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Leseprobe - lechflimmern.de - Kino in Augsburg

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e<strong>in</strong>es literarischen Archetyps sprechen muss – und nur <strong>de</strong>n we-<br />

nigsten Schriftstellern ist so etwas gelungen. Dagegen ver-<br />

blasst die Masse <strong>de</strong>r Nachahmer.<br />

»Dracula« ist e<strong>in</strong>e fesseln<strong>de</strong> Geschichte. Hat das Buch auch<br />

e<strong>in</strong>e politische Dimension? Vielleicht sogar e<strong>in</strong>e, die ihre<br />

Relevanz über das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt h<strong>in</strong>aus hat?<br />

Es gibt sicher Spurenelemente davon. Wir sehen <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

Roman die Elite <strong>de</strong>s englischen Empire – Jurist, Arzt, Lord –<br />

unterstützt von e<strong>in</strong>em Amerikaner und <strong>de</strong>m holländischen<br />

Superhirn Van Hels<strong>in</strong>g im Kampf gegen <strong>de</strong>n pan<strong>de</strong>mischen<br />

Übergriff <strong>de</strong>s blutsaugen<strong>de</strong>n Bösen. Frem<strong>de</strong>nangst, Hysterie –<br />

also Elemente <strong>de</strong>ssen, was im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>e katastro-<br />

phale Rolle spielen wird – kl<strong>in</strong>gen an. Zugleich sehen wir e<strong>in</strong>e<br />

resolut agieren<strong>de</strong> Frau, die zwar nicht zur Vorreiter<strong>in</strong> <strong>de</strong>r<br />

Frauenbewegung taugt, die aber doch <strong>de</strong>n Schlüssel für die<br />

Problemlösung letzten En<strong>de</strong>s <strong>in</strong> Hän<strong>de</strong>n hält.<br />

Gewiss ist es e<strong>in</strong>e phantastische Geschichte. Aber wer vor<br />

2001 e<strong>in</strong>en Roman geschrieben hätte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m e<strong>in</strong> Mann mit<br />

langem Bart <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bergen Afghanistans drei junge Männer <strong>in</strong><br />

Hamburg mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>in</strong>fiziert, <strong>de</strong>n vielleicht größten Mord-<br />

anschlag <strong>de</strong>r Weltgeschichte zu begehen – und das auch noch<br />

im Zentrum e<strong>in</strong>er westlichen Supermacht –, wäre auch Gefahr<br />

gelaufen, als bloßer Märchenerzähler zu gelten.<br />

»Dracula« ist das Romandokument e<strong>in</strong>er großen gesell-<br />

schaftlichen Krise. Das britische Empire begann, nun, viel-<br />

leicht nicht zu wanken, aber doch an Selbstgewissheit zu ver-<br />

lieren. Der Wettlauf <strong>de</strong>r Großmächte um E<strong>in</strong>flusssphären zog<br />

zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>de</strong>n Glauben an die eigene Unverwundbarkeit <strong>in</strong><br />

Zweifel. Auch die überkommenen Werte verloren ihre Verläss-<br />

lichkeit, die Basis <strong>de</strong>r alten Lebensentwürfe wur<strong>de</strong> brüchig. In<br />

e<strong>in</strong>em gewissen S<strong>in</strong>ne ist diese spätviktorianische Ära also von<br />

<strong>de</strong>r unsrigen gar nicht so arg verschie<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Darstellung<br />

e<strong>in</strong>er umfassen<strong>de</strong>n Verunsicherung sche<strong>in</strong>t Stoker mit se<strong>in</strong>em<br />

»Dracula« e<strong>in</strong>en zentralen Nerv auch <strong>de</strong>s heutigen Publikums<br />

zu treffen.<br />

Wie kamen Sie auf die I<strong>de</strong>e e<strong>in</strong>er Neuübersetzung <strong>de</strong>s<br />

»Dracula«-Romans?<br />

Geschichten von Bram Stoker habe ich schon als Jugendlicher<br />

gelesen. Ich hatte damals die typische Gruselphase. Später dann<br />

habe ich zwei Bücher mit Grusel- bzw. Horrorgeschichten her-<br />

ausgegeben, und <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n habe ich die fabelhafte Geschichte<br />

»Das Haus <strong>de</strong>r Richters« von Stoker aufgenommen. Der Autor<br />

ist mir also seit Langem vertraut. Mit se<strong>in</strong>em hun<strong>de</strong>rtsten To-<br />

<strong>de</strong>stag schien mir die Zeit gekommen, se<strong>in</strong>en Weltklassiker<br />

»Dracula« endlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er literarisch und philologisch ange-<br />

messenen Form <strong>in</strong>s Deutsche zu transportieren.<br />

Können Sie an e<strong>in</strong> paar Beispielen zeigen, wie sich Ihre<br />

Übersetzung von <strong>de</strong>n bisherigen unterschei<strong>de</strong>t?<br />

Das kann ich natürlich, aber lassen Sie mich zuvor sagen:<br />

Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r älteren Übersetzungen hat ihre Meriten, und je<strong>de</strong><br />

neue Übersetzung verdankt auch immer <strong>de</strong>n Vorgänger-<br />

Übersetzungen etwas (und sei es, e<strong>in</strong>en Irrweg nicht noch<br />

e<strong>in</strong>mal gehen zu müssen). Außer<strong>de</strong>m ist man h<strong>in</strong>terher<br />

immer klüger, will sagen: Die Übersetzer, die sich bisher an<br />

»Dracula« gewagt haben, verfügten noch nicht über das brei-<br />

te Informationsmaterial, das mir zur Verfügung steht. Ich<br />

weise hier nur auf das Buch »Bram Stoker’s Notes for Dracu-<br />

la« h<strong>in</strong>, das erst 2008 veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Dar<strong>in</strong> kann man<br />

zum Beispiel sehen, wie Stoker auf e<strong>in</strong>er mehrseitigen Voka-<br />

belliste Ausdrücke gesammelt hat, die er für e<strong>in</strong>en Seemann<br />

<strong>in</strong> Whitby verwen<strong>de</strong>n wollte.<br />

Der Hauptunterschied zu allen an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>utschen Überset-<br />

zungen ist <strong>de</strong>r, dass unsere Übertragung die erste vollständige<br />

ist. Sätze, Satzteile, Absätze s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Übersetzun-<br />

gen weggefallen, teilweise vielleicht auch, weil diese auf e<strong>in</strong>er<br />

unvollständigen Vorlage beruhten.<br />

Wesentlich für unsere Fassung ist nicht nur, dass wir ekla-<br />

tante Fehler vermei<strong>de</strong>n – wenn es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Shakespeare-Zitat<br />

eigentlich um e<strong>in</strong>e Schreibtafel (tablet) geht, sprechen wir<br />

nicht von etwas, das man herunterschluckt –, dass wir wichti-<br />

ge Begriffe ernstnehmen – die New Woman ist bei uns wirklich<br />

die »Neue Frau«, e<strong>in</strong> neuer Frauentypus –, dass wir die Cigá-<br />

ny (das ungarische Wort für »Zigeuner«, das im Englischen<br />

ebenso fremdartig ist wie im Deutschen) nicht »Rumänisch«<br />

sprechen lassen, son<strong>de</strong>rn »Romani«, also die Sprache <strong>de</strong>r<br />

Roma, dass e<strong>in</strong> schottischer Seemann nicht berl<strong>in</strong>ert, son-<br />

<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>nvollerweise platt<strong>de</strong>utsch spricht etc.<br />

Neu ist vor allem, dass wir versuchen, die unzureichend<br />

differenzierten Stilebenen <strong>de</strong>s Orig<strong>in</strong>als, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m fast alle fikti-<br />

ven Tagebuchschreiber/<strong>in</strong>nen <strong>de</strong>n gleichen Schreibstil haben,<br />

behutsam zu <strong>in</strong>dividualisieren, ohne damit das Orig<strong>in</strong>al zu<br />

verfrem<strong>de</strong>n. Die große Differenzierung im Orig<strong>in</strong>al besteht<br />

zwischen <strong>de</strong>n Sprechweisen <strong>de</strong>s Grafen Dracula und <strong>de</strong>r von<br />

Van Hels<strong>in</strong>g: Auch hier haben wir uns bemüht – wenn ich<br />

»wir« sage, me<strong>in</strong>e ich alle, die mir bei <strong>de</strong>r Übersetzung und<br />

Überarbeitung geholfen haben –, endlich zwei verschie<strong>de</strong>ne<br />

Stimmen zu realisieren.<br />

Gött<strong>in</strong>gen, Januar 2012<br />

Andreas Nohl, geb. 1954, Studium <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Frankfurt und San<br />

Francisco; seit 1985 freier Schriftsteller und Übersetzer. Se<strong>in</strong>e<br />

Neuübersetzung von Mark Twa<strong>in</strong>s »Tom Sawyer & Huckle-<br />

berry F<strong>in</strong>n« im Hanser Verlag erregte 2010 Aufsehen.

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