Leseprobe - lechflimmern.de - Kino in Augsburg

Bram Stoker
dracula
STEIDL

LITERARISCHE WERKE FÜHREN
UNTERSCHIEDLICHE LEBEN:
Manche sind spektakulär, aber kurz, andere halten sich lang, jedoch
nur im Hintergrund, wieder andere sorgen über Jahrhunderte für Aufregung.
Bram Stoker, dessen Todestag sich am 20. April das hundertste Mal jährt,
hat mit »Dracula« einen solchen Unruhestifter geschaffen. Sein Werk hat im
Original wie in über vierzig Übersetzungen unzählige Auflagen gekannt.
Legte man all diese Ausgaben nebeneinander, würde man feststellen, jede Zeit
hatte ihren »Dracula«: Das Papier, die Typographie, die Umschlaggestaltung,
aber auch die unterschiedlichen Stile der Übersetzungen variieren und liefern
Zeugnis ab über ihre Entstehungsepoche.
Die ganze, faszinierende Geschichte eines Werkes zu erfassen – von einer über
hundert Jahre alten Originalauflage bis zur Jubiläumsausgabe, von der
Nachdichtung bis zur modernen, verlässlichen Übersetzung –, das gelingt auch
heute noch am besten, wenn man Bücher in die Hand nimmt. Kein E-Book,
kein Kindle und kein iPad, sondern echte Bücher, auf deren Umschlag auch die
Hände der Leser ihre Spuren hinterlassen haben. Denn auch Sie als Leser
sind wichtiger Teil einer Werkgeschichte, und vielleicht findet sich noch nach
hundert Jahren in einer Bibliothek ein Exemplar unseres edel ausgestatteten
»Dracula«, auf dessen Seiten sich Ihr Fingerabdruck erhalten hat.
in diesem sinne wünschen wir ihnen mit der
jubiläumsausgabe von bram stokers klassiker haptischen
und literarischen hochgenuss!
Ihr Steidl Verlag

Bram Stoker: 100. Todestag am 20. April 2012
»Dracula« in der Neuübersetzung von Andreas Nohl:
stilistisch so nah am Original wie noch nie!
Bram Stoker
dracula
Er ist der »Meister«, das vielkopierte und unerreichte Original:
Mit seinem »Dracula« hat Bram Stoker den Mythos des Vampirs dem
kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Der Roman wurde in mehr
als 45 Sprachen übersetzt, zahlreiche Filme, Geschichten und Comics
entstanden nach seiner Vorlage: Der Graf ist der Anti-Held der
Populärkultur.
Bram Stokers »Dracula« ist aber viel mehr als bloß eine Vampir-
geschichte, in der ein guter Dr. Van Helsing gegen den bösen Fürsten
der Finsternis antritt. In diesem frühen Montageroman geben
sich die großen Oppositionen des 19. Jahrhunderts ein Stelldichein.
Da ringt die Wissenschaft mit dem Glauben, die Empirie mit der
Intuition, der Protestantismus mit dem Katholizismus, der Westen
mit dem Osten, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren. Selbst auf
die kommende Frauenemanzipation weist dieser Roman hin, der seine
Protagonistinnen nicht auf die Opferrolle beschränkt.
Diese Neuübersetzung des Weltklassikers verbindet literarische
Qualität mit höchster Spannung. Wer sie liest erfährt unerhört viel
über den Aufbruch der Moderne und die Ängste und Abgründe
einer Gesellschaft im Wandel.
Herausgegeben, neuübersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Andreas Nohl
540 Seiten / 12,6 x 20,8 cm / Fadenheftung, Leineneinband / zwei Lesebändchen / März 2012 / 28,00 (sFr 39,90 UVP) /
ISBN: 978-3-86930-462-5

Ein Interview mit Andreas Nohl,
dem Übersetzer und Herausgeber der
»Dracula«-Jubiläumsausgabe
Bram Stokers »Dracula« wurde in mehr als 45 Sprachen
übersetzt und ist stets lieferbar gewesen. War der Roman
gleich bei seinem Erscheinen 1897 ein Erfolg?
Stoker war mit dem, was er geschrieben hat, nie sonderlich
erfolgreich. Er galt als Kolportageschriftsteller, und er be-
trachtete sein Schreiben selbst nur als Mittel, um sich Geld
hinzuzuverdienen. Doch zweifellos war »Dracula« sein er-
folgreichstes Buch. Es erregte ein gewisses Maß an Aufsehen,
und auch in der Presse bekam es recht gute Kritiken. Dass das
Buch jedoch zu Lebzeiten von Stoker noch kein Bestseller
war, lässt sich daraus ersehen, dass der Autor in seinen letzten
Jahren – nachdem der Schauspieler Henry Irving gestorben
war, für den und dessen Theater er als Manager gearbeitet
hatte – in bescheidenen Verhältnissen lebte.
Der Welterfolg setzte erst deutlich später ein, nach dem
Ersten Weltkrieg, als Friedrich Wilhelm Murnau und nach
ihm andere den Stoff des männlichen Vampirs für den Film
adaptierten. Auch spielte der Broadway hier eine entschei-
dende Rolle: Der später berühmt gewordene »Dracula«-
Filmdarsteller Bela Lugosi war in den 1920er Jahren auf der
Bühne mit dieser Rolle sehr erfolgreich.
Wir haben es also im Grunde mit einer medialen Vielfach-
verwertung zu tun, die peu à peu zu einer immer größeren –
auch internationalen – Verbreitung beitrug. Ich glaube, das
Kino mit Bela Lugosi und später mit Christopher Lee war
dabei entscheidend.
Wofür steht »Dracula« und woher kommt der Mythos?
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, schon weil das,
was Bram Stoker aus dem Mythos macht, so extrem vielschich-
tig ist. Sicher geht die Idee auf den alten Vampirglauben zurück,
und Stoker benutzt den Namen einer historischen Figur – des
legendären transsilvanischen Bojaren Vlad Dracula (1431–
1476), der äußerst brutal war und der Pfähler genannt wurde,
weil er seine Feinde auf Holzpfählen aufspießen ließ – und er-
findet einen ganz neuen unsterblichen Vampir, der eine Inva-
sion in England plant. Die historische Figur Vlad hat übrigens
Dokumente nicht nur mit Dracula (der Teufel), sondern auch
mit Dragula (der Geliebte) unterschrieben. Damit beginnt be-
reits die merkwürdige Ambivalenz, die mit der Person und der
literarischen Figur verbunden ist.
Wie hat sich die Wahrnehmung des Vampirs mit der Zeit
gewandelt? Worin besteht die Faszination?
Nun, zunächst hat es den Volksglauben gegeben, einen Aber-
glauben, der sich in Teilen bis heute erhalten hat: Viele Kultu-
ren der Welt kennen blutsaugende Vampire seit ältester Zeit.
Auch in Rumänien erzählt man von sogenannten »Nachzeh-
rern« und »Untoten«, einer spezifischen Form des Gespens-
terglaubens. John Polidori, der Freund und Arzt von Lord
Byron, schrieb um 1816 »The Vampyre« – anlässlich eines
Wettstreits unter Freunden darum, wer die beste Gruselge-
schichte schreiben könne. Das fand übrigens in der Schweiz
am Genfer See statt. Unter anderem ging aus diesem Wett-
streit Mary Shelleys »Frankenstein« hervor. Bedeutend war
zweifellos auch die Erzählung »Carmilla« (1872) von Sheridan
Le Fanu, darin geht es um eine Vampirin.
Erst Bram Stoker hat die vielen Fäden dieses Mythos zusam-
mengefügt und daraus den alles beherrschenden Typus des
modernen Vampirs gemacht – wenn wir den verführerischen
Vamp-Typ der Frauen einmal beiseite lassen.
Das Ganze bewegt sich natürlich immer auf einem schmalen
Grat zwischen Faszination und Hochkomik. Niemand glaubt
ja im Ernst an solche Vorgänge, außer vielleicht im Traum:
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, heißt es auf der
berühmten Radierung von Goya, wo Eulen und riesige Fleder-
mäuse den eingeschlafenen Denker umkreisen. Im Phantasti-
schen liegt eben ein großer Reiz – sozusagen die Subversion
der Alltagsvernunft, des gesunden Menschenverstands. Nach
dieser Subversion besteht offenbar in reglementierten – oder
sagen wir: verwalteten – Gesellschaften ein starkes Bedürfnis.
Im Übrigen scheint mir die Welt gerade durch die Herrschaft
der Vernunft an Unheimlichkeit nicht verloren zu haben, im
Gegenteil. Möglicherweise ist die Figur des Dracula deshalb
eine entlastende Projektionsfläche.
Was haben Bram Stoker und Stephanie Meyer gemeinsam?
Nichts.
Was macht, im Vergleich zu den zahlreichen Epigonen,
Bram Stokers »Dracula« so einzigartig?
Nun, es ist die erste als Roman funktionierende Geschichte
eines Vampirs – mit allen historischen Besonderheiten des aus-
gehenden 19. Jahrhunderts. Die spätviktorianische Literatur –
denken Sie nur an den gerade wieder in Deutschland so inten-
siv wiederentdeckten Robert Louis Stevenson oder an Arthur
Conan Doyle mit seinem »Sherlock Holmes« – hat eine enor-
me Ausstrahlung, und das trifft offenbar auch auf das Genre
der Gothic Tales zu. Unsere Zeit scheint eine untergründige Ver-
wandtschaft zum späten 19. Jahrhundert zu spüren.
Bei Stokers »Dracula« kommt nun vieles zusammen: Es ist
ein Kriminalroman, es geht um Liebe, um Wahnsinn, um Inte-
grität, um Wildnis oder Wildheit, die in das Zentrum der Zivi-
lisation – London! – seuchenartig vordringen will. Es sind
in »Dracula« so viele bedeutsame Motive und Perspektiven
erstmals versammelt, dass man einfach von der Schaffung

eines literarischen Archetyps sprechen muss – und nur den we-
nigsten Schriftstellern ist so etwas gelungen. Dagegen ver-
blasst die Masse der Nachahmer.
»Dracula« ist eine fesselnde Geschichte. Hat das Buch auch
eine politische Dimension? Vielleicht sogar eine, die ihre
Relevanz über das 19. Jahrhundert hinaus hat?
Es gibt sicher Spurenelemente davon. Wir sehen in dem
Roman die Elite des englischen Empire – Jurist, Arzt, Lord –
unterstützt von einem Amerikaner und dem holländischen
Superhirn Van Helsing im Kampf gegen den pandemischen
Übergriff des blutsaugenden Bösen. Fremdenangst, Hysterie –
also Elemente dessen, was im 20. Jahrhundert eine katastro-
phale Rolle spielen wird – klingen an. Zugleich sehen wir eine
resolut agierende Frau, die zwar nicht zur Vorreiterin der
Frauenbewegung taugt, die aber doch den Schlüssel für die
Problemlösung letzten Endes in Händen hält.
Gewiss ist es eine phantastische Geschichte. Aber wer vor
2001 einen Roman geschrieben hätte, in dem ein Mann mit
langem Bart in den Bergen Afghanistans drei junge Männer in
Hamburg mit der Idee infiziert, den vielleicht größten Mord-
anschlag der Weltgeschichte zu begehen – und das auch noch
im Zentrum einer westlichen Supermacht –, wäre auch Gefahr
gelaufen, als bloßer Märchenerzähler zu gelten.
»Dracula« ist das Romandokument einer großen gesell-
schaftlichen Krise. Das britische Empire begann, nun, viel-
leicht nicht zu wanken, aber doch an Selbstgewissheit zu ver-
lieren. Der Wettlauf der Großmächte um Einflusssphären zog
zumindest den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit in
Zweifel. Auch die überkommenen Werte verloren ihre Verläss-
lichkeit, die Basis der alten Lebensentwürfe wurde brüchig. In
einem gewissen Sinne ist diese spätviktorianische Ära also von
der unsrigen gar nicht so arg verschieden. In der Darstellung
einer umfassenden Verunsicherung scheint Stoker mit seinem
»Dracula« einen zentralen Nerv auch des heutigen Publikums
zu treffen.
Wie kamen Sie auf die Idee einer Neuübersetzung des
»Dracula«-Romans?
Geschichten von Bram Stoker habe ich schon als Jugendlicher
gelesen. Ich hatte damals die typische Gruselphase. Später dann
habe ich zwei Bücher mit Grusel- bzw. Horrorgeschichten her-
ausgegeben, und in beiden habe ich die fabelhafte Geschichte
»Das Haus der Richters« von Stoker aufgenommen. Der Autor
ist mir also seit Langem vertraut. Mit seinem hundertsten To-
destag schien mir die Zeit gekommen, seinen Weltklassiker
»Dracula« endlich in einer literarisch und philologisch ange-
messenen Form ins Deutsche zu transportieren.
Können Sie an ein paar Beispielen zeigen, wie sich Ihre
Übersetzung von den bisherigen unterscheidet?
Das kann ich natürlich, aber lassen Sie mich zuvor sagen:
Jede der älteren Übersetzungen hat ihre Meriten, und jede
neue Übersetzung verdankt auch immer den Vorgänger-
Übersetzungen etwas (und sei es, einen Irrweg nicht noch
einmal gehen zu müssen). Außerdem ist man hinterher
immer klüger, will sagen: Die Übersetzer, die sich bisher an
»Dracula« gewagt haben, verfügten noch nicht über das brei-
te Informationsmaterial, das mir zur Verfügung steht. Ich
weise hier nur auf das Buch »Bram Stoker’s Notes for Dracu-
la« hin, das erst 2008 veröffentlicht wurde. Darin kann man
zum Beispiel sehen, wie Stoker auf einer mehrseitigen Voka-
belliste Ausdrücke gesammelt hat, die er für einen Seemann
in Whitby verwenden wollte.
Der Hauptunterschied zu allen anderen deutschen Überset-
zungen ist der, dass unsere Übertragung die erste vollständige
ist. Sätze, Satzteile, Absätze sind in den anderen Übersetzun-
gen weggefallen, teilweise vielleicht auch, weil diese auf einer
unvollständigen Vorlage beruhten.
Wesentlich für unsere Fassung ist nicht nur, dass wir ekla-
tante Fehler vermeiden – wenn es in einem Shakespeare-Zitat
eigentlich um eine Schreibtafel (tablet) geht, sprechen wir
nicht von etwas, das man herunterschluckt –, dass wir wichti-
ge Begriffe ernstnehmen – die New Woman ist bei uns wirklich
die »Neue Frau«, ein neuer Frauentypus –, dass wir die Cigá-
ny (das ungarische Wort für »Zigeuner«, das im Englischen
ebenso fremdartig ist wie im Deutschen) nicht »Rumänisch«
sprechen lassen, sondern »Romani«, also die Sprache der
Roma, dass ein schottischer Seemann nicht berlinert, son-
dern sinnvollerweise plattdeutsch spricht etc.
Neu ist vor allem, dass wir versuchen, die unzureichend
differenzierten Stilebenen des Originals, in dem fast alle fikti-
ven Tagebuchschreiber/innen den gleichen Schreibstil haben,
behutsam zu individualisieren, ohne damit das Original zu
verfremden. Die große Differenzierung im Original besteht
zwischen den Sprechweisen des Grafen Dracula und der von
Van Helsing: Auch hier haben wir uns bemüht – wenn ich
»wir« sage, meine ich alle, die mir bei der Übersetzung und
Überarbeitung geholfen haben –, endlich zwei verschiedene
Stimmen zu realisieren.
Göttingen, Januar 2012
Andreas Nohl, geb. 1954, Studium in Berlin, Frankfurt und San
Francisco; seit 1985 freier Schriftsteller und Übersetzer. Seine
Neuübersetzung von Mark Twains »Tom Sawyer & Huckle-
berry Finn« im Hanser Verlag erregte 2010 Aufsehen.

LESEPROBE
JONATHAN HARKERS JOURNAL
(Fortsetzung)
5. Mai. Ich musste eingenickt sein, denn in vollständig wachem Zu-
stand wäre mir die Anfahrt zu einem so ungewöhnlichen Ort sicher nicht
entgangen. Im Dunkeln erweckte der Burghof den Eindruck beträcht-
licher Größe, und da mehrere Gänge unter großen Rundbögen von ihm
abführten, wirkte er vielleicht größer, als er wirklich ist. Ich hatte bisher
keine Gelegenheit, ihn bei Tageslicht zu besichtigen.
Als die Kalesche hielt, sprang der Kutscher ab und reichte mir seine
Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Wiederum fiel mir seine enorme
Kraft auf. Seine Hand war in der Tat wie ein stählerner Schraubstock, der
die meine leicht hätte zerquetschen können, wenn er es gewollt hätte.
Dann holte er mein Gepäck und stellte es neben mir auf dem Boden ab. Ich
stand neben einer mächtigen, mit großen Eisennägeln beschlagenen alten
Tür, die in einen vorspringenden klobigen Türrahmen aus Stein eingelas-
sen war. Selbst in dem trüben Licht waren grobe Steinmetzarbeiten daran
zu erkennen, die allerdings durch Zeit und Witterung stark gelitten hatten.
Sodann sprang der Kutscher wieder auf seinen Bock, nahm die Zügel, die
Pferde ruckten an, und die Kalesche mit allem Drum und Dran ver-
schwand in einem der dunklen Rundbögen.
Ich blieb schweigend stehen, denn ich hatte keine Ahnung, was ich tun
sollte. Weder gab es eine Glocke noch einen Türklopfer. Und es war un-
wahrscheinlich, dass meine Stimme durch diese abweisenden Mauern und
dunklen Fensterhöhlen dringen konnte. Die Zeit des Wartens schien end-
los, und mich beschlichen Zweifel und Ängste. An welchen Ort war ich
hier geraten und unter was für Menschen? Auf was für ein grausiges Aben-
teuer hatte ich mich eingelassen? Gehörte das zu den üblichen Obliegen-
heiten im Leben eines Kanzleiangestellten, der gesandt worden war, einem
Ausländer die Kaufbedingungen für ein Londoner Anwesen zu erklären?
Kanzleiangestellter? Mina wäre empört. Anwalt – denn kurz vor meiner
Abreise aus London hatte ich die Nachricht erhalten, dass ich meine Prü-
fung bestanden habe. Jetzt bin ich vollgültiger Anwalt! Ich begann mir die
Augen zu reiben und mich zu kneifen, um festzustellen, ob ich wirklich
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wach war. Mir kam alles wie ein grässlicher Albtraum vor, und ich erwar-
tete, jeden Moment zu Hause aufzuwachen, mit dem anbrechenden
Tageslicht im Fenster, so wie ich es manchmal am Morgen nach einem
Tag mit zu vielen Überstunden erlebt habe. Doch meine Haut reagierte
auf die Kneifprobe, und meine Augen ließen sich nicht täuschen. Ich war
tatsächlich wach und mitten in den Karpaten. Ich konnte also nichts an-
deres tun, als geduldig zu sein und darauf zu warten, dass es hell wurde.
Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, da näherten sich hinter der
großen Tür schwere Schritte und durch die Ritzen schimmerte Licht.
Dann hörte ich das Rasseln von Ketten und das Klacken massiver Riegel,
die zurückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich knirschend im
Schloss, das offenbar lange nicht benutzt worden war, und schließlich
schwang die große Tür auf.
Dahinter stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert (mit
Ausnahme eines langen weißen Schnurrbarts) und von Kopf bis Fuß
schwarz gekleidet. Nicht eine Spur von Farbe war an ihm zu sehen. In der
Hand hielt er einen alten Silberleuchter, dessen Flamme ungeschützt von
Zylinder oder Glaskugel brannte. Im Luftzug der offenen Tür flackerte
sie und warf lange zitternde Schatten. Der alte Mann winkte mich höflich
herein und sagte in exzellentem, aber seltsam betontem Englisch:
»Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ein, ungehindert und aus
freien Stücken!« Er kam mir keinen Schritt entgegen, sondern stand dort
wie eine Statue, als ob seine Willkommensgeste ihn in Stein verwandelt
hätte. Doch in dem Augenblick, als ich die Schwelle überschritten hatte,
kam er geradezu überschwänglich auf mich zu, reichte mir die Hand und
drückte so fest, dass ich vor Schmerz zusammenfuhr – eine Empfindung,
die keineswegs dadurch gemildert wurde, dass sich die Hand eiskalt an-
fühlte – wie die Hand eines Toten. Wieder sagte er:
»Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ungehindert ein. Scheiden
Sie gesund und munter und lassen Sie etwas von dem Glück da, das Sie
mit sich bringen!« Der schmerzhafte Händedruck glich so sehr dem Griff
des Kutschers, dessen Gesicht ich nicht gesehen hatte, dass ich einen Au-
genblick zweifelte, ob ich nicht mit derselben Person sprach. Um sicher
zu gehen, fragte ich zögernd:
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»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und antwortete:
»Ich bin Dracula, und ich heiße Sie, Mr. Harker, in meinem Haus will-
kommen. Treten Sie ein. Die Nachtluft ist kalt, und Sie müssen etwas
essen und sich ausruhen.« Damit stellte er die Laterne auf einer Konsole
an der Wand ab, ging hinaus, nahm mein Gepäck und hatte es hereinge-
tragen, ehe ich ihm zuvorkommen konnte (…)
7. Mai. Es ist wieder früher Morgen, aber ich habe geruht und die
letzten vierundzwanzig Stunden genossen. Ich schlief, bis ich spät am
Tag von allein aufwachte. Nach dem Ankleiden ging ich ins Esszimmer
und fand dort ein kaltes Frühstück aufgedeckt, nur der Kaffee wurde auf
dem Kamingrill warmgehalten. Auf dem Tisch lag ein Kärtchen, auf dem
geschrieben stand:
»Ich muss für eine Weile fort, warten Sie nicht auf mich. – D.« Also
setzte ich mich an den Tisch und erfreute mich an einem herzhaften
Mahl. (…) Als ich mit dem Essen fertig war, (…) schaute ich mich nach
etwas zum Lesen um, denn ich wollte nicht in der Burg herumstöbern,
ohne den Grafen um Erlaubnis gefragt zu haben. Aber es war absolut
nichts im Zimmer, kein Buch, keine Zeitung, noch nicht einmal Schreib-
zeug. Also öffnete ich eine andere Tür im Raum und stieß auf eine Art
Bibliothek. Die Tür auf der anderen Seite des Gangs versuchte ich eben-
falls, sie war aber verschlossen.
In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner freudigen Überraschung eine
große Zahl englischer Bücher, ganze Regale voll, nebst gebundenen Jahr-
gängen von Illustrierten und Zeitungen. Auf einem Tisch in der Mitte
lagen weitere englische Presseerzeugnisse verstreut, allerdings keine neue-
ren Datums. Die Bücher kamen aus allen möglichen Themenbereichen –
Geschichte, Geographie, Politik, politische Ökonomie, Botanik, Geolo-
gie, Rechtswesen – alle mit einem Bezug zu England, englischem Leben,
englischen Sitten und Gebräuchen. Es waren sogar Nachschlagewerke
darunter wie das Londoner Adressbuch, das »Rote« und das »Blaue«
Buch, Whitakers Almanach, die Ranglisten von Armee und Marine
sowie – mein Herz wurde nachgerade erwärmt – das Anwaltsverzeichnis.
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Während ich die Bücher begutachtete, ging die Tür auf, und der Graf
trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, ob ich gut ge-
schlafen habe. Dann fuhr er fort:
»Ich freue mich, dass Sie hierher gefunden haben, denn ich bin si-
cher, es gibt hier gewisslich vieles, was Sie interessieren wird. Diese
›Freunde‹« – er legte seine Hand auf einen Stapel Bücher – »waren mir
gute Begleiter und haben mir in den vergangenen Jahren, seit ich mit
dem Gedanken spiele, nach London zu ziehen, viele, viele angenehme
Stunden beschert. Durch sie habe ich Ihr großartiges Land kennenge-
lernt, und es kennen heißt es lieben. Ich sehne mich danach, durch die
bevölkerten Straßen Ihrer mächtigen Hauptstadt zu gehen, mitten im
Trubel und dem hektischen Treiben der Menschen, teilzuhaben an
ihrem Leben, ihrem Schicksal und Sterben und an allem, was diese
Stadt zu dem macht, was sie ist. Aber zu meinem Leidwesen kenne ich
Ihre Sprache nur aus Büchern. Auf Sie, mein Freund, hoffe ich, damit
ich sie sprechen lerne.«
»Aber Graf«, sagte ich, »Sie verstehen und sprechen hervorragend
englisch!« Er verbeugte sich würdevoll.
»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihr allzu schmeichelhaftes Urteil,
aber dennoch fürchte ich, dass ich erst ein kurzes Stück des Weges zu-
rückgelegt habe, der vor mir liegt. Wahrlich, ich kenne die Grammatik
und die Wörter, aber ich weiß nicht, wie man sie ausspricht.«
»Wirklich«, sagte ich, »Sie sprechen ganz ausgezeichnet.«
»Nicht doch«, erwiderte er. »Ich weiß sehr wohl, dass man mir in
London aufgrund meines Auftretens und meiner Aussprache sofort an-
merken würde, dass ich ein Fremder bin. Das genügt mir nicht. Hier
bin ich ein Adliger, ein Bojar. Das gemeine Volk kennt mich, und ich
bin der Herr. Aber der Fremdling im fremden Land, er ist niemand. Die
Menschen kennen ihn nicht – und nicht kennen bedeutet nicht beach-
ten. Ich bin zufrieden, wenn ich wie die anderen bin und niemand ste-
henbleibt, wenn er mich sieht, oder, wenn er mich reden hört, sagt:
›Haha, ein Fremder!‹ Ich bin schon so lange Herr, dass ich Herr bleiben
will – wenigstens soll niemand Herr über mich sein.« (Aus Kapitel 2)
31

MINA MURRAYS TAGEBUCH
Am selben Tag, 11 Uhr nachts. Oh, was bin ich müde! Wenn ich mir
das Tagebuch nicht zur Pflicht gemacht hätte, würde ich es heute Abend
nicht anrühren. Wir haben eine wunderschöne Wanderung gemacht.
Lucy wurde nach einer Weile ganz vergnügt, vielleicht weil sich uns auf
einer Wiese nahe dem Leuchtturm ein paar liebe Kühe neugierig näher-
ten und uns reichlich Angst einjagten. Ich glaube, wir vergaßen alles,
außer natürlich unsere Furcht, und alles Vorherige war dadurch wie weg-
gewischt und unsere Geister belebten sich neu. In einem netten kleinen,
altmodischen Gasthof in Robin Hood’s Bay nahmen wir ein ausgiebiges
Abendbrot mit Tee zu uns und blickten durch ein Rundbogenfenster di-
rekt auf die mit Seetang überzogenen Felsen am Strand. Ich glaube, unser
Appetit hätte die »Neue Frau« mächtig schockiert. Männer sind da nach-
sichtiger, Gott segne sie! Dann machten wir uns auf den Heimweg, mit
einigen oder eher vielen Ruhepausen und in ständiger Angst vor wilden
Stieren. Lucy war wirklich müde, und wir wollten so bald wie möglich ins
Bett. Aber der junge Vikar kam vorbei, und Mrs. Westenra bat ihn, zum
Abendessen zu bleiben. Lucy und ich kämpften tapfer gegen den Sand-
mann. Zumindest war es für mich ein harter Kampf, und ich bin norma-
lerweise nicht zimperlich. Ich finde, die Bischöfe sollten sich irgendwann
einmal zusammensetzen und sich überlegen, wie sie eine neue Sorte von
Vikaren heranbilden können, die kein Abendessen annehmen, wie sehr
es ihnen auch aufgedrängt werden mag, und die erkennen, wenn junge
Frauen müde sind. Lucy schläft mittlerweile und atmet leise. Ihre Wangen
haben mehr Farbe als sonst, und sie sieht so süß aus. Wenn Mr. Holm-
wood sich schon im Salon in sie verliebt hat, wie würde es ihm wohl er-
gehen, wenn er sie jetzt sähe? Manche der Autorinnen, die die »Neue
Frau« propagieren, werden sicherlich eines Tages vorschlagen, dass man
Männern und Frauen erlauben sollte, einander schlafend zu sehen, bevor
sie einen Heiratsantrag machen oder annehmen. Aber ich denke, die
Neue Frau wird sich in Zukunft nicht mehr herbeilassen, einen Antrag
anzunehmen, sie wird ihn selbst machen! Und da wird sie ganze Arbeit
leisten! Das ist doch ein gewisser Trost. Ich bin so froh heute Abend, weil
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es Lucy besser geht. Ich glaube wirklich, sie ist über den Berg, und wir
haben die Albträume hinter uns. Ich könnte so glücklich, sein wenn ich
nur wüsste, ob Jonathan ... Gott segne und beschütze ihn.
11. August, 3 Uhr morgens. Noch einmal Tagebuch. Finde keinen
Schlaf mehr, kann ebenso gut schreiben. Zum Schlafen bin ich zu aufge-
wühlt. Wir haben ein solches Abenteuer, ein solch erschreckendes Erlebnis
hinter uns. Ich schlief ein, sowie ich mein Tagebuch geschlossen hatte ...
Plötzlich saß ich hellwach im Bett, von schrecklicher Angst gequält und
mit dem Gefühl, völlig allein zu sein. Das Zimmer war dunkel, sodass ich
Lucys Bett nicht sehen konnte. Ich schlich leise hinüber und tastete nach
ihr. Das Bett war leer. Ich zündete ein Streichholz an und sah, dass sie
nicht im Zimmer war. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen, was ich
am Abend gewiss getan hatte. Ich wollte keinesfalls ihre Mutter wecken,
deren Gesundheitszustand in den letzten Tagen mehr als sonst zu wün-
schen übrig lässt, also warf ich mir rasch etwas über und machte mich
auf die Suche nach Lucy. Als ich das Zimmer verließ, kam mir der Ge-
danke, dass die Art ihrer Kleidung vielleicht einen Hinweis darauf geben
konnte, was sie in ihrem Traum vorhatte. Der Morgenrock: etwas inner-
halb des Hauses; das Kleid: etwas außerhalb. Morgenrock und Kleid hin-
gen an ihrem Platz. »Gott sei Dank«, dachte ich, »nur im Nachthemd
kann sie nicht weit sein.« Ich lief die Treppe hinunter und schaute ins
Wohnzimmer. Niemand da! Dann sah ich in allen anderen zugänglichen
Zimmern des Hauses nach, wobei eine ständig wachsende Furcht mir die
Kehle zuschnürte. Schließlich kam ich zur Eingangstür, und die stand
offen. Nicht sperrangelweit, aber sie war nicht ins Schloss gefallen. Die
Bediensteten des Hauses achteten peinlich darauf, dass die Tür jeden
Abend abgeschlossen wird, also musste Lucy, so wie sie war, nach draußen
gegangen sein. Es war keine Zeit zu überlegen, was geschehen könnte,
eine überwältigende Furcht drängte alle Einzelheiten beiseite. Ich nahm
ein großes, dickes Umhängetuch und eilte hinaus. Die Turmuhr schlug
eins, als ich am Crescent ankam, aber nirgendwo eine Menschenseele.
Ich lief die North Terrace entlang, aber nirgends war die weiße Gestalt zu
erblicken, die ich suchte. Am Ende der Westklippe über dem Pier schaute
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ich zur Ostklippe auf der anderen Seite des Hafens, ich weiß nicht ob in
der Hoffnung oder in der Furcht, Lucy auf unserer Lieblingsbank zu
sehen. Es herrschte strahlender Vollmond, zugleich trieben schwere
schwarze Wolken am Himmel, die das Ganze wie in einem Diorama ab-
wechselnd in Licht und Schatten tauchten. Für ein, zwei Augenblicke
konnte ich nichts sehen, da ein Wolkenschatten die Kirche von St. Mary
und ihre Umgebung verfinsterte, doch dann, als die Wolke vorbeizog,
kam die Ruine der Abtei in Sicht. Und in einem schmalen messerschar-
fen Lichtstreif, der über die Szene wanderte, wurden nach und nach Kir-
che und Friedhof sichtbar. Was immer meine Erwartung gewesen sein
mochte, sie wurde nicht enttäuscht, denn dort auf unserem Lieblings-
platz tauchte im silbernen Mondlicht eine halb zurückgelehnte, schnee-
weiße Gestalt auf. Die Wolken zogen zu schnell, als dass viel zu sehen ge-
wesen wäre, denn fast im gleichen Augenblick löschte der Schatten das
Licht wieder aus. Aber ich hatte den Eindruck, dass hinter der weißen
Gestalt etwas Dunkles stand und sich über sie beugte – ob Mensch oder
Tier, konnte ich nicht sagen. Ich wartete nicht, bis ich mich vergewissern
konnte, sondern eilte die steile Treppe zum Pier hinunter und über den
Fischmarkt zur Brücke, der einzigen Verbindung zur Ostklippe. Die
Stadt lag wie ausgestorben, niemand war zu sehen. Das machte mich
froh, denn ich wollte nicht, dass irgendjemand Zeuge von Lucys Zustand
wurde. Die Zeit und die Entfernung schienen endlos, meine Knie zitter-
ten und mein Atem ging schwer, während ich mich die unzähligen Stufen
zur Abtei hinaufmühte. Ich muss recht schnell gewesen sein, und doch
kam es mir vor, als wären meine Füße mit Bleigewichten beschwert und
sämtliche Gelenke in meinem Körper eingerostet. Als ich fast schon oben
war, konnte ich bereits die Bank mit der weißen Gestalt sehen, denn ich
war nah genug, um sie selbst im Dunkeln unterscheiden zu können.
Ohne Zweifel beugte sich da etwas Langes und Schwarzes über die halb
zurückgelehnte Gestalt. Ich rief voller Entsetzen: »Lucy! Lucy!«, und das
Etwas hob seinen Kopf, ein weißes Gesicht mit rotglühenden Augen.
Lucy gab keine Antwort, und ich rannte weiter zum Friedhofseingang.
Dort aber stand die Kirche zwischen mir und der Bank, sodass ich Lucy
für eine Minute oder so aus den Augen verlor. Als mir der Blick nicht
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mehr verstellt war, hatte sich die Wolke verzogen, und das Mondlicht
leuchtete so hell, dass ich sehen konnte, wie Lucy halb auf der Bank lag
und ihr Kopf auf der Lehne ruhte. Sie war ganz allein, keine Spur von
einem Lebewesen in der Nähe.
Ich sah, dass sie immer noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet, und
sie atmete – aber nicht leise und sanft wie sonst, sondern mühsam und
schwer, als wollte sie mit jedem Atemzug ihre ganze Lunge füllen. Als ich
mich näherte, hob sie im Schlaf ihre Hand und schloss den Kragen ihres
Nachtgewands enger um ihren Hals. Dabei erschauerte sie leicht, als
fröre sie. Ich warf das warme Umhängetuch über sie, damit sie sich,
leicht bekleidet wie sie war, in der kühlen Nachtluft nicht den Tod holte.
Ich wollte sie nicht abrupt aus dem Schlaf reißen, und um meine Hände
später frei zu haben, befestigte ich den Saum des Tuchs an ihrem Hals mit
einer großen Sicherheitsnadel. Aber ich muss mich recht ungeschickt an-
gestellt und sie damit gezwickt oder gepiekst haben, denn als ihr Atmen
langsam ruhiger wurde, griff sie sich mit der Hand an den Hals und
stöhnte. Nachdem ich sie sorgfältig eingewickelt hatte, zog ich ihr meine
Schuhe an und weckte sie dann sanft. Zunächst reagierte sie nicht, dann
aber wurde ihr Schlaf zusehends unruhig, wobei sie mehrmals stöhnte
und seufzte. Schließlich (…) rüttelte ich sie heftiger, bis sie endlich die
Augen öffnete und aufwachte. Sie war nicht überrascht, mich zu sehen,
da sie zunächst natürlich nicht wusste, wo sie sich befand. Lucy ist immer
hübsch, wenn sie aus dem Schlaf kommt, und selbst unter diesen Um-
ständen, völlig durchgefroren und auch erschrocken, sich so leicht be-
kleidet nachts auf dem Friedhof zu finden, verlor sie nichts von ihrer
Anmut. Sie zitterte ein wenig und klammerte sich an mich, und als ich
sagte, sie solle sofort mit mir nach Hause kommen, stand sie wortlos auf,
folgsam wie ein Kind. Beim Gehen taten mir von den Kieselsteinen die
Füße weh, und Lucy merkte, wie ich zusammenzuckte. Sie blieb stehen
und wollte unbedingt, dass ich meine Schuhe anzog, was ich aber ab-
lehnte. Auf dem Weg außerhalb des Friedhofs allerdings trat ich in eine
Pfütze, die vom Unwetter übrig geblieben war, und beschmierte meine
Füße mit Schlamm, sodass niemand, der uns unterwegs begegnen moch-
te, sehen würde, dass ich barfuß ging. (Aus Kapitel 8)
65

Bram Stoker (1847–1912)
Bram Stoker wurde am 8. November 1847 in Clontarf bei Dub-
lin geboren. Bis zu seinem siebenten Lebensjahr gehunfähig,
wurde er als Student der erfolgreichste Footballspieler des Tri-
nity College in Dublin, wo er von 1864 bis 1870 Geschichte,
Literatur, Mathematik und Physik studierte.
Wie sein Vater, schlug er zunächst eine Beamtenlaufbahn bei
der Justizverwaltung ein. Gleichzeitig veröffentlichte er erste
Kurzgeschichten und war als Journalist und Theaterkritiker
tätig. 1876 lernte er Henry Irving kennen, den berühmtesten
englischen Schauspieler seiner Zeit. 1878 gab Stoker seine Ver-
waltungsstelle auf, zog mit seiner Frau, der auch von seinem
Freund Oscar Wilde umworbenen Florence Balcombe, nach
London, um zunächst als Privatsekretär, dann als Manager für
Irvings Lyceum Theatre zu arbeiten (wo er Neuerungen wie
die nummerierten Sitzplätze einführte).
Die Arbeit für Henry Irving, die 27 Jahre andauern sollte, er-
möglichte Stoker den Kontakt mit der Londoner Oberschicht
(so traf er u.a. mit Sir Arthur Conan Doyle zusammen) und
zahlreiche Reisen, vor allem durch Europa und die USA, wo er
neben dem von ihm sehr bewunderten Walt Whitman auch
Theodore Roosevelt kennenlernte.
Daneben schrieb Bram Stoker immer wieder Kurzgeschichten
und Romane, wurde als Prozessanwalt zugelassen, investierte
unglücklich in einen Verlag und wirkte als englischer Agent
für Mark Twain. Am 26. Mai 1897 erschien sein Roman »Dra-
cula« bei Constable. Den Welterfolg seines Buchs sollte er
nicht mehr erleben. Stoker starb am 20. April 1912 in finanziell
bescheidenen Verhältnissen in London.
»Diese Geschichte
wird uns zweifellos noch
lange in den Schlaf
verfolgen. Menschen mit
schwachen Nerven sollten diese
gruselige Lektüre strikt auf die
Zeit zwischen Sonnenaufgang
und Sonnenuntergang
beschränken.«
Daily Mail über »Dracula« am 1. Juni 1897
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