. dazu auch die Studien in dem Band von Dahlkel Langermann1Taterka<br />
(Hg.): »LiteraturGesellschaft DDR«, a.a. O. -72 BADR 1, 1474,Abt. Belletristik, »Probleme<br />
der gegenwärtigen Literatur und Verlagspolitik« (0. D., 1964), S. 11 f.; zitiert bei Lokatis:<br />
»Die HauptverwaltungVerlage«, a. a. 0., S. 218. -73W1adimir I. Lenin: »Zwei nationale<br />
Kulturen in jeder nationalen Kultur«, in: »Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage«, in:<br />
»Lenin Werke«, Bd. 20; zitiert in: Marx/Engels/Lenin: »Über Kultur, Ästhetik, Literatur«,<br />
Leipzig 1973, S. 252 (Hervorhebungen im Original). - 74 »Einschätzung der gegenwärtigen<br />
kleinbürgerlich-oppositionellen Literatur in der Bundesrepublik und Westberlin. Vorschläge<br />
für das taktische Herangehen der DDR«, Berlin, 21.1.1965, in: SAPMO, BAreh,<br />
DY 30/IV A2/9.06/167. -75 Mit Blick auf die Schweizer Literatur vermerkt Jean Villain<br />
als Autor und Herausgeber, dass es darum gegangen sei, den DDR-Lesern »Fenster zu öffnen,<br />
ihnen in zum Teil sehr beachtlichen Auflagen Werke zu erschließen, die Zugänge zu Denkweisen<br />
und Haltungen ermöglichten, an denen eigene Haltung meßbar wurde, die geeignet<br />
sein mochten, Weltbilder anzureichern, zu berichtigen, zu entdogmatisieren«. Villain: »Zur<br />
Woche des Schweizer Buches in Leipzig«, UnveröffentI. Manuskript, Leipzig 1998, S.9.<br />
Nimmt man beispielsweise die deutschsprachige Literatur der Schweiz, dann bildete die Mitte<br />
der siebziget Jahre von Roland Links, Ingeborg Quaas, Dietrich Simon und Jean Villain<br />
verantwortete Herausgabe des Sammelbandes »Schweiz heute - ein Lesebuch« einen Einschnitt.<br />
Das Lesebuch war schon bald nach der Veröffentlichung vergriffen. - 76 BA DR 1,<br />
2096, Aktennotiz zu Hans Magnus Enzensberger (6.2.1969), BI. 225. - 77 Ebd. <br />
78 Aktennotiz an Anneliese (Kocialek), in: ebd., BI. 226. - 79 Langermann/Taterka betonen<br />
sehr zutreffend, dass »immer mehr im Literaturbereich Arbeitende in den Prozeß der<br />
Begutachtung« einbewgen wurden und man mit der »Umverteilungvon >Verantwortlichkeit(<br />
das »Entscheidungsrisiko an solche Ebenen« delegierte, »die auf geringere Absicherungsmechanismen<br />
und mindere Autorität zurückgreifen konnten« (a.a.O., S.16f.). - 80 Heydebrand:<br />
»Probleme des >Kanons«(, a.a.O., S. 5: Hermann Korte: »Neue Blicke«, a.a.O., S.18.<br />
- 81 Dabei gab es durchaus auch Autoren bzw. Traditionen, die in der DDR eher in den<br />
»Kernkanon« integriert wurden als in der Bundesrepublik. Dazu könnte man das Werk Georg<br />
Büchners zählen oder die sogenannte Vormärz-Dichtung. - 82 Das bedeutet nicht, dass<br />
nicht bis zum Ende der DDR »große Traditionen« existierten, um die es nach wie vor einen<br />
heftigen »Kanonstreit« gab. Dies betraf - um nur ein Beispiel zu nennen - am Ende der<br />
achtziger Jahre die Auseinandersetzung um die Publikation ausgewählter Werke von<br />
Friedrich Nietzsehe. Auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 griff Stephan Hermlin in einer<br />
in der DDR eher unüblichen Weise einen Aufsatz von Wolfgang Harich in Heft 5/1986 der<br />
Zeitschrift »Sinn und Form« an, in dem der sich gegen die Veröffentlichung von Nietzsehe<br />
in der DDR ausgesprochen hatte. Hermlin sprach von einer »spezifischen Kulturpolitik mit<br />
den gleichen Mitteln« und bewg sich damit aufZensurpraxis insbesondere der fünfziger Jahre.<br />
Aufdie Öffnung des »Kernkanons« zielend, betonte er: »Ich habe ihn (Nietzsehe, d. Verf.)<br />
wahrgenommen als einen der anregendsten Schriftsteller der letzten hundert Jahre, an dem<br />
kein Künstler unserer Zeit vorbeikam (...).« In: »X. Schriftstelierkongreß der DDR. 24.-26.<br />
November 1987. Plenum«, Berlin 1988, S. 72-77, hier S. 73. Freilich darf nicht übersehen<br />
werden, dass die Angriffe Hermlins gegen Harich letztlich einer »alten« Denkfigur insofern<br />
verhaftet blieben, als die Veröffentlichung des Harich-Beitrags scharf angegriffen wurde.<br />
258