PDF zum download - Philharmonisches Orchester Heidelberg
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Vorschau:<br />
4. Familienkonzert<br />
Sonntag, 06.03.2005, 11.30 und 13.00 Uhr, Theater <strong>Heidelberg</strong><br />
Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstellung<br />
<strong>Orchester</strong>fassung von Maurice Ravel<br />
Ulrike Euen Erzählerin Martin Braun Dirigent<br />
3. Chorkonzert<br />
Samstag, 19.03.2005, 18.00 Uhr, Jesuitenkirche <strong>Heidelberg</strong><br />
Johann Sebastian Bach Matthäus-Passion BWV 244<br />
Udo Scheuerpflug Evangelist Felix Speer Jesusworte<br />
Bettina Pahn Sopran Bhawani Moennsad Alt<br />
Tilman Lichdi Tenor Johannes Martin Kränzle Bass<br />
6. Sinfoniekonzert<br />
Mittwoch, 23.03.2005, 20.00 Uhr, Stadthalle <strong>Heidelberg</strong><br />
Maurice Ravel Ma mère l’oye<br />
Alban Berg Violinkonzert<br />
Franz Schubert Sinfonie Nr. 2 B-Dur D 125<br />
Patricia Kopatchinskaja Violine Steffen Leißner Dirigent<br />
Impressum:<br />
Herausgeber: <strong>Philharmonisches</strong> <strong>Orchester</strong> <strong>Heidelberg</strong><br />
Gestaltung: GrafikAtelierDeutscher, Bettina Gantert<br />
Redaktion: Katharina Kost<br />
Herstellung: Citydruck <strong>Heidelberg</strong><br />
Text: Gregor Herzfeld. Der Text ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. Alle Rechte<br />
beim Autor.<br />
Abbildungen: S. 6, 8: Karin v. Maur (Hrsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der<br />
Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1985; S. 10, 11, 12: Matthias, Arnold,<br />
Vincent van Gogh, München 1995; S. 17: Die Musik in Geschichte und<br />
Gegenwart, 2. Aufl. hrsg. v. L. Finscher, Sachteil, Bd. 6, Kassel u.a. 1997;<br />
S. 15, 18, 19: Originalillustrationen von Frank Reinecke zu „Klangspiegel“<br />
und „Bilder einer Ausstellung“.<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
PHILHARMONISCHES<br />
ORCHESTER HEIDELBERG<br />
5. Sinfoniekonzert<br />
<strong>Philharmonisches</strong><br />
<strong>Orchester</strong>
5. Sinfoniekonzert<br />
Mittwoch, 2. März 2005, 20.00 Uhr, Stadthalle <strong>Heidelberg</strong><br />
Giselher Klebe (* 1925)<br />
Die Zwitschermaschine<br />
Metamorphosen über das gleichnamige Bild von Paul Klee op. 7<br />
Allegro – Andante – Moderato assai – Tempo I<br />
Einojuhani Rautavaara (* 1928)<br />
Drei Préludes aus der Oper Vincent<br />
Sternennacht<br />
Krähen über dem Weizenfeld<br />
Die Kirche in Auvers<br />
Martin Christoph Redel (* 1947)<br />
Klangspiegel op. 50 für <strong>Orchester</strong><br />
Pause<br />
Modest Mussorgsky (1839-1881)<br />
Bilder einer Ausstellung<br />
<strong>Orchester</strong>fassung von Maurice Ravel<br />
Promenade – Gnomus – Promenade – Das alte Schloss –<br />
Promenade – Tuilerien – Bydlo – Promenade – Ballett der<br />
Küken in ihren Eierschalen – Samuel Goldenberg und<br />
Schmuyle – Der Markt von Limoges – Catacombae.<br />
Sepulchrum Romanum (Katakomben. Römisches Grabmal)<br />
– Cum mortuis in lingua mortua (Mit den Toten in<br />
der Sprache der Toten) – Die Hütte auf Hühnerfüßen –<br />
Das große Tor von Kiew<br />
Frank Reinecke/Karl Kliem Bildinstallation<br />
Volker Christ Dirigent<br />
3<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
PROGRAMM
SAISON 2004 | 2005<br />
VERTONTE BILDER<br />
4<br />
Vertonte Bilder – Gemalte Klänge<br />
Die Forderung nach Reinheit der Tonkunst, d.h. der<br />
Anspruch, Musik müsse aus sich selbst heraus mit ihren<br />
ureigenen Strukturen ein sinnvolles Kunstwerk ergeben,<br />
war spätestens im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete<br />
musikästhetische Position. Sie wirkt häufig unbewusst in<br />
unser heutiges Verhalten als Konzertpublikum hinein,<br />
wenn wir beispielsweise nach Konzertbedingungen verlangen,<br />
die eine volle Konzentration auf die Musik – absolute<br />
Stille, abgedunkelter Raum – ermöglichen. Dazu stehen all<br />
jene Unternehmungen im Widerspruch, denen eine Inspiration<br />
durch Nicht-Musikalisches, sei es die Natur, die<br />
Literatur oder die Bildende Kunst, vorausgeht oder die gar<br />
dieses Nicht-Musikalische der Musik überordnen. Dazu<br />
gehören allerdings anerkannte Kunstwerke wie einige Sinfonien<br />
Beethovens, die ganze Sparte der Programmmusik<br />
und die Musikdramen Richard Wagners. Was eigentlich<br />
eine nur musikalische Musik, so genannte absolute Musik,<br />
sein soll, wird am deutlichsten vom Musikkritiker Eduard<br />
Hanslick Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert, wenn er<br />
sagt, Musik dürfe nichts weiter sein als „tönend bewegte<br />
Form“. Doch schon angesichts der Instrumentalmusik von<br />
Johannes Brahms, die seit jeher diesem Hanslick’schen<br />
Ideal zugeordnet wurde, wird die Tragfähigkeit der Definition<br />
fragwürdig, bedenkt man die Verwendung von choralartigen<br />
Strukturen in Brahms’ 1. Sinfonie, die auf Religiöses,<br />
Feierliches, Überhöhend-Transzendierendes – also<br />
nicht primär Musikalisches hinweisen.<br />
Daher entschieden und entscheiden sich viele Komponisten<br />
gegen eine solche Formalästhetik im Sinne Hanslicks<br />
und für die Suche nach dem Austausch mit anderen<br />
Kunstformen in der Überzeugung, die eigene Kunst<br />
dadurch zu bereichern.<br />
Werke der Bildenden Kunst wie Gemälde, Skulpturen oder<br />
Räume mit bestimmten architektonischen Proportionen<br />
oder bestimmter Akustik gaben nach der Literatur am<br />
häufigsten eine Inspirationsquelle für Komponisten ab.<br />
Dies ist einigermaßen verwunderlich, trifft man doch im<br />
Wesen auf ganz unterschiedliche Dimensionen der Gestaltung:<br />
Während die Bildende Kunst den Raum gestaltet,<br />
teilt sich die Musik mit der Dichtung das Medium der<br />
Zeit. Musik ist nichts weiter als gestaltete Zeit und muss<br />
daher, wenn sie auf Kunst reagiert, den Raum irgendwie<br />
verzeitlichen, d.h. Prinzipien, die die Ausdehnung und<br />
Anordnung im Raum betreffen, in solche des Ablaufs in<br />
der Zeit übersetzen. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:<br />
Erstens kann der Komponist die Geschichte, die Szene,<br />
das Thema des bildlich Dargestellten mit seinen Mitteln<br />
aufgreifen. Er kann musikalisch abbilden – Schlacht durch<br />
Kampfgeräusch, Frühling durch Naturlaute etc. – und mit<br />
der Entwicklung seiner Musik in der Zeit eine Geschichte<br />
erzählen, die mit dem Bild korrespondiert. Voraussetzung<br />
dafür ist allerdings eine narrative bzw. Konkretes abbildende<br />
Struktur des Bildes selbst. Haben wir es mit abstrakter<br />
Kunst zu tun, entfällt diese Möglichkeit. Der Komponist<br />
ist gezwungen, von der Erzählebene auf die weniger greifbare<br />
Ebene der Gestaltungsprinzipien zu wechseln. Seine<br />
Reaktion auf die Kunst bestünde dann in der Parallelisierung<br />
von Herstellungsvorgängen, Anordnungsprinzipien<br />
und theoretischen Überlegungen <strong>zum</strong> Wesen der Kunst<br />
des Künstlers mit seinen eigenen.<br />
5<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
GEMALTE KLÄNGE
SAISON 2004 | 2005<br />
GISELHER KLEBE<br />
6<br />
Giselher Klebe und Paul Klee<br />
Das Interesse vieler Komponisten an den Bildern von<br />
Paul Klee ist darauf gegründet, dass dieser selbst sich von<br />
musikalischen Strukturen hat inspirieren lassen. Als<br />
begabter Geiger und <strong>Orchester</strong>musiker geriet er schon<br />
früh unter den prägenden Einfluss des klassisch-romantischen<br />
Repertoires. Zeitlich strukturierte Abläufe, wie er<br />
sie vor allem in der Musik Johann Sebastian Bachs kennen<br />
lernte, gaben ein wichtiges Modell für seine Konzeption<br />
einer ungegenständlichen modernen Malerei ab. Die<br />
Übertragung von musikalischen Ideen wie die der Polyphonie,<br />
d.h. des gleichzeitigen Erklingens von zwar aufeinander<br />
bezogenen, aber dennoch eigenständigen Melodien,<br />
oder die der kontrapunktischen Verarbeitung von<br />
Melodien in einer Bach-Fuge, auf die Anordnung von<br />
Formen und Farben und ihre variative Abwandlung, gab<br />
für Klee den Ausschlag, von der Darstellung gegenständlicher<br />
und erzählender Themen zu abstrahieren. Seine<br />
Paul Klee, Ad<br />
parnassum,<br />
1932<br />
Bilder „Fuge in Rot“ (1921), „Polyphonie“ (1932) und das<br />
im Titel auf ein Fugenlehrbuch des 18. Jahrhunderts<br />
anspielende „Ad Parnassum“ (1932) sind Musterbeispiele<br />
musikalischen Malens im 20. Jahrhunderts. Das kleinformatige<br />
Bild „Die Zwitschermaschine“ (40,5 cm x 50 cm,<br />
1922) verzichtet allerdings nicht ganz auf Gegenständliches.<br />
Es zeigt vier vogelartige Gestalten, deren Köpfe in<br />
alle Himmelsrichtungen verdreht an Ausrufezeichen<br />
erinnernde Formen ausstoßen. Sie sind mit ihren Füßen<br />
an einer Kurbel befestigt, die wiederum auf einem<br />
maschinenartigen Gestell ruht. Dieses seltsame Konzert<br />
vermittelt den Eindruck von gewaltsam und durch einen<br />
quälenden Maschinenbetrieb <strong>zum</strong> Klingen gebrachter<br />
Natur. Die Idee einer Ausbeutung von Schönheit durch<br />
den Raubbau an künstlerischen Ressourcen lässt ironische<br />
Assoziationen an den modernen Konzertbetrieb und<br />
seine harte Wettbewerbsideologie aufkommen.<br />
1948/49 komponierte der damals 23jährige Giselher<br />
Klebe ein großes <strong>Orchester</strong>werk mit dem Titel „Die Zwitschermaschine.<br />
Metamorphosen über das gleichnamige<br />
Bild von Paul Klee“, das er als op. 7 am 10. September<br />
1950 in Donaueschingen uraufführen ließ. Die vier Vogelköpfe<br />
bei Klee, die den Raum einteilen, werden hier zu<br />
vier Formteilen mit unterschiedlichen Tempi (Allegro –<br />
Andante – Moderato assai – Tempo I) verzeitlicht. Insofern<br />
wird eine traditionelle Idee der Viersätzigkeit in der<br />
Einsätzigkeit (z.B. in Liszts h-Moll Klaviersonate oder in<br />
seinen Sinfonischen Dichtungen) mit der Bildgestaltung<br />
verbunden. Die ironisch-kritische Seite der Bildvorlage<br />
interessierte Klebe offenbar weniger als vielmehr die<br />
„Vermischung von Maschinenhaftem und Biologischem,<br />
7<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
PAUL KLEE
SAISON 2004 | 2005<br />
ZWITSCHERMASCHINE<br />
Paul Klee, Zwitschermaschine, 1922<br />
die ja auch in dem Begriff ‚Zwitschermaschine’ enthalten<br />
ist: das Maschinenhafte nicht als Feind des Biologischen<br />
sondern als Unterstützung“ (Klebe). So geht der wesentliche<br />
Impuls für die Umsetzung der bildhaften Idee in<br />
musikalische Bewegung von Motiven aus, die das motorische<br />
Kurbeln der Maschine hörbar machen. Dieses Kurbelmotiv<br />
in den Streichern löst Zwitschern in den hohen<br />
Bläsern aus. Eine Metamorphose, also eine Umwandlung<br />
einer Gestalt in die andere, stellt das Werk deshalb dar,<br />
weil der <strong>Orchester</strong>satz aus Abwandlungen dieser Motive<br />
besteht. Indem dabei das rhythmische Element in Form<br />
von deutlich konturierten und prägnanten Bewegungsabläufen<br />
vorherrscht, wird das motorisch-maschinelle<br />
Moment der Komposition unterstrichen. Die entstehende<br />
anti-romantische, technisch-kühle Atmosphäre steht hörbar<br />
in der Tradition futuristischer oder vom musikalischen<br />
Futurismus der 1910er Jahre beeinflusster Kompositionen<br />
wie etwa Artur Honeggers Eisenbahnstück „Pacific<br />
231“. Der Begeisterung für Technik im Sinne der oben<br />
erwähnten Unterstützung des Biologischen steht hier<br />
noch keine Kritik am Fortschritt aus Angst vor seinen<br />
zerstörerischen Kräften entgegen. In dieser Hinsicht ist<br />
Klebes „Zwitschermaschine“ ein durchaus optimistisches<br />
Stück, das vielleicht den Neuanfang der jungen Komponistengeneration<br />
nach 1945 symbolisiert. Auch die Jazz-<br />
Elemente des Andante-Teils dürften daher ein Stück Aufarbeitung<br />
der im NS-Staat verbotenen, weil als „Negermusik“<br />
diffamierten afroamerikanischen Popularmusik<br />
bedeuten, die schon in den 1920er Jahre Komponisten<br />
wie Strawinsky, Hindemith und Ravel beeindruckt hatte.<br />
8 9<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
GISELHER KLEBE
SAISON 2004 | 2005<br />
EINOJUHANI RAUTAVAARA<br />
10<br />
Einojuhani Rautavaara und<br />
Vincent van Gogh<br />
Eine ganz andere Form der Bezugnahme auf die Bildende<br />
Kunst stellt Einojuhani Rautavaaras Oper „Vincent“<br />
(1986/87) dar. Der Komponist wählte das durch Briefe<br />
und Selbstzeugnisse einzigartig dokumentierte Leben des<br />
Malers Vincent van Gogh, um daran Fragen des Künstlertums,<br />
der isolierten Stellung des Künstlers in der Gesellschaft<br />
und seine Bedeutung für die Zukunft musikdramatisch<br />
zu behandeln. Rautavaaras Wahl dürfte auch von<br />
autobiografischen Zügen bis hin zur Identifikation mit<br />
seinem Opernhelden getragen sein, trat er doch selbst<br />
schon als Maler in die Öffentlichkeit. Die Zeitreisen, die<br />
Vincent in der Oper unternimmt, erscheinen als Flucht<br />
vor dem Heute und der Realität und korrespondieren mit<br />
einer Selbstcharakterisierung Rautavaaras, er sei ein<br />
Romantiker, der im Gestern oder Morgen lebe, nicht<br />
jedoch heute. Auslöser und Vehikel dieser Übersteigung<br />
Vincent van<br />
Gogh,<br />
Sternennacht,<br />
1889<br />
Vincent van Gogh, Krähen über dem Weizenfeld, 1890<br />
der Realität sind van Goghs Gemälde, die auch selbst<br />
durch ihre eigentümliche Form- und Farbgebung das<br />
Natürliche und Gegenständliche hinter sich lassen. Sie<br />
werden in der Oper eigens thematisiert und auf besondere<br />
Art und Weise musikalisiert. Den drei Akten der<br />
Oper geht jeweils ein Vorspiel voraus, das mit dem Titel<br />
eines Gemäldes von van Gogh überschrieben ist; „Sternennacht“<br />
<strong>zum</strong> ersten, „Krähen über dem Weizenfeld“<br />
<strong>zum</strong> zweiten und „Die Kirche in Auvers“ <strong>zum</strong> dritten Akt.<br />
Zusätzlich werden die Titel gebenden Bilder per Videobeamer<br />
in den Bühnen- bzw. Konzertraum projiziert. Die<br />
kompositionstechnische Umsetzung der Malerei van<br />
Goghs erfolgt in ihnen offenbar nach einem Konzept der<br />
Entsprechung von Farbton und Klangfarbe. Rautavaara<br />
bemerkt, er habe die Modi und Zwölftonreihen so verarbeitet<br />
wie van Gogh seine Farbtuben verwendet. Die<br />
übernatürlichen Farben werden außerdem durch den<br />
Einsatz eines Synthesizers (ein Yamaha DX7) statt der<br />
natürlichen <strong>Orchester</strong>klangfarben direkt hörbar gemacht.<br />
Das Zusammen von Bild und Klang, Tonmaterial und<br />
11<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
VINCENT VAN GOGH
SAISON 2004 | 2005<br />
EINOJUHANI RAUTAVAARA<br />
12<br />
Farbapplikation in den <strong>Orchester</strong>vorspielen erzeugt eine<br />
Vermischung der Sinneswahrnehmung, indem visuelle<br />
Eindrücke mit auditiven Komponenten vermengt werden.<br />
Diese Idee des „Farbenhörens“ steht deutlich in der<br />
Tradition der Synästhesie wie sie im 19. Jahrhundert von<br />
Wagner oder Baudelaire und im 20. Jahrhundert von<br />
Alexander Skrjabin, Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky<br />
am prominentesten vertreten wurde. Die eindeutige<br />
Zuordnung von Tönen, Instrumenten und Klängen<br />
zu Farbtönen und korrespondierenden Gemütszuständen<br />
bzw. Charaktereigenschaften ermöglichte vor allem vor<br />
Vincent van Gogh, Die Kirche von Auvers, 1890<br />
dem Ersten Weltkrieg einige Versuche ganzheitlicher<br />
Wahrnehmung von Bühnengesamtkunstwerken, etwa in<br />
Kandinskys Bühnenentwurf „Der gelbe Klang“ oder<br />
Schönbergs Einakter „Die glückliche Hand“. Darüberhinaus<br />
bedient sich Rautavaara traditioneller musikalischer<br />
Metaphern, z. B. des Chorals im Kirchensatz, und lautmalerischer<br />
Gesten, z.B. der Perkussionsinstrumente<br />
(Guiros) im Krähensatz, um die Bildgegenstände zu symbolisieren<br />
oder eine bestimmte Atmosphäre zu kreieren.<br />
Insgesamt wirken also traditionelle Gestaltungsmethoden<br />
und zeitgenössische Ausdrucksmittel zusammen, was sich<br />
in den „synthetischen Stil“ der Werke Rautavaaras nach<br />
1980 einreiht.<br />
Martin Christoph Redels<br />
„Klangspiegel“<br />
Ausgangspunkt für Martin Christoph Redels (geb. 1947)<br />
Komposition “Klangspiegel” op. 50 (1998/99) ist eine<br />
bildliche Metapher: der Spiegel. In ihm entsteht ein Bild,<br />
er wirft das, was ist, als Bild zurück, er ist Bild in doppelter<br />
Hinsicht: Bild als Objekt der Wahrnehmung und Bild<br />
eines Originals, das zeigt, als was es erscheint. Die Spiegelung<br />
löst ferner einen Reflektionsprozess aus. Das Reflektierende<br />
(das Spiegelbild) muss als Bild verstanden und<br />
interpretiert werden, um nicht für das Original selbst<br />
gehalten zu werden. In die Dialektik dieser Wahrnehmungsvorgänge,<br />
wie sie am Beispiel des Spiegels gezeigt<br />
werden können, begibt sich Redel mit seinem „Klangspiegel“<br />
hinein. Das Werk entstand aus Anlass einer<br />
Konzertreihe in Villingen-Schwenningen, die selbst unter<br />
13<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
M. CHR. REDEL
SAISON 2004 | 2005<br />
M. CHR. REDEL<br />
14<br />
dem Titel „Klangspiegel“ stand, da sie Reflexionen über<br />
die 1000jährige Musikgeschichte und ihre Stile anstellte,<br />
Wechselwirkungen und Spiegelungen des einen im anderen<br />
verdeutlichte.<br />
Redel ist kein Komponist, der theoretische oder philosophische<br />
Gedanken über das klingende Ereignis stellt.<br />
Seine Inspirationsquelle ist stets ein musikalisches<br />
Problem, eine selbstgestellte Aufgabe, die es zu lösen, zu<br />
behandeln gilt. Im Falle des „Klangspiegel“ ist es natürlich<br />
die Spiegel-Idee, und zwar in doppelter Hinsicht.<br />
Erstens auf der inhaltlichen Ebene: es spiegelt sich in ihr<br />
ein Stück Musikgeschichte. Der Komponist zitiert eine<br />
Akkordfolge, die Modest Mussorgsky in seinen „Bildern<br />
einer Ausstellung“, und zwar in dem Satz „Katakomben“<br />
verwendete. Redel hält diese für ungewöhnlich, ihrer Zeit<br />
voraus, wobei sie sich inhaltlich auf etwas Totes (Sepulcrum<br />
Romanum) ebenso wie auf die lateinische Sprache<br />
als tote Sprache bezieht. In ihr<br />
spiegelt sich somit die vermeintlich<br />
tote Geschichte,<br />
allerdings in avantgardistischer,<br />
d.h. lebendiger Weise. Einen<br />
weiteren Bezug <strong>zum</strong> Spiegel<br />
stellen die „Bilder einer Ausstellung“<br />
selbst her. Sie geben<br />
bildhafte Eindrücke in Musik<br />
wieder. Sie spiegeln so eine im<br />
Bild Victor Hartmanns gegebene<br />
Atmosphäre im Medium<br />
der Musik. Die zweite Zitat-<br />
Martin Christoph Redel<br />
Zeichnung von Frank Reinecke zu Redels „Klangspiegel“<br />
(Original in Farbe)<br />
schicht stammt aus einer Komposition des Amerikaners<br />
Charles Edward Ives (1874-1954): „The Unanswered<br />
Question“ von 1908. Ives ist dadurch avantgardistisch,<br />
dass er ungewöhnliche, collageartige Strukturen aus häufig<br />
traditionellen, geschichtlichen Materialien herstellt.<br />
In „The Unanswered Question“ sind es ausnahmsweise<br />
keine Zitate, sondern drei in Zeitgestaltung und Stil voneinander<br />
unabhängige musikalische Schichten, die ihrerseits<br />
jeweils auf bestimmte musikhistorische Stadien verweisen<br />
(tonal – atonal – weder noch, weil Militärsignal).<br />
15<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
KLANGSPIEGEL
SAISON 2004 | 2005<br />
M. CHR. REDEL<br />
16<br />
Zweitens findet sich die Spiegel-Idee auf der formalen<br />
Ebene wieder. Das Stück ist selbst als Spiegelungsvorgang,<br />
d.h. symmetrisch mit einer Spiegelachse angelegt. Es ist<br />
in fünf Teile gegliedert, von denen der dritte Teil die<br />
Mittelachse einnimmt und die Ives-Struktur verwirklicht.<br />
Eingerahmt wird der Mittelteil von zwei scherzoartigen<br />
Prestoteilen, die wiederum von kurzen Eckteilen umschlossen<br />
sind. Diese Eckteile greifen ankündigend bzw.<br />
erinnernd auf den Mittelteil aus.<br />
In vielen Details der Komposition spiegeln sich natürlich<br />
persönliche Züge des Komponisten: der perkussive Stil<br />
reflektiert Redels Tätigkeit als Schlagzeuger sowie den<br />
Unterricht bei Giselher Klebe in Detmold, wie es gerade<br />
in Gegenüberstellung zur „Zwitschermaschine“ deutlich<br />
wird. In der kontrastreichen Zusammenfügung tonaler<br />
und nicht-tonaler Segmente und verschiedener Klangfarben<br />
und in der formalen Idee, in der Mitte des Werks eine<br />
Klangumwandlung von „Tonlichkeit zur Perkussivität“<br />
(Redel) zu vollziehen, spiegeln sich Charakteristika der<br />
Tonsprache Redels, die er aus dem Unterricht bei dem<br />
Koreaner Isang Yun Anfang der 1970er Jahre entwickelt<br />
hatte und als „Konsequenzen Yunscher Schulung“<br />
bestimmt. Schließlich spiegelt der Ausgriff auf die Musikgeschichte<br />
Redels Anliegen wider, durch seine Werke dem<br />
„innovationssüchtigen“, schnelllebigen Komponieren die<br />
kreativen Potentiale des bewahrenden Traditionsbezugs<br />
entgegenzusetzen.<br />
Modest Mussorgskys<br />
„Bilder einer Ausstellung“<br />
Modest Mussorgskys programmatischer Klavierzyklus<br />
„Bilder einer Ausstellung“ (1874) stellt wohl die bekannteste<br />
und am häufigsten gehörte Reaktion eines Komponisten<br />
auf Werke bildender Kunst dar. Doch in dieser<br />
Bekanntheit liegt die Ironie verborgen, dass zwar jeder<br />
die Musik, kaum einer die (Vor-)Bilder kennt. Die Zeichnungen<br />
Viktor Hartmanns, eines sehr guten Freundes<br />
Viktor Hartmanns Gemälde des Stadttors von Kiew<br />
17<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
BILDER EINER AUSSTELLUNG
SAISON 2004 | 2005<br />
MODEST MUSSORGSKY<br />
18<br />
Zeichnung von Frank Reinecke zu Mussorgskys<br />
„Bildern einer Ausstellung“ (Original in Farbe)<br />
thematisiert wird. Zwischen die eigentlich programmatischen<br />
Stück (Gnom, Das alte Schloß, Tuilerien, Bydlo,<br />
Ballett der Kücken, Goldenberg und Schmuyle, Marktplatz<br />
von Limoges, Katakomben, Baba-Jaga und das Tor<br />
von Kiew) sind so genannte Promenaden eingelassen, die<br />
das Herumwandern in der Ausstellung darstellen. Die<br />
Promenaden fungieren also wie variierte Refrains in<br />
einem Rondo. Dabei nehmen sie oft (tonartlich, gestisch<br />
oder atmosphärisch) das eben verlassene Gemälde mit<br />
und leiten <strong>zum</strong> nächsten über. Das Stück wird so in<br />
Bewegung gesetzt, dynamisiert, anstatt sich bloß der Statik<br />
des Betrachtens hinzugeben. Und auch bei der Darstellung<br />
der Bilder selbst sucht sich Mussorgsky gerade<br />
die bewegungsartigen Momente des Gezeigten aus, um<br />
Mussorgskys, sind, wenn überhaupt, nur demjenigen<br />
zugänglich, der sich speziell für ihre Eigenschaft als Vorlage<br />
des Musikstücks interessiert. Viele Bilder sind jedoch<br />
verschollen und nur durch die Beschreibungen des<br />
Kunstförderers Wladimir Stassow, der auch die im Titel<br />
genannte Hartmann-Ausstellung organisierte, überliefert.<br />
Bei der Umsetzung der Bilder in eine musikalische Form<br />
gelang es Mussorgsky, eine Konzeption zu finden, die eindeutig<br />
musikalisch linear verläuft, ohne dem räumlichen<br />
Charakter der Bilder zu widersprechen. Zunächst ist der<br />
Titel „Bilder einer Ausstellung“ ganz wörtlich zu nehmen,<br />
indem hier nicht nur Bilder, sondern auch die Ausstellung<br />
bzw. das Betrachten der Bilder in einer Ausstellung Zeichnung von Frank Reinecke zu Mussorgskys<br />
„Bildern einer Ausstellung“ (Original in Farbe)<br />
19<br />
SAISON 2004 | 2005<br />
BILDER EINER AUSSTELLUNG
SAISON 2004 | 2005<br />
MODEST MUSSORGSKY<br />
20<br />
sie als musikalische Bewegung zu begreifen: das täppische,<br />
ungelenke Stolpern des Gnoms, die Dynamik der<br />
spielenden Kinder, der schwerfällige Ochsenwagen, das<br />
Tippeln der Kücken, aufgeregt-bewegte Marktfrauen im<br />
Streit und der Ritt Baba-Jagas im hölzernen Mörser. Statische<br />
Anlagen hingegen haben die eher atmosphärischen<br />
Bilder mit Architekturelementen wie dem alten Schloss,<br />
den Katakomben und dem Tor in Kiew. Durch die<br />
gewählten musikalischen Mittel der Schilderung lässt der<br />
Komponist Bilder in unserem Kopf entstehen, die ihre<br />
Suggestionskraft bis heute nicht verloren haben. Dies ist<br />
vermutlich der Grund, weshalb Maurice Ravel, der eine<br />
Vorliebe für feine <strong>Orchester</strong>farben hatte, 1920 den Auftrag<br />
des Dirigenten Serge Koussevitzky, diesen Klavierzyklus<br />
für großes <strong>Orchester</strong> zu instrumentieren, gerne<br />
annahm und damit ein modernes, orchestrales Bild des<br />
Klaviersatzes entwarf. Die im Klaviersatz angelegte Farbund<br />
Bildhaftigkeit verlangte geradezu danach, mit der<br />
Vielfalt an Nuancen, die das <strong>Orchester</strong> bietet, nachgezeichnet<br />
zu werden. Um dies zu erreichen, fügte Ravel<br />
zahlreiche dynamische Abstufungen hinzu, verwendete<br />
viele Perkussionsinstrumente und im Sinfonieorchester<br />
ungewöhnliche Instrumente wie das Saxophon im<br />
„Schloss“ und die gestopfte Trompete für die Darstellung<br />
Schmuyles. Ravels kongeniale <strong>Orchester</strong>fassung hat<br />
sicherlich dazu beigetragen, aus dem eher privaten Klavierzyklus<br />
<strong>zum</strong> Andenken an den verstorbenen Maler<br />
und Freund das zu machen, was es heute ist: das vermutlich<br />
populärste Stück Programmmusik.<br />
Gregor Herzfeld<br />
Frank Reinecke<br />
Es ist kaum vorstellbar, dass sich<br />
ein Maler in seinem Arbeitsleben<br />
nicht mindestens irgendeinmal<br />
zeichnend oder malend mit<br />
Musik beschäftigte. So ist das<br />
auch bei Frank Reinecke, der<br />
1954 in Brandenburg / Havel geboren wurde, in Dresden<br />
Kunst studierte und 1984 in die BRD kam. Seit den<br />
frühen Achtziger Jahren kommt er immer wieder zu<br />
Arbeiten, die mit Musikern, deren Kompositionen oder<br />
Improvisationen zu tun haben. Nicht zuletzt seine zwölfjährige<br />
Tätigkeit am Theater der Stadt <strong>Heidelberg</strong><br />
förderte diese Verbindung. Diesmal mischen sich auch<br />
verschiedene Bildgebungsverfahren. Neben der Einblendung<br />
des historischen Bildmaterials, das zu den Kompositionen<br />
„Zwitschermaschine“ von Giselher Klebe und<br />
Einojuhani Rautavaara`s „Préludes“ in Beziehung steht,<br />
geht es bei Christoph Redels „Klangspiegel“ und Modest<br />
Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ um eigens für das<br />
Konzert geschaffene Bilder. Es sind Miniaturen von Frank<br />
Reinecke und von Karl Kliem eingerichtete elektronische<br />
Bilder, die direkt auf die <strong>Orchester</strong>musik reagieren.<br />
Seit 1998 in Frankfurt am Main, verwirklichte Frank<br />
Reinecke gemeinsam mit Karl Kliem verschiedene<br />
Sound-Bildprojekte.<br />
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SAISON 2004 | 2005<br />
FRANK REINECKE
SAISON 2004 | 2005<br />
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