Historischer Hintergrund der ersten Besteigungen der Jungfrau und ...
Historischer Hintergrund der ersten Besteigungen der Jungfrau und ...
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<strong>Historischer</strong> <strong>Hintergr<strong>und</strong></strong> <strong>der</strong> <strong>ersten</strong><br />
<strong>Besteigungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> des<br />
Finsteraarhorns 1811 <strong>und</strong> 1812<br />
Karl Hausmann<br />
Die <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> das Finsteraarhorn wurden 1811 <strong>und</strong> 1812 erstmals<br />
bestiegen, dreissig bis fünfzig Jahre vor vergleichbaren an<strong>der</strong>n Gipfeln<br />
<strong>der</strong> Berner Alpen. Das Blüemlisalphorn zum Beispiel wurde 1860 erstmals<br />
bestiegen, das Lauterbrunnen Breithorn 1865, <strong>der</strong> Mönch 1857, <strong>der</strong> Eiger<br />
1858 <strong>und</strong> das Wetterhorn 1844.<br />
Die <strong>Besteigungen</strong> von 1811 <strong>und</strong> 1812 wurden von Männern aus einer<br />
prominenten Familie aus Aarau unternommen:<br />
1811<br />
– <strong>Jungfrau</strong>: Johann Rudolf Meyer «Sohn» (1768 bis ca. 1829) <strong>und</strong> sein<br />
Bru<strong>der</strong> Hieronymus Meyer (geb. 1769)<br />
1812<br />
– Finsteraarhorn – Erste Besteigung durch die Führer von Johann Rudolf<br />
Meyer (1791–1833), dem Sohn von Johann Rudolf «Sohn», des Erstbesteigers<br />
<strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong>.<br />
– Zweite Besteigung <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> durch Gottlieb Meyer, Sohn von Johann<br />
Rudolf «Sohn», des Erstbesteigers <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> .<br />
– «Reise von <strong>der</strong> Grimsel über die Gletscher in das Thal von Grindelwald»,<br />
vermutlich über das Finsteraarjoch, September 1812 durch Johann Rudolf<br />
Meyer (1791–1833), Hieronymus Meyer, Hr. Thilo mit einigen Führern.<br />
Die <strong>Besteigungen</strong> des Finsteraarhorns <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> von 1812 erfolgten<br />
im Rahmen einer mehrtägigen Hochgebirgsreise <strong>der</strong> Familie Meyer,<br />
die von <strong>der</strong> Grimsel ausging <strong>und</strong> beim Märjelesee endete, bei <strong>der</strong> auch<br />
das Oberaarjoch <strong>und</strong> die Grünhornlücke überschritten wurden.<br />
Johann Rudolf «Sohn» <strong>und</strong> Hieronymus Meyer waren Söhne von Johann<br />
Rudolf Meyer «Vater» (1739–1813), einem wohlhabenden Textilunternehmer<br />
aus Aarau. Vater Meyer war auch Politiker, er war insbeson<strong>der</strong>e<br />
1798–1800 Senator <strong>der</strong> Helvetischen Republik <strong>und</strong> einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> des<br />
1803 geschaffenen Kantons Aargau. Er war auch einer <strong>der</strong> <strong>ersten</strong> Bergsteiger<br />
in <strong>der</strong> Schweiz, er bestieg 1787 den Titlis. Er liess 1792–1802 die<br />
Schweiz kartographisch erfassen. Die Arbeit führte Johann Heinrich Weiss
80 Erste <strong>Besteigungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> des Finsteraarhorns Erste <strong>Besteigungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> des Finsteraarhorns 81<br />
aus, das Resultat ist <strong>der</strong> «Meyer-Weiss-Atlas» (Atlas Suisse levé et dessiné<br />
par J. H. Weiss aux frais de J. R. Meyer à Aarau dans les années 1786 à<br />
1802). Dieser Atlas beruht zum Teil auf einem grossen Relief <strong>der</strong> Alpen,<br />
das ebenfalls nach Aufnahmen von Weiss hergestellt wurde, das aber<br />
später nach Frankreich verkauft wurde <strong>und</strong> nicht mehr auffindbar ist.<br />
Einer seiner Söhne, Johann Rudolf Meyer «Sohn» (1768 bis ca. 1829)<br />
wurde im Geschäft seines Vaters ausgebildet <strong>und</strong> unternahm 1788–1790<br />
eine Studienreise nach Deutschland <strong>und</strong> lernte dort auch die neuste Technik<br />
im Bergbau sowie die Dampfmaschine als universell verwendbaren<br />
Antrieb kennen. Er arbeitete nach seiner Rückkehr in <strong>der</strong> Firma seines<br />
Vaters, kaufte sich zusammen mit seinem Bru<strong>der</strong> Hieronymus jedoch bald<br />
darauf, im Jahre 1792, etwas ausserhalb <strong>der</strong> Stadt ein Gr<strong>und</strong>stück, wo sie<br />
vorerst eine stattliche Villa (Erbauung: 1794–1797) <strong>und</strong> später eine eigene<br />
Seidenbandweberei erbauten (Erbauung: zwischen 1809 <strong>und</strong> 1811,<br />
nicht genauer datierbar). Da das europäische Festland vom technisch weit<br />
fortgeschrittenen Grossbritannien aus mit preisgünstigen <strong>und</strong> dennoch<br />
qualitativ guten Maschinengarnen überschwemmt wurde, setzte Johann<br />
Rudolf Meyer «Sohn» seine im Bergbaustudium gewonnen Kenntnisse<br />
um <strong>und</strong> leitete den Bau eines unterirdischen Stollensystems – den sogenannten<br />
Meyerschen Stollen – ein, mit dem Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Sickerwasser<br />
gesammelt <strong>und</strong> auf ein im Keller <strong>der</strong> neuen Fabrik stehendes Wasserrad<br />
geführt wurde. Das Wasserrad lieferte die Kraft für den Antrieb <strong>der</strong><br />
Maschinen in <strong>der</strong> Fabrik. Die Stollen wurden damals im Geheimen gebaut.<br />
Beim Bahnhof Aarau sind heute Reste dieses Stollensystems sichtbar.<br />
Ein zweiter Sohn war Hieronymus, auch Jérôme genannt, <strong>der</strong> mit seinem<br />
Bru<strong>der</strong> 1811 die <strong>Jungfrau</strong> bestieg. Er war – wie sein Vater – nach <strong>der</strong><br />
Gründung <strong>der</strong> Helvetischen Republik 1798 auch politisch tätig. Über das<br />
Leben <strong>der</strong> beiden Brü<strong>der</strong> nach 1805 ist – ausser <strong>der</strong> Besteigung <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong><br />
– wenig bekannt. Sie verliessen nach dem Tode ihres Vaters (1813)<br />
Aarau <strong>und</strong> verbrachten ihre letzten Jahre in Deutschland.<br />
Die Söhne von Johann Rudolf «Sohn» aus erster Ehe waren Johann Rudolf<br />
<strong>und</strong> Gottlieb. Johann Rudolf studierte 1806–1813 in Tübingen Medizin<br />
<strong>und</strong> Naturwissenschaften. 1821 wurde er als Lehrer für Naturwissenschaften<br />
an die Aargauische Kantonsschule gewählt. Er wurde bekannt durch<br />
seine schriftstellerische Tätigkeit. Sein Bru<strong>der</strong> Gottlieb (gestorben 1829)<br />
übernahm das Unternehmen des Vaters. Die Fabrik von Johann Rudolf<br />
Meyer «Vater» in <strong>der</strong> Aarauer Altstadt wurde 1812 geschlossen, da aufgr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> fehlenden Antriebsquelle keine maschinelle Herstellung möglich<br />
war.<br />
Johann Rudolf Meyer «Sohn» veröffentlichte noch im Jahre <strong>der</strong> Besteigung<br />
<strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> 1811 einen Bericht mit dem Titel «Reise auf den <strong>Jungfrau</strong>-Gletscher<br />
<strong>und</strong> Ersteigung seines Gipfels». Die <strong>Besteigungen</strong> im Jahre<br />
1812 sind beschrieben im Buch von Heinrich Zschokke aus dem Jahre<br />
1813 mit dem Titel «Reise auf die Eisgebirge des Kantons Bern <strong>und</strong> Ersteigung<br />
ihrer hoechsten Gipfel im Sommer 1812 (nach Mittheilungen des<br />
Herrn Dr. Rudolf Meyer verfasst)». Die Broschüre enthält eine Karte des<br />
Gebietes vom Grimselpass im Osten bis Kan<strong>der</strong>steg im Westen mit Eintrag<br />
<strong>der</strong> begangenen Route. Die Karte ist von hervorragen<strong>der</strong> Qualität, wenn<br />
man bedenkt, dass viele Gletscher damals noch nie begangen worden<br />
waren.<br />
Die Leistungen <strong>der</strong> beiden Generationen Meyer als Bergsteiger <strong>und</strong> Entdecker<br />
waren in <strong>der</strong> damaligen Zeit ausserordentlich. Sehr wahrscheinlich<br />
war eines <strong>der</strong> Motive auch in dem Selbstbewusstsein des neuen Kantons<br />
Aargau begründet. Grosse Teile des 1803 gegründeten Kantons waren<br />
bis 1798 Untertanengebiet von Bern. Mit den <strong>Besteigungen</strong> konnte ein<br />
Erfolg verbucht werden, <strong>der</strong> etwas völlig Neues war <strong>und</strong> sich von den<br />
mehr militärischen <strong>und</strong> administrativen Leistungen <strong>der</strong> Berner abhob. Die<br />
<strong>Besteigungen</strong> waren Zeichen einer starken Aufbruchstimmung.<br />
Es war etwas völlig Neues, dass Bürger aus einem ehemaligen Untertanengebiet,<br />
die auch nicht aus <strong>der</strong> Aristokratie stammten, solche Unternehmen<br />
auf dem Gebiet <strong>der</strong> früheren Herrschaft unternahmen. Es ist<br />
deshalb auch nicht erstaunlich, dass die <strong>Besteigungen</strong> angezweifelt wurden,<br />
beson<strong>der</strong>s in Bern. Kurz darauf gerieten sie in Vergessenheit. Wenige<br />
Jahre nach den Erstbesteigungen <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> des Finsteraarhorns<br />
wurde in <strong>der</strong> Schweiz teilweise wie<strong>der</strong> die alte politische Ordnung<br />
eingeführt. Der Kanton Aargau blieb bestehen, hatte aber nicht mehr<br />
die Bedeutung wie in den Jahren 1798–1803, wo Aarau während einigen<br />
Monaten faktisch die Hauptstadt <strong>der</strong> Helvetischen Republik war. Die Aufbruchstimmung<br />
war vorbei. Die Entdeckung unbekannter Gebiete wie<br />
die <strong>der</strong> Gletscher <strong>und</strong> Berge hatte bis etwa 1850 keine Bedeutung mehr.<br />
Quellen<br />
Lebensbil<strong>der</strong> aus dem Aargau, 1803–1953. Herausgegeben von <strong>der</strong> Historischen<br />
Gesellschaft des Kantons Aargau. Aarau, Verlag H. R. Sauerlän<strong>der</strong><br />
& Co., 1953.<br />
Biographisches Lexikon des Aargaus 1803-1957 /Redaktion: Otto Mittler<br />
<strong>und</strong> Georg Boner. Aarau, Verlag H. R. Sauerlän<strong>der</strong> & Co., 1958.<br />
Pestalozzi Martin: Das gerettete Reisetaschenbuch von Johann Rudolf
82 Erste <strong>Besteigungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>und</strong> des Finsteraarhorns<br />
Meyer Sohn. Ein Dokument <strong>der</strong> Frühindustrialisierung. In Aarauer Neujahrsblätter,<br />
1996, Herausgegeben von <strong>der</strong> Ortsbürgergemeinde Aarau.<br />
www.meyerschestollen.ch<br />
J. Lü<strong>der</strong>s : Die erste Ersteigung des Finsteraarhorns <strong>und</strong> <strong>der</strong> Königsspitze,<br />
in Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs. Drei<strong>und</strong>vierzigster Jahrgang.<br />
1907 bis 1908, S. 273–301