Lesehappen: Ulrich Hecker, Bildungsanspruch - Grundschulverband
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<strong>Ulrich</strong> <strong>Hecker</strong><br />
<strong>Lesehappen</strong> aus: Grundschule aktuell, Februar 2011, Seite 3<br />
Bildungs-Anspruch: Was Kinder brauchen<br />
Anmerkungen zur Diskussion um Kompetenzorientierung und Aufgabenkultur<br />
Aktuelles Beispiel: Im Spätherbst stellte der Berliner Bildungssenator Prof. E. Jürgen<br />
Zöllner ein „Qualitätspaket“ für die Berliner Schule vor. Erklärtes Ziel: Verbesserung der<br />
schulischen Qualität. Umgehend wurde Kritik an seinem „sehr eingeschränkten<br />
Qualitätsbegriff“ laut. „Grundschulen“, so der Berliner <strong>Grundschulverband</strong> in seiner<br />
Stellungnahme, „brauchen mehr als die Vorgabe von Leistungsstandards, die Optimierung<br />
von Vergleichsarbeiten und regelmäßige Schulinspektionen“.<br />
„Allein ein zunehmender datengestützter Vermessungsdruck und Zielvereinbarungen<br />
werden aus sogenannten leistungsschwachen Schulen noch keine leistungsstarken Schulen<br />
machen“, so die Berliner Kolleginnen und Kollegen weiter. Inzwischen hat die<br />
bildungspolitische und pädagogische Debatte um Bildungsstandards und<br />
Kompetenzorientierung das „verflixte siebte Jahr“ hinter sich, und nach wie vor begegnen<br />
viele Lehrerinnen und Lehrer dieser Diskussion und ihren schulpolitischen Folgerungen mit<br />
Skepsis, Vorbehalten und auch Verunsicherung.<br />
„Der Wahn der Rangliste“?<br />
Seit Pisa gilt „Output-Steuerung“ als zentrale schulpolitische Maßnahme: sogenannte<br />
„Bildungsstandards“ wurden definiert, die tatsächlich lediglich Fachleistungs-Standards für<br />
ausgewählte Bereiche weniger Fächer sind. Damit werden die messbaren Ergebnisse nun<br />
jährlich getestet. Dabei geht es um die Fachbereiche, die in den internationalen<br />
Schulleistungstests im Fokus stehen. Deshalb gibt es Bildungsstandards nur für Deutsch und<br />
Mathematik und nur auf diese Fächer beziehen sich die jährlichen Vergleichsarbeiten. Alle<br />
anderen Fächer wie Sachunterricht, Kunst, Sport, Musik geraten ins Abseits der<br />
schulpolitischen und öffentlichen Aufmerksamkeit und drohen zu schulischen Nebensachen<br />
zu werden.<br />
Die Medien schenken den Ranglisten und Bepunktungsskalen hohe Aufmerksamkeit.<br />
Publizierte Rating-Skalen werden als Aussage über Bildungsniveaus missverstanden; ihnen<br />
wird eine Erklärungskraft angedichtet, die sie nicht besitzen. Auf die Schulen hat dies eher<br />
eine einengende, verunsichernde als eine ermutigende und herausfordernde Wirkung.<br />
Der Bildungsjournalist Karl-Heinz Heinemann schrieb dazu: „Das TÜV-Paradigma hat längst<br />
Einzug gehalten: Output-Steuerung, schlanke Lehrpläne, mehr Freiheit bei der<br />
Personaleinstellung, in etlichen Bundesländern hat die, in diesem Zusammenhang muss der<br />
Name nun mal fallen, Bertelsmann-Stiftung dafür gesorgt. Aber weniger Bürokratie? Jetzt<br />
sitzen nicht mehr bräsige Schulräte hinten im Klassenzimmer, sondern Qualitätsmanager, 4<br />
Q-Inspektoren, und wie sie sonst noch heißen, huschen mit ihren Checklisten im<br />
Viertelstundentakt durch die Klassenzimmer (…) und im engmaschigen Netz von Selbst- und<br />
Fremdevaluationen, Schulinspektionen, Vergleichs- und zentralen Abschlussarbeiten werden<br />
sie jeden erwischen, der da noch in einer Nische seine Sonderwege gehen will.“ i
<strong>Lesehappen</strong> aus: Grundschule aktuell, Februar 2011, Seite 3<br />
„Pisa: Der Wahn der Rangliste“ - so überschreibt der Wiener Philosoph Konrad Paul<br />
Liessmann ein Kapitel seines Buches „Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der<br />
Wissensgesellschaft“ und stellt fest: „Der Stand von Bildungspolitik heute ist durch einen<br />
einfachen Satz zu beschreiben: Sie erschöpft sich im Schielen auf die Ranglisten. (…) Alle<br />
relevanten und auch in der Öffentlichkeit heftig diskutierten bildungspolitischen<br />
Entscheidungen der letzten Jahre sind entweder durch einen schlechten Listenplatz<br />
motiviert oder geboren aus dem Wunsch, einen besseren Listenplatz zu erreichen. (...) Nicht<br />
einmal ein diffuser Bildungsbegriff, schon gar nicht ein gesellschaftspolitisches Konzept von<br />
Bildung zeichnet sich hinter gegenwärtiger Bildungspolitik ab, sondern diese lässt sich auf<br />
einen einzigen Satz reduzieren: Wo stehen wir?“ ii<br />
Von Anfang an sind die Ideen der Bewertung und des „Rankings“ im Schulbereich nur im<br />
Zusammenhang betriebswirtschaftlichen Denkens zu sehen, das aus Schulen und<br />
Universitäten Unternehmen machen will, die an ihren „marktorientierten“ Ergebnissen zu<br />
messen sind. Eltern und Schüler wurden dann auch schon als „Kunden“ angesehen. „Output“<br />
ist ein betriebswirtschaftlicher Begriff: Der Produktionsprozess wird vom angestrebten<br />
Ergebnis her geplant und organisiert. Zuerst der Zweck, dann die dahin<br />
führenden Mittel. Dieses Bild ist für Bildungsprozesse ungeeignet, denn „die Qualität der<br />
Prozesse ist hier selbst bildungswirksam. Auf welche Weise Kinder etwas lernen ist<br />
zumindest so bedeutsam wie das, was sie lernen.“ iii<br />
Ein „Ranking“ von Schulen – in ihrer großen Unterschiedlichkeit – anhand einzelner<br />
statistischer Kennziffern führt über die Wahrnehmung von Eltern schließlich dahin, dass sich<br />
soziale Unterschiede verschärfen. „Gute Schulen“ bekommen Kinder mit mehr Chancen,<br />
„schlechte“ werden weiter „zurückbleiben“.<br />
Die Verbindung pädagogischer Arbeit mit einer „Mentalität des Gewinnens“ kann vielen<br />
Kindern den Schulerfolg weiterhin vorenthalten. Damit werden derzeit schon stark<br />
ausgeprägte Bildungs-Ungerechtigkeiten weiter zugespitzt: Kinder an Grundschulen in<br />
„bildungsfernen“ Milieus geraten noch mehr ins Hintertreffen. Das widerspricht der Idee<br />
inklusiver Pädagogik und befördert weitere Entsolidarisierung. iv<br />
Bleibt die Frage, ob der Druck, der von einem derartigen technokratischen Kontrollmodell<br />
ausgeht, die Qualitätsentwicklung von Schulen befördern kann. Detlef Träbert,<br />
Bundesvorsitzender der „Aktion Humane Schule“, nennt warnt anhand von zwei Beispielen:<br />
■ Vergleichsarbeiten<br />
„Landauf, landab setzen Lehrkräfte alles daran, bei Vergleichsarbeiten gut abzuschneiden.<br />
Wochenlang werden Schulklassen auf die Anforderungen der Tests hin vorbereitet, anstatt<br />
kreative Lernprozesse anzuregen. Warum Lehrer das machen? Weil zumindest innerhalb der<br />
Schulöffentlichkeit die Klassenergebnisse verglichen werden. Auszeichnungen für Schulen<br />
mit besonders guten (Teil-) Ergebnissen beeinflussen ihr Ansehen bei der Elternschaft dann<br />
auch schulübergreifend.“<br />
■ Schulinspektion bzw. Qualitätsanalyse<br />
„Die Frage wäre einmal eine wissenschaftliche Untersuchung wert, wie viel kostbare Zeit<br />
Schulen dafür investieren, sich bei der externen Evaluierung durch Schulinspektoren in<br />
einem guten Licht zu präsentieren. Da werden Schul-Portfolios gestaltet und die
<strong>Lesehappen</strong> aus: Grundschule aktuell, Februar 2011, Seite 3<br />
vorgeschriebenen Konzepte im Schulprogramm aufbereitet, dass jeder Präsentationstrainer<br />
seine Freude hätte. Monatelang bereiten sich die Schulleitungen mit ihren Kollegien auf den<br />
Besuch der Kommission vor. Lehrkräfte üben ein, wie als gut bewertete Schulstunden<br />
auszusehen haben, nur um hinterher wieder zu ihren alten Mustern zurückzukehren.“<br />
Träbert resümiert: „Anstatt innovativ zu werden, Schule neu zu denken und zu gestalten, aus<br />
den Erfahrungen der anderen, erfolgreicheren Nationen zu lernen und Schulstrukturen ohne<br />
Tabu zu hinterfragen, hat man in Deutschland schlicht den Druck erhöht: Standards und<br />
Kontrolle sowie Konkurrenz sollten Schule besser machen.“ v<br />
Wir brauchen eine gründliche Diskussion darüber, ob wir das in Deutschland wirklich wollen.<br />
[….]<br />
i Karl-Heinz Heinemann, Replik auf Christian Füller , in: „Der Freitag“, 1.9.2009<br />
ii Ließmann, Konrad Paul (2006): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der<br />
Wissensgesellschaft, Wien: Zsolnay, S. 75 (2010 als Taschenbuch bei Pieper erschienen)<br />
iii Bartnitzky, Horst (2007): Wie Vergleichsarbeiten die Unterrichtskultur beschädigen – 5<br />
Thesen und eine Hoffnung. In: „Grundschule aktuell“, Heft 99, Frankfurt am Main:<br />
<strong>Grundschulverband</strong>, S. 3 f.<br />
iv Vgl. dazu Röbe, Edeltraud (2010): Ein pädagogischer Leistungsbegriff als Bedingung für<br />
einen erfolgreichen Kompetenzerwerb in der Grundschule. Im Internet unter<br />
www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_KPH/Kompetenzzentren/Grundschulp%C3%A4dagogik<br />
/DV-Vortrag_Wien.pdf<br />
v Träbert, Detlef (2010): Druck machen – für mehr Menschlichkeit! In: „Humane Schule“,<br />
Mai-Heft 2010, S. 1-4.