«Wir stehen zusammen.» - CARITAS - Schweiz
«Wir stehen zusammen.» - CARITAS - Schweiz
«Wir stehen zusammen.» - CARITAS - Schweiz
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Nr.1/März 09
Menschen
Wir helfen
«Wir stehen zusammen.»
Die Familie Gisler im Urner Schächental.
Sie erleben Freiheit und Härte: Alois und Vreni Gisler
betreiben im Urner Schächental zusammen mit ihren
sieben Kindern einen Biobauernhof. Dafür erhalten sie
tatkräftige Unterstützung – und geben auch viel zurück.
HARTE ARBEIT AN STEILEN
HÄNGEN
Text: Dominique Schärer
Bilder: Luca Zanetti
Wenn die Kinder der Familie Gisler nach
der Schule heimgehen, so nehmen sie den
Luftweg: Nicht weit vom Schulhaus in Spiringen
steigen sie in die Seilbahn ein und
werden in sieben Minuten auf die Sonnenterrasse
Ratzi auf 1500 Metern über Meer
getragen. Von dort aus ist der Ausblick auf
das Schächental gewaltig: Steil abfallende
Waldhänge auf der Talseite gegenüber, in
Richtung Klausenpass hoch gelegene Streusiedlungen
und Alpweiden, zuoberst markante
Felszacken. Beim Berggasthaus Ratzi,
das im Sommer Wanderer und während
dem sechsmonatigen Winter Schneesportler
empfängt, befindet sich der Hof von Alois
und Vreni Gisler.
Die Familie trifft sich zum Mittagessen
in der geräumigen Küche. Unter dem Tisch
liegt Hund Rino, ringsherum sitzen vor
dampfenden Kaffeetassen die sieben Geschwister:
Von der bald 20-jährigen Franziska,
Logistikassistentin in Schattdorf, bis
hin zum achtjährigen Valentin, der in Spiringen
die Primarschule besucht. «Hier oben
erleben unsere Kinder Freiheit und Härte»,
sagt der 48-jährige Alois Gisler. An Bewegung
und Natur fehlt es den Gisler-Kindern
nicht. Doch wenn sie von der Schule heimkommen,
erledigen sie nicht nur ihre Hausaufgaben,
sondern packen auch auf dem
Hof mit an – jeden Tag, bis die Arbeit getan
ist.
Verwurzelt auf dem Ratzi
Den Betrieb auf dem Ratzi übernahm Alois
Gisler, der die Fachschule für Landwirtschaft
besuchte, 1980 von seinen Eltern. «Damit
ging ein Traum in Erfüllung», sagt er mit
leuchtenden Augen. «Hier bin ich verwurzelt
und geniesse die selbstbestimmte Arbeit
an der frischen Luft.» Vreni Gisler wuchs
unten in Spiringen auf und absolvierte die
Haushalts- und die Bäuerinnenschule. Beim
Skifahren auf dem Ratzi lernte sie Alois
Gisler kennen. «Das Bauern hat mir immer
gefallen», sagt Vreni Gisler, während Petra
(10) auf dem Küchentisch einen grossen
Berg Wäsche faltet, auf neun Stapel verteilt
und Antonia (18) den Abwasch besorgt.
Nach dem Mittagessen zeigt Alois Gisler
seinen Bauernhof: Das Ratzi ist mit 14 Hektaren,
18 Kühen, 15 Kälbern und 5 Hühnern
«Menschen» 1/09 Caritas 7
Reportage: Bergbauern in der Schweiz
für die Region ein stattlicher Betrieb – im
Vergeich mit der gesamten Schweiz jedoch
deutlich kleiner als der Durchschnitt. Neben
dem alten Chalet der Eltern erbauten Vreni
und Alois Gisler ihr eigenes Bauernhaus
sowie einen Laufstall, unterstützt durch
Freiwillige von Caritas Schweiz (siehe Kasten
Seite 12). In einer Betriebsstudie verglich
Alois Gisler verschiedene Optionen
und stellte 1991 von der Milchwirtschaft auf
8 Caritas «Menschen» 1/09
Bio-Mutterkuhhaltung um. Als einer der ersten
Bauern im Tal hielt er Anguskühe und
produzierte biologisches Fleich «aus Überzeugung,
aber auch weil es eine interessante
Als einer der ersten Bauern im Tal hielt Alois Gisler Anguskühe
und produzierte biologisches Fleisch.
Marktlücke war». Sein Bio-Natura-Beef liefert
Alois Gisler heute zum grossen Teil an
Coop und verkauft daneben einen kleineren
Teil direkt an private Kunden. Während
Petra aus dem Hühnerstall Eier bringt, verweist
Vreni Gisler auf ihren Garten: «Die
meisten Gemüse gedeihen auf dieser Höhe
nicht mehr. Darum habe ich nur Salat, Erdbeeren
und Blumen angepflanzt.»
Uri ist bekannt für seine Vieh-, Gras- und
Alpwirtschaft: Laut der Schweizerischen
Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete ist
über die Hälfte der bergigen Kantonsfläche
unproduktives Gebiet, nur 5,1 Prozent
Wiesen- und Ackerland und fast ein Viertel
alpwirtschaftliche Nutzfläche. Trotz steilen
Hängen war in Uri der Anteil der bäuerlichen
Bevölkerung im Jahr 2000 mit sechs
Prozent höher als der Schweizer Durchschnitt,
wie eine Statistik des Schweizeri-
schen Bauernverbandes zeigt (Volkszählung
2000). Ein Merkmal des kleinstrukturierten
Schächentals sind die vielen mehrstufigen
Betriebe: Die Bauern pendeln während des
Jahres zwischen zwei oder sogar drei Höfen,
um das knapp bemessene Land optimal zu
nutzen und die Tiere jeweils dort weiden zu
lassen, wo das Gras am saftigsten ist.
40 Prozent Steigung
Obwohl der Ratzi-Hof nicht zu den mehrstufigen
Betrieben gehört und die Gislers
über mehrere grössere zusammenhängende
Flächen in der Nähe des Hofes verfügen,
haben auch sie steile Hänge zu bewirtschaften:
Etwa weiter oben auf 1800 Metern, wo
die Familie einen Hektar Land gepachtet
hat. Es ist ein heisser Spätnachmittag im
August. Weil am Himmel Wolken aufziehen,
soll das gemähte und getrocknete Heu eingebracht
werden. Der 15-jährige Manuel
steuert den schweren Ladewagen die steilen
Kurven hinauf. «Ich repariere am liebsten
Maschinen und habe von meinem Bruder
Gustav, der in Seedorf eine Lehre als Anla-
Der Kanton Uri besteht zur
Hälfte aus unproduktiver Fläche.
gen- und Apparatebauer absolviert, schon
viel gelernt», sagt Manuel. Bevor sein Vater
das Heu mit dem grossen Wagen aufladen
kann, muss die Familie es von Hand zusammenrechen.
Auch Valentin als Jüngster hilft
bei dieser Arbeit mit, und Hund Rino tollt
ausgelassen herum.
Gefährliche Arbeit
Dass hier oben, wo die Steigung bis zu
40 Prozent beträgt, überhaupt mit Maschinen
gearbeitet werden kann, ist dem neuen
Bewirtschafterweg zu verdanken, den die
Gislers selbst erbaut haben. «Die Arbeit hat
sich gelohnt», bemerkt Alois Gisler sichtlich
befriedigt, den Blick ins sonnige Tal gerichtet.
Denn um einen einzigen Hektar
Land zu heuen, habe man hier früher vier
bis fünf Tage gebraucht – doppelt so lange
wie heute. Doch das Heuen bleibt im steilen
Gelände trotz Maschinen nicht nur beschwerlich,
sondern ist je nach Wetter auch
Bild: Beim Heuen sind alle gefragt: Vreni,
Manuel und Alois Gisler machen eine kurze
Verschnaufpause.
REGIONALE PROJEKTE ENTWICKELN
Thomas Egger,
Direktor Schweizerische
Arbeitsgemeinschaft
für Berggebiete
Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft
für Berggebiete (SAB) setzt sich auf
politischer Ebene und mit Projekten für
die Berggebiete ein. Direktor Thomas
Egger gibt Auskunft zu den Herausforderungen,
vor denen die Bevölkerung im
Alpenraum und insbesondere die Bergbauern
stehen.
Welches sind die wichtigsten Tendenzen
in den Schweizer Berggebieten, die
sich beobachten lassen?
Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass die
Bevölkerung in den Berggebieten insgesamt
nicht abnimmt. Dank innovativen Gewerbebetrieben
und dem wiedererstarkten Tourismus
konnte die Mehrheit der Bergregionen eine positive
Entwicklung verzeichnen. Die Bevölkerung
ist allerdings in Gebieten rückläufig, die
schlecht erreichbar oder in erster Linie auf
Landwirtschaft ausgerichtet sind. In diesen
Regionen findet ein Strukturwandel statt: Hotelbetriebe
werden geschlossen, der Service
Public ist in Frage gestellt und der Arbeitsplatzabbau
bei ehemaligen Regiebetrieben des
Bundes, etwa bei der SBB oder der Armee, hat
starke Spuren hinterlassen. So sind zwischen
1995 und 2001 rund acht Prozent der Arbeitsplätze
verschwunden.
Junge, gut ausgebildete Leute wandern in
die Städte ab, womit den Berggebieten wichtiges
Innovationspotenzial verloren geht. Kritische
Stimmen betonen vor allem diese negativen
Entwicklungen und sehen die Zukunft der
Schweiz einzig in den Metropolitanräumen.
Eine derart einseitige Sichtweise gefährdet die
Identität der Schweiz als Alpenstaat und stellt
zudem die Solidarität unter den Landesgegenden
in Frage.
Was sind die grössten Herausforderungen
für die Bergbauern?
Auf den Bergbauern lastet ein grosser Druck
wegen den verschiedenen laufenden Refor-
men: Agrarpolitik 2011, die Verhandlungen mit
der Welthandelsorganisation WTO und das bilaterale
Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Union. Schon jetzt werden elf Betriebe
pro Woche geschlossen – wenn das Abkommen
mit der EU kommt, werden noch einmal
sehr viele Betriebe im Berggebiet verschwinden
müssen. Denn dort können die Betriebe
wegen der Topografie nicht massiv vergrössert
werden wie im Mittelland.
Wie können die Bergbauern diesem
Druck standhalten?
Der Bauer muss immer mehr zum Unternehmer
werden und sich auf dem Markt profilieren.
Wir sehen eine Chance darin, dass sich
die Bergbauern mit spezifischen Produkten
aus ihrer Region eine Nische erschliessen.
Dies können sie nicht allein tun, sondern müssen
auf regionaler Ebene in Kooperationen
denken. Gerade beim Zusammenspiel zwischen
der Landwirtschaft und dem Tourismus
ist das Potenzial in der Schweiz noch lange
nicht ausgeschöpft. Mit der Agrarpolitik 2011
erhalten die Bergbauern Unterstützung für regionale
Initiativen. Für sie gilt das Gleiche wie
für die gesamte Bevölkerung im Alpenraum:
Wer stehenbleibt, hat schon verloren. Darum
ist es wichtig, solche Veränderungsprozesse
zu unterstützen. Dies tun wir mit unseren Beratungen,
dies tut Caritas mit der Vermittlung
von Freiwilligen an Bergbauern.
Wie profitiert die Schweiz von
den Berggebieten?
In wirtschaftlicher Hinsicht profitieren wir von
der Energieproduktion dank Wasserkraft, von
der Landschaft als Ressource für den Tourismus
als drittwichtigster Exportbranche der
Schweiz sowie vom Produktionsstandort Alpenraum.
Den Bergbauern verdanken wir landwirtschaftliche
Produkte wie etwa Alpkäse, die
Pflege der Landschaft und die Erhaltung der
Biodiversität. Schliesslich basiert auf dem Alpenraum
unsere nationale Identität, die wir
auch gerne, beispielsweise in der Tourismuswerbung,
einsetzen. (dos)
www.sab.ch
Bild: zVg «Menschen» 1/09 Caritas 9
Reportage: Bergbauern in der Schweiz
gefährlich. Kaum sei der Boden etwas nass,
könne der schwere Ladewagen ins Rutschen
kommen, sagt Manuel.
Austausch zwischen Stadt und Land
Mit der Familie Gisler arbeitet an diesem
heissen Sommerabend die Psychologiestudentin
Alexandra Scherrer, die während
ihren Semesterferien einen siebentägigen
Freiwilligeneinsatz leistet. «Mein Alltag ist
sehr kopflastig – da wollte ich in den Ferien
mit den Händen anpacken und etwas Gutes
tun», erzählt die Studentin, mit der Heuga-
bel hantierend. Sie sei auf dem Land aufgewachsen,
vermisse die bäuerliche Umgebung
und interessiere sich zudem für die Situation
der Bergbauern, sagt die St. Gallerin.
Die Gislers hätten sie sofort herzlich aufgenommen,
und der Austausch mit ihnen habe
sie zum Nachdenken gebracht: Welche Arbeit
steckt hinter den Nahrungsmitteln, die
wir im Supermarkt kaufen, und hinter der
Natur, die wir als Touristen geniessen? Alexandra
ist begeistert: «Ich würde einen solchen
Einsatz sofort wieder machen.» Vorerst
allerdings hat sie die Familie nach St. Gallen
zu Besuch eingeladen.
Viel Arbeit, wenig Ferien
Auch die Gislers schätzen den freundschaftlichen
Kontakt mit Alexandra Scherrer –
und können zwei zusätzliche Hände gut gebrauchen.
Denn obwohl Alois und Vreni
Gisler von früh bis spät auf den Beinen
sind, können sie die vielfältigen Arbeiten
auf dem Hof, im Haushalt und im Garten
nur knapp bewältigen. «Bauern arbeiten viel
und machen wenig Ferien», heisst es etwa
im Agrarbericht 2007 des Bundesamtes für
Landwirtschaft. Laut dieser Statistik nehmen
in der Schweiz die Landwirte mit sieben
Tagen pro Jahr am wenigsten Ferien.
Dies trifft auch auf Gislers zu: Seit ihrer
Hochzeitsreise nach Kanada vor 20 Jahren
waren Alois und Vreni Gisler nie mehr länger
als zwei Tage vom Ratzi fort, obwohl
sie sich durchaus für andere Länder interessieren.
Und wenn die anderen Kinder nach
den langen Sommerferien in der Schule
von ihren Reiseerlebnissen erzählen sollen,
so ist das für die Gisler-Kinder jeweils ein
Seit ihrer Hochzeitsreise vor 20 Jahren waren Alois und
Vreni Gisler nie länger als zwei Tage vom Ratzi fort.
10 Caritas «Menschen» 1/09
etwas gefürchteter Moment. Trotzdem unternimmt
die Familie ab und zu Ausflüge,
etwa als alle zusammen ins Kino gingen: In
Altdorf lief der Dokumentarfilm «Bergauf,
bergab» über die Mehrstufenbetriebe im
Schächental.
«Wir leben bescheiden: Die Kinder ziehen
gebrauchte Kleider an, wir gehen nicht
in Restaurants. Doch es geht uns gut und
wir können in die Weiterentwicklung des
Betriebs investieren», bilanziert Alois Gisler
zur finanziellen Situation der Familie. Obwohl
sein Hof gut läuft und er pro Jahr
etwa 15 Kälber verkaufen kann, ist die Familie
zu rund 60 Prozent von den Direktzahlungen
des Bundes abhängig. In den letzten
Jahren arbeitete Alois Gisler im Winter
zudem drei bis vier Monate auf einer Baustelle
in Weggis. Doch dies «rupfe usinnig»,
sagt Alois Gisler in seinem Urner Dialekt.
So stand er am Morgen um vier Uhr auf,
ging in den Stall, fuhr um sechs Uhr los
nach Weggis, kam abends zurück und ging
wieder in den Stall. «Dieser strenge Rhythmus
ist nur möglich dank der Hilfe aller Fa-
milienmitglieder», betont Alois Gisler, der
diesen Winter auf dem Bau ausnahmsweise
aussetzt, um Zeit für andere Arbeiten zu
haben.
Immer weniger Direktzahlungen
Die Agrarpolitik auf nationaler wie internationaler
Ebene beobachtet Alois Gisler,
der im Vorstand des kantonalen Bauernverbandes
und neuerdings auch im Vorstand
des Zentralschweizer Bauernverbandes aktiv
ist, mit Interesse und Besorgnis. «Wer keinen
genügend grossen Betrieb hat, erhält immer
weniger Direktzahlungen», fasst Alois Gisler
die Entwicklung ohne Bitterkeit zusammen.
Für einen Betrieb wie den Ratzihof gingen
die Direktzahlungen im Zuge der Agrarpolitik
2011 um 9 bis 18 Prozent zurück,
zitiert er eine Studie des kantonalen Bauernverbandes.
«Erst ab einer Grösse von rund
20 Hektaren ist der Strukturwandel für die
Bauern weniger spürbar.» Alois Gisler zeigt
ins Schächental und fragt: «Wie sähe diese
Landschaft ohne uns aus?» Die Antwort
liefert er selbst: «Die Felder würden verganden,
es gäbe mehr Lawinen und nach ein
paar Jahren wäre alles Wald.»
Verstärkter Druck
Der Druck auf die Landwirtschaft könnte
sich noch zusätzlich verstärken, seit die
Schweiz mit der Europäischen Union Gespräche
über ein Freihandelsabkommen im
Agrar- und Lebensmittelbereich aufgenommen
hat. Laut Prognosen des Bundes würde
das Einkommen der Bauern von 2,8 auf 1,6
Milliarden Franken sinken – rund die Hälfte
der Bauernhöfe könnte verschwinden. «Mit
Bild: Auch die Jüngsten der Familie machen
mit: Valentin (8) bringt einen grossen Haufen
Heu zum Ladewagen.
«Menschen» 1/09 Caritas 11
Reportage: Bergbauern in der Schweiz
WO ALLE SEITEN PROFITIEREN
Daniel Grossenbacher,
Leiter Abteilung Bergeinsatz
bei Caritas
Schweiz
Caritas Schweiz vermittelt Bergeinsätze
für Freiwillige und bietet Jugendlichen
in schwierigen Situationen Aufenthalte
bei Bergbauernfamilien an. Vom Angebot
profitieren alle Seiten.
Ein Beitrag an die Lösung von sozialen Problemen
leisten, die Erhaltung natürlicher Lebensweise
und die Freiwilligenarbeit unterstützen
sowie Initiativen fördern, welche die Lebensbedingungen
grundlegend verbessern: Die Bergeinsätze
von Caritas Schweiz werden diesen
Verpflichtungen aus dem Leitbild gerecht.
Einzelpersonen wie Gruppen können während
einer oder mehreren Wochen bei Bauernfamilien
anpacken, sich aktiv erholen und
gleichzeitig etwas Sinnvolles für sich und an-
«Bei der gemeinsamen Arbeit
werden Brücken gebaut.»
dere tun – vom Heuen über die Arbeit im Haushalt
bis hin zum Bau eines neuen Stalls. «Bei
der gemeinsamen Arbeit werden Brücken gebaut,
und es entsteht Solidarität», sagt Daniel
Grossenbacher, Leiter der Abteilung Bergeinsatz.
«Die Bergbauern leisten mit ihrer Produktion
von gesunden Nahrungsmitteln und
der nachhaltigen Bewirtschaftung des Landes
einen wichtigen Beitrag an eine lebendige und
vielfältige Kulturlandschaft, die wir alle geniessen
können. Diese ist besonders für die Menschen
aus den Städten ein wichtiger Erholungsraum.»
Neuorientierung für Jugendliche
Caritas Schweiz entsendet Freiwillige an Bergbauern
in Notsituationen sowie an innovative
Betriebe oder lokale Trägerschaften und leistet
damit einen Beitrag, um den Strukturwandel
sozialverträglich zu gestalten. Im vergangenen
Jahr vermittelte Caritas rund 1170 Freiwillige
an über 150 Bergbauernfamilien im Alpenraum
und Jura. Umgekehrt leisten Bauernfamilien in
12 Caritas «Menschen» 1/09 Bilder: Klaus Baier, zVg
der Deutschschweiz wie in der Romandie auch
einen Beitrag zur Lösung von städtischen Problemen,
indem sie Jugendliche in schwierigen
Situationen bei sich aufnehmen und ihnen so
eine wertvolle Chance der Neuorientierung
bieten. In Zusammenarbeit mit den einweisenden
Instanzen wählen die Sozialpädagogen
von Caritas geeignete Familien aus, die regelmässig
weitergebildet werden. Während ihres
Aufenthaltes werden die Jugendlichen professionell
begleitet. «Die Integration in eine intakte
Grossfamilie und die körperliche Arbeit an der
frischen Luft schaffen den Jugendlichen einen
geregelten Tagesablauf und eröffnen ihnen
neue Perspektiven», sagt Daniel Grossenbacher
zu dieser Massnahme.
Anderes Umfeld
Die Angebote richten sich an junge Menschen
in schwierigen Lebenssituationen (Time-out),
an straffällige Jugendliche sowie an junge Menschen
zwischen Schulabschluss und Berufseinstieg
(Passerelle). Das Projekt für straffällige
Jugendliche wird seit 2004 massgeblich von
der Julius Bär-Stiftung unterstützt. Die Einsätze
ermöglichen den jungen Menschen neben den
neuen Erfahrungen in einem anderen Umfeld,
ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstkompetenz
zu stärken sowie ihr Verhalten zu überdenken.
Zu den einweisenden Instanzen gehören Jugendanwaltschaften,
Jugendgerichte, Sozialdienste
und weitere soziale Institutionen. 2008
vermittelte Caritas in der Deutschschweiz und
in der Romandie insgesamt 239 Jugendliche
an Bergbauernfamilien. (dos)
www.bergeinsatz.ch
Bild: In der frischen Bergluft neue Energie
tanken und mit anpacken: Das und mehr bieten
die Freiwilligeneinsätze von Caritas.
der Öffnung der Grenzen würden die Lebensmittelpreise
sinken – dies wäre für alle
Bauern in der Schweiz einschneidend», betont
Alois Gisler. Wegen den laufenden Reformen
heisse es, flexibel zu bleiben, fügt
seine Frau an. «Wir wissen nie, ob wir auf
die richtige Karte gesetzt haben.»
Trotz des schwierigen Umfelds haben
Alois und Vreni Gisler ihren Traum von
einem eigenen Hof und einer grossen Familie
verwirklicht. Alois Gisler sagt: «Wir sind
glücklich hier und erfahren als Bergbauern
von der Bevölkerung eine grosse Akzeptanz
und Unterstützung. Diese wissen wir sehr
zu schätzen.» Die Sonne ist untergegangen,
und die Familie hat den Ladewagen mit vereinten
Kräften gefüllt. Bevor Gislers vom
hoch gelegenen Pachtland wieder zurück
«Ohne uns wäre hier bald
nur noch Wald.»
zum Hof fahren, setzen sie sich noch zu
einem späten Picknick zusammen. Alexandra
Scherrer verteilt Kuchen und Tee. Es sei
schön, miteinander auf dem Ratzi zu leben,
sagt Vreni Gisler. «Unten im Dorf hätte ich
nicht so viele Kinder gewollt. Doch hier
oben haben sie es gut: Sie können spielen,
lärmen und sich austoben.»
Und weil diese Familie gut harmoniert
und ein gesundes Umfeld bieten kann,
nimmt sie immer wieder straffällige Jugendliche
auf, die vorübergehend auf dem Ratzi-
Hof wohnen und ihre Strafe abarbeiten
(siehe Kasten nebenan). Gerade Jugendliche
aus städtischen Gebieten könnten hier
eine ganz andere Welt erleben, meint etwa
der Jugendanwalt Hansulrich Gürber, der
seit langem Jugendliche an Caritas Schweiz
verweist. Ein solcher Einsatz sei verbunden
mit spannenden Eindrücken und neuen Erfahrungen,
die das Selbstvertrauen stärken
könnten. Aber auch für die Familie Gisler
sind diese Begegnungen eine Bereicherung
und eine Möglichkeit, mit der Welt ausserhalb
des Schächentals Kontakt zu pflegen.
«Mit wenigen Ausnahmen hatten wir meistens
sehr engagierte Jugendliche bei uns»,
betont Vreni Gisler.
Warten auf den Frühling
Es ist ein kalter Novembertag, die Familie
Gisler ist wieder einmal um den Küchentisch
versammelt. Die Kühe sind von der
Alp zurück, die Vorbereitungen für den langen
Winter getroffen. Das Holz für die Heizung
steht bereit, das Emd konnte vor dem
ersten Schnee ins Trockene gebracht werden.
Vreni Gisler hat für den Winter grosse
Vorräte angelegt, da die Strasse zum Ratzi
geschlossen und das Einkaufen mit der Seilbahn
für neun Personen mühsam ist. Die
Familie erzählt von einem ereignisreichen
Sommer, der Schönes und Schwieriges mit
Bild: Alois und Vreni Gisler haben ihren Traum
von einem eigenen Hof verwirklicht – und
arbeiten dafür hart.
sich brachte: Franziska ist in eine eigene
Wohnung in Altdorf gezogen: «Ich habe den
Trubel hier oben genossen, nun aber bin ich
«Wir erfahren von der Bevölkerung
eine grosse Akzeptanz.»
froh um meine eigenen vier Wände», sagt
sie zu ihrer neuen Situation. Gustav und
Petra haben sich bei der Arbeit auf dem Hof
verletzt, sind aber wieder wohlauf. Schliesslich
verloren die Gislers in diesem Sommer
wegen Unfällen und Fehlgeburten drei
Kühe und vier Kälber. «Diese Verluste haben
weh getan – doch als Bauer muss man
damit rechnen», blickt Alois Gisler auf den
Sommer zurück.
Nach all diesen Ereignissen heisst es, den
langen Winter durchzustehen. Vreni Gisler
wird im Haushalt liegen gebliebene Arbeit
nachholen, Alois Gisler muss sich der Buchhaltung
widmen. «Der Winter ist eine tote
Zeit, und unsere Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt»,
sagt er. Sie nickt: «Wir freuen
uns schon jetzt auf den Frühling, wenn wir
wieder draussen arbeiten können.» Dann
beginnt die Saison auf dem Ratzi wieder
von Neuem. <
«Menschen» 1/09 Caritas 13