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Drehbuch einer Bundesratswahl - Text und Auftritt

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Das Beispiel vom 7. Dezember 1983<br />

<strong>Drehbuch</strong> <strong>einer</strong> <strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong><br />

Wer freudvoll B<strong>und</strong>esrat werden will, muss sich in der Vergangenheit manchen<br />

beliebt gemacht haben. Denn <strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong>en wickeln sich in der Regel in einem<br />

JE-KA-MI-Dickicht ab. Parteistrategen haben ihre liebe Not, die Fäden<br />

einigermassen in den Händen zu halten.<br />

Von Christian Fehr<br />

Am Mittwoch, 8. Dezember 1982, werden von der Vereinigten B<strong>und</strong>esversammlung<br />

je im ersten Wahlgang FDP-Nationalrat Rudolf Friedrich <strong>und</strong> CVP-Ständerat Alphons<br />

Egli gewählt. Die Sozialdemokraten mochten sich weder für den einen noch den<br />

anderen Kandidaten richtig erwärmen: Sie haben Stimmfreigabe erklärt. Allerdings<br />

lässt SP-Parteipräsident Helmut Hubacher im Vorfeld der Friedrich-Wahl<br />

durchblicken, dass ihm der FDP-Rechtsaussen Friedrich genehmer wäre als jeder<br />

andere FDPler. Er gibt einem unverfälschten gegenüber einem verwaschenen FDP-<br />

Exponenten den Vorzug.<br />

Dieses Engagement des SP-Chefs für den rechten Friedrich bleibt den meisten<br />

Sozialdemokraten schleierhaft, manche mucksen gegen solche Wahlempfehlung des<br />

SP-Vormannes auf. Bis zum Wahltermin rückt Nationalrat Hubacher sein Friedrich-<br />

Bild für den SP-Anhang wieder in ein richtiges Licht. Er nennt ihn einen «finsteren<br />

Gesellen». Was Helmut Hubacher zuvor mit s<strong>einer</strong> Friedrich-Salbung tatsächlich<br />

bezweckt hat, bleibt verschwommen. Manche SPler hegen den Verdacht, Hubacher<br />

träume insgeheim noch immer davon, selber den obersten Spross des politischen<br />

Machtzentrums erklimmen zu können – frei nach dem Motto: «Wenn der extreme<br />

Friedrich genehm sein kann, dürfte es auch für einen SP-Präsidenten möglich<br />

werden.»<br />

Kurz nach der Friedrich- <strong>und</strong> Egli-Wahl erklärt Helmut Hubacher der «Basler<br />

Zeitung», was sie anderntags publiziert: «Jetzt wird’s allerhöchste Zeit für eine Frau.»<br />

Sobald der eine oder andere SP-Sitz im B<strong>und</strong>esrat frei werde, wolle die<br />

sozialdemokratische Fraktion den Versuch zu <strong>einer</strong> historischen Tat wagen <strong>und</strong> die<br />

erste B<strong>und</strong>esratskandidatin zur Wahl vorschlagen. Der Name der Hubacher-Favoritin<br />

ist für niemanden ein Geheimnis: SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen. Hubacher-<br />

Gegner unterstellen gleich, der SP-Chef habe seit Jahren das Terrain für seine<br />

Lieblingskandidatin geebnet, indem er der Reihe nach die ernsthaftesten<br />

Anwärterinnen - Hedi Lang <strong>und</strong> Emilie Lieberherr - ausgebootet hätte. Die gleichen<br />

Hubacher-Gegner unterstellen dem SP-Leader freilich auch, er sei eine «taktische<br />

Null».<br />

Frühjahr 1983, Restaurant «Pinocchio», Bern, abends: Bei Speis’ <strong>und</strong> Trank<br />

plaudern drei Mitglieder der sogenannten «Viererbande», nämlich die Nationalräte<br />

Andreas Gerwig, Helmut Hubacher <strong>und</strong> Walter Renschler, zwanglos über mögliche<br />

Nachfolger von B<strong>und</strong>esrat Willi Ritschard, dessen intern geäusserte<br />

Rücktrittsabsichten sich gehäuft hätten. Das Trio erstellt eine Liste «valabler<br />

Kandidaten». Man kommt auf ein gutes Dutzend Namen, worunter alle Angehörigen<br />

der «Viererbande». Doch bei näherem Betrachten zeigen sich Gerwig, Hubacher <strong>und</strong><br />

1


Renschler realpolitisch: «Von uns hat k<strong>einer</strong> eine Chance.» Zuletzt bleibt der Name<br />

von Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, dem vierten Mitglied der «Viererbande».<br />

Und noch etwas scheint dem Trio klar: Wenn Ritschard schon gehen wolle, dann<br />

müsse seine Nachfolgerin vor den eidgenössischen Wahlen von der Vereinigten<br />

B<strong>und</strong>esversammlung gekürt werden können. Denn die Bürgerlichen würden es sich<br />

vor den Wahlen kaum leisten können, <strong>einer</strong> Frau vor dem Glück zu stehen. Indes,<br />

nach <strong>einer</strong> Ferienwoche, in deren Verlauf er vertieft über einen Rücktritt nachgedacht<br />

hatte, zeigt sich Willi Ritschard zunächst nicht mehr rücktrittswillig. Dann, vor den<br />

Sommerferien 1983, erklärt B<strong>und</strong>esrat Ritschard, er werde nach den Ferien <strong>und</strong> nach<br />

Konsultation seines Leibarztes bekannt geben, ob er demissioniere oder nicht. Im<br />

August diskutieren die Zentralsekretäre der SP zusammen mit dem<br />

Parteipräsidenten die allfällige Ritschard-Nachfolge: Ein Zentralsekretär bringt den<br />

Namen von Nationalrat Hans Schmid ins Spiel, Helmut Hubacher spricht sich für<br />

Nationalrätin Lilian Uchtenhagen aus.<br />

1. September 1983, im gewerkschaftseigenen Viersterne-Hotel «Bern», Bern: Das<br />

«Willi Ritschard»-Buch wird vorgestellt, das zu Ritschards 65. Geburtstag unter dem<br />

Patronat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz <strong>und</strong> dem Schweizerischen<br />

Gewerkschaftsb<strong>und</strong> von der Büchergilde herausgegeben worden ist (Konzeption <strong>und</strong><br />

<strong>Text</strong>: Christian Fehr, ergänzt durch ein Ritschard-Porträt der Schriftstellers <strong>und</strong><br />

Ritschard-Fre<strong>und</strong>es Peter Bichsel). An der Buch-Vernissage nehmen zahlreiche<br />

Prominente von SP <strong>und</strong> Gewerkschaften teil – <strong>und</strong> verschiedene Medienvertreter, die<br />

sich vom Anlass vorab Neuigkeiten über die Rücktrittsabsichten des Geehrten<br />

versprechen. Doch Willi Ritschard lässt offen, ob er seinen zehn B<strong>und</strong>esratsjahren<br />

noch ein elftes anhängen wolle. Anwesend ist auch Nationalrätin Lilian Uchtenhagen,<br />

die später auf dem Perron des Bahnhofs Bern gegenüber dem Parteipräsidenten<br />

bezweifelt, ob Ritschard tatsächlich bereits zurücktreten wolle.<br />

3. Oktober 1983, Herbstsession: B<strong>und</strong>esrat Willi Ritschard reicht sein<br />

Demissionsschreiben ein. Das Kandidatenkarussell, das sich schon seit einiger Zeit<br />

dreht, kommt richtig in Fahrt.<br />

Am 16. Oktober stirbt der populäre SP-B<strong>und</strong>esrat auf <strong>einer</strong> Jura-Wanderung. In der<br />

Solothurner St.-Ursen-Kathedrale spricht SP-Präsident Helmut Hubacher vom<br />

«Vermächtnis» Ritschards: Willi Ritschard habe sich zuletzt Frau Uchtenhagen als<br />

seine Nachfolgerin gewünscht. Dieser vom SP-Chef erwähnte «letzte Wille» des<br />

Verstorbenen verfehlt seine Wirkung nicht: Die Ritschard-Entourage wird in den<br />

folgenden Tagen von zweifelnden <strong>und</strong> überraschten SP-Parlamentariern selbst<br />

nächtlicherweile bemüht, darüber Auskunft zu geben, ob die Sache mit dem<br />

«Vermächtnis» tatsächlich zutreffe. Wird der «letzte Wille» nicht bestätigt - etwa von<br />

Anhängern des Möchtegern-Kandidaten Hans Schmid, die es in der Ritschard-<br />

Entourage auch gibt -, atmen manche Frager erleichtert auf. So etwa ein welscher<br />

Nationalrat, der sich nochmals vergewissert: «Alors, on est libre?»<br />

Vor der Tür stehen die Gesamterneuerungswahlen für National- <strong>und</strong> Ständerat. Im<br />

Kanton Solothurn gilt als fast sicher, dass der Grenchner Stadtpräsident <strong>und</strong> SP-<br />

Nationalrat Eduard Rothen nicht mehr kandidieren wird. Eine Mehrheit in der<br />

solothurnischen SP-Geschäftsleitung würde es gern sehen, wenn auch der andere<br />

bisherige SP-Nationalrat, nämlich Coop Schweiz-Vizedirektor Otto Stich, seinen Platz<br />

ebenfalls jüngeren Kräften zur Verfügung stellen würde. Doch fürchten die<br />

2


Genossen, dass Stich in Kenntnis der definitiven Demission Rothens nicht<br />

rücktrittswillig sein könnte. Man argwöhnt, dass Stich argumentieren könnte, die<br />

solothurnische SP-Liste müsse wenigstens einen Namen enthalten, der mit dem<br />

Wörtchen «bisher» ergänzt werden kann. Rothen wird deshalb mit s<strong>einer</strong><br />

Demissionsabsicht solange zurückgehalten, bis Otto Stich das Handtuch geworfen<br />

hat.<br />

Manchen Genossen ist nach der Stich-Ausbootung nicht wohl ums Herz <strong>und</strong> der<br />

Ausgebootete erfährt nach Bekanntgabe des Ritschard-Rücktritts eine Art<br />

Wiedergutmachung: Hauchdünn, mit 7 gegen 6 Stimmen, wird Otto Stich von der<br />

solothurnischen SP-Geschäftsleitung als B<strong>und</strong>esratskandidat vorgeschlagen. Zwar<br />

denkt k<strong>einer</strong>, dass auf den Solothurner Ritschard schon wieder ein Solothurner als<br />

B<strong>und</strong>esrat folgen würde, aber dem Genossen Stich soll mit dieser Nominierung<br />

etwas Gerechtigkeit für seine Verdienste widerfahren. In den linken Solothurner<br />

Beizen heisst es nach dieser SP-Geschäftsleitungssitzung, dass verschiedene<br />

Mitglieder bloss für Stich gestimmt hätten, weil sie seit dessen Ausbootung ein<br />

schlechtes Gewissen mit sich herumtragen.<br />

Anfang Oktober 1983, Professor Hans Schmid nimmt an der Handelshochschule St.<br />

Gallen mündlichen Prüfungen ab. Einer der letzten Studenten bemerkt: «Viel Glück,<br />

Herr Professor, es ist da ja etwas im Tun…» Er verweist auf einen Artikel in der<br />

«NZZ», worin SP-Nationalrat Hans Schmid von allen möglichen SP-Kandidaten am<br />

sympathischsten abschneidet. Zwar ist der Name des St. Galler Professors schon<br />

früher gefallen, doch jetzt, da ihn die «NZZ» so wohlwollend behandelt, rechnet<br />

Schmid ernsthaft mit <strong>einer</strong> Wahlchance. Gleichsam «familienintern» - von einem Jus-<br />

Professor, der Götti eines Schmid-Kindes ist - klärt Hans Schmid die leidige<br />

Bürgerrechtsfrage ab. Denn Schmid ist St. Galler <strong>und</strong> Aargauer, wählbar aber nur als<br />

Aargauer. Er will aber auf das St. Galler Bürgerrecht nicht im Voraus verzichten,<br />

sondern erst nach <strong>einer</strong> allfälligen Wahl in den B<strong>und</strong>esrat. Der befre<strong>und</strong>ete Jurist gibt<br />

ihm bei einem Glas Wein zu verstehen, dass ein solches Vorgehen mit guten<br />

Gründen möglich sein sollte. Freilich könne man einwenden, dass er vor der Wahl<br />

auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten müsse.<br />

In der letzten Woche der September-Session des alten Parlamentes hat Hans<br />

Schmid gehört, dass er als Kandidat gehandelt wird. CVP-Nationalrat Hans Schärli<br />

hat ihm in der Wandelhalle erklärt: «Ich habe Egli zum B<strong>und</strong>esrat gemacht <strong>und</strong><br />

garantiere Dir bei <strong>einer</strong> Kandidatur 125 Stimmen.» Schmid, der Schärli scherzhaft als<br />

«Präsident der bürgerlichen Hinterbänkler-Vereinigung» einstuft, denkt sich: «Wenn<br />

der sogar Egli zum B<strong>und</strong>esrat machen konnte, dann…» Er wirft den Zettel mit der<br />

Telefonnummer, den ihm Schärli gibt, damit er seine Entscheidung mitteilen kann,<br />

nach eigener Darstellung in den nächsten Papierkorb. Schmid wittert eine Falle.<br />

Später, nach der Nominierung durch die St. Galler SP, aber vor der<br />

Fraktionsausmarchung der SP, ruft er Hans Schärli trotzdem an: «Ich habe nichts<br />

dagegen, wenn ihr die Aktion macht, die ihr mir offeriert habt.»<br />

In einem ersten Gutachten, das das B<strong>und</strong>esamt für Justiz im Fall «Bürgerrecht<br />

Schmid» erstellt, wird dem St. Galler Professor die Möglichkeit eingeräumt, erst nach<br />

der Wahl zum B<strong>und</strong>esrat auf sein St. Galler Bürgerrecht verzichten zu können.<br />

Schmid wird parteiintern vor allem von jungen SPlern, die verschiedentlich mit der<br />

Etikette «Jung-Manager» versehen werden, gestützt <strong>und</strong> animiert, aber auch von<br />

verschiedenen Gewerkschaftern. Hingegen wird ihm, der während den Sessionen im<br />

3


Hotel «Bern» übernachtet, dem einstigen «Volkshaus», in der letzten Sessionswoche<br />

seitens der sogenannten «Volkshüsler-Riege» der sozialdemokratischen<br />

Parlamentarier durch SP-Nationalrat Herbert Zehnder bedeutet, sie würden sich für<br />

Otto Stich einsetzen - <strong>einer</strong> der ihren, der als Nationalrat ebenfalls im Hotel «Bern»<br />

abstieg, abends gern einen Jass klopfte <strong>und</strong> im Gegensatz zu Schmid klar dem<br />

konservativen Parteiflügel zugerechnet werden kann.<br />

Am letzten Sessionstag des alten Parlamentes werden die - wie Stich - nicht mehr<br />

kandidierenden Kollegen gebührend verabschiedet. Die CVP-Nationalräte Edgar<br />

Oehler <strong>und</strong> Hans-Rudolf Feigenwinter erklären dem scheidenden Otto Stich<br />

rührsehlig: «Otti, wir werden dich nicht vergessen.» Stich antwortet etwas verlegen:<br />

«Wir werden ja sehen.»<br />

Von ihrem Kandidatenvorschlagsrecht machen verschiedene SP-Kantonalparteien<br />

Gebrauch, wenngleich vom Start weg über jedem männlichen Bewerber gleichsam<br />

Lilian Uchtenhagen als Damoklesschwert hängt. Vorgeschlagen werden: Ständerat<br />

Eduard Belser (BL), Regierungsrat <strong>und</strong> Nationalrat Kurt Meyer (BE), Nationalrat<br />

Hans Schmid (SG), Noch-Nationalrat Otto Stich (SO), Nationalrätin Lilian<br />

Uchtenhagen sowie Regierungsrat <strong>und</strong> Ex-Nationalrat Arthur Schmid (AG), ein<br />

früherer Präsident der SP Schweiz. In Zürich wird ursprünglich erwogen, allenfalls<br />

eine Zweier-Kandidatur - Lilian Uchtenhagen <strong>und</strong> Walter Renschler (mit Walliser<br />

Bürgerrecht) - vorzulegen. Diese Idee weist Frau Uchtenhagen entschieden zurück;<br />

sie will von ihren Leuten vorbehaltlos unterstützt werden.<br />

Im Kanton Bern, wo in der internen SP-Ausmarchung der seit Jahren als möglicher<br />

B<strong>und</strong>esratskandidat genannte Thuner Stadtpräsident <strong>und</strong> Nationalrat Ernst<br />

Eggenberg gegen Regierungsrat <strong>und</strong> Nationalrat Kurt Meyer mit <strong>einer</strong> Stimme<br />

Differenz unterliegt, zeichnet sich Peinliches ab. Für Meyer haben sich hier<br />

besonders Anhänger des St. Gallers Schmid in Szene gesetzt, die Eggenberg als<br />

überaus erfolgsträchtige Nummer weg vom Fenster haben wollen. Dies ahnt der<br />

nominierte Meyer freilich erst, als im schweizerischen Parteivorstand, dem neun<br />

Berner angehören, die Wahlergebnisse für die einzelnen sozialdemokratischen<br />

B<strong>und</strong>esratskandidaten bekanntgegeben werden: Auf Meyer entfällt lediglich eine<br />

Stimme, was den bernischen SP-Kantonalpräsidenten, Richard Müller, veranlasst, in<br />

der «Berner Tagwacht», der er als Chefredaktor vorsteht, darauf hinzuweisen, dass<br />

jedenfalls der Kantonalpräsident für den bernischen Kronprinzen gestimmt habe…<br />

Ende Oktober verlieren die Sozialdemokraten die eidgenössischen Wahlen. Die als<br />

Nationalrat oder Ständerat wieder kandidierenden SP-B<strong>und</strong>esratsbewerber werden<br />

aber durchs Band brillant wieder gewählt, am besten SP-B<strong>und</strong>esratskronprinzessin<br />

Lilian Uchtenhagen. Nationalrätin Uchtenhagen setzt sich am 12. November 1983 in<br />

allen SP-Wahlgremien durch, die final entscheidende SP-Fraktion ernennt sie zur<br />

offiziellen sozialdemokratischen B<strong>und</strong>esratskandidatin: Sie macht hier 31, der<br />

härteste Konkurrent, Hans Schmid, 22 Stimmen. Auf Otto Stich entfallen 8 Stimmen.<br />

Im Vorfeld dieser Nominierung <strong>und</strong> auch nachher werden zwei Uchtenhagen-<br />

Kampagnen deutlich: Die Pro-Kampagne wird von den Blättern der Ringier-Presse<br />

(«Blick», «Sonntagsblick», «Schweizer Illustrierte») geführt <strong>und</strong> hier vom<br />

prominenten Journalisten Frank A. Meyer wesentlich geprägt. Die Kontra-Kampagne<br />

lässt sich weniger genau orten, die Kandidatin selber wähnt sich aber besonders mit<br />

der Jean-Frey-Verlagsgruppe im Clinch («Weltwoche», «bilanz»). Der angesehene<br />

4


Publizist Oskar Reck bezeichnet die Anti-Uchtenhagen-Kampagne als «verdeckten<br />

Rufmord».<br />

Lilian Uchtenhagen selber nimmt in der «Berner Zeitung» in einem Interview unter<br />

dem Titel «Bei Stress lebe ich erst auf!» zur Kritik an ihrer Person <strong>und</strong> zu Willi<br />

Ritschards Wunsch Stellung: «Bereits vor zwei Jahren rief der verstorbene B<strong>und</strong>esrat<br />

Willi Ritschard mich zu sich, um mir zu sagen, er wolle gelegentlich zurücktreten <strong>und</strong><br />

ich solle seine Nachfolge antreten. Nachdem Willi Ritschard mir mehrmals gesagt<br />

hatte, ich müsse unbedingt kommen, ich sei qualifiziert, habe ich mir nach seinem<br />

Rücktritt überlegt, ob ich mir eine Bedenkzeit ausbedingen soll. Aber bei den Wahlen<br />

habe ich gemerkt, dass sehr viele Leute, Frauen <strong>und</strong> Männer, jetzt unbedingt eine<br />

Frau im B<strong>und</strong>esrat haben wollen. Da wurde mir in unzähligen Gesprächen auch klar,<br />

dass ich das jetzt einfach machen muss. Irgendeinmal kommt der Zeitpunkt, da wir<br />

Frauen das auf uns nehmen <strong>und</strong> in einen solchen Konkurrenzkampf steigen müssen.<br />

Meine Partei ist überzeugt, dass ich die Qualifikation habe. Abgesehen davon ist es<br />

wirklich Zeit, dass eine Frau in diese Regierung einzieht.<br />

Das Schlimme an dieser Kampagne gegen mich ist ja, dass niemand nach m<strong>einer</strong><br />

parlamentarischen Arbeit fragt. Dabei habe ich mich nicht nur in Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Finanzfragen profiliert, sondern mich auch in Frauenfragen, Bildungs- <strong>und</strong><br />

Forschungsfragen engagiert <strong>und</strong> für regionalen Ausgleich <strong>und</strong> Minderheiten<br />

gestritten. Aber ich werde immer entweder als eiserne Lady oder als emotioneller<br />

Haufen geschildert. Wie ich <strong>einer</strong>seits ehrgeizig, kalt, hart <strong>und</strong> rücksichtslos,<br />

anderseits eine Heulsuse sein soll, das geht ja auch nicht auf. Die Leute, die mit mir<br />

schon zusammengearbeitet haben, wissen sehr wohl, dass ich sehr belastbar bin.»<br />

Die Uchtenhagen-Kritiker haben unter dem Stichwort «Belastbarkeit» der Kandidatin<br />

zum Beispiel gestreut, Frau Uchtenhagen werfe mit Aschenbechern um sich, wenn<br />

sie aufs äusserste gefordert werde. In der «Weltwoche» wird die angeblich<br />

mangelnde «psychische Belastbarkeit» der Kandidatin solcherart dargestellt: «Kritik<br />

reisst die Präsidentin von Coop Zürich vom Stuhl, lässt sie unkontrolliert<br />

herumzappeln – ihr gehen immer wieder die Nerven durch. Als sie einst während der<br />

China-Fahrt <strong>einer</strong> parlamentarischen Delegation mongolischen Kindern gedankenlos<br />

Dollarnoten verteilt hatte <strong>und</strong> deswegen von Parteifre<strong>und</strong> Walter Renschler scharf<br />

gerüffelt wurde, stand sie schliesslich, das personifizierte Elend, tränenüberströmt in<br />

der Steppe.»<br />

Sehr früh zirkulierten in den Wandelhallen des B<strong>und</strong>eshauses, aber auch in den<br />

Gazetten, zwei Namen, die in k<strong>einer</strong> Form als Kandidaten an der SP-internen<br />

Ausmarchung teilgenommen haben: Nationalrat Fritz Reimann, hauptberuflich<br />

Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsb<strong>und</strong>es (SGB), <strong>und</strong> B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Walter Buser. Am 19. November 1983 sorgt ein «Tages-Anzeiger»-Interview mit SP-<br />

Präsident Helmut Hubacher für Empörung in den bürgerlichen Reihen. Der SP-Chef<br />

gibt darin zu verstehen, dass die SP einen B<strong>und</strong>esrat Buser nicht schlucken würde.<br />

Die Bürgerlichen wähnen sich durch diese Aussage erpresst.<br />

Buser selber nimmt «erste Äusserungen im Sinne <strong>einer</strong> Ermunterung zur Annahme<br />

<strong>einer</strong> Wahl» in der September-Session 1983 wahr. Häufiger seien sie nach den<br />

Fraktionssitzungen vor der Winter-Session geworden, «als sich in allen bürgerlichen<br />

Fraktionen eine relativ starke Opposition gegen die Kandidatur Uchtenhagen<br />

herauskristallisierte»: «All diese Äusserungen - vielleicht ein gutes Dutzend - kamen<br />

5


aber von persönlichen Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> hatten nicht einmal offiziösen, geschweige<br />

denn offiziellen Charakter.» Als solche Fre<strong>und</strong>e erwähnt Buser den Neuenburger<br />

Nationalrat François Jeanneret (lib.), den Buser-Schachpartner <strong>und</strong> Neuenburger<br />

Ständerat Jean-François Aubert (lib.), den Genfer Nationalrat Gilbert Couteau (lib.)<br />

<strong>und</strong> den Zürcher CVP-Nationalrat Paul Eisenring (der mit Buser zu <strong>einer</strong> Gruppe von<br />

befre<strong>und</strong>eten Parlamentariern gehört, die sich einmal pro Session zum Nachtessen<br />

treffen). Buser: «Daher kommt das Gerücht, die Bürgerlichen hätten mich gleich zu<br />

Beginn gewollt. Klar haben die – es sind ja Fre<strong>und</strong>e – für mich die Werbetrommel<br />

gerührt.»<br />

Im «Landwirtschaftlichen Klub der B<strong>und</strong>esversammlung», dem weit über 100<br />

Parlamentarier fast aller Parteien angehören, bearbeiten katholische Bauern<br />

protestantische Kollegen zugunsten des Katholiken <strong>und</strong> Coop Schweiz-Mannes Otto<br />

Stich, dem die Bauern gr<strong>und</strong>sätzlich nicht wohl gesinnt sind. Ein katholischer Bauern-<br />

Nationalrat erhält von einem protestantischen Kollegen die schnippische Antwort:<br />

«Dann können wir ja gleich den Biel wählen!» Walter Biel ist Nationalrat des<br />

Landesrings der Unabhängigen <strong>und</strong> Migros-Direktor. Mit seinen kritischen Voten zur<br />

Landwirtschaftspolitik bringt er die Bauern regelmässig gegen sich auf.<br />

Fritz Reimann wird zehn Tage vor der <strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong>, an einem Samstag, zuhause<br />

von einem Thuner Freisinnigen - Reimann wohnt in Thun – aufgesucht, der ihm im<br />

Hinblick auf die bevorstehende <strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong> eröffnet: «Wir haben mit dem<br />

Wahlvorschlag Mühe…» Reimann, der «da <strong>und</strong> dort» bereits seit Wochen gehört hat,<br />

«dass sie mich wollen», winkt ab, wenngleich ihm der freisinnige Kollege zu<br />

verstehen gibt, er könne sich mit <strong>einer</strong> Antwort ruhig Zeit lassen.<br />

Doch der SGB-Präsident, der sich mit <strong>einer</strong> Wahl zum B<strong>und</strong>esrat persönlich «nicht<br />

unglücklich» machen will, lehnt unzweideutig ab. Da entgegnet ihm der freisinnige<br />

K<strong>und</strong>schafter: «Das wäre ja das erste Mal, dass <strong>einer</strong> die Wahl nicht annehmen<br />

würde!» Auch dies vermag den umgarnten Fritz Reimann nicht umzustimmen, trotzig<br />

meint er: «Dann bin ich halt der Erste!» Tatsächlich hatten in der Vergangenheit bei<br />

den Sozialdemokraten sowohl Hans-Peter Tschudi (gegen den Schaffhauser<br />

Nationalrat <strong>und</strong> Stadtpräsidenten Walther Bringolf) <strong>und</strong> Willi Ritschard (gegen den<br />

Aargauer Regierungsrat <strong>und</strong> Nationalrat Arthur Schmid) die mithin «wilde», von den<br />

Bürgerlichen in Abweichung zum offiziellen SP-Kandidaten vorgenommene Wahl<br />

angenommen.<br />

Am Donnerstag, 1. Dezember 1983, bitten die Nationalräte Franz Eng (FDP) <strong>und</strong><br />

Hans Schärli (CVP) den begehrten Gewerkschaftsboss Reimann zum vertraulichen<br />

Gespräch in eine Ecke des Nationalratssaals. Die beiden bürgerlichen<br />

Parlamentarier geben ihm aufgr<strong>und</strong> von Gesprächen in ihren Fraktionen zu<br />

verstehen: «Du wirst problemlos gewählt, aber wir müssen sicher sein, dass Du die<br />

Wahl annimmst.» Und wieder zeigt man sich bereit, dem SGB-Präsidenten<br />

Bedenkzeit einzuräumen: «Du musst jetzt nicht sofort ja sagen, überlegs’s Dir übers<br />

Wochenende.» Reimann hat nach diesem Gespräch kaum wieder seinen Platz<br />

eingenommen, da wird er von einem Nationalratsweibel aufgefordert, dringend den<br />

B<strong>und</strong>eskanzler anzurufen. Buser später dazu: «Die Entwicklung - so wie ich sie<br />

verfolgen konnte - zeigte zu Beginn eine klare Konzentration der Gegner der<br />

Kandidatur Uchtenhagen auf Nationalrat Schmid, St. Gallen. Es bestand Neigung,<br />

die SP insofern zu schonen, als der Zweitklassierte bei der fraktionsinternen<br />

Ausscheidung ins Auge gefasst wurde. Erst als die Kandidatur aus rechtlichen<br />

6


Gründen zu wanken begann, suchten die Gegner der Kandidatur Uchtenhagen<br />

intensiver nach <strong>einer</strong> möglichen Alternative. In jenem Moment kam nun die<br />

Kandidatur Fritz Reimann ins Gespräch, der am Donnerstag der ersten<br />

Sessionswoche von <strong>einer</strong> interfraktionellen bürgerlichen Delegation aufgesucht<br />

wurde. Mir persönlich kam diese Alternative recht, da damit die Gefahr <strong>einer</strong><br />

Konzentration auf meine Person abgewendet war.»<br />

Reimann <strong>und</strong> Buser verabreden sich zum Mittagessen im Restaurant «Krone» im<br />

Berner Nobelvorort Muri. Noch bevor das bestellte Fisch-Gericht an <strong>einer</strong> weissen<br />

Sauce aufgetragen ist, platzt es aus Buser heraus: «Fritz, ich sichere Dir jegliche<br />

Unterstützung zu.» Welches Departement auch immer Fritz Reimann im B<strong>und</strong>esrat<br />

übernehmen müsse, überall gebe es vorzügliche Beamte, die dem bescheidenen,<br />

auch an s<strong>einer</strong> Qualifikation für das hohe Amt zweifelnden Reimann beistehen<br />

könnten: «Du brauchst k<strong>einer</strong>lei Bedenken zu haben.»<br />

Reimann winkt wieder ab, doch Buser will’s nicht wahrhaben. Am folgenden Freitag<br />

hat der B<strong>und</strong>eskanzler in Basel an der Universität Examina abzunehmen <strong>und</strong> benützt<br />

die Gelegenheit, mit seinem alten Fre<strong>und</strong> Hans-Peter Tschudi, dem früheren SP-<br />

B<strong>und</strong>esrat, ein Gespräch zu führen. Tschudi, den Buser als seinen Berater<br />

empfindet, hat dem B<strong>und</strong>eskanzler zuerst von <strong>einer</strong> Kandidatur abgeraten, später<br />

jedoch, an Tschudis Geburtstagsfeier, schlitzohrig empfohlen, seine, Tschudis<br />

1959er Erfahrung, zu studieren: «Die könnte Dir jetzt dienlich sein.» Buser will darauf<br />

geantwortet haben: «Comparaison ce n’est pas raison.»<br />

Nach dem Gespräch mit Fre<strong>und</strong> Tschudi ruft Buser via Autofunk den<br />

Parteipräsidenten Hubacher an. Sie verabreden sich im «Maxim» in Basel, das<br />

Hubachers Gattin führt. Buser über den Gesprächszweck: «Es ging mir nicht darum,<br />

ihn um Rat zu fragen, wie später in den Medien gesagt worden ist, sondern darum,<br />

einen Appell an ihn zu richten, die Tatsache der ungünstigen Chancen der<br />

Kandidatur Uchtenhagen zu realisieren <strong>und</strong>, wenn es doch offenbar sein musste, von<br />

sich aus eine Alternative in die Diskussion zu bringen. Im gleichen Sinne hatte ich<br />

mich am Donnerstag der ersten Woche der Winter-Session bereits an den SP-<br />

Fraktionspräsidenten Dario Robbiani gewandt.»<br />

Helmut Hubacher erinnert sich, dass ihn Buser für Reimann zu gewinnen suchte. Der<br />

B<strong>und</strong>eskanzler habe sich als ursprünglicher Anhänger der Kandidatur Uchtenhagen<br />

dargestellt, der jetzt von der Chancenlosigkeit dieser Kandidatur überzeugt sei:<br />

«Helmut, so begreif doch endlich…» Wichtiger freilich scheint dem SP-Chef, dass<br />

Buser darauf hingewiesen habe, seine Wiederwahl als B<strong>und</strong>eskanzler wäre<br />

gefährdet, wenn er jetzt mit <strong>einer</strong> öffentlichen Verzichtserklärung die Bürgerlichen vor<br />

den Kopf stossen würde. Hubacher hat darauf erwidert: «Es gibt traurigere<br />

Schicksale, als als B<strong>und</strong>eskanzler nicht wiedergewählt zu werden.» Das vielleicht<br />

eine St<strong>und</strong>e dauernde Gespräch verläuft frostig, k<strong>einer</strong> traut dem andern über den<br />

Weg. Willi Ritschard hat dem SP-Präsidenten vor den Sommerferien 1983 gesagt:<br />

«Die Bürgerlichen wollen Buser. Wenn das passiert, können wir aus dem B<strong>und</strong>esrat<br />

austreten.» Und Helmut Hubacher glaubt auch zu wissen, dass Buser bei den<br />

Bürgerlichen bereits im Wort steht.<br />

Am Montag, 5. Dezember 1983, teilt Nationalrat Reimann den Bürgerlichen offiziell<br />

<strong>und</strong> schriftlich mit: «Liebe Ratskollegen, anlässlich unseres Gesprächs vom<br />

vergangenen Donnerstag habe ich von Euch erfahren, dass scheinbar breite Kreise<br />

7


aus den Fraktionen der FDP, CVP <strong>und</strong> SVP meine Person im Zusammenhang mit<br />

der B<strong>und</strong>esrats-Ersatzwahl ins Gespräch gebracht haben. Ich habe Euch erklärt,<br />

dass ich von Anfang an - <strong>und</strong> seither immer wieder - unmissverständlich eine<br />

Kandidatur als B<strong>und</strong>esrat abgelehnt habe <strong>und</strong> dass ich an diesem Entscheid<br />

festhalte.» Und: «Auch nachdem ich über das Wochenende Gelegenheit hatte,<br />

erneut darüber nachzudenken, hat sich daran nichts geändert. (…) Ich bin mir<br />

durchaus bewusst, was für die schweizerische Politik auf dem Spiel steht, glaube<br />

jedoch nicht daran, dass mit m<strong>einer</strong> Wahl die Probleme gelöst würden. Im Gegenteil,<br />

ich bin überzeugt davon, dass die Zustimmung zum Vorschlag der SP-Fraktion<br />

unserem Parlament gut anstehen würde.»<br />

An diesem Montag wird auch ein bei der Universität Bern vom Büro des<br />

Nationalrates bestelltes zweites Gutachten zum «Bürgerrechtsfall Schmid» bekannt,<br />

das sinngemäss festhält: Wenn Hans Schmid nicht auf sein St. Galler Bürgerrecht<br />

vor der Wahl verzichtet, ist er nicht wählbar. Nicht nur Schmid-Anhänger haben den<br />

Eindruck, dass Nationalrat Schmid mit einem «Juristentrick» aus dem Verkehr<br />

gezogen worden ist. Gegen den St. Galler-Aargauer Schmid sollen in den Kulissen<br />

vorab mögliche künftige B<strong>und</strong>esratskronprinzen bürgerlicher Parteien aus diesen<br />

beiden Kantonen aktiv geworden sein, damit ihnen eine Wahl in den B<strong>und</strong>esrat nicht<br />

verbaut würde (damals war nur ein B<strong>und</strong>esrat aus dem gleichen Kanton wählbar, der<br />

Verf.).<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Vorkommnisse in der ersten Woche der Dezember-Session beschliesst<br />

der Fraktionsvorstand der SP, die Gerüchte um den mutmasslichen Favoriten der<br />

Bürgerlichen, B<strong>und</strong>eskanzler Walter Buser, abzuklären. Den bürgerlichen Fraktionen<br />

soll gleichzeitig klar gemacht werden, dass die SP Buser unter keinen Umständen<br />

akzeptieren könne; dabei gehe nicht darum, auf die Entscheidung der Bürgerlichen<br />

Druck auszuüben, vielmehr soll ihnen klar gemacht werden, dass die SP mit <strong>einer</strong><br />

Wahl Busers in für alle Beteiligten unschöne Turbulenzen geraten würde.<br />

Die bürgerlichen Gesprächspartner - FDP-Fraktionschef Jean-Jacques Cevey, SVP-<br />

Fraktionschef Hans-Rudolf Nebiker (zusammen mit SVP-Generalsekretär Max<br />

Friedli, SVP-Nationalrat Rudolf Reichling <strong>und</strong> SVP-Ständerat Peter Gerber) <strong>und</strong><br />

CVP-Fraktionschef Arnold Koller - zeigen für diese Haltung der Sozialdemokraten<br />

Verständnis. Cevey wirft ein, dass die SP vor Jahresfrist die offiziellen Kandidaten<br />

von FDP <strong>und</strong> CVP ebenfalls nicht offiziell unterstützt habe. Und ein SVP-Vertreter<br />

gibt zu erkennen, dass die Qualifikation von B<strong>und</strong>eskanzler Buser für den<br />

B<strong>und</strong>esratsjob nicht über jeden Zweifel erhaben sei. SP-Fraktionsvize Walter<br />

Renschler über seinen Eindruck nach diesen Gesprächen: «Mindestens die Führung<br />

der anderen respektiert die SP-Kandidatin, wenngleich auch Bedenken gegen Lilian<br />

Uchtenhagen geäussert wurden. Aber man versprach uns, dass das Mögliche<br />

gemacht werde, um unseren Wahlvorschlag zu respektieren.»<br />

Kaum wieder im Ratssaal, vernimmt Nationalrat <strong>und</strong> VPOD-Geschäftsführer<br />

Renschler, dass eine bürgerliche Delegation den Kollegen Fritz Reimann bearbeitet.<br />

Sofort geht er zum CVP-Fraktionschef Koller: «Was macht ihr da wieder für ein<br />

‚Spieli’?» Koller versichert, dass Eng <strong>und</strong> Schärli nicht im Namen der Fraktion bei<br />

Reimann vorstellig geworden sind.<br />

Gegen Ende der ersten Woche der Winter-Session verdichten sich neu Gerüchte,<br />

dass CVP-B<strong>und</strong>esrat Kurt Furgler, Chef des Eidgenössischen Justiz- <strong>und</strong><br />

8


Polizeidepartementes, zugunsten von Walter Buser aktiv sei, um einen Vertrauten,<br />

nämlich Joseph Voyame, Direktor des B<strong>und</strong>esamtes für Justiz, als Nachfolger<br />

Busers in den B<strong>und</strong>eskanzlerjob hieven zu können. Da Furgler früher wiederholt<br />

bemerkt hatte, er sei für eine Kandidatur Uchtenhagen, will der SP-Präsident jetzt<br />

vom CVP-B<strong>und</strong>esrat persönlich wissen: «Kurt, warst Du nur für Lilian, um Willi<br />

Ritschard weg zu empfehlen?» Als Hubacher aus Furglers Büro herauskommt, hat er<br />

trotz der Zusicherung Furglers - «Helmut, ich bin absolut dafür, dass ihr im B<strong>und</strong>esrat<br />

bleibt» - kein klares Gefühl über Furglers tatsächliche Rolle.<br />

Zu Beginn der zweiten Woche der Winter-Session, zwei Tage vor der<br />

<strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong>, stellen die Sozialdemokraten fest, dass Walter Buser stärker denn<br />

je im Gespräch ist – besonders als auch noch Reinmanns definitiver Verzicht<br />

bekannt wird. Im SP-Fraktionsvorstand wird die bange Frage diskutiert: «Wie kann<br />

das Problem Buser umgangen werden?» Man beschliesst, Buser müsse Farbe<br />

bekennen. Denn Fraktionsvize Renschler ist inzwischen auch zu Ohren gekommen,<br />

dass der B<strong>und</strong>eskanzler dem Treiben um seine Person keineswegs passiv<br />

gegenüberstehe, sondern vielmehr aktiv auf eine Wahl hinarbeite. Das Gerücht liegt<br />

in der Luft, dass Buser den Generalsekretär des Eidgenössischen Departementes<br />

des Innern, den SP-Mann Eduard Marthaler, als B<strong>und</strong>eskanzler-Nachfolger<br />

montieren wolle, wenn er, Buser, in den B<strong>und</strong>esrat gewählt würde. Renschler will’s<br />

genau wissen <strong>und</strong> ruft Marthaler an: «Hast Du etwas gehört von D<strong>einer</strong> Kandidatur<br />

als B<strong>und</strong>eskanzler?» Marthaler antwortet sinngemäss: «Ja, vor zwei St<strong>und</strong>en hat<br />

Buser angerufen <strong>und</strong> gefragt, ob ich kandidieren würde. Doch ich habe dieses<br />

Ansinnen weit von mir gewiesen.»<br />

Jetzt ist für die SP-Spitze endgültig klar: «Buser ist für sich selber aktiv!» Im Auftrag<br />

des Fraktionsvorstandes müssen Ständerat Carl Miville sowie die Nationalräte<br />

Renschler <strong>und</strong> Hubacher mit dem B<strong>und</strong>eskanzler reden. Bei dieser Aussprache<br />

schweigt sich SP-Chef Hubacher aus <strong>und</strong> verlässt die R<strong>und</strong>e schon nach wenigen<br />

Minuten: «Ich habe nichts Neues gehört. Buser hat wiederholt, was er mir schon in<br />

Basel gesagt hat.» Trotz des Beschlusses, k<strong>einer</strong>lei Zwang auf Buser auszuüben,<br />

geht besonders der Basler Miville mit dem unsicheren Kantonisten Buser hart ins<br />

Gericht: «Walter, ich verstehe Dich nicht!» Und er erinnert Buser daran, welche<br />

Verantwortung er mit <strong>einer</strong> Wahlannahme auf sich nehmen würde: «Du wärst schuld,<br />

wenn wir den B<strong>und</strong>eskanzlerposten verlieren würden, <strong>und</strong> Du trägst die<br />

Verantwortung, wenn sich die Partei spaltet!“» Walter Buser wirbt mit dem Hinweis<br />

auf schlaflose Nächte um Verständnis: «Es geht um meine Existenz.» Da fährt ihn<br />

Walter Renschler an: «Du musst nicht so tun, als ob…» Allein, Miville <strong>und</strong> Renschler<br />

kommen mit Buser auf keinen grünen Zweig. Zusammen gehen die beiden<br />

Parlamentarier mit dem B<strong>und</strong>eskanzler anschliessend an die SP-Fraktionssitzung,<br />

die bereits angefangen hat. Dort fragt SP-Nationalrat Max Chopard quer über den<br />

langen Tisch an die Adresse Busers: «Jetzt wollen wir endlich wissen: Bist Du<br />

Kandidat oder bist Du nicht Kandidat?» Die Frage Chopards gilt keineswegs der<br />

Stärkung der Kandidatur Uchtenhagen; vielmehr sondiert Chopard, ein Anhänger von<br />

Stich, für seinen Otto. Chopard gehört zur sogenannten «Volkshüsler-Riege».<br />

B<strong>und</strong>eskanzler Buser stellt seine Position an dieser Fraktionssitzung so dar: «In all<br />

diesen Wochen - also schon vor der Winter-Session - habe ich alle, die mich<br />

ermunterten, immer wieder dringend ersucht, aus staatspolitischen Gründen die<br />

Kandidatur Uchtenhagen zu akzeptieren oder - soweit sich kategorisch Opposition<br />

geltend machte - darum gebeten, jedenfalls nicht meine Person ins Spiel zu<br />

bringen.»<br />

9


Buser begründete seine Haltung nachträglich so: «Einerseits habe ich immer wieder<br />

betont, dass mir persönlich, da ich seit 20 Jahren aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen <strong>und</strong><br />

mit Rücksicht auf meine Neigung zu eher wissenschaftlicher Tätigkeit nicht mehr<br />

vorne an der politischen Front stehe, der Posten des B<strong>und</strong>eskanzlers offen <strong>und</strong><br />

ehrlich besser passe. Zweitens, habe ich aus der Erkenntnis der Situation bei der SP<br />

heraus immer wieder unterstrichen, dass eine Wahl m<strong>einer</strong>seits grösste<br />

Schwierigkeiten nach sich ziehen würde, da die SP nicht nur mit ihrer offiziellen<br />

Kandidatin unterläge, sondern gleichzeitig - <strong>und</strong> damit war bestimmt zu rechnen -<br />

auch der Posten des B<strong>und</strong>eskanzlers verloren ginge. Diese Haltung kam auch in<br />

meinen Äusserungen inner- <strong>und</strong> ausserhalb der Fraktion zum Ausdruck, so<br />

namentlich in <strong>einer</strong> ersten Stellungnahme kurz nach der Herbst-Session, <strong>und</strong><br />

zweitens im Fraktionscommuniquè am Dienstag der ersten Sessionswoche, worin<br />

erklärt wurde, die Fraktion habe von mir zur Kenntnis genommen, dass ich<br />

ausschliesslich für den Posten des B<strong>und</strong>eskanzlers zur Verfügung stehe. Von <strong>einer</strong><br />

formellen Erklärung des Inhalts, dass ich eine Wahl ablehnen würde, wurde mir von<br />

Fre<strong>und</strong>en aus allen Lagern dringend abgeraten, da dies als Affront gegenüber der<br />

B<strong>und</strong>esversammlung als höchster Wahlbehörde des Landes ausgelegt würde.»<br />

Die Teilnehmer der SP-Fraktionssitzung beschliessen auf Vorschlag von<br />

Fraktionschef Robbiani, Buser soll mit Renschlers Hilfe eine Communiqué<br />

formulieren, aus dem hervorgehe, dass Buser für die <strong>B<strong>und</strong>esratswahl</strong> passe. Walter<br />

Renschler besteht dabei auf der Formulierung «In völliger Übereinstimmung mit der<br />

Fraktion…», während Walter Buser s<strong>einer</strong>seits die Variante offeriert: «Aus<br />

persönlichen Gründen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt…» Da wird Renschler<br />

sauer: «Was heisst ‚zum gegenwärtigen Zeitpunkt’? Gilt das morgen Mittwoch auch<br />

noch?» Die beiden Sozialdemokraten können sich nicht einigen. Jetzt gibt die<br />

Fraktion auf Vorschlag von Helmut Hubacher dem gepeinigten Buser zwei St<strong>und</strong>en<br />

Zeit, sich «etwas Gescheites» einfallen zu lassen. Die Zeit drängt, denn auf 17 Uhr<br />

ist eine Pressekonferenz zum Thema Buser angesagt.<br />

Die Fraktionssitzung wird fortgesetzt, während sich Buser an die Arbeit macht. Eine<br />

Viertelst<strong>und</strong>e später wird Walter Renschler hinausgerufen. Vor der Tür steht SVP-<br />

Generalsekretär Max Friedli <strong>und</strong> will wissen: «Stimmt es, dass Buser auf eine<br />

Annahme der Wahl verzichten muss?» Renschler reagiert gereizt: «Woher wisst ihr<br />

das jetzt schon wieder – Buser war ja noch bis kurz vorher hier drin?» Friedli erklärt<br />

ihm, dass Buser soeben ein Mitglied der SVP-Fraktion angerufen habe, um ihm den<br />

Verzicht mitzuteilen. Als Begründung habe er den Druck erwähnt, der auf ihn<br />

ausgeübt würde.<br />

An der Pressekonferenz, etwas nach 17 Uhr, liegt der Buser-<strong>Text</strong> vor. Renschler<br />

verliesst den <strong>Text</strong>: «Ich möchte Ihnen hiermit zur Kenntnis bringen, dass ich unter<br />

den heute gegebenen Umständen eine allfällige Wahl in den B<strong>und</strong>esrat nicht<br />

annehmen könnte». Prompt wird Renschler gefragt, ob der Verzicht morgen Mittwoch<br />

noch gelte. Wider seinen persönlichen Eindruck antwortet Renschler: «Das heisst<br />

heute <strong>und</strong> morgen.»<br />

Kurz vor Beginn der Fraktionssitzung der FDP erk<strong>und</strong>igt sich ein FDPler bei Coop<br />

Schweiz-Vizedirektor Stich in Basel, ob er eine Wahl annehmen würde. Die Antwort<br />

fällt positiv aus. Die FDP-Fraktion, in der die Ablehnung der Kandidatur Uchtenhagen<br />

von Anfang an am massivsten ausgefallen ist, erörtert an diesem<br />

10


Dienstagnachmittag, dem 6. Dezember 1983, drei personelle Möglichkeiten: Buser,<br />

Stich oder ein Gewerkschafter. FDP-Nationalrat Felix Auer, der sich s<strong>einer</strong>zeit in<br />

seinen Reihen für die Wahl Busers zum B<strong>und</strong>eskanzler stark gemacht hatte, warnt<br />

davor, die SP mit <strong>einer</strong> Wahl Busers zum B<strong>und</strong>esrat <strong>und</strong> damit dem Verlust des<br />

B<strong>und</strong>eskanzlerpostens vor den Kopf zu stossen. Er setzt sich für seinen<br />

Studienkollegen Otto Stich ein; sie beide kommen aus Arbeiterverhältnissen. Auer<br />

<strong>und</strong> die Kleinunternehmer-Tochter Lilian Uchtenhagen, ebenfalls eine<br />

Studienkollegin Auers <strong>und</strong> Stichs, sind sich nicht grün.<br />

Als FDP-Fraktionschef Cevey gegen 17 Uhr die Sitzung aufheben will, kommt die<br />

Mitteilung herein, Walter Buser verzichte auf eine Wahl. Auer: «Die Fraktion war hell<br />

empört. Jedermann vermutete sofort, Hubacher habe Buser unter Druck gesetzt.»<br />

Gegen 18 Uhr wird die FDP-Fraktionssitzung unterbrochen – man will sich gegen 21<br />

Uhr noch einmal treffen. In der Zwischenzeit soll bei den anderen bürgerlichen<br />

Parteien sondiert werden.<br />

Gegen 19 Uhr verlässt Walter Renschler das B<strong>und</strong>eshaus. Er ist mit Lilian<br />

Uchtenhagen in der «Münz» des Hotels «Bellevue» zum Nachtessen verabredet.<br />

Ebenfalls gegen 19 Uhr treffen sich im Büro von CVP-Fraktionschef Arnold Koller<br />

unter der B<strong>und</strong>eskuppel Vertreter aller bürgerlichen Parteien. Die Teilnehmer einigen<br />

sich rasch. Der B<strong>und</strong>esrat, der morgen Mittwoch gewählt wird, heisst Otto Stich. An<br />

der «Bellevue»-Bar prophezeit Ex-B<strong>und</strong>esratskronprinz Hans Schmid dem<br />

Fernsehmann Marc-Roland Peter die Stich-Wahl mit 125 Stimmen.<br />

Etwa zur gleichen Zeit tafelt das Gros der FDP-Fraktion im Hotel «Schweizerhof».<br />

Die angeregt die bevorstehende Stich-Wahl diskutierenden FDPler verstummen<br />

plötzlich: Unter der Tür ist SP-Ständerat René Meylan aufgetaucht. «Er versuchte»,<br />

so später FDP-Pressechef Christian Beusch, «bei uns anzusaugen.» Bestimmt wird<br />

Meylan erklärt, dass er ein anderes Mal willkommener sei. Bei diesem FDP-<br />

Nachtessen kommt heraus: Offiziell wird niemand unterstützt, inoffiziell Stich. Belser,<br />

der Basellandschäftler SP-Ständerat, bei den Freisinnigen lange Zeit als<br />

Uchtenhagen-Alternative im Gespräch, findet keine grössere Resonanz mehr.<br />

Beusch: «Ausser Major ist er nichts.» Für Erheiterung sorgt an der freisinnigen Tafel<br />

die Mitteilung, dass CVP-Generalsekretär Hans-Peter Fagagnini, ein Uchtenhagen-<br />

Befürworter, in der Polizeikaserne am Berner Waisenhausplatz mit dem FC<br />

Nationalrat Fussball spielt – <strong>und</strong> so die Stich-Entwicklung wohl nicht mehr aufhalten<br />

könne. Tatsächlich haben verschiedene CVP-Parlamentarier <strong>und</strong> Uchtenhagen-<br />

Gegner wie CVP-Nationalrat Edgar Oehler dem viven Strategen <strong>und</strong> Parteifunktionär<br />

Fagagnini in der Zwischenzeit klar gemacht: «Das Wahlgremium hier sind wir!»<br />

Als sich die Freisinnigen gegen 21 Uhr wieder treffen, geht’s ruckzuck: Nach <strong>einer</strong><br />

Viertelst<strong>und</strong>e ist die Sitzung beendet <strong>und</strong> alle angehalten, in den Berner<br />

Etablissements Kollegen <strong>und</strong> Kolleginnen zu ermuntern, am Mittwoch den Namen<br />

von Otto Stich auf den Wahlzettel zu schreiben. Nach dieser Sitzung ruft Felix Auer<br />

seinen Studienkollegen Stich an: «Otti, Du wirst sicher gewählt!» Er gibt Stich den<br />

Rat, sofort das Telefon auszuziehen, damit sich nicht noch eine SP-Delegation<br />

anmelden könne…<br />

In der «Münz» haben Lilian Uchtenhagen <strong>und</strong> Walter Renschler inzwischen etwas<br />

Leichtes, vermutlich Kalbsschnitzel, verdrückt. Während an der Theke der<br />

«Bellevue»-Bar im gleichen Hotel der Name Stich zirkuliert, fragt in der «Münz» Frau<br />

11


Uchtenhagen: «Was meinst Du, Walter, wie sind meine Wahlchancen?» Renschler,<br />

der von der Stich-Entwicklung nichts ahnt, antwortet im Brustton der Überzeugung:<br />

«Die Sache ist geritzt. Die können jetzt nicht mehr umorganisieren – der<br />

Hauptkandidat ist aus dem Rennen.»<br />

FDP-Parlamentarier <strong>und</strong> –Funktionäre treffen sich nach der abendlichen<br />

Fraktionssitzung im Restaurant «Della Casa». Es wird emsig gerechnet. Bald ist den<br />

FDPlern hier klar: «Es reicht, aber ganz knapp.» Als unsichere Kantonisten werden<br />

einige welsche Parteifre<strong>und</strong>e eingestuft. Tatsächlich sollte Lilian Uchtenhagen 12<br />

Stimmen mehr erhalten, als die FDPler voraussehen.<br />

An der «Arcady»-Bar des Hotels «Schweizerhof» bechern etwa ab 22 Uhr<br />

Parlamentarier aller bürgerlichen Fraktionen, mehrheitlich aber CVPler. CVP-<br />

Nationalrat Edgar Oehler, Chefredaktor der «Ostschweiz», beschreibt unter dem<br />

Pseudonym «Hansjakob Wahlfieber» am 8. Dezember 1983 in s<strong>einer</strong> Zeitung, wie<br />

sich die Dinge entwickelt haben: «Überparteilich kamen honorige Kreise im<br />

B<strong>und</strong>eshaus in einem bestimmten Raum zusammen <strong>und</strong> vereinbarten ein<br />

überparteiliches Zusammensitzen auf 23 Uhr. Es war immer noch Dienstagabend.<br />

Wie ein Lauffeuer gingen die parteipolitischen Telegrafen <strong>und</strong> Meldeläufer durch<br />

Berns Gassen, suchten die einschlägigen Restaurants auf <strong>und</strong> meldeten die neueste<br />

Entwicklung. Die Quittung war überall die gleiche, welche die Meldeläufer in die<br />

Zentrale zurückbrachten: ‚Jetzt reicht es uns endgültig’, habe man vom Heiri beim<br />

Nachtessen, vom Hans beim Dessert, vom Ueli beim Zeitungslesen <strong>und</strong> vom Paul<br />

auf dem Spaziergang vernommen. An der inoffiziellen Zusammenkunft der Vertreter<br />

aller Parteien fühlte man nicht nur, wie die besonnenen Typen der SP über den<br />

Ausgang des neuesten Schlagabtauschs fieberten, sondern auch den allgemeinen<br />

Drang, dem bösen Spiel endgültig eine Ende zu bereiten.<br />

Das Buschtelefon klingelte unentwegt weiter. Bald einmal hatte man die grosse<br />

Mehrheit des Parlamentes erreicht <strong>und</strong> informiert. Druck wurde auf niemanden<br />

ausgeübt, das war angesichts der vergangenen Tage <strong>und</strong> der Entwicklung verpönt.<br />

Mittlerweile war Mitternacht vorbei. Das Sandmännchen hielt Einzug. So konnte man<br />

sich geruhsam zu Bette legen, um beim Frühstück nochmals über die Bücher zu<br />

gehen. (…) Die Meldungen, die beim Frühstück hereinkamen, stimmten optimistisch;<br />

Querkontrollen ergaben, dass das Informationsnetz durch das abendliche <strong>und</strong><br />

nächtliche Bern funktioniert hatte. Das alles verdaut, das Dreiminuten-Ei, Gipfeli <strong>und</strong><br />

ein Stück Zopf verspiesen, konnte man sich gemeinsam auf den Weg ins<br />

B<strong>und</strong>eshaus machen. Man wollte zur Zeit eintreffen, denn die Lage war ernst,<br />

weshalb es eine bestimmte Angewöhnungsphase brauchte.» Soweit Hansjakob<br />

Wahlfieber alias Edgar Oehler.<br />

Auf dem Herren-WC des B<strong>und</strong>eshauses werden noch zwei Parlamentarier erwischt,<br />

die dem Treiben des Vorabends doch tatsächlich entgangen sind. Einer will leer<br />

einlegen, <strong>einer</strong> Uchtenhagen wählen. Im Gespräch während des Wasserlösens<br />

können die beiden Parlamentarier von ihrer Absicht abgehalten werden – sie<br />

versprechen, Otto Stich zu wählen. Damit keine bösen Überraschungen vorkommen,<br />

zeigen sich die Uchtenhagen-Gegner vom «Arcady»-Coup gegenseitig ihre<br />

Wahlzettel.<br />

Otto Stich wird im ersten Wahlgang mit 124 Stimmen zum B<strong>und</strong>esrat gekürt, Lilian<br />

Uchtenhagen bringt es auf 96 Stimmen. Kurz vor 11 Uhr bricht an der<br />

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Thierst<strong>einer</strong>alle in Basel bei Coop Schweiz Jubel aus: «Unser Chef ist B<strong>und</strong>esrat!»<br />

(«Coop-Zeitung». Mit Blaulicht wird Stich zur Vereidigung ins Berner B<strong>und</strong>eshaus<br />

gefahren, «eskortiert» von Coop Schweiz-Prominenz: Direktor Hans Thuli ist dabei,<br />

ebenfalls Edith Rüefli, die Otto Stich bei Coop Schweiz Tage vorher als Direktorin<br />

vorgezogen worden ist, dann auch der stellvertretende Direktor Peter Fitz. In Bern<br />

stossen sie zusätzlich auf Robert Kohler, Direktionspräsident von Coop Schweiz.<br />

Im Nationalratssaal erklärt Otto Stich: «Ich bin der Meinung, die Zeit sei reif für eine<br />

Frau im B<strong>und</strong>esrat. Aber da Sie mich gewählt haben, nehme ich die Wahl an.» FDP-<br />

Präsident Yann Richter sagt in einem ersten Wahlkommentar: «Man wird jetzt<br />

wissen, wer in der Schweiz befiehlt.» Erzürnt droht SP-Chef Helmut Hubacher mit<br />

dem Gang in die Opposition. Doch daraus wird nichts. Ein ausserordentlicher<br />

Parteitag verwirft das Ansinnen. Die SP bleibt Regierungspartei <strong>und</strong> der zunächst<br />

verschmähte Otto Stich löst als Finanzminister in den eigenen Reihen rasch deutlich<br />

mehr Begeisterung aus, als bei jenen, die ihn in den B<strong>und</strong>esrat gewählt haben…<br />

(Quelle: «Heil Dir Helvetia. Die Freude an der Macht», Herausgegeben von Christian<br />

Fehr, Edition Gutenberg, 1984)<br />

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