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Ein Käfig ging einen Vogel fangen - Kulturstiftung des Bundes

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„Es ist zwar allgemein bekannt, dass Franz Kafka am 24. Mai 1911 <strong>einen</strong> Vortrag<br />

Albert <strong>Ein</strong>steins über die Relativitätstheorie im physikalischen Institut der Karls-<br />

Universität in Prag hörte; auch dass er im gleichen Jahr mit <strong>Ein</strong>stein im Salon der<br />

Prager Apothekergattin Berta Fanta verkehrte und mit <strong>Ein</strong>steins Assistenten Ludwig<br />

Hopf Spaziergänge in der Umgebung Prags unternahm. Laut Elsa <strong>Ein</strong>stein soll Kafka<br />

in seiner Berliner Zeit <strong>Ein</strong>stein auch manchmal in <strong>des</strong>sen Wohnung in der Haberlandstraße<br />

besucht haben. Doch haben sich bisher außer Walter Benjamin, Gilles<br />

Deleuze, Felix Guattari oder Jan Kott so gut wie keine Kafka-Exegeten dafür interessiert,<br />

ob – und wenn ja, wie – der Umgang mit <strong>Ein</strong>stein und <strong>des</strong>sen Denken Kafkas<br />

Schreiben beeinflusst hat …“ (Hans Peter Litscher)<br />

Nach Recherchen in der Bodleian Library in Oxford und diversen anderen Archiven<br />

wird der „Spurensucher“ Hans Peter Litscher in den labyrinthischen Gängen sowie<br />

zwischen und hinter den Kulissen <strong>des</strong> Hauses der Berliner Festspiele versuchen,<br />

Kafkas ebenso wie <strong>Ein</strong>steins revolutionär-bahnbrechende Entdeckungen über Raum<br />

und Zeit in seinem Echokammerspiel vor Ort nachhallen zu lassen.<br />

* * *<br />

Jan Kott über Kafkas Aphorismus „<strong>Ein</strong> Käfi g <strong>ging</strong> <strong>einen</strong> <strong>Vogel</strong> suchen“ *<br />

„<strong>Ein</strong> Käfi g <strong>ging</strong> <strong>einen</strong> <strong>Vogel</strong> suchen.“ Der kürzeste von Kafkas Aphorismen (Nr. 13 in<br />

der BETRACHTUNG) … Der Käfi g wandert auf der Erde, sucht den bewegungslosen<br />

<strong>Vogel</strong>. Ich sehe diesen Aphorismus als eine Zeichnung oder die kurze Sequenz eines<br />

Zeichentrickfi lms. Jan Lenica würde ein kleines Meisterwerk daraus machen.<br />

Dieser Aphorismus ist, übertragen auf ein graphisches Zeichen, eine Ikone; noch<br />

präziser sollte man ihn als ein Emblem klassifi zieren. Er scheint der großen Tradition<br />

der Emblemkunst anzugehören, die in Italien und noch mehr in Deutschland in der<br />

Zeit der späten Renaissance und in der Barockära aufblühte. <strong>Ein</strong> Emblem ist das graphische<br />

Bild <strong>des</strong> Paradoxen oder der Gnome. Zu den bekanntesten Emblemen gehört<br />

„die Schlange, die in den eigenen Schwanz beißt“.<br />

Embleme geben beinahe unbegrenzte Möglichkeiten ihrer symbolischen oder paradigmatischen<br />

Interpretation. „<strong>Ein</strong> Käfi g“, der <strong>einen</strong> <strong>Vogel</strong> „sucht“, ein Käfi g in<br />

Bewegung, ein aktiver Käfi g, ein im voraus vorbereiteter Käfi g kann im symbolischen<br />

Code die Teufelsfalle, die der Seele gestellt wird, bedeuten, eine geistige Falle, die<br />

Calvinistische Prädetermination der Erlösten und Verdammten oder in der politischen<br />

Symbolik – der Käfi g als Staat, der Staat als Gefängnis. In der Freudschen Symbolik<br />

kann ein Käfi g, der „sucht“, das Imago <strong>des</strong> Über-Ichs sein.<br />

Im PROZESS kam der Käfi g eines Morgens zu Josef K., wie der Tod zum Sünder in<br />

JEDERMANN, dem größten Meisterwerk <strong>des</strong> mittelalterlichen Dramas. DER PRO-<br />

ZESS ist eine Erzählung, doch diese Erzählung ist ebenso szenisch, ebenso graphisch<br />

wie JEDERMANN. In seiner Konkretisierung – man kann es auch Linearität<br />

nennen – der Gesten, der Bewegung und der Interieurs kann man den PROZESS<br />

sehen. DER PROZESS wartet immer noch – nicht auf eine Bühnen- oder Filmadaptation,<br />

diese sind gemacht worden, sondern auf eine graphische Übertragung auf die<br />

Bühne, auf die Transkription.<br />

Das graphische Zeichen ist immer eine Ent-symbolisierung, eine Ent-allegorisierung<br />

oder, um eine präzisere Bezeichnung zu gebrauchen, eine De-konstruktion. Das graphische<br />

Zeichen und das graphische Verständnis <strong>des</strong> Textes sind die plötzliche und<br />

heftige Sichtbarmachung der un-erwarteten, un-vermuteten, verborgenen Relationen<br />

und Zusammenhänge. Diesen Schock der Ent-deckung <strong>des</strong> Versteckten gibt es in<br />

den Bildern von Max Ernst, noch mehr vielleicht bei Magritte. Immer noch wartet das<br />

Buch über den <strong>Ein</strong>fl uß Kafkas auf die visuelle postmoderne Kunst darauf, geschrieben<br />

zu werden.<br />

Die symbolische Hermeneutik verwandelt das graphische Zeichen in die Allegorie<br />

oder die Metapher zurück: „ein Käfi g“ ist eine Metapher, „<strong>ging</strong>“ ist eine Metapher,<br />

„<strong>einen</strong> <strong>Vogel</strong>“ ist eine Metapher, „suchen“ ist eine Metapher. Aber in Kafkas „Käfi g“<br />

sind nicht die Metaphorik und die konventionelle Symbolik, sondern die unerwartete<br />

Metonymie neu. Das metaphorische Verständnis dieses Aphorismus ist trivial.<br />

Die Metapher beruht auf der Übertragung von Bedeutungen, auf der Ähnlichkeit oder<br />

ihrer symbolischen Illusion. Die Metonymie beruht auf Relationen von Nähe und<br />

Folge. Die Metonymie ist auch, wie Frazer es lange vor den Strukturalisten und Semantikern<br />

beschrieben hat, das Aufzeigen der Relation der Ansteckung und Verunreinigung.<br />

Das Grauen der Miasmen entsteht aus der metonymischen Phantasie. Kafka<br />

kannte diese Furcht und dieses Grauen.<br />

Die Beziehung zwischen dem Jäger und dem Wild, zwischen dem Jagenden und dem<br />

Gejagten ist ebenfalls metonymisch. Der Zusammenhang zwischen dem Käfi g und<br />

dem <strong>Vogel</strong> ist metonymisch. <strong>Ein</strong> Käfi g, der „sucht“, ist eine Metonymie in Bewegung.<br />

Diese jagende Metonymie ist ein Schock. <strong>Ein</strong> Schock, denn sie zeigt, offenbart unsere<br />

Situation. L’imaginaire ist Realität.<br />

* im Manuskript auch: „<strong>Ein</strong> Käfi g <strong>ging</strong> <strong>einen</strong> <strong>Vogel</strong> <strong>fangen</strong>.“<br />

(aus: Jan Kott, Das Gedächtnis <strong>des</strong> Körpers. Essays zu Literatur und Theater, Deutsch von<br />

Agnieszka Grzybkowska, Alexander Verlag Berlin)

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