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Inhaltsübersicht<br />

Vorwort I<br />

Vorbemerkungen II<br />

Eduard Anderson : Biografischer Abriss IX<br />

Der Kaufherr Thomas Anderson<br />

Widmung........................................................................<br />

Brief an den Vater<br />

Kapitel Seite<br />

1. Ein Unfall auf der Straße hinter Königsberg 4<br />

2. Ruhepause im Dorfkrug von Zohlen 7<br />

3. Der räuberische Überfall auf der Landstraße von<br />

Bartenstein nach Rastenburg 22<br />

4. Ein Zwischenaufenthalt in Rastenburg 38<br />

5. Der Besuch in Rosengarten 48<br />

6. Die Heimkehr nach <strong>Angerburg</strong> und das Wiedersehen<br />

mit der Familie 69<br />

7. Erinnerungen des Vaters an den Tartareneinfall 80<br />

8. Die Andersons und andere Schottenfamilien in Preußen 90<br />

9. Zu Besuch beim Schwager, Diakon Nebe 102<br />

10. Der Straßenräuber Schieler und die gestohlene<br />

Kriegskasse 106


Kapitel Seite<br />

11. Ein stiller Kirchensonntag in <strong>Angerburg</strong> und eine<br />

anstrengende Arbeitswoche 112<br />

12. Patricius Bell: Schicksale eines schottischen Kaufmanns 120<br />

13. Thomas Anderson leistet den Bürgereid 124<br />

14. Schielers Überfall und seine Inhaftierung 131<br />

15. Familienrat über den Berufsweg von Wilhelm Anderson 135<br />

16. Jahrmarkt in <strong>Angerburg</strong> 141<br />

17. Vater Wilhelms Reise nach Königsberg 143<br />

18. Das Leben des braven Lehrburschen Johannes Anderson<br />

in Königsberg 150<br />

19. Besuch bei einem alten Aalkunden der Andersons in<br />

Königsberg 157<br />

20. Auf der Rückreise von Königsberg nach <strong>Angerburg</strong>: Beim<br />

Schotten Douglas in Schippenbeil 163<br />

21. Kantor Heling <strong>als</strong> Kirchenführer in Schippenbeil 189<br />

22. Auf der Reise nach Lyck: Eine Schlittenfahrt durch<br />

Masuren 200<br />

23. Fischer auf den Masurischen Seen 215<br />

24. Beim Pfarrer Cibrovius in Eckersberg 224<br />

25. Von Eckersberg über Arys nach Lyck: Ein Hengst für<br />

den Zaren und Teufelsspuk im Spirdingsee 232<br />

26. Zu Gast in der verfallenen Pfarrei von Neuhoff 248<br />

27. Lyck in Sicht: Thomas Andersons und Diakon Nebes<br />

Mutmaßungen über die alten Preußen 275


Kapitel Seite<br />

28. Eine Silvesternacht in Lyck und fauler Zauber am<br />

Jahreswechsel 282<br />

29. Weitere Erlebnisse und Einsichten während des Lyck-<br />

Aufenthalts und die vergebliche Brautwerbung um<br />

Esther Schwindovius 302<br />

30. Auf der Rückfahrt von Lyck nach <strong>Angerburg</strong>:<br />

Zwischenstation beim Diakon Boretius in Lötzen 361<br />

31. Gut Grunden im Schneesturm 378<br />

32. Zurück im heimatlichen <strong>Angerburg</strong> 442<br />

33. Der gescheiterte Fluchtversuch Schielers aus dem<br />

<strong>Angerburg</strong>er Schlossgefängnis 455<br />

34. Das Verhör des Schielers und der Zeugen 495<br />

35. Ein glückliches Ende 506<br />

Nachtrag von Eduard Anderson 516<br />

Anhang<br />

Anhang 1: Aus Thomas Anderson’s Gedenk- Buch 517<br />

Anhang 2: Übertragung der plattdeutschen Texte in’s<br />

Hochdeutsche<br />

2a: Die Verse VI – VII und X – XII (S. 158) des<br />

Gedichts „Der Erbsenbauer“ 522<br />

2b: Berichte von Paskarbait in’s Hochdeutsche<br />

übertragen (S. 265 ff.) 523


Anhang Seite<br />

Anhang 3: Quellen zum Tartareneinfall 1656/57<br />

3a: Beschreibung des Überfalls, geschrieben 1657<br />

von Pfarrer Uriel Bertram in das <strong>Angerburg</strong>er<br />

Kirchenbuch 530<br />

3b: Ludewig Reinhold v. Werner<br />

Gesamelte Nachrichten zu Ergäntzung der<br />

preußisch-märckisch- und polnischen<br />

Geschichte.Historische Nachricht<br />

von der Stadt <strong>Angerburg</strong> und<br />

derselben Wapen. 1751, S. 15/17 532<br />

3c: Georg Christoph Pisanski<br />

Nachricht von dem im Jahre 1656 geschehenen<br />

Einfalle der Tartaren in Preußen, 1764 533<br />

3d: Hermann Schmidt<br />

Der Kreis <strong>Angerburg</strong>,1860 535<br />

Anhang 4: Der <strong>Angerburg</strong>er Landrat Hermann Carl Schmidt 536


Vorbemerkungen<br />

Die Ereignisse des 2.Weltkrieges und seine Folgen, die<br />

Vertreibung der bodenständigen Bevölkerung aus ihren<br />

angestammten Siedlungsräumen, lassen die Erinnerung an die<br />

ostpreußische Kulturlandschaft und ihre Nachbargebiete immer<br />

mehr verblassen. Weil während der Kriegs- und Nachkriegszeit<br />

zahlreiche Zeugnisse der Geschichte in Archiven und Bibliotheken,<br />

in Kirchen und Gutshäusern vernichtet wurden, hat sich die<br />

Quellenbasis für die Beschäftigung mit der<br />

ostpreußischen Landesgeschichte verschlechtert und<br />

gestaltet sich heute wesentlich schwieriger <strong>als</strong> in früheren Zeiten.<br />

Umso angebrachter erscheint es deshalb Herausgebern und<br />

Bearbeitern mit dem hier vorgelegten Roman „Der Kaufherr Thomas<br />

Anderson“ auf eine Hinterlassenschaft der ostpreußischen<br />

Literaturgeschichte aufmerksam zu machen, die bisher weitgehend<br />

unbekannt sein dürfte.<br />

Dieser Roman aus der kurfürstlichen Zeit Preußens ist nach<br />

einem Manuskript des Autors Eduard Anderson (1827-1905), das<br />

im Jahre 1872 abgeschlossen wurde, von Mitgliedern der<br />

Genealogischen Arbeitsgemeinschaft für die Kreise <strong>Angerburg</strong> und<br />

Lötzen (GeAGAL) überarbeitet und von der Kreisgemeinschaft<br />

<strong>Angerburg</strong> herausgegeben worden.<br />

Nach mehreren gescheiterten Versuchen zur Drucklegung des<br />

Werkes, vor allem durch den Verfasser selbst sowie seine<br />

Großnichte Elfriede Wiesner (verst. in Stade), steht damit allen<br />

Lesern, die sich für die Lebensverhältnisse ihrer ostpreußischen<br />

Vorfahren interessieren, eine Quelle zur Verfügung, die ein<br />

anschauliches Bild aus der Vergangenheit dieser Region zu<br />

vermitteln vermag.<br />

Die Textvorlage Eduard Andersons ist inhaltlich unverändert<br />

geblieben, jedoch an mehreren Stellen dem aktuellen Stand der<br />

deutschen Rechtschreibung angepasst worden, wo es ohne allzu<br />

große Beeinträchtigungen des Origin<strong>als</strong> vertretbar erschien. Zudem<br />

sind einige sehr lange und komplizierte Satzgebilde in<br />

Teilsätze zerlegt worden, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Die<br />

Einteilung und Betitelung der 35 Kapitel und die Auswahl der Bilder<br />

ist von den Bearbeitern vorgenommen worden, um den Roman<br />

überschaubarer zu machen.<br />

Das Titelbild stellt eine Landkarten-Kartusche von Joseph Naronski<br />

aus einer Karte des Districtus <strong>Angerburg</strong>ensis im 17. Jahrhundert<br />

II


dar. Es ist ein Ausschnitt aus einer Originalkarte, die sich im<br />

Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin befindet.<br />

Hier wurde noch im Rahmen des Titels ein Schwert mit dem Clan-<br />

Wappen der schottischen Familie Anderson eingefügt.<br />

Der Name Anderson leitet sich vom Namen des schottischen<br />

Schutzpatrons ab und bedeutet soviel wie der Sohn des heiligen<br />

Andreas (St. Andrew‘s son). Über dem Clan-Wappen der<br />

Andersons, einem von Riemen und Schnalle umschlungenen<br />

Eichenbaum, signalisiert das Clan-Motto „Stand Sure“ die<br />

Standhaftigkeit der Clan-Mitglieder.<br />

Dem Romantext sind Fußnoten beigegeben worden, die<br />

vornehmlich Erläuterungen zu heute nicht mehr gebräuchlichen<br />

Begriffen, im Roman genannten historischen Personen und<br />

Ereignissen sowie Ortschaften enthalten. Die Erläuterungen<br />

innerhalb der Fußnoten basieren in erster Linie auf Angaben in<br />

allgemeinen Nachschlagewerken sowie in der historischen<br />

Fachliteratur - unter Berücksichtigung der Spezialliteratur über<br />

den Kreis <strong>Angerburg</strong>, vor allem von Hermann Schmidt, Hermann<br />

Adalbert Braun, Johannes Zachau, Erich Pfeiffer und Bernd<br />

Braumüller. In Einzelfällen wurde auf Quellenmaterial des<br />

Geheimen Staatsarchivs und des Evangelischen Zentralarchivs in<br />

Berlin sowie in den genealogischen Forschungsstellen der<br />

Mormonen und deren Verfilmungen von Kirchenbüchern<br />

zurückgegriffen. Als hilfreich und zeitsparend erwiesen sich dabei<br />

auch viele heute bereits im Internet verfügbare Daten. Während<br />

der zur Verfügung stehenden Zeit waren allerdings nicht<br />

sämtliche, ggf. erläuterungsbedürftigen Angaben im Romantext zu<br />

eruieren, so dass Spielräume für weitere Recherchen durchaus<br />

offen bleiben.<br />

Zu thematischen Schwerpunkten und zur Erzählstruktur des<br />

Romans die folgenden Hinweise:<br />

Der Wagenunfall eines alten Lycker Diakons und der räuberische<br />

Überfall auf den Planwagen des Kaufherrn Thomas Anderson<br />

führen bereits am Anfang des Geschehens die Hauptpersonen des<br />

vorliegenden Romans zusammen. Ort dieser Vorfälle ist die<br />

Landstraße Königsberg - Pr. Eylau - Bartenstein - Rastenburg im<br />

Spätherbst 1687. Thomas Anderson ist bei der Betreuung des am<br />

Fuß verletzen Diakons Schwindovius und der Reparatur seines<br />

Reisegefährts behilflich und kommt dabei in ersten Kontakt zu<br />

dessen Tochter Esther. Sie wirkt auf ihn anziehend und<br />

sympathisch, und am Schluss des Romans wird er sie heimführen -<br />

III


nach Überwindung zahlreicher Hemmnisse, die durch<br />

Missverständnisse und religiösen Starrsinn entstanden sind.<br />

Mit dem missglückten Raubüberfall stellt der Autor auch eine<br />

Person vor, die eine weitere Handlung des Romans eröffnet: den<br />

ehemaligen Söldner Schieler, der durch die chaotischen<br />

Zeitumstände zum Bettler und Straßenräuber geworden ist.<br />

Mit ihm werden die kriegerischen Wirren zwischen Preußen, Polen<br />

und Schweden während der Regierungszeit des Großen Kurfürsten<br />

in das Erzählgeschehen eingebracht. Diese Wirren, und vor allem<br />

die mit ihnen einhergehenden Tatareneinfälle der Jahre 1656/57,<br />

haben in der Erinnerungstradition Ostpreußens tiefe Spuren<br />

hinterlassen.<br />

Der Erzählstoff wird auch durch viele andere, meist historisch<br />

nachweisbare Personen, vermittelt: etwa den alten Wilm Anderson<br />

aus <strong>Angerburg</strong>, den Schotten Douglas aus Schippenbeil, den<br />

<strong>Angerburg</strong>er Diakon Nebe, den Lötzener Pfarrer Boretius, den<br />

Landschöffen Drig<strong>als</strong>ki aus Grunden und den Hofgerichtsrat<br />

Preucke aus Königsberg. Alle Fürsten, Könige, Amtshauptmänner<br />

und weitere Verwaltungsbeamten aus Stadt und Land sind<br />

ebenfalls geschichtlich belegbar.<br />

Deren Erzählungen Berichte, Schilderungen und Einschätzungen,<br />

so gibt der Autor vor, beruhen auf eigenem Erleben. Vielfach<br />

handelt es sich aber auch um Überliefertes aus der Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts vorliegenden Literatur.<br />

Eingeflochten in die Handlung des von Eduard Anderson 1872<br />

abgeschlossenen Romans sind viele Ereignisse aus dem Leben der<br />

Anderson-Familie, die wiederum in kulturgeschichtliche Exkurse<br />

von erzählerischem Eigenwert eingebettet sind. Diese Passagen<br />

überlagern zeitweise das äußere Handlungsgeschehen, so dass die<br />

Brautwerbung um Esther und das weitere Schicksal Schielers<br />

streckenweise in den Hintergrund treten und erst in den<br />

Schlusskapiteln stärker zum Tragen kommen. Die Erinnerung an<br />

Esther bleibt stellenweise nur noch unterschwellig im Bewusstsein<br />

ihres tatkräftigen, zupackenden und um gute Ratschläge selten<br />

verlegenen Freiers lebendig.<br />

Aus dem Leben dieses <strong>Angerburg</strong>er Bürgermeisters, welcher<br />

1710 der Pest zum Opfer fiel, werden nur die für ihn besonders<br />

erlebnisreichen Jahre 1687/88 sowie einige Ereignisse aus seiner<br />

Jugend- und Lehrzeit behandelt. Anders <strong>als</strong> der Romantitel es<br />

vermuten lässt, handelt es sich somit um keine vollständige<br />

Biografie des <strong>Angerburg</strong>er Kaufherrn.<br />

IV


Während langer Wagenfahrten oder bei Zwischenaufenthalten in<br />

Gasthäusern und Pfarreien geführte Gespräche bilden die<br />

Ausgangspunkte für die zahlreichen kulturhistorischen Erörterungen<br />

im Roman. Die ostpreußische Landschaft, Stimmungsbilder aus<br />

Masuren, das Alltagsleben von Bauern, Fischern und Bürgern,<br />

Handels- und Kaufmannsbräuche, das Markttreiben in Städten, die<br />

Atmosphäre in Landgasthäusern und Krügen, das Soldatenleben in<br />

Kriegs- und Friedenszeiten, sonntägliche Kirchgänge, das Leben in<br />

Pfarrhäusern, religiöse Streitigkeiten, Aberglauben und<br />

Volksbräuche, Trinkgewohnheiten, Gerichtssitzungen und das<br />

Gebaren von Verwaltungsbeamten werden realistisch geschildert.<br />

Das vorliegende Werk mag zwar <strong>als</strong> Familienroman konzipiert<br />

worden sein, in den eine Liebesgeschichte und ein Kriminalfall<br />

eingewoben sind. Entstanden ist aber ein vielfarbiges und<br />

anschauliches Kulturbild von Ostpreußen, nicht nur am Ende des<br />

17. Jahrhunderts, sondern bis in die Prussenzeit zurückreichend.<br />

Räumlich steht dabei <strong>Angerburg</strong> im Vordergrund. Jedoch werden<br />

benachbarte Gegenden, vor allem um die Städte Schippenbeil,<br />

Rastenburg, Lötzen und Lyck berücksichtigt, sowie Königsberg<br />

<strong>als</strong> wirtschaftliches und geistiges Zentrum Ostpreußens mit seiner<br />

Ausstrahlung auch in die benachbarten Länder.<br />

Gerade die kulturgeschichtlichen Abschnitte des vorliegenden<br />

Romans dürften auch heute noch von besonderem Interesse sein.<br />

Herausgeber und Bearbeiter sind vielen Personen zu Dank<br />

verpflichtet. An erster Stelle seien hier Frau Brigitte Gramberg und<br />

Herr Dr. Reinhold Heling vom Verein für Familienforschung in Ostund<br />

Westpreußen (VFFOW) genannt, die uns das Anderson-<br />

Manuskript <strong>als</strong> Schreibmaschinen-Vorlage zugänglich gemacht<br />

haben.<br />

Gertrud und Helmut Wenzel, die Eltern von Reinhard Wenzel,<br />

dem gegenwärtigen Vorsitzenden des VFFOW, haben das zuvor<br />

verschollene Manuskript der Original-Handschrift von Eduard<br />

Anderson auf einem Flohmarkt in Celle entdeckt und erworben.<br />

Herrn Reinhard Wenzel sei auch an dieser Stelle für die<br />

Genehmigung zur Veröffentlichung des Romantextes durch die<br />

Kreisgemeinschaft <strong>Angerburg</strong> vielm<strong>als</strong> gedankt.<br />

Für ihre freundliche Unterstützung bei der Textbearbeitung, für<br />

zahlreiche Hinweise, Korrekturen und Erläuterungen gilt<br />

herzlicher Dank insbesondere Frau Charlotte Hanke und den Herren<br />

Bernd Brozio, Heinrich Grinda, Horst Labusch, Georg Malz, Stephan<br />

Pastenaci und Bernd Sawatzki.<br />

V


Eduard Anderson hat im Jahre 1887 den vielen älteren<br />

<strong>Angerburg</strong>ern und deren Nachfahren sicher noch bekannten<br />

Superintendenten D. Hermann Adalbert Braun (geb. 9.2.1845 in<br />

Klein Kemlack, Kreis Rastenburg, gest. 22.4.1931 in <strong>Angerburg</strong>)<br />

besucht. Dieser schätzte Eduard Anderson <strong>als</strong> leidenschaftlichen<br />

Heimat- und Ahnenforscher schottischer Abstammung. Braun<br />

schrieb in seinem Lebenswerk „Aus der Masurischen Heimat“<br />

(1888/1926, S. 27) über die Andersons in <strong>Angerburg</strong> und den<br />

Roman von Eduard Anderson das Folgende:<br />

„...Am bekanntesten ist hier die schottische Familie Anderson.<br />

Wilhelm Anderson kam 1648 nach <strong>Angerburg</strong> und kaufte von<br />

George Wilson ein Mälzenbräuergrundstück. Es war ein sehr<br />

betriebsamer Mann, denn er übernahm auch die hiesige<br />

Eisenfabrik, welche bis zu ihrer Zerstörung durch die Tartaren<br />

1657 am Orte blühte. Von dem großen Vertrauen, das sich dieser<br />

Mann hier erworben, zeugt der Umstand, dass er bald<br />

Ratsverwandter wurde. Er hinterließ 9 Kinder, von denen der eine<br />

Pfarrer in Rosengarten wurde. Sein Sohn Thomas Anderson wurde<br />

sogar Bürgermeister und starb 1710 an der Pest. Auch dessen<br />

Sohn Bernhard Anderson war Bürgermeister hierselbst. Großer<br />

Kinderreichtum zeichnete diese schottische Familie von jeher aus.<br />

Viele tüchtige Geistliche hat sie unserer Provinz geschenkt.<br />

Nachkommen dieser <strong>Angerburg</strong>er Bürgermeisterfamilie Anderson<br />

leben noch in Ostpreußen. Der eine ist Pfarrer zu Schön fließ, im<br />

Kreise Rastenburg, und dessen älterer Bruder Eduard Hermann<br />

Johannes Anderson ist Präzentor in Popelken (Herrn Präzentor<br />

Anderson, der allerlei Nachrichten über unsere Stadt gesammelt,<br />

verdankt der Verfasser sehr viele interessante Mitteilungen.)<br />

Letzterer hat eine kulturhistorische Erzählung „Thomas Anderson“<br />

verfasst, deren Örtlichkeit die hiesige Stadt ist, und die [sich]<br />

durch historische Treue, volkstümliche Sprache und lebhafte<br />

Schilderung auszeichnet und uns die Menschen, die hier in<br />

<strong>Angerburg</strong> und Umgegend vor 200 Jahren gelebt haben, so<br />

vorführt, <strong>als</strong> ob wir sie mit unseren leiblichen Augen vor uns sehen.<br />

(Rogge in Darkehmen, <strong>als</strong> Geschichtsforscher bekannt, schreibt in<br />

einem Brief an Anderson, „dass die Erzählung ein Kulturbild<br />

liefere, wie es für unsere Provinz noch nicht existiert“. Leider ist<br />

das Manuskript dieser hochinteressanten Erzählung noch nicht<br />

gedruckt...)“.<br />

VI


Die von Braun i. J. 1888 gewürdigte kulturhistorische Erzählung<br />

„Thomas Anderson“ liegt nun hier <strong>als</strong> Roman „Der Kaufherr<br />

Thomas Anderson“, mit den o.g. kleineren Änderungen, vor.<br />

Wann genau die Familie Anderson nach Preußen kam, lässt sich<br />

nicht konkret nachweisen. Horst Kenkel stellt in seinem Beitrag<br />

„Schotten in Ostpreußen“, (APG NF 25. (1977) Bd. 10, S. 84-88,<br />

hier: S. 84) fest, dass die Schotten schon zur Ordenszeit zahlreich<br />

in Preußen vertreten waren. Es soll sich, im Gegensatz zu den<br />

reichen seefahrenden Kaufleuten aus England, ausschließlich um<br />

arme Auswanderer gehandelt haben, die <strong>als</strong> Höker, Hausierer und<br />

„Paudelkrämer“ für die einheimischen Kaufleute und Krämer eine<br />

lästige Konkurrenz bildeten. Man begegnete ihnen mit aller<br />

Feindseligkeit und ließ sie anfänglich keinen Grundbesitz in<br />

Preußen erwerben. Im Laufe des 17. Jahrhunderts traten sie aber<br />

bereits <strong>als</strong> Kaufleute auf und wurden in Königsberg wegen ihrer<br />

Behausungen und Geschäfte in Kellern <strong>als</strong> „Kellerschotten“<br />

bezeichnet. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich dann<br />

einige Familien, wie die Andersons in <strong>Angerburg</strong>, zu Wohlstand<br />

oder gar Reichtum empor gearbeitet. In einem „Verzeichniß der<br />

hin und wieder Reisenden Schottischen Kremer ihre Namen, so<br />

mir Jacob Kork bekandt und wißende, welche sich binnen in den<br />

Umkreiß deß Fürstentumbs Preussen aufhaltende“, hatte der<br />

Beauftragte Kork, der selber aus Schottland stammte, i. J. 1615<br />

insgesamt 410 mit Kramwaren Handelnde in Preussen gezählt.<br />

Davon zählte er 53 Schotten in den Ämtern Rastenburg,<br />

<strong>Angerburg</strong> und Barten [GStA PK: Etats-Min. 20a, Nr.2] auf. In<br />

diesem Verzeichnis findet man 5mal den Namen Anderßon,<br />

nämlich Alexander, Daniel, Evertt, Heinrich und Josepff Anderßon.<br />

Nach der o.g. Überlieferung von Superintendent Braun ist<br />

Wilhelm Anderson i. J. 1648 nach <strong>Angerburg</strong> gekommen. Ob er<br />

von einem der 5 in Preußen gezählten Anderßon abstammt, kann<br />

hier leider nicht festgestellt werden. Braun schreibt in seinem o.g.<br />

Buch (S. 26) zu den ersten schottischen Ansiedlern in <strong>Angerburg</strong>:<br />

„Nicht nur Polen, sondern auch Schotten fanden in <strong>Angerburg</strong><br />

gastliche Aufnahme. Schon im 15. Jahrhundert waren Schotten<br />

mit ihren Laken (Tüchern) nach Danzig gekommen, wo sie das bis<br />

heute sogenannte „englische Haus“ erwarben, doch die<br />

eifersüchtigen Danziger Kaufleute sperrten dieses Handelshaus mit<br />

Ketten ab. Im Jahre 1588 gab der Polenkönig der Stadt Elbing das<br />

Recht, schottische Kaufleute aufzunehmen. Nun blühte Elbings<br />

Handel sichtbar empor, denn diese Schotten zeichneten sich durch<br />

Redlichkeit, Klugheit und Fleiß sehr vorteilhaft aus. Im 17.<br />

VII


Jahrhundert finden [sich] die Schotten in vielen Städten Preußens<br />

z.B. in Memel (wo heute noch die eine Kirche „Schotten-Kirche“<br />

genannt wird), Bartenstein, Schippenbeil, Insterburg u.a.m.<br />

Aber diesen Einwanderern wurde die Niederlassung allenthalben<br />

erschwert, am meisten in Rastenburg. Hier hatte im Jahre 1612<br />

ein Johann Starcovius eine Spott- und Schmähschrift auf „die<br />

schottische Nation“ verfasst und verbreitet. Die in Rastenburg<br />

ansässigen Schotten wandten sich an den König Jacob von Groß-<br />

Brittanien und dieser beschwerte sich wieder beim Kurfürsten in<br />

Berlin. Die Rastenburger mussten alle verbreiteten Exemplare<br />

dieser Schmähschrift an die Regierung bei Vermeidung von Strafe<br />

abliefern. Der Verfasser Starcovius musste widerrufen, wurde<br />

trotzdem laut Urteil des Hofgerichts mit dem Schwerte<br />

hingerichtet. Gleichwohl nahm die Stadt Rastenburg die Bürger<br />

nicht <strong>als</strong> Bürger auf, denn die „Willkühr“ der Stadt Rastenburg<br />

setzte Cap. III, § 4 fest:<br />

„Es soll keinem Schotten allhier zu Rastenburg alter Gewohnheit<br />

nach das Bürgerrecht gegeben werden.“<br />

Infolge dessen wanderte der Schotte Daniel Wilson 1626 nach<br />

der benachbarten Stadt <strong>Angerburg</strong>, wo man duldsamer war.<br />

Später zog Thomas Hamilton ihm nach und erwarb bereits 1647<br />

von Michael Link ein Mälzenbräuergrundstück…“<br />

Die Geschichte von Thomas Anderson, dem Sohn des 1657 in<br />

<strong>Angerburg</strong> eingewanderten Wilhelm Anderson, endet mit der<br />

Tragödie der großen Pest der Jahre 1709/1710. Der zum<br />

Bürgermeister der Stadt <strong>Angerburg</strong> empor gestiegene Kaufmann<br />

stirbt neben 1110 <strong>Angerburg</strong>ern an der grassierenden Seuche. Im<br />

ältesten Kirchenbuch der Stadt hinterlässt sein Nachfahre Eduard<br />

Anderson eine Abschrift „aus dem Gedenkbuche des Thomas<br />

Anderson“ (s. Anhang 1), das Thomas A. selber verfasste und<br />

seine Söhne nach seinem Tod zu Ende führten. Eduard Anderson<br />

hat diese Familiennachrichten aus dem Gedenkbuch seiner<br />

<strong>Angerburg</strong>er Ahnen wohl eigenhändig in das <strong>Angerburg</strong>er<br />

Kirchenbuch übertragen, nachdem ihm dieses zum Studium von<br />

Superintendent Braun von Dezember 1885 bis April 1886<br />

anvertraut wurde. Diese Einträge können noch heute in dem 1938<br />

verfilmten <strong>Angerburg</strong>er Kirchenbuch bei den Forschungsstellen der<br />

Mormonen (LDS) gelesen werden [Filmnr. 1198173/74], obwohl<br />

das Original im 2. Weltkrieg, neben vielen anderen Kirchenbüchern<br />

Ostpreußens, vernichtet wurde.<br />

Norbert Skowron (September 2008)<br />

VIII


Eduard Anderson : Biografischer Abriss<br />

Eduard Hermann Johannes Anderson wurde am 21. Januar 1827<br />

im ermländischen Guttstadt geboren. Sein Vater war Eduard<br />

Wilhelm Anderson a , der zum Zeitpunkt der Geburt seines ältesten<br />

Sohnes eine Pfarrstelle in Guttstadt bekleidete.<br />

Eduard b Anderson hat die ersten zehn Lebensjahre in Guttstadt<br />

verbracht. 1837 siedelte die Familie nach Kgl. Blumenau um, wo<br />

der Vater eine andere Pfarrstelle erhalten hatte, die er bis zu<br />

seinem Ruhestand (1870) innehatte. Das südlich von Elbing<br />

zwischen dem Sorgefluss und dem Oberländischen Kanal gelegene<br />

Kirchdorf Kgl. Blumenau im Kreis Pr. Holland war 1299 von der<br />

Komturei Christburg aus gegründet worden. Das Kirchengebäude<br />

war ein Feldstein- und Ziegelbau aus dem 14. Jhdt., in dem zu<br />

Andersons Zeit noch Reste der mittelalterlichen Ausstattung<br />

vorhanden waren. Im Einzugsbereich des Kirchspiels liegt das<br />

Schlachtfeld an der Sorge, wo 1233 der Landmeister des<br />

Deutschen Ordens, Hermann Balk, zusammen mit dem<br />

Pommernherzog Swantopolk ein Aufgebot heidnischer Prussen<br />

geschlagen hat. Von diesem Ereignis zeugten Pfeilspitzen, Sporen<br />

und Pferdegebisse, die im Gutsgebäude von Jankendorf<br />

aufbewahrt wurden. Am Sorgeufer fand man prussische<br />

Grabstätten und Urnen. Dieses so geschichtsträchtige Umfeld des<br />

Kirchdorfs mag das frühe Interesse des jungen Eduard Anderson<br />

an Fragen der preußischen Geschichte geweckt haben, der er<br />

lebenslang verbunden bleiben sollte. Seine erste schulische<br />

Ausbildung hatte Eduard Anderson in den für jene Zeit typischen<br />

Einrichtungen erhalten, in denen <strong>als</strong> Lehrer Personen unterrichteten,<br />

die daneben noch andere Aufgaben erfüllten, z.B. das Organisten-<br />

und Küsteramt. Danach hatten ihn Hauslehrer unterrichtet.<br />

1842 schickte ihn der Vater – zusammen mit seinem<br />

a Eduard Wilhelm Anderson wurde am 8.4.1792 in Mallwischken, Kr. Schloßberg geboren<br />

und verstarb am 14.9.1872 in Pr. Holland. Nach dem Studium in Königsberg und der<br />

Teilnahme an dem Feldzug nach Frankreich (1815) wurde er 1816 ordiniert. Zunächst <strong>als</strong><br />

Gymnasiallehrer in Rastenburg tätig, bekleidete er eine Pfarrstelle zuerst in Guttstadt und<br />

danach in Kgl. Blumenau. Er war mit Emilie Karck verheiratet. Seine Erlebnisse während des<br />

Feldzuges gegen Napoleon I. im Jahre 1815 hat Eduard Wilhelm Anderson in einem Tagebuch<br />

festgehalten, das in der Altpr. Monatsschr. 52ff. abgedruckt wurde.<br />

b Wenn im weiteren Text von Eduard Anderson oder Eduard gesprochen wird, so ist immer<br />

Eduard Hermann Johannes Anderson gemeint.<br />

IX


jüngeren Bruder Heinrich c auf das Kneiphöfsche Gymnasium nach<br />

Königsberg, das er bis zur Primarreife im Jahre 1845 besuchte.<br />

Danach wechselte Eduard auf die Malakademie d , wo Julius<br />

Baumann zu einem seiner ersten Lehrer zählte. Ausschlaggebend<br />

für diese Wahl dürfte wohl die sicher früh erkannte zeichnerische<br />

Begabung Eduard Andersons gewesen sein, von der zahlreiche<br />

Zeugnisse in seinem Nachlass e vorhanden waren. Zu der<br />

zeichnerischen Begabung kam außerdem eine musikalische. Schon<br />

früh spielte Eduard Geige und Klavier und bezauberte mit seinem<br />

Vortrag die zahlreichen in Königsberg wohnenden Angehörigen<br />

seiner Familie. Der junge Anderson nutze in Königsberg gerne das<br />

kulturelle Angebot der Stadt: Er besuchte, häufig begleitet von<br />

seiner sehr agilen Tante Amalie Anderson, das Stadtmuseum,<br />

zuweilen auch Opernaufführungen im Stadttheater. Die Ferien<br />

verbrachte Eduard meistens in der elterlichen Pfarrei in Kgl.<br />

Blumenau. Bei einer Sommerreise ins Oberland im Jahre 1847 ließ er<br />

sich nicht nur von den Naturschönheiten dieser Landschaft<br />

beeindrucken, sondern zeichnete auch Kirchen, Pfarrhäuser und<br />

Pfarrerfamilien. Viele Motive für seine zeichnerischen Ambitionen<br />

boten die kleineren Städte in der Nachbarschaft der Kgl.<br />

Blumenauer Pfarrgemeinde. Die alten Handelsstädte Danzig und<br />

Elbing standen natürlich auch auf seinem Reiseprogramm, denn<br />

hier erwarteten ihn andersartige Erlebnisse <strong>als</strong> in dem idyllischen<br />

Umfeld seines Elternhauses. Die 1853 durchgeführte Reise nach<br />

Dresden, wo er von Freunden seines Vaters freundlich<br />

aufgenommen wurde, dürfte sich Eduard wegen der reichen<br />

Kunstsammlungen der Stadt besonders eingeprägt haben.<br />

Ende 1850 ist eine kürzere Unterbrechung bei Eduards<br />

Reisetätigkeit festzustellen, ausgelöst durch militärische<br />

Verpflichtungen, denen er in Berlin beim Alexanderregiment<br />

(Standort Spandau) nachzukommen hatte. Die genaueren<br />

Umstände bleiben unklar, aber im Verlaufe des Jahres 1851 scheint<br />

Eduard einer Beschäftigung am Kupferstichkabinett in Berlin<br />

nachgegangen zu sein. Er besuchte hier auch<br />

c Geboren 1829 in Guttstadt, gestorben 1902 in Münster.<br />

d Gemeint ist hier die 1841 durch den ostpr. Oberpräsidenten Theodor v. Schön und Prof.<br />

Ernst August Hagen in Königsberg eröffnete Kunstakademie. Direktor der Kunstakademie war<br />

von 1845-1874 der Historienmaler Ludwig Rosenfelder (1813-1881). Neben der<br />

Kunstakademie existierte in Königsberg noch die um 1790 gegründete Kunst- und<br />

Gewerkschule.<br />

e Soweit heute noch erhalten, dürfte dieser sich in Privatbesitz befinden.<br />

X


Kunstsammlungen, Theater, und Konzerte und erteilte nebenbei<br />

Zeichenunterricht, um seinen Aufenthalt finanzieren zu können.<br />

Ende 1853 wieder in Ostpreußen, bemühte er sich um<br />

Malaufträge, vor allem in Braunsberg und in Labiau, und hatte<br />

dabei auch recht gute Erfolge zu verzeichnen, besonders in<br />

Labiau. Diese scheinen aber nicht von langer Dauer gewesen zu<br />

sein, so dass er sich in Gumbinnen bei Schulrat Bock um eine<br />

Zeichenlehrerstelle bewarb, leider ohne Erfolg. Weil es offenbar<br />

sehr schwer fiel, seinen Lebensunterhalt alleine durch<br />

Zeichenkunst und Malerei zu bestreiten, versuchte Eduard, seine<br />

Kenntnisse und beruflichen Fähigkeiten zu erweitern und<br />

entdeckte dabei <strong>als</strong> für ihn interessantes Feld die ja noch in den<br />

Kinderschuhen steckende Fotografie. Das Fotografieren macht<br />

Eduard großen Spaß, es gelingen ihm, wenn auch nur bei klarem<br />

Wetter, einige hübsche Aufnahmen, aber die Zahl der Aufträge<br />

entspricht nicht seinen Erwartungen.<br />

In der Hoffnung, in Gumbinnen eine Anstellung <strong>als</strong><br />

Zeichenlehrer zu erhalten, hatte Eduard sich dort schon eine<br />

Wohnung reservieren lassen, und Ende 1855 zog er nach<br />

Gumbinnen. Aber die von Schulrat Bock in Aussicht gestellte<br />

Anstellung ließ auf sich warten. Eduard bestritt seinen<br />

Lebensunterhalt deshalb vornehmlich durch die Erteilung von<br />

Privatunterricht. Aber er verdiente dabei nur wenig.<br />

Eduards Entschluss, Dorfschullehrer zu werden, scheint Ende der<br />

50er Jahre festgestanden zu haben. 1857 besuchte er das<br />

Lehrerseminar im kgl. Waisenhaus f in Königsberg . Nach<br />

abgelegten Examina in Karalene g war er ab 1858 <strong>als</strong> Lehrer in<br />

Wischwill h tätig. Zwischendurch hatte er Litauisch gelernt, ein<br />

unabdingbares Erfordernis für einen Lehrberuf in Gegenden mit<br />

noch starkem litauischen Bevölkerungsanteil wie gerade in den<br />

nordöstlichen Gebieten Ostpreußens. 1860 berichtete Eduard, dass<br />

er sich zum Rektorexamen melden müsse, um eine besser dotierte<br />

Stelle zu bekommen <strong>als</strong> die in Wischwill. Nahe Jurgaitschen i , in<br />

dem Dörfchen Giggarn j erhält er in demselben Jahre tatsächlich<br />

f<br />

Das kgl. Waisenhaus am Sackheimer Tor wurde 1701 von Kg. Friedrich I. gestiftet. 1825<br />

wurde hier ein Lehrerseminar eingerichtet, welches bis 1870 bestand und dann nach Schloss<br />

Waldau verlegt wurde.<br />

g<br />

In der Nähe von Insterburg gelegen.<br />

h<br />

Wischwill: Kirchdorf im Kr. Tilsit-Ragnit, 825 Einwohner.<br />

i<br />

Jurgaitschen, später Königskirch: Kirchdorf im Kr. Tilsit-Ragnit.<br />

j<br />

Giggarn, später Girren, Ksp. Jurgaitschen, Kr Tilsit-Ragnit.<br />

XI


eine feste Anstellung <strong>als</strong> Dorfschullehrer, die er bis April 1867<br />

behalten wird. Er verfügt <strong>jetzt</strong> zwar über ziemlich gesicherte<br />

Einkünfte, anders <strong>als</strong> in der Zeit <strong>als</strong> freiberuflicher Kunstzeichner<br />

und Fotograf, aber diese sind äußerst bescheiden und belaufen<br />

sich auf jährlich nur 36 Rth k und 30 Silbergroschen. Hinzu<br />

kommen Naturalleistungen (Kalende) von den Einwohnern des<br />

Schulbezirks sowie die Erträge aus dem Schulland, das ihm zur<br />

Nutzung zugewiesen ist. Waren allerdings die Ernten schlecht, so<br />

fielen auch die Naturalleistungen der Bauern geringer aus, <strong>als</strong><br />

zugesichert war. Eduard Anderson war in dieser Hinsicht aber<br />

durchaus kein Einzelfall. Die finanzielle Lage der preußischen<br />

Dorfschullehrer war in dieser Zeit überall noch eine sehr schlechte.<br />

Die Schule in Giggarn besuchten 1860 insg. 69 Kinder, davon 19<br />

Hütekinder l . 50 Kinder stammten aus deutschsprachigen Familien,<br />

19 aus litauischen, die kein Deutsch beherrschten.<br />

Nachdem durch die Anstellung in Giggarn seine wirtschaftliche<br />

Existenz einigermaßen abgesichert war, entschloss sich Eduard<br />

Anderson 1861 zur Heirat. Seine Wahl fiel auf Auguste Domnick<br />

aus Ußlöken m . Ihr Leben in dem abgelegenen Niederungsdorf hat<br />

Eduard in Versen beschrieben und auch seine Braut und das<br />

Anwesen ihrer Eltern im Bilde festgehalten. Das frisch getraute<br />

Ehepaar Anderson soll trotz der kargen materiellen<br />

Lebensumstände in Giggarn recht zufrieden gewesen sein und sich<br />

seiner gemütlichen Häuslichkeit erfreut haben, so berichten<br />

zumindest Beobachter aus dem familiären Umkreis. Es gab<br />

zunächst keine drückenden finanziellen Sorgen n , und das Eheleben<br />

verlief harmonisch. Ablenkung brachten dem sehr<br />

kommunikativen und freundlichen Paar viele Besuche von<br />

Verwandten und befreundeten Familien aus der Nachbarschaft o ,<br />

vor allem am Wochenende und an Feiertagen, sowie<br />

Gegenbesuche anlässlich von Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen<br />

u.a. Eduard erfreute sich einer sehr stabilen Gesundheit. Seine<br />

Frau litt allerdings lange Zeit an einem lästigen Mundgeschwür,<br />

k<br />

Rth = Reichstaler.<br />

l<br />

So wurden die Kinder bezeichnet, die das Vieh ihrer Eltern hüten mussten und dafür<br />

zeitweise vom Schulbesuch befreit waren.<br />

m<br />

Ußlöken (auch Ußlöknen, Uszlöknen), Kr. Niederung.<br />

n<br />

Die Familie wurde durch Butterpakete der Schwiegereltern aus Ußlöken und durch<br />

Geldbeträge, vor allem von Eduards Vater, dem Pfarrer in Kgl. Blumenau, unterstützt.<br />

o<br />

Besonders freundschaftlich ist der Kontakt mit der Lehrersfamilie Pastenaci und der<br />

Pfarrersfamilie Herford in Jurgaitschen, ebenso mit dem Lehrer Lamprecht in Schillupischken.<br />

XII


das sich entwickelt hatte, nachdem ihr ein Dorfschmied einen<br />

Zahn gezogen hatte. Auch stellten sich andere Krankheiten ein,<br />

die wohl durch die starke Arbeitsbelastung ausgelöst wurden,<br />

denen sie ausgesetzt war. Eduard Anderson hatte nicht nur sein<br />

Amt <strong>als</strong> Lehrer zu versehen, sondern musste sich auch um die<br />

Bewirtschaftung des Schullandes kümmern und alles organisieren,<br />

was damit im Zusammenhang stand. In seinem Tagebuch p<br />

beschreibt er den Arbeitsalltag recht anschaulich. Und dieser war<br />

im Jahresablauf geprägt durch Pflügen, Säen, Dreschen,<br />

Schweineschlachten, Flachsbraaken, Torfstechen, die Nussernte im<br />

Wald zwischen Giggarn und Schillupischken q und vieles andere.<br />

Umso mehr ist es deshalb zu bewundern, dass Eduard Anderson<br />

auch noch Zeit und Gelegenheit fand, seinen künstlerischen,<br />

literarischen und musikalischen Interessen nachzugehen. Von der<br />

dafür aufzubringenden Zeit einmal abgesehen, waren die dafür<br />

erforderlichen Voraussetzungen in Giggarn kaum gegeben, vor<br />

allem seitdem dort die ersten Kinder geboren wurden. „Bei<br />

Andersons brennt abends nur eine Lampe, am Tisch ist kein Platz<br />

für Eduard.“ Ihm zugeschickte Werke von Fritz Reuter liest er im<br />

Halbdunkel. Trotzdem ist er schriftstellerisch tätig, wobei heimat-<br />

und familienkundliche Themen ja schon früh sein besonderes<br />

Interesse ausgelöst haben. Lange Zeit hindurch beschäftigt er sich<br />

z.B. mit der Geschichte der Kirche von Kussen r , deren<br />

Beschreibung er 1865 abschließt. Auch an einem Beitrag über<br />

einen seiner Vorfahren, Gustav Naugardt, hat er gearbeitet s .<br />

Ebenso beschäftigte er sich mit der Lebensgeschichte seines<br />

Vorfahren Otto Friedrich Fiedler.<br />

Eduard Andersons Interesse an der Familienforschung, das u.a.<br />

durch die o.g. Beiträge dokumentiert wird, haben seine<br />

Verwandten, von seinem Vater vielleicht abgesehen, nicht geteilt.<br />

Bei der Materialbeschaffung und Auswertung war er meist auf sich<br />

alleine gestellt.<br />

Während der Sommerferien des Jahres 1864 hielt sich Eduard<br />

Anderson in <strong>Angerburg</strong> auf, um hier nach Spuren der Anderson-<br />

p<br />

Eduard Anderson hat über längere Zeit ein Tagebuch geführt, das bis zum Jahre 1867 von<br />

seiner Biographin Elfriede Wiesner ausgewertet wurde. Für die spätere Zeit greift diese<br />

vornehmlich auf die ihr noch zugänglich gewesene Familienkorrespondenz zurück.<br />

q<br />

Schillupischken, später Fichtenfließ, Kr. Tilsit.<br />

r<br />

Kussen: Kirchdorf im Kr. Pillkallen (Schloßberg).<br />

s<br />

Dieser Beitrag soll vor 1866 angeblich in den Preußischen Provinzialblättern veröffentlicht<br />

worden sein.<br />

XIII


Familie zu suchen. Es ist zu vermuten, dass einer der Anlässe für<br />

diese Reise war, in den städtischen und kirchlichen Archivalien<br />

<strong>Angerburg</strong>s nach weiterem Quellenmaterial für seinen Roman über<br />

den Kaufherrn Thomas Anderson zu suchen, den er wohl schon in<br />

den 50er Jahren in Angriff genommen hatte. Die Realisierung<br />

dieses Projektes dauerte noch bis zum Jahre 1872, <strong>als</strong> er das<br />

fertige Manuskript seinem Vater überreichen konnte t . Im Jahre<br />

1864 war in Kgl. Blumenau seine Mutter verstorben. Sein Vater<br />

gab nach seiner Pensionierung (1870) den eigenen Hausstand auf<br />

und zog mit seiner Tochter Lydia nach Pr. Holland, wo auch sein<br />

zweitgeborener Sohn Heinrich mit Familie lebten.<br />

Eine besondere Rolle spielte in Eduard Andersons Leben der<br />

Altertumsforscher, Philologe Dichter und Maler Karl Eduard<br />

Gisevius u , seit 1825 Gymnasiallehrer in Tilsit. Er hat z.B. 1865 die<br />

Andersons in Giggarn besucht, war begeistert, <strong>als</strong> ihm dort junge<br />

Mädchen aus der Nachbarschaft litauische Lieder (Dainos)<br />

vorsangen, fand es aber in Andersons Wohnstube nicht „bäurisch“<br />

genug, weil dort eine feine Decke auf dem Tisch lag und ihm<br />

Schinken und Tee serviert wurden. Eduard Anderson stand bis<br />

zum Tode von Gisevius in freundschaftlichem Kontakt und<br />

Gedankenaustausch mit diesem und besaß in ihm einen<br />

hilfsbereiten Berater bei der Schulausbildung seiner älteren Söhne<br />

in Tilsit.<br />

t Aus den uns zugänglichen Aufzeichnungen Eduard Andersons erfahren wir nur wenig<br />

darüber, woraus er seine Kenntnisse über die in diesem Roman geschilderten realen Ereignisse<br />

schöpfte. Genealogische Daten dürften vorrangig aus zur Abfassungszeit und z.T. auch noch<br />

heute vorhandenen Kirchenbüchern stammen, aus denen Eduard unfangreiche Abschriften der<br />

Einträge zu den ihn interessierenden Personen anfertigte. Außerdem hat er sich bei der<br />

Familiengeschichte auf Aufzeichnungen von Thomas Anderson, dem <strong>Angerburg</strong>er<br />

Bürgermeister der Jahre 1703-10, stützen können. Seine Kenntnisse über historische<br />

Ereignisse stammen in erster Linie aus der zu seiner Zeit vorliegenden landesgeschichtlichen<br />

Literatur über Ostpreußen, einschl. der entspr. Lokalliteratur über einzelne Kreise und<br />

Kirchspiele. Sie entsprechen deshalb dem damaligen Erkenntnisstand. Nur selten gibt<br />

Anderson seine Quellen direkt an. Er hält das für „prahlerisch,“ so wird berichtet. Meist legt er<br />

sein durch Lektüre erworbenes Wissen den im Roman auftretenden Personen in den Mund.<br />

Woher Anderson die bei der Abfassung seines Romans benutzte Literatur bezog, bleibt meist<br />

unerörtert. Vermutlich griff er auf den reichen Königsberger Literaturbestand zurück oder<br />

auch auf Bestände, die sich in den Bibliotheken nahegelegener Städte (Tilsit, Pillkallen,<br />

Lötzen, <strong>Angerburg</strong>) oder in Kirchspiel- und Pfarrbibliotheken befanden.<br />

u Gisevius wurde 1798 in Lyck geboren und verstarb 1880 in Tilsit. Aufgrund eines<br />

Stipendiums Kg. Friedr. Wilh. IV. hat er in den 40er Jahren die litauische Sprache erlernt,<br />

seine Zuneigung zum litauischen Volkstum entdeckt und sich mit dessen Sprache, Literatur<br />

Musik und Volkskunde befasst, wobei er häufig zu romantischen Interpretationen neigte.<br />

XIV


Der Kindersegen hatte sich bei den Andersons bald nach der<br />

Eheschließung eingestellt. 1862 wurde ihr erster Sohn Rudolph<br />

geboren, 1864 Bernhard und 1865 Maria Anna. In Laukischken<br />

und Popelken kamen dann noch weitere Kinder auf die Welt v , zur<br />

Freude der Eltern –aber auch mit zunehmenden wirtschaftlichen<br />

Problemen verbunden. Diese dürften vor allem ausschlaggebend<br />

dafür gewesen sein, dass sich Eduard Anderson, obwohl er sich in<br />

dem ländlichen Umfeld von Giggarn recht wohlfühlte, um eine<br />

besser dotierte Lehrerstelle bemühte. Das gestaltete sich aber<br />

nicht einfach, weil es viele Interessenten dafür gab. Erst im April<br />

1867 erhielt er eine Stelle in Laukischken w und wurde dort im<br />

September von Superintendent Brenke in sein neues Amt<br />

eingeführt, denn die Schulverwaltung unterstand ja in dieser Zeit<br />

noch der Kirche. Andersons Gehalt lag <strong>jetzt</strong> zwar bei 327 Rth<br />

jährlich, aber davon musste er 1/3 an seinen in den Ruhestand<br />

getretenen Amtsvorgänger abtreten. Für seine Verrichtungen <strong>als</strong><br />

Kantor wurden ihm 20 Rth Orgelgeld pro Jahr gezahlt. Anders <strong>als</strong> das<br />

kleine Giggarn war Laukischken ein Kirchdorf, und die<br />

Anwesenheit bei allen Gottesdiensten und bei Leichen-<br />

Begängnissen gehörte zu den Aufgaben des Schulmeisters, dam<strong>als</strong><br />

auch „Praecentor“ genannt. Er war verpflichtet, den Seelsorger der<br />

Gemeinde zu unterstützen, oft auch zu vertreten.<br />

Auch für die Zeit Eduard Andersons in Laukischken und später in<br />

Popelken dürfte das noch weitestgehend zutreffen, was über<br />

seinen Arbeitsalltag in Gigarrn überliefert ist:<br />

„Eduard hat viel zu tun. Er liest fast immer abends vor, gibt auch<br />

außer seinen Schulstunden Privatunterricht, malt Bilder, schreibt für<br />

die Koppitzen und andere Briefe, entwirft und zeichnet Muster,<br />

besorgt Fuhrwerk, Arbeiter, lässt dreschen, pflügen, düngen, Hof<br />

fegen, Torf oder Laubstreu in die Ställe werfen, ausmisten und<br />

Hafer ausputzen. Er wartet die Kinder, wiegt sie ein, zeichnet,<br />

rechnet, besucht Konferenzen, spielt Orgel in der Kirche, liest<br />

Zeitungen und Provinzialblätter, forscht in Kirchenbüchern und<br />

Archiven und ist überhaupt immer tätig“. Dass diese<br />

Beschäftigungen im Tages- und Jahresablauf jeweils andere<br />

Abstufungen zeigten, ist wahrscheinlich, soll aber hier nicht einzeln<br />

verfolgt werden. Zu einem Schwerpunkt der<br />

Freizeitbeschäftigungen Eduard Andersons dürfte aber nach wie<br />

v<br />

Insg. hatte das Ehepaar 11 Kinder, eine für damalige Verhältnisse keine ungewöhnlich große<br />

Zahl.<br />

w<br />

Laukischken: Kirchdorf im Kr. Labiau, 260 Einwohner.<br />

XV


vor das Malen und Zeichnen gehört haben, von dem immer wieder<br />

berichtet wird. Sein Bruder Heinrich erhält anlässlich seiner<br />

Hochzeit in Pr. Holland im Jahre 1864 ein Album mit Zeichnungen<br />

von den Stätten gemeinsam verlebter Jugendjahre in Guttstadt,<br />

Kgl. Blumenau und Königsberg. In Eduards Tagebuch von 1866<br />

sind z.B. anmutige Bilder von seinen Söhnen Rudolf und Max<br />

sowie der Schulstube in Giggarn, dem Wohnhaus und der<br />

Wohnstube der Familie enthalten. Für den Sohn Eugen des<br />

Pfarrers Herford von Jurgaitschen, der in Thorn Oberlehrer ist,<br />

zeichnet Eduard 1867 Dorfansichten von Jurgaitschen und<br />

übersendet sie dem Auftraggeber. Auch den Aufenthalt im Vorjahr<br />

in Pr. Holland hat er zum Anlass genommen, Ansichten der Stadt<br />

und Innenansichten der Wohnung seines Bruders Heinrich<br />

anzufertigen. Wieder zurück in Königsberg, begibt er sich zu<br />

Professor Ernst August Hagen x und übergibt diesem neue Stücke<br />

für die Kupferstichsammlung und in Giggarn gesammelte<br />

Volkslieder, Spiele und Reime.<br />

Andersons familiären und finanziellen Angelegenheiten bereiten<br />

zunehmend Probleme. Krankheiten seiner Frau und der Kinder<br />

engen seine Spielräume immer stärker ein und vermehren seine<br />

Geldnöte. Nach dem 1872 erfolgten Tod seines Vaters, der ihn<br />

verschiedentlich unterstützt hatte, dürfte seine Finanzsituation<br />

noch prekärer geworden sein. Er bemühte sich deshalb verstärkt<br />

um einträglichere Stellungen, um sein Gehalt etwas aufzubessern.<br />

Nachdem er bei der Besetzung einer freien Lehrerstelle in<br />

Plibischken y nicht berücksichtigt worden war, erhielt er 1873 eine<br />

neue Anstellung in Popelken z . Hier wird er die nächsten 15 Jahre<br />

seiner beruflichen Laufbahn verbringen.<br />

Finanziell war Eduard Anderson durch die Übernahme der<br />

Lehrerstelle in Popelken besser gestellt <strong>als</strong> in Laukischken. In<br />

guten Jahren war hier mit einem Gehalt von etwa 900 Rth zu<br />

rechnen. An den Amtsvorgänger Mertin mussten davon 307 Rth.<br />

abgeführt werden. Aber auch die arbeitsmäßige Belastung<br />

verstärkte sich, vor allem durch die Übernahme von<br />

x<br />

Dieser wurde 1797 in Königsberg geboren und verstarb dort 1880. Nach dem Studium von<br />

Medizin, Kunst und Literatur wurde er 1830 der erste Professor für Kunstgeschichte in<br />

Preußen. Hagen leistete Beachtliches auf dem Gebiet der Kunstgeschichte. Königsberg<br />

verdankt ihm die regelmäßige Abhaltung von Kunstausstellungen sowie den Aufbau des<br />

Kupferstichkabinetts. Er war einer der Mitbegründer der Gemäldegalerie, des Prussia-<br />

Museums und der Kunstakademie.<br />

y<br />

Plibischken: Kirchdorf im Kr. Wehlau.<br />

z<br />

Popelken, später Markthausen: Kirchdorf im Kr. Labiau, 650 Einwohner.<br />

XVI


Schreibarbeiten für die Pfarrei, denn Pfarrer Hahn war<br />

augenleidend. Die der Kirchen- und Schulverwaltung von<br />

staatlicher Seite aufgetragenen Arbeiten waren aber immer<br />

umfangreicher und bürokratischer geworden - vor allem die im<br />

Zusammenhang mit der Land-Schul-Inspektion stehenden<br />

Schreibarbeiten.<br />

Der Arbeitsalltag in Popelken ähnelte dem an den anderen<br />

Wirkungsstätten. Neben seinem Dienst <strong>als</strong> Lehrer und Kantor<br />

musste Eduard Anderson sich um die Bewirtschaftung des<br />

Schullandes und die Betreuung des Kleinviehs kümmern -<br />

wichtigste Grundlagen für die Versorgung der Familie mit<br />

Lebensmitteln. Die Ausgaben überstiegen aber weiterhin die<br />

Einkünfte. Die Kosten für die größer gewordene Familie: für<br />

Bekleidung, Wäsche und Schuhwerk, aber auch Pensions- und<br />

Schulgeld sowie Bücherkauf für die älteren Söhne Rudolph und<br />

Bernhard, desgleichen die Arztkosten für die kleineren Kinder<br />

konnten aus den Einnahmen kaum bestritten werden. Eduard<br />

musste deshalb seinen Bruder Heinrich um die Auszahlung von<br />

Geld bitten, das ihm nach dem Tode seines Vaters zugefallen war.<br />

Auch in späteren Jahren musste er seinen Bruder Heinrich häufiger<br />

um Unterstützung bitten.<br />

Von weiteren Ereignissen aus der Zeit Eduard Andersons in<br />

Popelken seien hier nur noch die wichtigsten genannt: Im Jahre<br />

1882 hat das Ehepaar Anderson den Tod zweier Kinder zu<br />

beklagen, 1886 kann es die Silberhochzeit feiern. Einen besonders<br />

schmerzlichen Verlust erleidet Eduard Anderson durch den<br />

plötzlichen Tod seiner Ehefrau Auguste im April 1887. Wirtschaft<br />

und Versorgung der Familie, vor allem der drei kleineren Brüder,<br />

muss <strong>jetzt</strong> Tochter Anna aa übernehmen. Trotz dieser schwierigen<br />

familiären Situation unternahm Eduard Anderson im Mai 1887 eine<br />

mehrtägige Reise nach <strong>Angerburg</strong>. Er war hier Gast des<br />

Superintendenten Hermann Adalbert Braun bb und führte mit<br />

diesem anregende Gespräche über Kirchenfragen. Braun führte<br />

ihn durch die Kirche und erläuterte die dortigen Kunstgegenstände<br />

und Denkmäler ausführlich. Andersons Hauptinteresse aber galt<br />

zweifellos der Bibliothek im <strong>Angerburg</strong>er Synodalgebäude und den<br />

dort aufbewahrten Kirchenbüchern, aus denen er viele Auszüge<br />

aa Geboren 1867 in Laukischken, gestorben 1900 in Königsberg.<br />

bb Hermann Adalbert Braun wurde 1845 in Kl. Kemlack, Kr. Rastenburg, geboren und<br />

verstarb 1931 in <strong>Angerburg</strong>. Er war hier seit 1881 Superintendent und Kreisschulinspektor.<br />

XVII


anfertigte. Auch Kirchenbücher aus Benkheim, Kutten und<br />

Rosengarten will er hier eingesehen haben.<br />

Im Jahre 1898 trat Eduard Anderson in den Ruhestand und<br />

verlegte seinen Wohnsitz nach Königsberg in die Friedrichstraße.<br />

Seine Tochter Anna führte den Haushalt, verstarb aber zur großen<br />

Erschütterung ihres Vaters schon nach zwei Jahren. Diesen hielt es<br />

nicht lange in der alten Wohnung. Mit seinen Söhnen Otto und<br />

Bruno zusammen, die hier einen Kolonialwaren-und<br />

Delikatessenhandel cc betrieben, zog er 1901 in die Dohnastraße.<br />

„Eduards Wohnzimmer hat zwei große Fenster, an dem einen steht<br />

ein Schreibtisch, daneben der Ruhesessel, den die Herren aus<br />

Popelken dd 1898 schenkten“, so weiß Elfriede Wiesner zu<br />

berichten. Im Schlafzimmer stand das alte Pult von Eduards<br />

Großvater Johann Heinrich ee , vollgestopft mit Schriften und<br />

Büchern. Ob Eduard Anderson zu dieser Zeit aber noch<br />

schriftstellerisch tätig war, ist uns nicht überliefert. Er war auch<br />

während seiner letzten Lebensjahre viel unterwegs und besuchte<br />

Verwandte und alte Freunde. So stattete er auch seiner früheren<br />

Wirkungsstätte in Popelken einen Besuch ab.<br />

Engen Kontakt pflegt Eduard mit seinem Neffen Eduard Wilhelm<br />

Franz ff , dem Sohn seines Bruders Heinrich. Dieser hat auf dem<br />

Gebiet der Malerei ähnliche Interessen und Neigungen wie sein<br />

Onkel. Seitdem der Neffe sich 1891 in Königsberg aufhält, besucht<br />

sein Onkel ihn häufig, wenn er in Königsberg zu tun hat. Und das<br />

ist seit Mitte der 90er Jahre häufiger der Fall, weil Eduard dort in<br />

augenärztlicher Behandlung ist. Auch Eduards Schwester Lydia<br />

cc<br />

Nach der Aufgabe dieses Geschäfts (1903/04) zog Eduard Anderson zusammen mit seinen<br />

Söhnen Rudolph und Bruno in die Rippenstraße.<br />

dd<br />

Offenbar anlässlich der Pensionierung.<br />

ee<br />

Der Großvater Eduards, Johann Heinrich Anderson, war mit Juliane Charlotte Naugardt<br />

verheiratet.<br />

ff<br />

Eduard Wilhelm Franz Anderson wurde 1873 in Pr. Holland geboren und verstarb 1947 in<br />

Stade. Er war Absolvent der Königsberger Kunstakademie. Nach Abschluss des Studiums<br />

lebte er in Königsberg <strong>als</strong> freischaffender Künstler und malte vor allen Landschaften mit ostpr.<br />

Motiven. Zwischen 1897 und 1920 war Anderson Betreuer des Kupferstichsammlung der<br />

Albertina und trug <strong>als</strong> Leiter der Ausstellungen des Kunstvereins maßgebend zum Bau der<br />

Kunsthalle am Wrangelturm bei. Auch regte er 1921 die Zusammenführung der bis dahin an<br />

unterschiedlichen Stellen aufgestellten Kunstsammlungen im Schloss an, die auch realisiert<br />

wurde. Ab 1927 war Anderson Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums im Kneiphöfschen<br />

Rathaus, hielt zahlreiche populäre und wissenschaftliche Vorträge und veröffentlichte<br />

heimatkundliche Aufsätze. 1938 pensioniert, vertrat Anderson den neuen Museumsleiter, der<br />

im Kriegsdienst stand, bis 1945.<br />

XVIII


wohnt zu dieser Zeit in Königsberg. Nachdem Eduard seinen<br />

ständigen Wohnsitz in Königsberg hat, vertiefen sich die<br />

Beziehungen zwischen Onkel und Neffen.<br />

1901 stand Königsberg im Mittelpunkt der Feierlichkeiten<br />

anlässlich der hier 1701 erfolgten Krönung des Brandenburger<br />

Kurfürsten zum König. Eduard Anderson hatte aus der<br />

Münzsammlung der Prussia gg eine Schaumünze mit dem Abbild<br />

Friedrichs I. aus dem Jahre 1704 herausgesucht, nach dem der<br />

Bildhauer Borchert hh ein Medaillon des Monarchen angefertigte.<br />

Trotz seines fortgeschrittenen Alters nahm Eduard Anderson<br />

zusammen mit seiner Schwester Lydia an einem Rundgang durch<br />

die festlich illuminierte und von Menschen wimmelnde Stadt teil.<br />

Zum Festakt in der Kunstakademie war er <strong>als</strong> ältestes noch<br />

lebendes Mitglied geladen.<br />

Im September 1901 schickte Eduard Anderson ein Manuskript<br />

seines „Kaufherrn...“ an den Rechtsanwalt Maczkowski in Lyck, der<br />

ihn schon häufiger darum gebeten hatte. Der Empfang wurde ihm<br />

bestätigt, und die Überlassung von 50 Freiexemplaren zugesagt.<br />

Im Herbst sollte eine Veröffentlichung in der Zeitschrift Masovia<br />

erscheinen. Dazu ist es aber nach unserer Kenntnis nicht<br />

gekommen.<br />

...Von einem zwischenzeitlichen Augenleiden abgesehen, erfreute<br />

sich Eduard Anderson auch noch im hohen Alter ziemlich guter<br />

Gesundheit, die ihm das Reisen ermöglichte. Gerne fuhr er z.B. zu<br />

seiner Verwandtschaft nach Schönfließ ii . Aber auch Insterburg,<br />

Gumbinnen und Gerdauen hat er 1903 noch aufgesucht. Trotz<br />

liebevollen Bemühens seiner Söhne und anderer Angehöriger um<br />

ihn verspürte er aber zusehends die Einsamkeit des Alters, vor<br />

allem seit dem Tod seiner Tochter Anna (1900) und dem seines<br />

Bruders Heinrich (1902). Seine Schwester Lydia war beschämt,<br />

gg<br />

Die Altertumsgesellschaft Prussia war der älteste Geschichtsverein Ostpreußens. Sie wurde<br />

anlässlich des 300-jährigen Bestehens der Universität Königsberg im Jahre 1844 gegründet.<br />

Wie die Rheinische Altertumsgesellschaft sich im Westen Preußens der Erforschung der<br />

keltischen, germanischen und römischen Vergangenheit widmete, wollte die Prussia im<br />

östlichen Preußen die Spuren der Prussen und ihrer Vorgänger sichern. Die früh- und<br />

vorgeschichtliche Archäologie stand hier zunächst im Vordergrund. Die Erforschung der<br />

Ordensgeschichte wurde erst seit den 80er Jahren des 19. Jhdts. stärker einbezogen. Die<br />

Ergebnisse sind in den Jahresberichten der Altertumsgesellschaft Prussia und des Museums<br />

niedergelegt worden.<br />

hh<br />

Paul Borchert (1868 - 1930) war Schüler der Kunstakademie und danach <strong>als</strong> Bildhauer in<br />

Königsberg tätig.<br />

ii<br />

Gemeint ist hier wohl Schönfließ im Kreis Rastenburg.<br />

XIX


ihn an einem Weihnachtsabend alleine vor einem ungeschmückten<br />

Christbaum zu finden.<br />

„Mit 78 Jahren“, so entnehmen wir einem Brief Eduard<br />

Andersons von Ende 1904, „kann man nicht mehr oft auf Besuch<br />

gehen“. In Königsberg hat er aber das kulturelle Geschehen immer<br />

noch verfolgt und war über das kommerzielle Gebaren während<br />

der Kantfeiern jj entsetzt. Ende November 1904 nahm er das letzte<br />

Mal an der Generalversammlung der Prussia im Königsberger<br />

Schloss und an ihrem Stiftungsfest im großen Saal der Palaestra<br />

Albertina kk teil.<br />

Nach nur kurzer Krankheit ist Eduard Anderson am 7. Januar<br />

1905 in Königsberg verstorben. Die Trauerrede während der<br />

Beisetzungsfeier, an der seine sechs Söhne ll , viele andere<br />

Angehörige und Freunde teilnahmen, hielt sein Bruder, der<br />

Pfarrer Franz Anderson. Er hob darin die starke Glaubensbindung<br />

und Nächstenliebe seines Bruders hervor und nannte <strong>als</strong><br />

Lieblingsbeschäftigung des Verstorbenen - neben seinem<br />

Lehrberuf - das „Studium der Vergangenheit“, sowohl das seiner<br />

Familie <strong>als</strong> auch das der preußischen Geschichte und<br />

Kirchengeschichte.<br />

Eduard Anderson steht in der langen Reihe ostpreußischer<br />

Pfarrer und Lehrer, die durch ihre literarische Hinterlassenschaft<br />

zur Vielfalt der geistigen Überlieferung beigetragen haben. Mit<br />

ihrem Schaffen bereichern sie bis heute unsere Kenntnis von der<br />

Landschaft und den Menschen Ostpreußens und ihrer Schicksale -<br />

jeder auf seine Weise.<br />

Georg Malz<br />

jj Im Jahre 1904 wurde des hundersten Todestages von Immanuel Kant (1724 – 1804) gedacht.<br />

kk Dieser 1896 eingeweihte Bau beherbergte die sportlichen Einrichtungen der Universität<br />

Königsberg und verfügte auch über eigene Vortragsräume.<br />

ll Rudolph, Bernhard, Bruno, Ernst, Otto, Willy: die sechs noch lebenden von insgesamt 11<br />

Kindern des Ehepaares.<br />

Literatur: Deutsches Geschlechterbuch 68, S.17f.; Altpreußische Biografie, Bd. 1, S. 13;<br />

Wiesner, Elfriede: Biografie (unveröffentlichtes Manuskript, vor 1957).<br />

XX


Eduard Anderson<br />

Der Kaufherr<br />

Thomas Anderson<br />

Ein Beitrag<br />

zur Kulturgeschichte Ostpreußens<br />

in der Zeit des Großen<br />

Kurfürsten


Meinem hochverehrten Vater<br />

Pfarrer Eduard Wilhelm Anderson<br />

zu seinem 80sten Geburtstage<br />

den 8ten April 1872 gewidmet.


Brief an den Vater vom 4. April 1872<br />

Anliegend übersende ich Dir, mein trautester Vater, einige<br />

Familiennachrichten, die ich, damit sie sich bequemer lesen<br />

lassen, in den Rahmen einer Erzählung gefasst habe; sie ist<br />

allmählich mit vielen Unterbrechungen entstanden und habe ich in<br />

derselben das Zusammengehörige aus meinen seit länger <strong>als</strong> 20<br />

Jahren gesammelten Notizen zusammengetragen.<br />

Die hauptsächlichsten Nachrichten stammen aus den eigenen<br />

Aufzeichnungen des Thomas Anderson, die sich noch erhalten<br />

haben, leider aber desert sind. Da es zu weitschweifig gewesen<br />

wäre, alle von mir benutzten alten Schriften und Bücher<br />

anzuführen, so habe ich nur die Plünderung <strong>Angerburg</strong>s durch die<br />

Tartaren (nach den vier mir zugänglichen Quellen) abschreiben<br />

lassen.<br />

Alle vorgeführten Personen haben dam<strong>als</strong> (1687) in den<br />

geschilderten Verhältnissen gelebt, nur die Namen der Dienstleute<br />

habe ich zum großen Teil willkürlich geben müssen.<br />

Glaubwürdig ist die Erzählung insofern, <strong>als</strong> das Meiste sich so<br />

zugetragen hat, Anderes, was ich nicht mit Quellen belegen kann,<br />

sich so ereignet haben muss, und das Übrige sich so begeben<br />

haben kann, wie es erzählt ist. Eduard Anderson<br />

Aus dem Antwortschreiben des Vaters, Pr. Holland 22. April<br />

1872<br />

Zu meinem Geburtstage erhielt ich aus mancher lieben Hand<br />

wertvolle Geschenke, unter diesen von besonderem Wert für mich<br />

Deine, mit so vieler Mühe und großem Zeitaufwande verfasste und<br />

so wohl geratene Familiengeschichte, in welcher mich nächst der<br />

mir großenteils neuen Kunde von unseren Vorfahren und der<br />

übrigen so zahlreichen Einwanderern aus Schottland – die<br />

anschauliche Schilderung damaliger Landes- und Volkszustände<br />

und Sitten sehr interessiert hat. Doch hat Deine dankenswerte<br />

Arbeit neben diesen ihren Vorzügen – für mich wenigstens – einen<br />

bedeutenden Mangel, sie ist nämlich mit so blasser Tinte<br />

geschrieben, dass sie für meine schwachen Augen fast ganz<br />

unleserlich ist, daher mir durchweg von Lydia 1 vorgelesen werden<br />

musste.<br />

1 D.h. von seiner Tochter, der Schwester Eduard Andersons.<br />

3


1. Ein Unfall auf der Straße hinter Königsberg<br />

An einem trüben Nachmittag im Oktober des Jahres 1687 fuhr<br />

ein bedeckter Planwagen, mit drei starken Pferden bespannt,<br />

langsam nach Süden auf der großen Landstraße, welche von<br />

Königsberg über Rastenburg nach Masuren führt. Mittags hatte der<br />

Wagen das Städtchen Pr. Eylau verlassen, um noch am selben<br />

Tage Bartenstein 2 zu erreichen; doch der Weg bot dam<strong>als</strong><br />

unendliche Schwierigkeiten; da keine Gräben vorhanden waren<br />

und das Land auch meistenteils unbebaut an den Seiten des<br />

Weges lag, so suchte jeder von den Reisenden sich die besten<br />

Stellen aus, um den tief ausgefahrenen Löchern auszuweichen.<br />

Daher hatte die Straße eine ansehnliche Breite. Nur an den Orten,<br />

wo ein Flüsschen den Weg durchschnitt, kamen die Fahrbahnen<br />

bei den schmalen, meistens nur von Knütteln 3 roh<br />

zusammengefügten Brücken ohne Geländer zusammen, um dann<br />

gleich wieder auseinander zu gehen. Zuweilen fehlten die Brücken<br />

ganz, oder waren zerbrochen. Da musste denn eine Furt gesucht<br />

werden und die Pferde zogen den Wagen mit großer Anstrengung<br />

durch Wasser und Morast. Die früh eintretende Dunkelheit und ein<br />

feiner Regen vermehrten noch die Schwierigkeiten des<br />

Weiterkommens.<br />

Vorn saß, in dem mit Ballen und Kisten ziemlich beladenen<br />

Wagen unter dem Schutz des Plandachs, der Kauf- und<br />

Handelsmann Thomas Anderson. Er hatte sich fest in seinen<br />

Radmantel 4 eingewickelt, den breitkrämpigen Schlapphut in die<br />

Stirn gedrückt und das Faustrohr neben sich gelegt. An seiner<br />

Seite saß der polnische Knecht Jasch im kurzen Pelz und hoher<br />

Pelzmütze. Dieser ließ mit einer, für Slaven eigentümlichen Weise<br />

stets zu den Pferden sprechend, fortwährend die geschwungene<br />

Peitsche niederfallen.<br />

Eben hatten die Reisenden eine gefährliche Wegstelle glücklich<br />

überwunden und, den Pferden nach der großen Anstrengung eine<br />

kurze Rast gönnend, angehalten. In der Finsternis war nur der<br />

leise niederrieselnde Regen zu hören, <strong>als</strong> sie plötzlich in geringer<br />

Entfernung vor sich Hilferufe und klagende Stimmen vernahmen.<br />

Schnell wurden die Pferde wieder angetrieben. Nach einer kurzen<br />

2<br />

Stadt 55 km südl. von Königsberg, an der Straße nach Rastenburg.<br />

3<br />

Ungespaltene Äste<br />

4<br />

Kreisförmig zugeschnittener Umhang<br />

4


Strecke erschien rechts auf dem Weg eine dunkle sich bewegende<br />

Masse.<br />

„Zünde schnell die Laterne an“, sagte Thomas in polnischer<br />

Sprache zu Jasch, noch bevor der Wagen hielt. Mitten im Wege<br />

kam eine Frauengestalt dem nahenden Wagen entgegen und bat<br />

mit sanfter und ängstlicher Stimme in polnischer Sprache:<br />

„Um Gottes Barmherzigkeit willen, helft meinem armen Vater;<br />

wir haben unseren Wagen zerbrochen, und <strong>als</strong> mein Vater ihn<br />

aufrichten helfen wollte, fiel er ihm auf den Fuß“.<br />

Thomas hatte schon angehalten. Er sprang von seinem Sitz in<br />

den tiefen Schmutz, nahm die angezündete Laterne und befahl<br />

seinem Jasch, ihm schnell nachzukommen, und folgte dann der<br />

Frauengestalt. Diese sah, dass die Männer sich rüsteten, um zu<br />

dem umgestürzten Wagen zu eilen. Thomas hob die Laterne. Da<br />

standen zwei struppige masurische Pferde, über und über mit<br />

Modder bedeckt, vor einem schmalen leichten Leiterwagen, dessen<br />

linke Hinterachse tief im Schmutz vergraben lag, während die<br />

Deichsel zwischen den Pferdeköpfen hoch emporragte. Hinter dem<br />

Wagen lag auf einem Bunde Erbsenstroh die ächzende Gestalt<br />

eines alten, schwarzgekleideten Mannes, zu dessen Haupte das<br />

Mädchen kniete und sich über ihn beugte.<br />

„Gott Lob, mein Vater“, sagte sie in deutscher Sprache, „es<br />

kommt Hilfe!“<br />

Der polnische Kutscher aber, der so lange untätig und heulend<br />

neben dem Wagen gestanden hatte, wendete sich zu Thomas:<br />

„Herr, wisset, der Herr Diakon hat selbst Schuld. Er ließ zuerst<br />

den Wagen los, und da konnte ich ihn nicht allein halten und<br />

musste ihn auf sein Bein fallen lassen!“<br />

„Da, nimm die Laterne und leuchte“, sagte Thomas zu dem<br />

Knecht, „und du, Jasch, komm her und hilf mir den Herrn Diakon<br />

aufrichten“.<br />

Dies geschah, doch konnte dieser nicht auftreten und musste<br />

wieder auf sein Lager niedergelassen werden. Thomas nahm<br />

wieder die Laterne und beleuchtete das versunkene Gefährt:<br />

„Mit diesem Wagen, würdiger Herr“, sprach er zu dem<br />

wimmernden Diakon, „kommt Ihr nicht fort, das linke Hinterrad ist<br />

herunter und die Achse wahrscheinlich gebrochen. Zuerst müsst<br />

Ihr mit der Jungfer Tochter unter Dach, wollt Ihr meinen Wagen<br />

benutzen, in einer halben Stunde hoffe ich mit Euch den Krug in<br />

5


Zohlen 5 , das hier gleich vor dem Walde liegt, zu erreichen. Mein<br />

Jasch kann mit Euerm Knechte den zerbrochenen Wagen<br />

nachbringen. Als Polen werden sie sich untereinander schon<br />

verständigen“. Darauf stieg Thomas auf seinen Wagen, reichte den<br />

Knechten ein Bündel Stricke, ein Beil, ein halbes Brot und eine<br />

Branntweinflasche, und sagte: „Gebt zuerst den ermatteten<br />

Pferden einen Bissen Brot in Branntwein getaucht; das übrige<br />

mögt ihr dann vertilgen“. Von Decken und Mänteln machte er<br />

dann für den Beschädigten ein Lager zurecht, ließ sich von den<br />

Knechten die auf dem Wege umherliegenden Pakete in den Wagen<br />

reichen und ging zu Vater und Tochter. Letzterer gab er die<br />

Laterne und die drei Männer hoben den Diakon mit Mühe in den<br />

Wagen, wo er im Arm seiner Tochter auf dem ziemlich harten<br />

Lager unter der Plane ruhte.<br />

Thomas nahm, die Laterne den Knechten zurücklassend, die<br />

Leine und fuhr langsam dem Dorf zu. Unterwegs erzählte der<br />

Diakon unter öfterem Stöhnen, dass er vor drei Wochen mit der<br />

Tochter Esther und seinem Sohn Georg aus Lyck ausgefahren war,<br />

um diesen auf die Universität Königsberg zu bringen, <strong>jetzt</strong> seien<br />

sie auf dem Heimweg nach Lyck und wären in Pr. Eylau bei Pfarrer<br />

Kuppelich 6 eingekehrt gewesen.<br />

„Ach, wären wir doch bei ihm zur Nacht geblieben, wie der<br />

freundliche Mann es uns so dringend riet“, sagte das Mädchen.<br />

„Dann hätten wir den Sonntag unterwegs zubringen müssen“,<br />

antwortete halb strafend der Diakon.<br />

Esther seufzte <strong>als</strong> sie daran dachte, dass sie <strong>jetzt</strong> nach dem<br />

Unfall, fern von der Heimat den Sonntag in einem elenden Dorfe<br />

verbringen müssen.<br />

5<br />

Dorf und später Gut im Kreis Pr. Eylau, 2 km südwestlich der Chaussee Bartenstein-Pr.<br />

Eylau gelegen.<br />

6<br />

Sebastian Kuppelich, Pfarrer in Pr. Eylau 1681-1694.<br />

6


2. Ruhepause im Dorfkrug von Zohlen<br />

Der Regen hatte aufgehört, es blieb aber sehr finster. Die<br />

Reisenden kamen sehr langsam fort. Endlich, nach ungeduldigem<br />

Hoffen und Erwarten hörten sie Hundegebell. Einzelne Lichter<br />

schimmerten durch den Nebel, und bald hielt der Wagen in tiefem<br />

Schmutze vor den erleuchteten Fenstern eines langen, niedrigen<br />

Gebäudes, aus dem ein wüster Lärm erschallte.<br />

„Bleibt gütigst auf dem Wagen, würdiger Herr“, sagte Thomas.<br />

„Ich werde sogleich wieder hier sein“.<br />

Mit diesen Worten sprang er zur Erde und eilte in die Krugstube.<br />

Hier schallte ihm das wüste Toben einer trunkenen Gesellschaft<br />

entgegen. Mit Mühe sich durchdrängend, nahm er ohne viele<br />

Umstände zu machen den Wirt beim Arm und ließ ihn nicht eher<br />

los, <strong>als</strong> bis er mit ihm die Räumlichkeiten des Hauses angesehen<br />

hatte. Deren waren aber nur wenige vorhanden. Da der Herr<br />

Diakon nicht in der großen Krugstube bleiben konnte, war nur eine<br />

mit dieser durch eine rohe Tür verbundene Kammer, in der das<br />

Ehebett der Wirtsleute nebst einigem Gerümpel stand, übrig. Ohne<br />

Aufenthalt ließ Thomas die schmutzige Wäsche von der Wirtin aus<br />

dem Bett nehmen und brachte ihre Einwendungen durch einen<br />

Dreipölchner 7 zum Schweigen. Den Wirt immer am Arm haltend,<br />

ließ Thomas einige der am wenigsten betrunkenen Bauern rufen.<br />

Ein Kienspan 8 wurde angezündet, der Wagen in einen Schuppen<br />

gefahren und dann mit Hilfe der Männer der Herr Diakon<br />

behutsam vom Wagen gehoben.<br />

Während der alte Herr langsam durch die Krugstube mehr<br />

getragen <strong>als</strong> geführt wurde, hatte seine Tochter von Decken,<br />

Mänteln und Tüchern ihm das Lager so weich <strong>als</strong> möglich bereitet,<br />

auf das er <strong>jetzt</strong> niedergelegt wurde. Da bei der qualmenden und<br />

stinkenden Lampe, welche die Wirtin in der Hand hatte, nichts zu<br />

sehen war, holte Thomas von seinem Wagen ein dickes Wachslicht<br />

und begann den beschädigten Fuß bei hellem Scheine zu<br />

untersuchen. Esther stand mit überströmenden Augen dabei und<br />

reichte ihrem Vater die Hand. Der Strumpf, mit Blut angeklebt,<br />

ließ sich nicht abziehen, musste <strong>als</strong>o an der Wade der Länge nach<br />

aufgeschnitten und mit Wasser am Schienbein losgeweicht<br />

werden. Nachdem dies unter großem Wimmern des Verletzten<br />

7<br />

Alte polnische Münze.<br />

8<br />

Brennspan<br />

7


endlich geschehen war, erschienen am ganzen Schienbein, vom<br />

Knie ab, nur einzelne blutige Hautfetzen.<br />

„Gott sei Dank, kein Knochen ist entzwei“, sagte Thomas und<br />

sich an die Wirtin wendend „bringe Sie schnell eine Mandel 9 Eier“.<br />

Das Weib starrte ihn mit offenem Munde an.<br />

„Hat Sie nicht gehört, Eier soll Sie bringen, so viel Sie hat“.<br />

Ganz verwundert und kopfschüttelnd ging das Weib und kam<br />

bald mit der Lischke 10 voll Eier zurück.<br />

„Mein liebes Jungferchen“, wandte sich Thomas an Esther,<br />

welche schluchzend neben dem Lager des Vaters kniete und das<br />

Blut abwusch, „sei Sie so gut und zerschlage Sie die Eier und<br />

reiche Sie mir die Schalen; da nichts zerbrochen ist, wird’s Bein<br />

schon besser werden“.<br />

Er nahm darauf die feine, unter der Eierschale befindliche Haut<br />

und legte sie stückweise auf das geschundene Schienbein, wo sie<br />

auf den Wunden festklebte.<br />

„Das ist ein gutes Mittel“, sagte Thomas, während er so<br />

beschäftigt war und Esther ihm die Häutchen zureichte. „Als ich<br />

vor Jahren in Elbing noch Kaufbursche war, habe ich mir an den<br />

Kisten oft genug das Schienbein gestoßen, die Eihaut half immer!“<br />

Als alle wunden Stellen beklebt waren, hörten die stechenden<br />

Schmerzen wirklich auf.<br />

„Ruht <strong>jetzt</strong> den Fuß, würdiger Herr“, sagte Thomas, „ich will<br />

inzwischen sehen, ob in diesem Palast vielleicht etwas zu essen<br />

aufzutreiben ist“.<br />

Zuerst sah er nach seinem Fuhrwerke. Der Wagen stand an der<br />

Stelle des Schuppens, welche noch das meiste Dach über sich<br />

hatte, die müden Pferde noch unausgespannt.<br />

„Es ist ein unnützes, versoffenes Gesindel hier“, murmelte<br />

Thomas in sich hinein, „können für den Doppelhölter 11 nicht<br />

einmal die Pferde ausspannen und abzäumen“.<br />

Er stieg auf den Wagen, nahm etwas herunter und kehrte<br />

schnell zur Krankenstube zurück.<br />

„Nun, würdiger Herr, geht’s besser?“ redete er seinen Patienten<br />

an.<br />

„Ach, meine Glieder sind alle wie zerschlagen, und mich friert<br />

bis auf die Knochen“, antwortete der Diakon.<br />

9<br />

Fünfzehn Stück<br />

10<br />

Henkelkorb<br />

11<br />

Geldstück<br />

8


„Hier bringe ich etwas zu leben“, sagte Thomas, indem er eine<br />

große Lischke und ein Flaschenfutter auf die <strong>als</strong> Tisch dienende<br />

Lade stellte. „Sehe Sie zu, mein liebes Jungferchen, ob Sie da in<br />

der Lischke etwas findet, was dem Vater und Ihr schmeckt“.<br />

Mit diesen Worten öffnete Thomas das Flaschenfutter, nahm<br />

eine dickbauchige Flasche heraus, entkorkte sie und füllte einen<br />

silbernen Becher, der auf den H<strong>als</strong> der Flasche geschoben<br />

gewesen war.<br />

„Auf baldige Genesung“ sprach er, sich verneigend und dem<br />

Diakon zutrinkend.<br />

Dieser nahm dankend den Becher, trank etwas und gab ihn<br />

seiner Tochter: „Trink aus, Esther“, sagte er.<br />

„Nein“ sprach Thomas „aus, bis auf die Neige, sonst hilft’s<br />

nichts“.<br />

Der Diakon trank das Übrige des feurigen spanischen Weins,<br />

legte sich zurück und sprach: „Ach, das wärmte mich, das geht<br />

mir wie Feuer durch die Adern“.<br />

Thomas schenkte den Becher voll: „Auf glückliche Heimkehr,<br />

mein liebes Jungferchen“, sagte er Esther zutrinkend.<br />

Sie knickste dankend, berührte mit den Lippen den Becher und<br />

gab ihn zurück.<br />

„Ach, wenn doch mein Kasten mit Büchern nicht verloren<br />

gegangen sein möchte“, sagte der Diakon.<br />

„Alle Eure Sachen sind mit meinem Wagen hergekommen“,<br />

antwortete Thomas, „ich werde aber noch genau nachsehen, ob<br />

die Bücherkiste darunter ist. Nun versuche der Herr, etwas zu<br />

essen, die Jungfer Tochter wird ihn bedienen, ich muss nach den<br />

Pferden sehen“.<br />

„Der Gerechte erbarmet sich seines Viehes“, sagte der Diakon,<br />

nachdem Thomas sich entfernt hatte. Esther aber packte die<br />

Lischke aus.<br />

Als Thomas herauskam, ertönte ein dumpfes Knurren von<br />

seinem Wagen: „Halt fest, Cerber“, rief er, indem er schnell<br />

hinzusprang.<br />

Einige Gestalten rannten bei seiner Annäherung in’s Dunkel. Auf<br />

der Deichsel aber, dicht am Wagen, kniete ein Kerl von dem Hund<br />

bei der Brust gepackt und in den Wagen gezogen, obgleich er sich<br />

aus Leibeskräften wehrte.<br />

„Spitzbube“, sagte Thomas, indem er mit dem dicken Ende des<br />

gedrehten Peitschenstils auf den Kerl losschlug.<br />

Dieser machte eine gewaltige Anstrengung, von dem Hund<br />

loszukommen, er fiel, einen Teil seines Jackets dem Hunde <strong>als</strong><br />

9


Beute zurücklassend, samt einer Kiste vom Wagen und rannte mit<br />

großer Schnelligkeit davon.<br />

Thomas verfolgte ihn nicht, sondern hielt seinen Cerber zurück,<br />

der daher nicht nachsetzte. Er schaute, den Kopf des schönen<br />

Hundes streichelnd, erwartungsvoll auf die Landstraße. In weiter<br />

Ferne näherte sich auf derselben ein schwankendes Licht langsam,<br />

oft verschwindend, wenn ein Baum oder Strauchwerk sich<br />

vorlegte. Thomas hatte den Pferden nur wenig Heu vorgeworfen<br />

und wartete sehnsüchtig auf die Ankunft der Knechte, während<br />

der wüste Lärm in der Krugstube fortdauerte und zuweilen ein<br />

Betrunkener taumelnd herauskam oder hineinging.<br />

Endlich erschien das Wägelchen des Diakon, mühsam durch den<br />

tiefen Schmutz geschleppt, Jasch fuhr, Joseph saß daneben und<br />

hielt die Laterne. Als Ersterer seinen Herrn erblickte, rief er:<br />

„Gott sei Dank, dass wir da sind, die Pferde hätten beinahe nicht<br />

gezogen“. Nun erzählte er, während er mit Joseph die dampfenden<br />

Pferde ausspannte sehr ausführlich, welch große Mühe es ihnen<br />

gemacht hätte, den versunkenen Wagen aufzurichten, einen Baum<br />

unter die Hinterachse zu binden, die zerrissenen Sielen<br />

zusammenzubinden und durch den tiefen Schmutz endlich<br />

herzukommen.<br />

„Ihr faulen Kerle setztet euch aber noch auf den Wagen und<br />

quältet die armen Pferde, statt die kleine halbe Meile zu Fuß zu<br />

gehen“, sagte Thomas, indem er den zusammengesunkenen, aus<br />

aller Form gebrachten Wagen kopfschüttelnd betrachtete. „Gebt<br />

den Pferden etwas Heu, reibt sie tüchtig mit Stroh ab und bedeckt<br />

sie, ich will inzwischen zusehen, wie diesem Wagen zu helfen ist“,<br />

sagte er zu den Knechten. „Versorgt erst gut die Pferde, dann sollt<br />

ihr auch essen“.<br />

Damit trat er in die Krugstube, wo alles laut und lärmend<br />

durcheinander wogte, und fand nach langem Suchen den Wirt,<br />

welcher mit einigen Kumpanen in einer Ecke zechte und schon<br />

eine etwas schwere Zunge hatte. Auf die Frage nach einem<br />

Schmied entgegnete er, die Schmiede stände dicht neben dem<br />

Krug, der Schmied befände sich unter seinen Gästen und würde<br />

wohl noch nüchtern genug sein, die verlangte Reparatur zu<br />

machen.<br />

Der Schmied wurde aufgefunden. Er verließ auch willig, da ihm<br />

die Aussicht auf eine gute Bezahlung seiner Nachtarbeit eröffnet<br />

war, seine Zechbrüder. Etwas schwankenden Schrittes begab er<br />

sich zu dem Wagen, welcher mit Hilfe der Laterne einer genauen<br />

Besichtigung unterworfen wurde.<br />

10


„Mit dem Zurechtmachen möcht’s schon gehen“, ließ er sich<br />

endlich vernehmen. „Wenn ich nur passendes Eisen hätte, auch ist<br />

mein Junge nicht zu Hause, wer soll den Blasebalg ziehen und mit<br />

dem Possekel 12 schlagen?“ setzte er bedächtig hinzu, indem er die<br />

Mütze hin- und herschob und sich hinter den Ohren kratzte.<br />

Thomas rief seinem Jasch zu und beide zogen verschiedene<br />

Eisenstangen, die unten im Planwagen lagen und etwas<br />

hervorragten, heraus.<br />

„Such’ er sich aus, was er braucht“, sagte Thomas zum<br />

Schmied. „Joseph kann den Blasebalg ziehen, und mein Jasch ist<br />

nicht ganz unbewandert darin, mit dem Possekel<br />

draufzuschlagen“.<br />

Während der Schmied das nötige Eisen abschlug ließ Thomas<br />

zwei seiner Pferde vor den invaliden Wagen spannen und ihn zur<br />

Schmiede bringen. Der Schmied und Joseph folgten nach, und<br />

bald war die Schmiede von der roten Glut der Esse hell erleuchtet,<br />

und das Hämmern erklang.<br />

Thomas brachte zum Vertreiben der langen Weile, wie er<br />

sagte, eine Flasche Branntwein in die Schmiede und ging dann<br />

erst in die Hinterstube des Kruges, wo er den Diakon und seine<br />

Tochter gelassen hatte. Er nahm aber unterwegs das Kästchen,<br />

welches beinahe eine Beute der Diebe geworden war, von seinem<br />

Wagen mit.<br />

Esther hatte die Speisen aus der Lischke zerlegt und zierlich<br />

geordnet auf der weiß bedeckten Lade aufgestellt, welche <strong>als</strong> Tisch<br />

dienen musste. Der Diakon saß im Bette, den beschädigten Fuß<br />

mit nassen Tüchern umwunden.<br />

„Bitt’ um Vergebung“, sagte Thomas, „dass ich so lange warten<br />

ließ, würdiger Herr, doch Euer Wagen musste zuerst zur<br />

Schmiede. Warum habt Ihr aber nicht gegessen?“.<br />

„Wir werden’s doch nicht ohne unseren geehrten Wirt“,<br />

antwortete der Diakon, nahm sein Käppchen ab und sprach ein<br />

Tischgebet, nach welchem er dem frugalen 13 Male alle Ehre antat,<br />

während Esther gewandt die Wirtin machte und Thomas das Amt<br />

des Mundschenken 14 verwaltete.<br />

„Ist auch meine Bücherkiste da?“ fragte kauend der Diakon.<br />

12<br />

Größter Schmiedehammer.<br />

13<br />

Frugal [lat. frugalis] = sparsam, einfach<br />

14<br />

Derjenige, welcher das Getränk eines hohen Herrn in seiner Aufsicht hat, und es bei der<br />

Tafel einschenkt.<br />

11


„Ich glaube wohl, dies wird sie sein“, erwiderte Thomas, den<br />

Kasten von der Erde auf das Bett stellend. „Da sie dem Herrn so<br />

sehr am Herzen liegt, brachte ich sie hinein. Doch wie geht’s mit<br />

dem Fuß?“<br />

„Die Schmerzen sind erträglich“, antwortete der Diakon, „ich<br />

kann den Fuß auch biegen, doch bin ich am ganzen Körper wie<br />

zerschlagen“.<br />

„Versucht zu schlafen, würdiger Herr“, ermahnte Thomas, „und<br />

auch Euch, liebes Jungferchen, wird die Ruhe gut tun, wenn es<br />

auch für jeden, der daran nicht gewöhnt ist, schwer sein wird,<br />

neben dem Spektakel der Krugstube einzuschlafen“.<br />

In der Nebenstube war ein Streit entstanden, wie man aus den<br />

lauter werdenden Stimmen schließen konnte. Dieser wurde immer<br />

heftiger und verwandelte sich bald in eine allgemeine Prügelei.<br />

Esther und ihr Vater fuhren erschreckt auf, <strong>als</strong> sie das Schreien,<br />

Stoßen, Schlagen, sowie Wehrufe hörten. Thomas aber rückte<br />

schnell die Lade vor die Türe, welche noch immer zu öffnen war,<br />

und bat die Erschreckten, sich zu beruhigen. In die Kammer<br />

konnte <strong>jetzt</strong> niemand hinein, und in der Krugstube würde die<br />

Prügelei auch wohl nicht lange dauern. Wirklich zog der Lärm sich<br />

allmählich fort, doch schien der Kampf draußen fortgesetzt zu<br />

werden.<br />

Thomas stellte die Lade bei Seite und wollte die Tür zur<br />

Krugstube öffnen, <strong>als</strong> Esther seine Hand fasste und bittend zu ihm<br />

sagte: „Begebt Euch nicht in Gefahr, Herr, verlasst uns nicht“.<br />

Thomas schaute sie an und schloss die Tür wieder. „Wenn es Sie<br />

beruhigt, mein liebes Jungferchen, so bleibe ich noch. Gefahr hat’s<br />

aber weiter nicht, denn ein Nüchterner ist diesen Betrunkenen<br />

stets überlegen, wenn er nur nicht ängstlich ist“.<br />

Der Lärm der Prügelei zog sich immer weiter in’s Dorf, und nach<br />

einiger Zeit war alles still. Thomas warf die Speisereste in die<br />

Lischke, hing sie auf den Arm, wünschte den beiden eine gute<br />

Nacht und ging zur Schmiede, nachdem er ein Pack vom Wagen<br />

genommen und einen Blick auf die Pferde geworfen hatte, die auf<br />

dem Streu ausruhten. Die Schmiede leuchtete ihm hell entgegen,<br />

die Funken flogen durch den Schornstein, der Schmied hämmerte<br />

das glühende Eisen, während Jasch mächtig mit dem Possekel<br />

schlug und Joseph den Blasbalg zog. Als der Ring fertig und auf<br />

das rauchende Holz der Achse gezwängt war, sagte Thomas:<br />

„Kommt her, Abendbrot essen, es ist spät genug geworden“.<br />

Mit diesen Worten schüttete er den Inhalt des Packs und der<br />

Lischke auf das Brett neben dem Schraubstock, eine<br />

12


Branntweinflasche dazu setzend. Die drei rußigen Gesellen<br />

nahmen sich nicht Zeit, die Finger zu waschen, griffen herzhaft zu,<br />

und die ansehnlichen Vorräte verschwanden, hin und wieder mit<br />

einem Schluck hinuntergespült, schnell unter den zermalmenden<br />

Zähnen.<br />

„Nun Schmied“, fragte Thomas, „wie lange wird’s noch dauern?“<br />

„Hm!“ sagte dieser, „unter 2 Stunden werden wir wohl kaum<br />

fertig“.<br />

Thomas sah zur Uhr: „Es ist halb 9“, sagte er, „ich lasse euch<br />

noch eine Flasche Branntwein hier, damit die Arbeit besser fördert.<br />

Ich gehe <strong>jetzt</strong> auf dem Wagen schlafen. Du kannst mit der Laterne<br />

mitkommen, Jasch“.<br />

Mit diesen Worten warf Thomas die Knochen und Speisereste in<br />

die Lischke und ging, von Jasch begleitet, zu seinem Wagen.<br />

„Schütte den Pferden noch ein Futter ein, Jasch“, sagte Thomas.<br />

„Nun komme her, alter Cerber, hast dich brav gehalten“, lobte er<br />

seinen schönen Hund streichelnd, der ihm entgegenkam. „So, nun<br />

leg dich unter den Wagen und verzehre dein Abendbrot, hast<br />

lange warten müssen“.<br />

Er warf dem Hund einen Arm voll Heu unter den Wagen und<br />

legte ihm die Speisereste nebst einem großen Stücke Brot vor.<br />

Jasch hatte die Pferde gefüttert und kam mit der Laterne an. Herr<br />

und Knecht bereiteten nun, beim Schein derselben, mit Säcken,<br />

Pelzen und Decken ein Lager im Wagen.<br />

„Nimm die Laterne mit“, sagte Thomas, „und wenn der Schmied<br />

fertig ist, so komm mich wecken“. Mit diesen Worten wickelte er<br />

sich in seinen Radmantel und legte sich nieder.<br />

Der Lärm war verstummt, nur von ferne hörte Thomas das<br />

Hämmern in der Schmiede, das Fressen der Pferde und unter dem<br />

Wagen das Krachen der Knochen, welche Cerber zermalmte.<br />

Lange warf er sich auf seinem Lager hin und her, und unwillkürlich<br />

kam ihm die Gestalt des Mädchens in den Sinn, das mit ihm unter<br />

demselben Dach ruhte. Wie sie ihm zuerst entgegentrat und in<br />

fremder Zunge um seinen Beistand bat, und zuletzt, <strong>als</strong> sie, seine<br />

Hand fassend, ihn abhalten wollte, sich in Gefahr zu begeben.<br />

Allmählich verfiel er in den Zustand zwischen Wachen und Schlaf,<br />

aus dem er durch den hellen Lichtstrahl der Laterne geweckt<br />

wurde, mit welcher Jasch das Innere des Wagens beleuchtete.<br />

Thomas richtete sich auf und sagte:<br />

„Nun, seid Ihr fertig?“<br />

„Ach ja, Herr“, antwortete Jasch weinerlich, „der Wagen ist wohl<br />

fertig, es fehlt kein Nagel daran“.<br />

13


„Wo ist denn der Schmied, dass ich ihn bezahlen kann?“<br />

„Ach, Herr, uns ging es schlecht“, erwiderte Jasch, „der Schmied<br />

ließ uns keinen Tropfen trinken, erst sollte die Arbeit fertig sein.<br />

Wir arbeiteten, so schnell wir konnten. Als alles vollendet war,<br />

nahm der Schmied die Flasche, setzte sie an und trank sie in<br />

einem Zug aus. Wir bekamen nichts, <strong>jetzt</strong> liegt er schwer besoffen<br />

in der Schmiede und schläft den Rausch aus. Möchtet Ihr uns<br />

Herr, nicht einen Schluck geben? Wir sind ganz verdurstet“. Dabei<br />

küsste er und sein Gefährte Thomas die Hände.<br />

Dieser sah zur Uhr. „Halb elf“, sagte er, „nun, wenn ihr noch<br />

eine Stunde aufbleiben und die zerrissenen Sielen 15 flicken wollt,<br />

so sollt ihr noch ein Bommchen 16 haben“.<br />

Beide Polen waren sehr gern dazu bereit. Thomas gab Jasch die<br />

Laterne zu halten und suchte Leder, Bindfaden, Pfriem 17 und<br />

anderes Handwerkszeug aus seinem Wagen hervor, reichte alles<br />

nebst der versprochenen Branntweinflasche den Knechten und<br />

sagte:<br />

„Sucht euch einen Winkel, wo es nicht durchregnet, macht eure<br />

Sache gut, vergesst nicht, nach den Pferden zu sehen, und lasst,<br />

wenn ihr schlafen geht, die Laterne brennen. Jetzt wascht die<br />

Sielen erst gut ab und schmiert sie, wenn sie geflickt sind<br />

ordentlich ein“.<br />

Während die Knechte die einzelnen Stücke zusammensuchten<br />

und reinigten, stieg Thomas in seinen Wagen, um endlich den<br />

ersehnten Schlaf zu finden.<br />

Jasch und Joseph stärkten sich zuerst durch einen kräftigen<br />

Zug, fanden hinter dem Wagen eine trockene Stelle und setzten<br />

sich an die Erde. Die Laterne und Branntweinflasche zwischen<br />

sich, begannen sie die Sielen zu untersuchen, sowie das Leder<br />

zuzuschneiden, während Cerber ihnen zuschaute.<br />

„Sag’ mal“, begann Joseph nach einem herzhaften Schluck, „was<br />

ist dein Herr eigentlich für einer? Der hat ja alles! Fehlen Stricke,<br />

hat er sie. Eisen, Leder, Branntwein, ja sogar Pfriemen und<br />

Riemennadeln“.<br />

„Schafskopf“, erwiderte Jasch, „ich hab’ dir ja gesagt, dass er<br />

ein Kauf- und Handelsmann ist, der handelt mit dem Allen.<br />

Eigentlich ist sein Vater, der alte Wilm noch der rechte Herr. Bei<br />

dem dien’ ich schon 5 Jahr. Der Alte war diesen Sommer sehr<br />

15 Stränge, woran die Pferde einen Wagen ziehen.<br />

16 Bommchen = altes Branntweinmaß [Glas zum Ausschenken von Branntwein].<br />

17 Spitzes Werkzeug zum Stechen für Sattler und Schuster.<br />

14


krank, er will sich zur Ruhe setzen. Vor 14 Tagen kam dieser Herr<br />

Thomas, der weit gewesen ist im Reich nach Hause und fuhr gleich<br />

nach ein paar Tagen mit mir nach Königsberg, um Allerhand<br />

einzuhandeln; denn vor dem Schlittweg ist später nicht mehr nach<br />

Königsberg hinzukommen. Geht <strong>jetzt</strong> schon schlecht genug zu<br />

fahren. Aber sag’ mal Joseph, dein Herr ist wohl auch reich,<br />

meiner hat heut viel an ihn angewendet. Das sind doch eure<br />

eigenen Pferde?“<br />

„I“, antwortete Joseph, „solch ein Dienst, wie mein Diakon hat,<br />

soll noch gesucht werden. Sollst man sehen, wenn wir im Herbst<br />

zusammen auf die Dörfer nach Kalende 18 fahren, was wir da alles<br />

nach Hause bringen. Getreide, auch Flachs, auch Gänse, auch<br />

Honig, auch Butter, und wir haben 60 Dörfer. Na und dann hat er<br />

auch noch ein Brauhaus in der Stadt Lyck, das ihm gehört, und<br />

Land dazu“.<br />

„So, so“, sagte Jasch, einen Riemen zuschneidend, „sicher ist er<br />

<strong>als</strong>o, aber das Frauensmensch, das mit ist, das ist wohl seine<br />

Frau?“<br />

„Na, du kannst gut sehen das ist ja seine Tochter, unsere<br />

Jungfer Esther, die hat wochweise die Wirtschaft mit ihrer<br />

Schwester Marie. Die alte Muhme 19 kommt wenig heraus, die sitzt<br />

immer in der Stube und spinnt Wolle. Die Esther rennt schon<br />

immer früh um 4 des Morgens überall herum und jagt mich und<br />

die beiden Mägde aus den Federn. Vor der muss Einer sich in Acht<br />

nehmen. Aber einmal kriegte sie mich doch nicht, da hatte ich<br />

eine Seite Speck im Futterkasten. Sie wusste wohl, dass sie weg<br />

war, kam auch einige Male in den Pferdestall und sah sich überall<br />

um. Aber mich fing sie doch nicht, ich war ihr zu klug. Am meisten<br />

freute sich die Orth 20 , die dicke Magd, dass die Esther nach<br />

Königsberg mit dem Alten mitfuhr. Die kann nun mit dem Melken<br />

machen, was sie will, nun wird ihr keine nachmelken. Die Orth hat<br />

oft genug gebrummt, wenn der Esther die Schweine nicht gut<br />

gefüttert waren, oder wenn die Milchgefäße und das Butterfass<br />

nicht rein genug gescheuert waren und die Esther noch selbst<br />

18<br />

Naturalabgaben der Gemeindemitglieder an den Pfarrer.<br />

„ein nur in Preußen übliches Wort, wo es diejenige Abgabe an Feldfrüchten und andern<br />

Esswaren bezeichnet, welche die Einwohner auf dem Lande dem Pfarrer und Organisten um<br />

die Herbstzeit zu entrichten verbunden sind“ [Krünitz].<br />

19<br />

Tante<br />

20<br />

Orth = Urte = Dorothea<br />

15


nachscheuerte. Die andere Margell, die Kasia 21 , die Tochter des<br />

alten Hirten Puluchodna, ist mehr mit der Esther zufrieden. Der<br />

hat sie, weil sie so koddrig in den Dienst kam, von ihren Kleidern<br />

einen ganz schönen Anzug gemacht und geschenkt, hält aber auch<br />

darauf, dass alles rein und ganz ist“.<br />

„Na, was sagt denn ihre Alte dazu, wenn die Junge ihre Kleider<br />

wegschenkt?“ fragte Jasch.<br />

„Ach, die brummt genug“, antwortete Joseph, und sagt: „Du<br />

wirst dein Lebtag nichts haben, wenn du den Prachern 22 alles<br />

gibst. Dann ist die Esther ganz still und wird rot, aber sie gibt doch<br />

wieder, wenn die armen Weiber kommen. Aber das muss wahr<br />

sein, kochen kann die Esther. Wenn ihre Woch’ ist, schmeckt alles<br />

viel besser, <strong>als</strong> wenn ihre Schwester wirtschaftet. Na, nun trink’<br />

mal und lass’ mir auch einen Schluck zukommen“.<br />

Er nahm die Flasche und reichte sie Jasch. Nachdem dieser<br />

getrunken hatte und Joseph seinem Beispiel folgte, betrachtete<br />

Jasch Josephs Riemenarbeit.<br />

„Dämelsack“, sagte er zu Joseph: „Was hast du denn mit der<br />

H<strong>als</strong>koppel gemacht? Du hast ja an beide Enden einen Ring<br />

eingenäht“.<br />

„Das kommt von dem Geplapper“, sagte Joseph mürrisch und<br />

trennte einen Ring aus. Schweigend verrichteten die Polen nun die<br />

noch übrige Arbeit.<br />

Thomas konnte nicht schlafen, die beiden Polen hatten ganz<br />

vergessen, dass er nur durch die Leinwand des Planwagens von<br />

ihnen getrennt, jedes Wort hören musste.<br />

Jasch ging, den Pferden Futter einschütten, kam bald wieder<br />

und setzte sich neben seinen Gefährten. Diesem wurde das<br />

Schweigen bald langweilig.<br />

„Wirst du bleiben, Jasch“, fragte er, „wenn dein alter Herr sich<br />

zur Ruhe setzt?“<br />

Jasch kratzte sich hinter dem Ohr, schob die Pelzmütze zur Seite<br />

und sagte: „Ich kenne den Jungen noch nicht genug, ich weiß<br />

nicht, wie wir uns vertragen werden. Gleich am Anfang, <strong>als</strong> ich<br />

mich sehr besoffen hatte und die Pferde einen Tag nicht gefüttert<br />

hatte, gab er mir ordentliche Strips 23 . Seitdem hab’ ich immer<br />

aufgepasst, da hat’s nichts gegeben. Na, bis Pfingsten hab ich<br />

noch Zeit mich zu besinnen. Der Junge hat noch nicht geheiratet,<br />

21<br />

Kasia = Kathrine<br />

22<br />

Bettlern<br />

23<br />

Schläge<br />

16


da wird die Wirtschaft wohl so wie bisher fortgehen. Bei den<br />

Reisen nach Königsberg fällt auch immer für mich was ab. Wenn<br />

er mir was zulegt, werd’ ich wohl bleiben. Lohn krieg ich <strong>jetzt</strong>, weil<br />

ich Geschirr machen kann, 20 Mark und Kleider“.<br />

„Prügel gibt es bei meinem Diakon wenig“, sagte Joseph<br />

bedächtig, „wenn auch die Esther mich ausschilt, da klemme ich<br />

die Ohren an. Der Alte kommt im Jahr keine fünfmal in den Stall<br />

und auf’s Feld fast gar nicht. Der sitzt immer bei den Büchern. Als<br />

der Jörg, der älteste Sohn, den wir <strong>jetzt</strong> nach Königsberg gebracht<br />

haben, noch in den Stall kam und nicht immer lernen musste,<br />

kriegt ich von ihm wohl manchmal einen Hieb. Das war viel<br />

besser, <strong>als</strong> wenn er dem Alten erzählen ging, wenn ich etwas<br />

verschuldet hatte. Der Alte hat mich nicht geschlagen, aber er<br />

nahm mich in seine Stub’ und predigte mir vor und ermahnte. Das<br />

war schlimmer <strong>als</strong> Prügel. Die Esther schimpft mich zusammen,<br />

aber sie erzählt dem Alten nichts, damit er sich nicht ärgern soll,<br />

und der kleine Bernhard ist ein guter Junge. Der will gern reiten.<br />

Er erzählt nichts, darf aber wenig bei mir sein. Wenn er aus der<br />

Schule kommt, so nimmt ihn der Alte gleich an die Bücher“.<br />

So erzählten die polnischen Knechte einander, flickten und<br />

schmierten die Sielen, bis der Branntwein zu Ende war. Dann<br />

hängten sie die Laterne an einen Balken, legten sich auf das Streu<br />

neben ihren Pferden, und bald verkündigte lautes Schnarchen,<br />

dass sie im tiefen Schlafe lagen.<br />

Thomas lag ruhend auf seinem Lager. Er musste immer an die<br />

Erzählung des Joseph und an das Mädchen denken, mit der er nur<br />

wenige Worte gewechselt hatte. Es kam ihm vor, <strong>als</strong> ob er sie<br />

schon seit Jahren kennen müsste. Nachdem er sich lange<br />

umhergeworfen und doch den Schlaf nicht finden konnte, stand er<br />

auf und sah zur Uhr. Es war halb 4. Ihn fröstelte. Er nahm die<br />

Laterne und ging in die Krugstube. Hier sah es wüst und<br />

abscheulich aus. Ein unangenehmer Geruch kam ihm entgegen.<br />

Auf den Bänken und an dem Boden lagen schnarchend einige<br />

schwer Betrunkene. Ein breiter Lichtstreif fiel hell aus der<br />

Nebenstube auf die Erde, Wand und Decke der Krugstube. Thomas<br />

wollte sehen wie es seinem Kranken gehe, und trat näher. Esther<br />

hatte die schwere Lade vor die Tür geschoben, doch nicht<br />

verhindern können, dass diese ein wenig offen blieb. Die große<br />

helle Wachskerze brannte hinter der Tür auf der Lade und<br />

beleuchtete ein friedliches Bild. Auf dem Bette lag in tiefem<br />

gesundem Schlafe der alte Diakon. Vor dem Bette saß Esther (auf<br />

einem niedrigen Klotze), sie hatte dem Vater etwas vorgelesen<br />

17


und war eingeschlafen. Das Buch ruhte in ihrem Schoß, und den<br />

Kopf hatte sie an das Lager des Vaters gelehnt. Das Kopftuch war<br />

etwas herabgesunken und verhüllte nur zum Teil das wundervolle<br />

Haar, von dem eine Flechte sich gelöst hatte. Ein tiefer Frieden lag<br />

auf dem schönen, von der Röte der Gesundheit angehauchten<br />

Gesicht, der den Beschauer unwillkürlich fesselte, dass er von dem<br />

lieblichen Bild kaum sich trennen konnte.<br />

Doch die Notwendigkeit alles zur Weiterreise zu besorgen, trieb<br />

ihn fort. Er ging wieder in die Einfahrt, befahl Cerber gute Wache<br />

zu halten, und wanderte mit seiner Laterne zur Schmiede. Der<br />

Regen hatte aufgehört. In der Schmiede fand er den Schmied<br />

schwer betrunken an der Erde liegen, die zerbrochene Flasche<br />

noch in der Hand haltend. Mit großer Mühe gelang es ihm den<br />

Schmied zu wecken und auf die Beine zu bringen. Als er aber erst<br />

munter war, ging er festen Schrittes zu seinem Löschtroge,<br />

tauchte das Gesicht mehrm<strong>als</strong> in’s Wasser und war bald nüchtern<br />

und aufmerksam. Thomas besichtigte den geflickten Wagen und<br />

fand ihn so gut hergestellt, dass er wohl die Fahrt aushalten<br />

konnte.<br />

„Nun kommt, Schmied“, sagte er, „zu meinem Wagen und seht<br />

nach, ob daran nicht auch noch etwas fehlt“.<br />

Der Schmied nahm Zange, Hammer, Schraubschlüssel und<br />

einige Nägel und beide gingen in die Einfahrt. Hier zog der<br />

Schmied einige Schrauben fester an und klopfte hier und da etwas<br />

fest, während Thomas leuchtete. Vom Hämmern erwachte Jasch.<br />

„Ho, ho!“ schrie er, „wer ist da an meinem Wagen, hasch<br />

Cerber!“<br />

„Steh nur auf, Jasch“, sagte Thomas lächelnd, „wecke den<br />

Joseph, holt den Wagen von der Schmiede und schmiert dann<br />

beide Wagen ordentlich. Den Pferden habe ich schon Futter<br />

eingeschüttet“.<br />

Gähnend erhoben sich die beiden Polen, reckten sich aus und<br />

machten sich langsam daran, ein Pferd anzuschirren, um den<br />

Wagen zu holen. Thomas ging inzwischen die Wirtsleute wecken.<br />

Die Wirtin stand brummend auf.<br />

„Was kann Sie uns zum Frühstück geben?“ fragte Thomas.<br />

„Ach was, wir haben nichts“, antwortete das Weib mürrisch.<br />

Einige Dreipölcher, die Thomas ihr gab, machten sie etwas<br />

geschmeidiger.<br />

„Na, ich werd’ melken gehn, und Brot ist auch noch da“, sagte<br />

sie, in die Hornlaterne die qualmende Lampe setzend und nach<br />

dem Melkeimer greifend.<br />

18


In der Einfahrt schmierten die Knechte den einen Wagen,<br />

während der Schmied behilflich war, die Schrauben anzuziehen.<br />

Thomas holte ein Fläschchen Branntwein von seinem Wagen.<br />

„Einen kleinen Morgengruß“, sagte er dem Schmied und den<br />

Knechten einschenkend. Die Wirtin kam mit ihrem Melkeimer aus<br />

dem Stall, stellte sich dazu und sah begehrlich auf die Flasche.<br />

„Nun koche Sie uns eine Milchsuppe“, sagte Thomas, ihr ein<br />

Gläschen reichend, „und verwahre Sie etwas Morgenmilch für die<br />

da drin“.<br />

Die Wirtin nickte und ging hinein. Bald prasselte auch ein helles<br />

Feuer im Kamin der Krugstube. Thomas bezahlte dem Schmied<br />

reichlich, und dieser ging heim, um noch etwas zu schlafen.<br />

„Vorwärts, Jasch“, sagte Thomas, „<strong>jetzt</strong> nehmt Erbsenstroh und<br />

bindet zwei feste Gefäße. Josephs gingen gestern auseinander“.<br />

Er blieb dabei, bis die beiden Strohgefäße fest und passend<br />

gemacht und mit mehreren Strohseilen gebunden waren.<br />

„Jetzt putzt die Pferde ordentlich, ich werde nachsehen, ob das<br />

Frühstück bald fertig ist“.<br />

Er wendete sich um und ging der Krugstube zu.<br />

„Hm, putzen“ sagte Joseph, „er macht gerad’ so, <strong>als</strong> wenn er<br />

alles zu befehlen hat, ich putz’ nicht“.<br />

Eine kräftige Ohrfeige streckte den Joseph auf den Mist.<br />

„Lümmel“, sagte Thomas, „wirst du putzen gehen?“<br />

„Ach Herr, Herr“, sagte Joseph, seine Backe reibend<br />

„ich gehe ja schon“.<br />

Schnell begann er einem Pferd die Decke abzunehmen und<br />

machte sich an die befohlene Arbeit. Thomas fand die Wirtin am<br />

Kamin das Frühstück kochen. Alles sah aber so schwarz schmierig<br />

und unordentlich aus, dass er wieder mit der Laterne in seinen<br />

Wagen stieg und nachdem er hier lange herumgekramt hatte mit<br />

einigen glänzenden Zinngeschirren und einem glatten Kistendeckel<br />

zurückkam. In die größere Schüssel ließ Thomas die Milch gießen,<br />

die Wegkost-Lischke 24 musste das letzte Königsberger Brot<br />

hergeben. Die Wirtin brachte etwas Honig und schlechtes<br />

Schwarzbrot. Alles wurde auf den Kistendeckel gestellt. In der<br />

danebenliegenden Kammer war es inzwischen lebendig geworden.<br />

Thomas übergab das improvisierte Teebrett der Wirtin, um es<br />

hineinzutragen und ging zur Tür, die seinem Drucke nachgab. Da<br />

saß der Diakon, das Käppchen zwischen den gefalteten Händen,<br />

24 Proviantkorb<br />

19


den verbundenen Fuß auf einem Klotze, und las den Morgensegen.<br />

Esther gegenüber in tiefe Andacht versunken, horchte den Worten<br />

des Vaters, der <strong>jetzt</strong> fortfuhr:<br />

„Führe mich, o Herr, und leite<br />

meinen Gang nach deinem Wort.<br />

Sei und bleibe du auch heute<br />

mein Beschützer und mein Hort,<br />

nirgends <strong>als</strong> von dir allein<br />

kann ich recht bewahret sein.<br />

Meinen Leib und meine Seele,<br />

samt den Sinnen und Verstand,<br />

großer Gott, ich dir befehle,<br />

unter deine starke Hand,<br />

Herr, mein Schild, mein Ehr’ und Ruhm,<br />

nimm mich auf, dein Eigentum!<br />

Deinen Engel zu mir sende,<br />

der des bösen Feindes Macht,<br />

List und Anschlag von mir wende,<br />

und mich halt in guter Acht,<br />

der auch endlich mich zur Ruh<br />

trage nach dem Himmel zu!“<br />

Thomas faltete die Hände und blieb auf der Schwelle stehen. Es<br />

war ihm, <strong>als</strong> ob er lange in keiner Kirche so andächtig gebetet<br />

hätte, wie in dem schmutzigen Kruge. Nach dem Gebete stand<br />

Esther auf, kniete neben dem Vater nieder und küsste ihm die<br />

Hand. Der Alte legte seine Hand auf ihr Haupt und sprach:<br />

„Der Herr segne dich, mein liebes Kind“, und küsste sie auf die<br />

Stirn.<br />

Als Esther aufgestanden war, winkte Thomas der Wirtin, öffnete<br />

die Tür ganz und trat mit einem freundlichen „Gott zum Gruße“ in<br />

die Kammer. Die Wirtin stellte das neumodische Teebrett auf die<br />

Lade.<br />

„Nun, wie habt Ihr geschlafen, würdiger Herr, und wie steht’s<br />

mit dem Fuß?“ fragte Thomas.<br />

„Der Schlaf hat mich, Gott Lob, recht gestärkt, und der Fuß tut<br />

nur weh, wenn ich ihn krumm biege“, antwortete der Diakon.<br />

„So müssen wir es Euch auf dem Wagen bequem zu machen<br />

suchen“, meinte Thomas. „Doch wenn’s Euch recht ist,<br />

20


frühstücken wir erst. Es ist leider hier nicht viel aufzutreiben. Wir<br />

müssen bald aufbrechen“.<br />

Mit diesen Worten setzte er sich dem Diakon gegenüber,<br />

während Esther vorlegte und im Stillen das prachtvolle, wie Silber<br />

glänzende Geschirr bewunderte, das sich gar wunderlich in der<br />

ganzen Umgebung ausnahm. Alle drei frühstückten miteinander,<br />

<strong>als</strong> ob sie schon lange bekannt wären. Thomas beendete sein Mahl<br />

zuerst, setzte das Geschirr zusammen, trug es hinaus und befahl<br />

den beiden Polen, die an der Milchschüssel saßen, anzuspannen.<br />

Er packte das Geschirr in eine Kiste vorsichtig ein und stieß die<br />

Lumpen, welche Cerber dem Spitzbuben abgerissen hatte, mit<br />

dem Fuße unter ein Bündel in der Ecke des Wagens. Cerber erhielt<br />

die Reste des Frühstücks der Knechte. Die weichsten Decken<br />

wurden auf den Wagen des Diakons gelegt sowie ein mit Heu<br />

ausgestopftes Säckchen zur Stütze des beschädigten Fußes.<br />

Als alles fertig und die Wagen vorgefahren waren, bezahlte<br />

Thomas die Wirtin und ging zur Kammer hinein:<br />

„Die Sonne wird bald aufgehen“, sagte er, „wir haben einen<br />

weiten Weg vor uns. Wenn’s Euch recht ist, brechen wir auf.<br />

Damit aber Euer Wagen nicht zu sehr beschwert wird, so ersuche<br />

ich Euch es zu erlauben, dass Euer Gepäck auf meinen Wagen<br />

geladen werden darf. Mein Jasch kennt die Straße hier besser <strong>als</strong><br />

Euer Joseph, der sie erst einmal gemacht hat. Wenn Ihr, würdiger<br />

Herr, nichts dagegen habt, so lasse ich meinen Wagen<br />

vorausfahren und komme auf den Eurigen. Euer Joseph hat weiter<br />

nichts zu tun, <strong>als</strong> den Spuren der Räder zu folgen“.<br />

Nach einigem sanften Streuben ließ der Diakon sich die<br />

vorgeschlagene Anordnung gefallen und ging, sich auf seinen<br />

Priesterstock stützend und auf Thomas’ Arm gelehnt, hinkend zu<br />

seinem Wagen, in welchen er hineingehoben werden musste.<br />

Obwohl der Diakon durchaus rückwärts sitzen wollte, ließ er sich<br />

auf das ihm bereitete breite Gesäß 25 mit Esther nieder, da ihm<br />

vom Stehen und der Anstrengung der Fuß zu schmerzen begann,<br />

während sich Thomas rückwärts ihm gegenüber neben Joseph auf<br />

den Kutschersitz niedersetzte. Er trug dafür Sorge, den<br />

beschädigten Fuß so weich und bequem <strong>als</strong> möglich zu betten. Die<br />

Wirtin stand knicksend in der Haustür. Jasch fuhr mit seinem<br />

Wagen voraus, und Joseph folgte.<br />

25 Sitzpolster<br />

21


3. Der räuberische Überfall auf der Landstraße von<br />

Bartenstein nach Rastenburg<br />

Es war ein milder, klarer Herbsttag, die aufgehende Sonne<br />

beleuchtete rosig die Strohdächer und Holzwände der<br />

Bauernhäuser, die mit den Giebeln zur Straße gerichtet standen.<br />

Der Hirt blies auf der langen Schalmei von Birkenrinde und trieb<br />

das Vieh auf die Stoppelweide.<br />

Bald hatten die Reisenden das Dorf hinter sich. Der Diakon<br />

begann das Gespräch:<br />

„Der Herr hat einen Plan über seinen Wagen ziehen lassen, er<br />

hat wohl kostbare Waren geladen?“<br />

„Kostbar sind sie zwar nicht“, antwortete Thomas, „doch möchte<br />

ich sie nicht gern nass werden lassen“.<br />

„Der Herr ist doch nicht leer nach Königsberg hingefahren?“<br />

„Ich hatte nur eine kleine Ladung Prahlsacht 26 geladen, das ich<br />

nach Danzig zu liefern habe“.<br />

„Prahlsacht! Prahlsacht! Das ist ja ein drolliger Name, was ist<br />

denn das?“ fragte der Diakon.<br />

„Prahlsacht“, erklärte Thomas, „ist ein Zeug, welches in und bei<br />

<strong>Angerburg</strong> fast in jeder Haushaltung gefertigt wird. Zum Aufzug<br />

wird grobes, ungebleichtes Garn genommen, zum Einschlag aber<br />

weiß gebleichtes Garn, so dick wie ein Bindfaden, von der<br />

schlechtesten sogenannten Klunker Heede 27 , gebraucht. Zuweilen<br />

wird dieser Einschlag auch gelb oder schwarz gefärbt. Oft wird<br />

auch ein Einschlag von Kuhhaaren, die mit schlechter Wolle<br />

zusammen gekämmelt und grob gesponnen wird, eingeschlagen.<br />

Die Landleute färben das Garn selbst. Meistens sind die Stücke 40<br />

Ellen. Doch, was ich fragen wollte, wird der Herr Sohn, der<br />

Studiosus zu den Weihnachtsferien nicht nach Hause kommen?“<br />

„Lass er nur in Königsberg bleiben und fleißig studieren“, sagte<br />

der Diakon, „zu leben hat er genug, wir haben ihm eine ganze<br />

Fuhre Lebensmittel gelassen, Geld hat er auch, wenn er das<br />

Fuchssche Stipendium 28 von 80 Gulden hat, und eingekleidet ist er<br />

wie ein Prinz!“<br />

26<br />

Stoff aus Rinder-, Pferde- oder Ziegenhaaren gesponnen<br />

27<br />

S. FN 618 (S. FN = Siehe Fußnote)<br />

28<br />

Benannt nach dessen Stifter, dem Landrat Balthasar v. Fuchs. Dieser wandte in Stiftungen<br />

und Vermächtnissen – zusammen mit dem Landhofmeister Andreas v. Kreytzen und dem<br />

Oberburggrafen Johann Truchsess v. Wetzhausen – der Königsberger Universität im 17. Jhdt.<br />

beträchtliche Summen zu.<br />

22


„Euern alten Mantel hat der Schneider Borowski für ihn<br />

umgewendet“, sagte Esther, „das ist des armen Jungen<br />

Staatsmantel“.<br />

„Mulier taceat in ecclesia 29 “, unterbrach sie der Alte, <strong>als</strong> Esther<br />

fortfahren wollte, ihres Bruders Garderobe zu schildern. Thomas<br />

brachte das Gespräch auf etwas anderes und erzählte sehr lebhaft<br />

und zuweilen drollig mancherlei von seinem Aufenthalt in großen<br />

Handelsstädten und seinen Reisen, besonders in Polen.<br />

Inzwischen waren sie zwar langsam, doch ziemlich gut eine<br />

Strecke gefahren und waren eben in ein Gehölz gekommen, <strong>als</strong><br />

Esther auf drei Männer aufmerksam machte, welche nicht weit<br />

vom Wege in einer kleinen Lichtung standen. Thomas sah sich um<br />

und bemerkte, dass alle drei mit heftigen Gestikulationen auf den<br />

vorausfahrenden Planwagen zeigten und einer derselben, der sich<br />

auf 2 Krücken stützte, mit der geballten Faust nach dem<br />

Planwagen drohte. Als der Wagen des Diakons sich näherte, zogen<br />

zwei von den Männern sich hinter die Bäume zurück, während der<br />

Krüppel mit kläglichen Gebärden dem Wagen entgegen humpelte.<br />

Er hatte einen Stelzfuß. Je näher er dem Wagen kam, desto<br />

jämmerlicher wurden seine Bewegungen. Der Diakon ließ halten.<br />

Der Bettler stand am Wagen, die Hälfte seiner Jacke war vorn<br />

abgerissen. Von einem roten H<strong>als</strong>tuch hatte er nur noch einige<br />

Fetzen. Sein furchtbar von den Pocken zerrissenes Gesicht, dessen<br />

buschige Augenbrauen die schielenden Augen fast verschleierten,<br />

hatte auf der linken Wange eine frische Schramme. Auf der<br />

rechten nackten Schulter bemerkte man auch frisch<br />

angetrocknetes Blut.<br />

„Erbarmen, Erbarmen, hochgeehrte Herrschaften, ein Krüppel!“,<br />

brachte er ächzend hervor, während seine Augen den Inhalt des<br />

Wagens überliefen.<br />

Der Diakon fasste in die Tasche: „Bin selbst ein Invalide, weiß,<br />

wie’s tut“, sagte er, seine Gabe reichend.<br />

Thomas warf auch ein Geldstück in den Hut, doch Esther hatte<br />

inzwischen ihr H<strong>als</strong>tuch abgebunden und reichte es dem Bettler.<br />

Mit wortreichem Dank entfernte sich der Bettler, und während der<br />

Wagen weiterfuhr, konnte Thomas, da er rückwärts saß, sehen,<br />

wie der Bettler sich ziemlich schnell an den Ort begab, wo seine<br />

Kameraden waren, ohne viel die Krücken zu gebrauchen.<br />

„Hättest dem armen Krüppel auch etwas anderes geben<br />

können“, sagte der Diakon zu seiner Tochter, diese schwieg.<br />

29 Lat.: „Das Weib schweige in der Gemeinde“ (nach 1. Kor. 14, 34).<br />

23


Joseph trieb die Pferde an, um dem Planwagen nachzukommen.<br />

Es fiel Esther auf, dass Thomas, der bis dahin sehr gesprächig und<br />

unterhaltend gewesen war, plötzlich so still und einsilbig wurde<br />

und stets die Büsche an den Seiten des Wagens beobachtete.<br />

Desto mehr sprach der Diakon, der an Thomas einen<br />

schweigenden Zuhörer hatte.<br />

Er erzählte von seiner Studentenzeit und von dem alten<br />

Mislenta 30 , dessen Streit mit Behm 31 , wie er Anno 1652 <strong>als</strong> junger<br />

Student dem Begräbnis des Behm beigewohnt hat, den Mislenta<br />

jahrelang nicht in der Domkirche beisetzen ließ. Er sprach auch<br />

vom Tod und dem prachtvollen Begräbnis Mislentas, an dem die<br />

polnischen Studenten sehr hingen.<br />

30 Mislenta (Myslenta) Coelestinus, Prof. u. Domprediger in Königsberg, bedeutendster<br />

Sprachgelehrter seiner Zeit, geb. 27.03.1588 in Kutten. Cölestin Mislenta war Abkömmling<br />

eines polnischen Adelsgeschlechtes und wurde <strong>als</strong> Sohn des von 1581 bis 1588 in Kutten<br />

amtierenden Pfarrers Matthäus Mislenta geboren. Von 1603 bis 1606 studierte er am<br />

Pädagogium in Königsberg, danach an den Universitäten Wittenberg, Leipzig und Gießen<br />

Theologie und orientalische Sprachen. In Gießen promovierte er zum Doktor der Theologie<br />

und wurde noch im selben Jahr <strong>als</strong> außerordentlicher Professor der Theologie und ordentlicher<br />

Professor der hebräischen Sprache an die Universität Königsberg berufen. Ab 1626 ist er<br />

außerdem Pfarrer am Königsberger Dom. In den 1620er Jahren begann die<br />

Auseinandersetzung mit seinem Danziger Kollegen Hermann Rathmann (1585-1628), Pfarrer<br />

an der dortigen Marien- sowie Katharinenkirche, und mit Movius wegen deren freier<br />

Auffassung vom Wort Gottes. Mislenta exponierte sich <strong>als</strong> radikaler Verfechter der<br />

lutherischen Orthodoxie auch gegen die Reformierten und speziell gegen die Anhänger von<br />

Georg Calixt, die er des Synkretismus bezichtigte. Er scheute sich nicht, gegen sie die<br />

staatlichen Gerichte einzuschalten. Auch mit seinem Königsberger Kollegen Christian Dreier<br />

(1610-1688), der ab 1649 Oberhofprediger an der Königsberger Schlosskirche war, und<br />

seinem Schüler, dem späteren Professor Michael Behm (1612-1650) <strong>als</strong> Vertreter der<br />

irenischen Richtung führte Mislenta harte Auseinandersetzungen. Nach dem Tode Behms<br />

verweigerte er dessen Beisetzung im Königsberger Dom. Erst 1652 lenkte er ein und die<br />

Bestattung wurde nachgeholt. Im Jahre 1645 sollte Cölestin Mislenta auf Wunsch des<br />

Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg am „liebreichen Thorner Religionsgespräch“<br />

teilnehmen, er wurde allerdings zugunsten des Professors Behm zurückgestellt.<br />

1650 wurde Michael Behm zum Dekan der theologischen Fakultät Königsberg und Nachfolger<br />

von Mislenta gewählt. Dieser verweigert ihm jedoch die Übergabe der Fakultätssiegel,<br />

woraufhin er schließlich Sitz und Stimme im Senat der Universität verlor. Erst 1652 wurde<br />

Mislenta wieder in seine akademischen Rechte eingesetzt und danach zum siebenten Mal zum<br />

Rektor gewählt. Der streitbare, um theologische Wahrhaftigkeit in äußerster Konsequenz<br />

kämpfende Cölestin Mislenta verstarb im Alter von 65 Jahren - im 27. Amtsjahr am<br />

Königsberger Dom.<br />

31 Behm Michael, 1612 in Königsberg geb. und dort 1650 verstorben. Er war seit 1640<br />

Theologieprofessor in Königsberg und gehörte zum Dichterkreis um Robert Robertin und<br />

Simon Dach. Nach seinem Tode entstanden unter der Führung von Mislenta heftige kirchliche<br />

Streitigkeiten wegen seines Begräbnisses. Erst nach einem Eingriff des Großen Kurfürsten<br />

konnte 1652 die Beisetzung in der Professorengruft des Domes erfolgen.<br />

24


Coelestin Mislenta<br />

Nach einigen Stunden war das Städtchen Bartenstein erreicht.<br />

Thomas ließ die Wagen in zwei nebeneinander gelegene Krüge<br />

einfahren, doch die Pferde nicht ausspannen. Nachdem er mit<br />

Josephs Hilfe den Diakon vom Wagen gehoben und ihn nebst<br />

seiner Tochter in der Schenkstube des einen Kruges untergebracht<br />

hatte, ging er in den daneben liegenden Krug zu seinem<br />

Planwagen, wo er Jasch beschäftigt fand, die Pferde abzuzäumen<br />

und ihnen die tragbare Krippe vorzusetzen.<br />

„Jasch“, redete er den Knecht an, „du bist ein kluger Kerl, das<br />

weiß ich!“<br />

Jasch schüttete den Pferden den Hafer ein und nickte mit dem<br />

Kopf, <strong>als</strong> ob seine Klugheit keinem Zweifel unterliegen könne.<br />

„Gehe keinen Augenblick vom Wagen“, fuhr Thomas fort, „laß<br />

keinen Menschen heran, wenn sie dich fragen, so antworte so<br />

25


wenig wie möglich, und wenn sie dir Schnaps geben, so trinke<br />

nicht“.<br />

Jasch machte ein pfiffiges Gesicht. „Herr“, sagte er, „ich bin mit<br />

Eurem Vater manchmal nach Waren gefahren, ich kenn’ den<br />

Dienst“.<br />

„Es soll dein Schade nicht sein“, sagte Thomas, indem er ihm<br />

die Lischke mit Lebensmitteln<br />

und ein Fläschchen Branntwein<br />

reichte.<br />

Jasch tränkte die Pferde, während Thomas in den Wagen stieg,<br />

um Cerber zu füttern und zu streicheln. Dann besah er genau, ob<br />

sein Wagen keinen Schaden gelitten hatte. Indessen saß Jasch auf<br />

dem umgekehrten Tränkeimer und ließ sich’s wohl schmecken.<br />

In den Krug nebenan zurückgekehrt, fand Thomas den Joseph<br />

mürrisch auf der Krippe sitzend. Die Pferde standen noch gezäumt<br />

vor dem Wagen und nagten an verstreuten Halmen, die an der<br />

Erde lagen.<br />

„Nun, Joseph, wie ist es mit einem Schnaps?“ fragte Thomas,<br />

indem er ihm einen gefüllten Becher unter die Nase hielt.<br />

Joseph, den noch die am Morgen erhaltene Ohrfeige wurmte,<br />

konnte nicht widerstehen. Sein Gesicht verklärte sich, und<br />

nachdem er die Flüssigkeit schnell hinunter gestürzt hatte, sagte<br />

er:<br />

„Herr, es ist gut, dass wir bald aus dem verfluchten Deutschen<br />

herauskommen. Ich forderte auf Polnisch einen Tränkeimer, da<br />

sah mich die Magd an und lachte“.<br />

„Wenn wir bald fortkommen sollen, Joseph“, sagte Thomas,<br />

„müssen wir die Pferde füttern. Zäume nur ab, bedecke die Pferde<br />

und gib ihnen eine Hand voll Heu. Dann kannst du tränken, der<br />

Eimer steht hinter dir“.<br />

Joseph besorgte das Aufgetragene hurtig und willig. Thomas ließ<br />

den Pferden eine Krippe vorsetzen und Hafer einschütten.<br />

„Komm <strong>jetzt</strong>“, sagte er darauf zu Joseph. „Nimm den leeren<br />

Sack mit und die Lischke, wir müssen etwas zu essen einkaufen,<br />

auch die leere Teerpaudel<br />

ken unter dem Rathaus wurden die Lischke und<br />

Josephs weite Taschen mit Brot gefüllt. Die Teerpaudel hatte auch<br />

bald ihren zähen Inhalt, auch ein Bündel Stricke war leicht zu<br />

erlangen. Hafer aber wollte keiner der Bürger verkaufen, da der<br />

32 kannst du mitnehmen“.<br />

In den Brotbän<br />

32<br />

Teerpaudel = Gefäß/Dose/Schachtel für Teer, das zur Schmierung der Wagenräder<br />

verwendet wurde.<br />

26


gestrenge Herr Amtshauptmann Georg Dietrich v. der Gröben 33<br />

eine Haferlieferung ausgeschrieben hätte. Endlich gelang es doch,<br />

1 Scheffel zu erhalten, für den der bedeutende Preis v. 2 Danziger<br />

Örtern<br />

te Thomas, <strong>als</strong> sie<br />

Wagen aus. Thomas begab sich in die<br />

, und las<br />

hien ihn sehr zu<br />

ben der Wirtin Jungfer Esther, welche<br />

ntretenden hinter Esther laut wurden,<br />

e:<br />

ir es haben“.<br />

, dessen eine<br />

e, bis er eine Seite zu Ende gelesen hatte,<br />

er Diakon, die Brille abnehmend und in’s<br />

34 gezahlt werden musste.<br />

„Schütte den Pferden noch ein Futter ein“, sag<br />

zurückgekehrt waren, „dann kannst du noch eine Stunde auf dem<br />

Wagen schlafen. Hast vorige Nacht viel wachen müssen. Nimm<br />

vorher noch einen Schnaps!“<br />

Kauend verrichtete Joseph das ihm Aufgetragene und streckte<br />

sich dann behaglich auf dem<br />

Wirtsstube. Hier saß der Diakon auf einer Bank neben dem<br />

Fenster, den beschädigten Fuß langgestreckt auf der Bank<br />

in einem Buche in Quart 35 , das er aus seiner danebenstehenden<br />

Bücherkiste genommen hatte. Dieses sc<br />

interessieren, so dass er bald sein Käppchen verschob, bald mit<br />

der Faust auf den Tisch schlug. Vor dem Kamin aber saß auf<br />

einem niedrigen Schemel ne<br />

mit geschickten Fingern Obst zur Mittagsmahlzeit zu schälen und<br />

schneiden half.<br />

Als die Fußtritte des Ei<br />

wendete sie sich schnell um, stand freundlich, ohne Verlegenheit<br />

auf und sagt<br />

„Lieber Herr Thomas, Ihr habt mit uns viel Sorge und Mühe,<br />

kommt ein wenig essen, so gut w<br />

Mit diesen Worten geleitete sie Thomas zum Tische<br />

Seite mit einem zarten Tischtuch bedeckt war. Dann näherte sie<br />

sich ihrem Vater, wartet<br />

und bat ihn dann zum Essen. Thomas hatte das Flaschenfutter<br />

geöffnet und schenkte ein.<br />

„Gleich, Esther“, sagte der Diakon, und begann eine neue Seite<br />

zu lesen. Esther wartete, doch Thomas kam ihr zu Hilfe:<br />

„Herr Diakon“, sagte er, „wir müssen uns beeilen, sonst<br />

erreichen wir heute Rastenburg nicht mehr“.<br />

„Es ist wahr“, sagte d<br />

Buch legend, „doch das ist ein merkwürdiges Buch, es ist vom<br />

Magister Praetorius, der…“<br />

33<br />

(1666-1739) königlich preußischer Hofgerichtsrat.<br />

34<br />

In Danzig geprägte Münze.<br />

35<br />

Buchformat (Höhe zw. 25 u. 35 cm).<br />

27


„Nun kommt nur, würdiger Herr“, sagte Thomas, ihm in die<br />

Rede fallend, „und stärkt Euch, unterwegs erzählt Ihr mir mehr<br />

von dem schönen Buch“.<br />

„Was, schönes Buch?“, fuhr der Diakon auf, „ein Skandal ist es,<br />

dass ein…“<br />

Thomas reichte ihm das vollgeschenkte silberne Becherchen und<br />

schnitt so die weitere Rede ab.<br />

„Wie geht’s mit dem Fuß?“ fragte er teilnehmend.<br />

„Hm, so lange tat er nicht weh, aber <strong>jetzt</strong> schmerzt er wieder“,<br />

antwortete der Diakon.<br />

„Bleibt sitzen, lieber Herr“, sagte Thomas und rückte mit Esthers<br />

Hilfe den schweren Tisch heran. Sitzend verrichtete der Diakon<br />

das Tischgebet, und bald tat die kleine Gesellschaft den schnell<br />

von Esther bereiteten Apfelflinzen und dem Rührei alle Ehre an.<br />

„Wenn ihr’s gestattet, so besorge ich, dass angespannt wird und<br />

wir bald fortkommen, lasst Euch inzwischen nicht stören“, sagte<br />

Thomas und stand auf.<br />

Er ging bei dem schlafenden Joseph vorbei in den Krug nebenan,<br />

wo Jasch pfeifend und mit den Füßen baumelnd auf einer Krippe<br />

saß und ein höchst pfiffiges Gesicht machte.<br />

„Alles schon weg, Herr“, sagte er und zeigte mit der Hand nach<br />

hinten über die Straße.<br />

„Erzähle ordentlich“, erinnerte Thomas.<br />

„Nun, Herr“, sagte Jasch, „ich saß hier neben dem Wagen und<br />

wir ließen’s uns gut schmecken, die Pferde, der Hund und ich. Den<br />

Torweg hatte ich zugemacht und nur das kleine Türchen in<br />

demselben war offen, da hörte ich draußen Stimmen, ein Arm mit<br />

blauem Ärmel wird hineingesteckt und Jemand sagte: Da ist er ja.<br />

Der kleine Blaurock trat herein, weil er aber aus der Sonne kam,<br />

konnte er in dem halbdunklen Torweg mich nicht sehen. Er guckte<br />

herum. Da aber alles still blieb, ging er zu den Pferden. Da musste<br />

ich recht laut nießen. Der Kleine erschrak, kam aber sogleich auf<br />

mich zu und fragte, ob ich allein führe, wer meine Begleiter seien.<br />

Ob mein Herr mit wäre? Ich schüttelte den Kopf und sagte: Nix<br />

dütsch. Darauf fragte er, ob ich noch weit zu fahren hätte und von<br />

wo ich zu Hause wäre. Ich verstand alles<br />

ganz gut, was er fragte,<br />

denn, wenn ich auch wenig deutsch reden kann, wird mich doch<br />

niemand verkaufen. Ich sah ihn immer ernsthaft an und sagte: Nix<br />

dütsch. Als der Blaurock sah, dass mit<br />

mir nichts anzufangen sei,<br />

ging er um den Wagen herum, holte eine Wurst aus der Tasche,<br />

hob ein wenig die Plane in die Höhe, redete dem Cerber gut zu<br />

und reichte<br />

ihm die Wurst. Der Hund fuhr aber so geschwind und<br />

28


wütend auf die Hand zu, dass die Plane gleich zerriss. Der Kerl<br />

sprang zurück, verlor den Hut und die Wurst, raffte schnell beides<br />

auf und rannte hinaus. Ich ging ihm lachend bis zur Tür nach und<br />

sah, wie er sich mit einem großen Kerl durch das Lauenburger Tor<br />

entfernte!“<br />

„Es ist gut, Jasch“, sagte Thomas. „Komm <strong>jetzt</strong> in die Krugstube<br />

und trinke einen Stof<br />

h dir mit dem anderen<br />

höchste Zeit aufzubrechen“.<br />

36 Bier. Mit Hafer werden wir <strong>jetzt</strong> wohl<br />

reichen. Wenn die Pferde das Futter aufgefressen haben, dann<br />

kannst du abfahren. Fahr’ aber langsam und sieh dich um, ob du<br />

deine Freunde nicht siehst. Zu nahe an den Wagen werden sie<br />

wohl nicht kommen. In kurzer Zeit folge ic<br />

Wagen“.<br />

Jasch nickte und schlürfte behaglich sein Bier.<br />

„Vorwärts, Joseph“, sagte Thomas im Elefanten nebenan zu dem<br />

Knecht, den er mit einem Rippenstoß wecken musste. „Zäume auf,<br />

wir müssen fahren“.<br />

In der Stube fand Thomas den Diakon in sein Buch vertieft,<br />

während Esther am anderen Fenster beschäftigt war, einen Riss in<br />

dem Mantel ihres Vaters zu bessern.<br />

„Herr Diakon“, sagte Thomas, „tut mir leid, Euer Wohlehrwürden<br />

zu stören, wenn wir aber heute noch Rastenburg erreichen wollen,<br />

ist’s die<br />

Der Diakon legte das Buch in die Bücherkiste.<br />

„Eures Fußes wegen habe ich hier nach einem Arzt gefragt“,<br />

sagte Thomas, „doch wurde mir gesagt, dass der junge Dr. Lange,<br />

welcher recht geschickt sein soll, heute Morgen in’s Ermland zu<br />

einem Kranken gefahren sei und wohl erst in einigen Tagen<br />

wiederkommen würde“.<br />

Nachdem alles besorgt war, fuhren unsere drei Reisenden ab.<br />

Als der Wagen langsam über den Markt fuhr, machte Thomas die<br />

Esther auf einen aufrecht stehenden Stein aufmerksam, welcher<br />

mit wenig Kunst behauen, dem Beschauer, bei einiger Fantasie,<br />

die Gestalt eines knienden Weibes zeigte.<br />

„Seht, Jungfer Esther“, sagte er „das ist die Gustabalde von<br />

Bartenstein 37 . Mir wurde <strong>als</strong> Knabe schon der Stein gezeigt und<br />

dabei erzählt: Eine Mutter ging einstm<strong>als</strong> zur katholischen Zeit mit<br />

36<br />

Maß für einen Becher (1 Stof = 1,145 Liter).<br />

37<br />

Zwei in der Nähe von Bartenstein gefundene Steinfiguren aus der prußischen Zeit, sog.<br />

Baben,<br />

wurden <strong>als</strong> Bartel<br />

und Gustabalde bezeichnet. Ob diese Figuren Götter darstellen oder<br />

mit dem Totenkult<br />

zusammenhängen, lässt sich nicht sagen.<br />

29


ihrer erwachsenen Tochter zur Hochmesse. Die Tochter beklagte<br />

sich, dass sie so schlecht in Kleidern gehen müsste, die Mutter<br />

sollte nur sehen, wie die anderen Jungfrauen viel geputzter<br />

gekleidet seien. Darüber ist die Alte ergrimmt und hat die Worte<br />

ausgestoßen: Gehe, dass du zum Stein werdest! Alsobald ergeht<br />

der Mutter Fluch in seine Kraft und steht die Tochter noch da in<br />

Stein verwandelt. Das geschah aber, wie gesagt, zu katholischer<br />

Zeit“.<br />

„Und solchen katholischen Aberglauben will nun der Magister<br />

Praetorius, der selbst am Glauben irre geworden ist, hier wieder<br />

einführen“, fiel dem Diakon ein, „denkt Euch, Herr, dieser Mensch,<br />

ein Pfarrherr und Diener am Wort in Niebudzen 38 in unserem<br />

Litauen, verlässt seine Gemeinde, geht zu den Päpstlern über und<br />

schickt <strong>jetzt</strong> noch ein Buch in die Welt, nennt es Tuba pacis 39 . In<br />

welchem er die Potentaten 40 ermahnt, die Vereinigung der Päpstler<br />

und Lutheraner zu befördern. Er will, dass die Gemeinden, welche<br />

sich nicht durch Überzeugung zur Päpstlichen Kirche bringen<br />

lassen, mit Gewalt dazu gezwungen werden. Die Päpstler haben<br />

leider ohnedies schon Progressen 41 in unserem Preußen gemacht.<br />

In Königsberg 42 haben sie ihre Kirche seit 70 Jahren, die Linde 43<br />

bei Rössel fast ebenso lange, im Soldauschen auch zwei<br />

Patronatskirchen, und nun verlangen sie noch, wie ich <strong>jetzt</strong> in<br />

Königsberg hörte, dass ihnen dicht neben Tilsit eine Kapelle zu<br />

bauen erlaubt werden soll. Das ist aber, weil unser allergnädigster<br />

Kurfürst 44 ein Reformierter 45 ist. Unter der alten gottseeligen<br />

38<br />

Im späteren Landkreis Gumbinnen: vor 1945 Herzogskirch, bis 16.07.1938 Niebudschen.<br />

39<br />

Lat.: „Die Friedenstrompete“.<br />

40<br />

Die Herrschenden<br />

41<br />

Fortschritte<br />

42<br />

Der 1613 zum Kalvinismus übergetretene Kurfürst Johann Sigismund hatte dem polnischen<br />

König die Gleichberechtigung der Katholiken im Herzugtum Preußen zugestehen und den Bau<br />

einer katholischen Kirche in Königsberg versprechen müssen. Diese wurde auf dem Sackheim<br />

erbaut und 1616 eingeweiht.<br />

43<br />

Gemeint ist der Wallfahrtsort Heiligelinde.<br />

44<br />

Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg (* 16. Februar 1620 in Cölln an der Spree (heute zu<br />

Berlin); † 9. Mai 1688 in Potsdam) war von 1640 bis zu seinem Tode Kurfürst von<br />

Brandenburg und Herzog von Preußen aus dem Haus Hohenzollern. Seine pragmatischentschlossene<br />

und reformfreudige Regierungspolitik ebnete den Weg für den späteren Aufstieg<br />

Brandenburg-Preußens zur Großmacht und der Hohenzollern zu einem der führenden<br />

deutschen Herrscherhäuser, weswegen er auch den Beinamen der Große Kurfürst trägt.<br />

45<br />

Die deutschen Kalvinisten bezeichneten sich seit dem Ende des 16. Jhdts. Als „reformiert“<br />

nicht <strong>als</strong> „kalvinisch“.<br />

30


lutherischen Herrschaft hätte der Antichrist nicht solche<br />

Progressen machen können“.<br />

Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg<br />

Die Reisenden waren inzwischen vor die Stadt gekommen. Der<br />

schönste Sonnenschein lag über der herbstlichen, etwas hügeligen<br />

Landschaft, und bald entdeckte Esthers helles Auge auf der<br />

31


unbelebten Landstraße den blauen Planwagen, welcher eine<br />

ziemlich weite Strecke voraus langsam vorfuhr. Der Diakon, noch<br />

ganz ergriffen von seinem Buche, konnte es nicht lassen, seinen<br />

Reisegefährten aus demselben dies und das zu erzählen und seine<br />

Bemerkungen daran zu knüpfen, während Thomas und Esther<br />

zwar schweigende, doch eben nicht sehr aufmerksame Zuhörer<br />

waren.<br />

Langsam nur<br />

kamen sie vorwärts, und die Mittagszeit war schon<br />

vorüber, <strong>als</strong> der Wagen am Kruge zu Langheim<br />

.<br />

bringen“, sagte<br />

ba pacis griff. Esther nahm die Lischke mit<br />

untergebracht hatte, ging er zu Jasch, den er hinten<br />

t du deinen Freund Blaurock<br />

zog das Gesicht und machte eine halbkreisförmige<br />

46 neben dem<br />

Planwagen hielt, hinter welchem Jasch freundlich grinsend<br />

hervorkam<br />

„Hilf mir zuerst, den Herrn Diakon in die Stube<br />

Thomas, „dann kannst du dem Joseph die Wagen schmieren<br />

helfen“.<br />

Behutsam wurde der Diakon heruntergehoben.<br />

„Bin ganz steif vom Sitzen, doch mit dem Auftreten geht’s<br />

besser“.<br />

Mit diesen Worten humpelte er in die Krugstube, wo er bald<br />

wieder nach seiner Tu<br />

der Wegekost mit in die Stube. Nachdem Thomas Vater und<br />

Tochter gut<br />

am Planwagen fand.<br />

„Nun Jasch“, sagte er, „has<br />

gesehen?“<br />

Jasch ver<br />

Bewegung mit der linken Hand.<br />

„Deine Zeichensprache verstehe ich nicht“, sagte Thomas. „Rede<br />

deutlich!“<br />

„Ich war“, berichtete Jasch, „mit dem Wagen noch nicht lange<br />

zum Tore hinausgefahren, was seh’ ich von weitem, da ist mein<br />

Blaurock auf einen großen Stein dicht an der Straße geklettert und<br />

sieht immer zur Stadt zurück. Haha, dachte ich, du willst gern<br />

wissen, was ich geladen habe? Flugs zog ich den vordersten Bügel<br />

des Plans herunter, dass er mir fast bis auf die Beine reichte. Die<br />

Leinwand hat aber ein Loch und durch dies konnte ich ganz gut<br />

sehn, wie sich der Blaurock auf seinem Stein immer hin und her<br />

drehte, um mir in den Wagen zu sehen. Dann kamen noch zwei<br />

andere Kerle zu ihm. Ich war ihnen noch nicht lange<br />

vorbeigefahren, es war gerade eine schlechte Stelle und ging<br />

langsam, da höre ich den Cerber einmal anschlagen, und eine<br />

46 Ort halbwegs zwischen Bartenstein und Rastenburg.<br />

32


Stimme sagen: Der verfluchte Hund. Ach, den nehm ich auf mich,<br />

hörte ich eine andere Stimme sagen, wenn ich nur wüsste, wie viel<br />

Männer außer dem Kutscher drin sind. Haha, dachte ich, seid ihr<br />

mir wieder am Wagen? Es dauert nicht lange, da sah ich, wie sie<br />

abziehen. Alle drei hintereinander, wie die wilden Gänse in einer<br />

Reihe zur Seite der Straße und ließen mich bald hinten“.<br />

„Hast du hier nichts von den Kerlen gesehen?“ fragte Thomas.<br />

„Ich habe mich überall umgeschaut“, antwortete Jasch, „aber<br />

die müssen wohl sehen, dass der Cerber nichts von unserem<br />

Wagen stehlen lässt, und sind weitergelaufen“.<br />

Thomas rief den Joseph<br />

und ließ beide Wagen schmieren, was er<br />

beaufsichtigte und dabei Räder, Sielen und Stränge genau<br />

untersuchte. Sobald alles fertig war, befahl er aufzuzäumen und<br />

ging in die Stube.<br />

„Wollt ihr nicht einen Bissen essen?“, fragte Esther freundlich.<br />

„Danke, liebe Jungfer Esther“, erwiderte Thomas, „<strong>jetzt</strong> ist nicht<br />

Zeit dazu, wir müssen eilen, damit wir Rastenburg erreichen,<br />

bevor es völlig Nacht wird, und der Weg soll, wie ich gehört habe,<br />

schlecht genug sein. Wir werden <strong>als</strong>o ohnehin langsam fahren<br />

müssen“.<br />

Die Fuhrwerke wurden bestiegen. Thomas saß wieder Esther<br />

schräg gegenüber. Es ging langsam in dem lehmigen Wege.<br />

Allmählich senkte sich die Sonne, ein Nebel hüllte die Landschaft<br />

ein, und der kalte Abend eines Herbsttages stieg nieder. Als es<br />

finster zu werden begann, ließ Thomas anhalten und den Pferden<br />

Brot geben. An dem vorausfahrenden Planwagen wurde eine<br />

Stange mit einem Kreuzholz angebracht, an dem die angezündete<br />

Laterne gehängt wurde. Dann gab Thomas jedem der Knechte<br />

einen Schnaps.<br />

„Pass gut auf, Jasch“, sagte er, „und sieh,<br />

ob etwas vor den<br />

Pferden ist, damit du nichts umwirfst, und nun fahre langsam und<br />

vorsichtig“.<br />

Der Planwagen setzte sich in Bewegung.<br />

„Weißt was?“, sagte Thomas zu Joseph, „Du hast fast die ganze<br />

vergangene Nacht wachen<br />

müssen und bist schläfrig. Gib mir die<br />

Leine und lass’ mich fahren. Hier, setz’ dich rückwärts und nimm<br />

den Fuß deines Herrn. So bedecke ihn hübsch und, wenn du<br />

kannst, bleibe munter“.<br />

Der Diakon machte einige Redensarten: Es würde sich nicht<br />

schicken, dass Thomas sein Kutscher wäre und ähnliche. Doch mit<br />

den Worten: Ihr werdet doch nicht wollen, dass es Euch so gehen<br />

soll wie gestern Abend, schnitt Thomas den Strom der Rede ab,<br />

33


setzte sich auf den Kutschersitz und hatte bald den<br />

vorausfahrenden Wagen eingeholt. Der Plan warf einen langen<br />

runden Schatten hinter den Wagen, der langsam mit demselben<br />

fortrückte. In diesem Schatten fuhr der zweite Wagen dicht hinter<br />

dem ersten, den Spuren folgend und die geöffneten Gleise<br />

benutzend.<br />

Anfangs wurde noch etwas gesprochen, doch bald waren alle<br />

still. Joseph war schon eingeschlafen und dienerte bald vor-, bald<br />

rückwärts. Der Diakon brummte, wurde aber auch bald schläfrig<br />

und schwankte wie ein Pendel hin und her mit dem Oberkörper.<br />

Nur Esther schaute mit klugen hellen Augen um sich in die<br />

Dunkelheit und auf den Mann auf dem Kutschersitz, welcher<br />

aufmerksam rechts und links umherblickte, die Peitsche<br />

feststeckte und den Knopf am Kragen des Mantels<br />

lüftete. Der<br />

Nebel wurde dichter und hängte sich kalt und nass an die Kleider.<br />

Von dem Lichte der Laterne gingen breite konische Lichtstreifen<br />

aus und beleuchteten die Bäume des Waldes.<br />

Plötzlich hielt der vordere Wagen mit einem Ruck. Schnell hatte<br />

Thomas die Leine fest um die Runge geschlungen, stand auf, ließ<br />

den Mantel fallen und legte das Faustrohr an. Das Stahlrad<br />

sprühte einen Funkenregen, doch das Gewehr<br />

versagte. Esther<br />

sah einen Menschen auf dem Hinterrad des Planwagens stehen,<br />

der, eine Schlinge in der linken Hand haltend, mit einem dicken<br />

Knüttel die Leinwand in die Höhe zerrte.<br />

Thomas sprang mit der unbrauchbar gewordenen Feuerwaffe<br />

vom Wagen,<br />

versetzte mit dem Kolben dem Kerl einen Hieb über<br />

den Kopf, dass der Hut herabfiel, und riss ihn mit einem Ruck vom<br />

Wagen. Esther stand auf und rief mit klingender durchdringender<br />

Stimme:<br />

„Heinrich, Johann, Samuel, sputet euch, dass ihr mit euern<br />

Wagen nachkommt, dann können wir die<br />

Strolche fangen!“<br />

Der Diakon, vom Schlummer aufgeschreckt, erhob seine<br />

Stimme. Joseph aber stieß ein wahrhaft entsetzliches Gebrüll aus,<br />

das weithin durch den Wald schallte.<br />

Da der Kerl, welchen Thomas gepackt hatte und der anfangs<br />

Miene machte sich zu wehren, die Männerstimmen ganz in<br />

nächster Nähe hörte, riss er sich los und rannte mit großer<br />

Schnelligkeit in den Wald. Thomas sah bei zitterndem Scheine der<br />

Laterne, dass ein Mensch vor den Pferden des Planwagens stand,<br />

die er an den Zügeln gefasst hatte, dem Jasch aber mit der<br />

Peitsche einen Hieb über das Gesicht riss. Neben den Pferden aber<br />

lag unter Cerber und vom Hunde am H<strong>als</strong>e gepackt, ein Kerl, der<br />

34


wie ein Fisch auf dem Trockenen mit Händen und Füßen um sich<br />

schlug, dass der Schmutz der Straße weithin umherspritzte. Als<br />

Thomas sich näherte, ergriff der Mensch, der die Pferde hielt, das<br />

Hasenpanier iegende machte noch<br />

uss in den<br />

aren. Das Pferd hatte dabei mit dem Messer am<br />

aber noch nicht ganz oben,<br />

n die Wagen sich wieder in Bewegung.<br />

rte<br />

e verschnaufen und<br />

gebt ihnen etwas Brot“, sagte er, zog dann aus der Tasche einen<br />

47 . Der unter dem Hunde l<br />

gewaltigere Anstrengungen, um loszukommen.<br />

„Seid barmherzig, Herr!“ sagte Esther dringend „und ruft den<br />

Hund zurück. Er erwürgt den Menschen!“.<br />

Auf einen Pfiff ließ Cerber den Kerl los, der so schnell er<br />

vermochte, davonlief. Er kam zu seinem Herrn und brachte<br />

diesem ein großes Stück des H<strong>als</strong>tuchs in der Schnauze, das er<br />

seinem Gegner abgerissen hatte. Thomas legte es, nachdem er<br />

einen Blick darauf geworfen hatte, in seinen Wagen. Darauf<br />

schüttete er frisches Pulver auf, schickte einen Sch<br />

Wald, um die etwa noch lauernden Wegelagerer zu verscheuchen.<br />

Er ging dann, nachdem alle Feinde in die Flucht geschlagen waren,<br />

mit den beiden Knechten die Fuhrwerke untersuchen.<br />

Es war weiter kein Schaden entstanden, <strong>als</strong> dass eine<br />

H<strong>als</strong>koppel gerissen, die Sielenstränge eines Pferdes<br />

durchschnitten w<br />

Bein eine leichte Wunde erhalten. Während die Knechte in der Eile<br />

die Sielen zurechtmachten und Thomas das Pferd verband,<br />

erzählte Jasch:<br />

„Ein Stein kam mir plötzlich dicht am Kopfe vorbeigeflogen.<br />

Zugleich erschien das Gesicht eines Menschen, der auf der Straße<br />

gelegen haben muss, zwischen den Pferden. In demselben<br />

Augenblick schnitt ein großer Kerl die Stränge des dritten Pferdes<br />

durch und stieg auf die Bracke. Er war<br />

<strong>als</strong> Cerber von hinten aus dem Wagen an mir vorbeischoss und ihn<br />

mit großem Schwung in den Dreck schmiss. Dem Blaurock aber<br />

hab’ ich gut über die Fratze gehauen“.<br />

Joseph meinte, wenn er nur nicht seines Herrn Fuß hätte halten<br />

müssen, so hätte er einen von den Kerlen, die Jasch entwischen<br />

ließ, wohl gefangen genommen. Da der Schaden bald<br />

ausgebessert war, setzte<br />

Thomas ging mit Cerber hinter denselben nach und feue<br />

zuweilen einen blinden Schuss ab, um die Wegelagerer von der<br />

Verfolgung abzuhalten.<br />

Einige hundert Schritte hinter dem Wald ließ Thomas halten.<br />

„Hier sind wir ziemlich sicher. Lasst die Pferd<br />

47 Die Flucht ergreifen.<br />

35


Reichs-Ort 48 und reichte ihn Jasch: „Für den Hieb“, sagte er dabei,<br />

Joseph erhielt auch einen: „Für dein Gebrüll“.<br />

Der Diakon hatte noch seinen besonderen Jammer, er hatte<br />

nämlich, um nicht immer die Bücherkiste öffnen zu müssen, die<br />

Tuba pacis in seinen Mantel gesteckt. Beim Überfall war das Buch<br />

vom Wagen gefallen und lag <strong>jetzt</strong> auf der Landstraße. Während<br />

der Diakon klagte und die Knechte die Pferde fütterten, reichte<br />

Thomas dem Diakon einen Becher Wein.<br />

„Trinkt einen Schluck, würdiger Herr“, sagte er, „und auch Ihr,<br />

Jungfer Esther.<br />

Ihr dürft nichts fürchten. Cerber deckt unseren<br />

Rücken und in 2 Stunden, hoffe ich, werden wir Rastenburg<br />

erreichen“.<br />

„Kommt zu uns auf den Wagen, lieber Herr“, sagte Esther, „lasst<br />

Cerber seinen Dienst allein verwalten“.<br />

Thomas stieg ein, und die Wagen setzten sich in Bewegung.<br />

„Ihr habt Euch wohl sehr erschreckt, Jungfer Esther, <strong>als</strong> die<br />

Strolche uns überfielen?“ fragte Thomas.<br />

„Ich hatte etwas erwartet“, antwortete<br />

sie, „<strong>als</strong> ich Euch so<br />

unruhig sah. Meint Ihr denn, ich hätte nicht gesehen, dass Ihr das<br />

Feuerrohr unter dem Mantel hattet?“<br />

„Glaubt mir, Jungfer Esther“, erwiderte Thomas, „ich war in<br />

großer Verlegenheit, ich konnte Euch nicht ängstigen, da eben<br />

noch nichts vorlag. Ich konnte auch nicht vermuten, dass das<br />

Gesindel so frech<br />

sein würde, uns auf offener Landstraße<br />

anzufallen. Dass es etwas vom Wagen in den Krügen stiehlt,<br />

ist<br />

nichts Seltenes“.<br />

„Euer Cerber ist aber auch ein treffliches<br />

Tier“, sagte sie.<br />

„Ja, der gute Hund hat mir bei meinen Reisen in Polen<br />

oft<br />

beigestanden“, antwortete Thomas.<br />

Wieder klagte der Diakon über sein verlorenes Buch.<br />

„Über Eurer Tuba pacis, Herr Diakon“, sagte Thomas mit halbem<br />

Lächeln, „scheint ein Unstern zu schweben. Derselbe schielende<br />

Kerl dem Ihr, Jungfer Esther, Euer Tuch schenktet, hatte schon im<br />

Kruge zu Zohlen die Bücherkiste ergriffen, um damit abzugehen,<br />

<strong>als</strong> ihn Cerber packte. Das sind schon Bekannte von gestern<br />

Abend“.<br />

„Woher wisst Ihr denn“, fragte der<br />

Diakon, „dass der Spitzbube,<br />

der meine schönen Bücher stehlen wollte, der Bettler und der<br />

Wegelagerer dieselbe Person ist?“<br />

48 Eine Münze (1/4 Taler = 6 Groschen).<br />

36


„Das war eben nicht schwer zu ergründen“, sagte Thomas. „Als<br />

der Kerl uns anbettelte, bemerkte ich, dass ihm ein Teil seiner<br />

Jacke und seines H<strong>als</strong>tuchs abgerissen war. Die Fetzen hatte<br />

Cerber ihm abgerissen, auch mit seinen Nägeln einige Spuren<br />

eingekratzt, und <strong>jetzt</strong> nach dem Überfall brachte mir Cerber ein<br />

großes Stück vom Tuch der Jungfer Esther, das sie dem Kerl<br />

geschenkt hatte“.<br />

„Wie erbärmlich konnte sich der Mensch anstellen, <strong>als</strong> er uns<br />

anbettelte“, sagte der Diakon.<br />

Der Nebel hatte sich verzogen, unsere Reisenden kamen, ohne<br />

weiter<br />

beunruhigt zu werden, langsam im aufgeweichten<br />

Lehmwege weiter und erblickten endlich<br />

zu ihrem Troste die<br />

Lichter der Stadt Rastenburg.<br />

„Fahr zu, Jasch, damit wir vor Toresschluss die Stadt erreichen“,<br />

rief<br />

Thomas.<br />

Alter Stich von Rastenburg<br />

37


4. Ein Zwischenaufenthalt in Rastenburg<br />

Die müden Pferde wurden angetrieben, und, nachdem das Tor<br />

passiert war, fuhren beide Wagen durch die ungepflasterten<br />

Straßen der Stadt zum Lachs 49 .<br />

Hier half Thomas dem Diakon vom Wagen, führte ihn in die<br />

Stube und bestellte bei der bekannten Wirtin, für seine<br />

Reisegefährten bald ein gutes Bett zu machen. Nachdem er ihr<br />

Abenteuer erzählte, begab er sich zum Herrn Bürgermeister.<br />

Dieser war eben aus dem Bierhaus heimgekommen und im<br />

Begriff, zu Bett zu gehen. Thomas erzählte ihm von dem Überfall<br />

und forderte ihn auf, zum Schutz der Reisenden die Strolche<br />

verfolgen zu lassen.<br />

Kopfschüttelnd hörte der Bürgermeister den Bericht an, ließ den<br />

Stadtschreiber holen, und die drei Männer begaben sich nach dem<br />

Lachs.<br />

Der Diakon wurde zuerst vernommen, dann seine Tochter,<br />

darauf Jasch und Joseph. Der Stadtschreiber schrieb ein sehr<br />

ausführliches Protokoll 50 . Inzwischen ging Thomas zum<br />

Feldscheer 51 , mit dem er nach einiger Zeit ankam. Er ging mit<br />

diesem in das Kämmerchen zu dem Diakon, der sich zu Bett<br />

gelegt hatte. Der Feldscheer untersuchte den Fuß und präparierte<br />

dann unter einem Schwall von Worten ein Perlenwasser, welches<br />

der Kranke zu seiner Stärkung trinken sollte und das auch auf den<br />

Fuß gelegt werden sollte. Dann empfahl sich der Feldscheer, von<br />

Thomas hinausgeleitet, der ihm an der Tür seine Verehrung<br />

aussprach.<br />

49<br />

Krug (Gaststätte) in Rastenburg.<br />

50<br />

Anmekung E. Anderson: Diesem Umstande verdanken wir es, dass wir über eine Reise im<br />

Jahre 1687 so genau unterrichtet sind.<br />

51<br />

Barbier, Wundarzt<br />

38


„Auch ein Arzt, Feldscheer, kurierte bereits im 17. Jahrhundert unsere Vorfahren; freilich<br />

erfahren wir nur von einer unglücklichen Kur, die er gemacht. Als der Kaufgesell Johann<br />

Anderson am 4. September 1697 vom Goldaper Ägidimarkt heimkehrte, bekam er acht Mal<br />

hintereinander die schwere Krankheit. Der Feldscheer gab ihm Medizin, nach welcher ihn die<br />

Krankheit verließ, doch er starb nach wenigen Tagen. Merkwürdig und höchst auffallend war<br />

die Tracht der Ärzte im 17. Jahrhundert in Zeiten einer ansteckenden Seuche. Sie trugen bei<br />

ihren Krankenbesuchen ein langes Kleid von Wachstuch, der Kopf war verhüllt und das<br />

Gesicht mit einer Larve überzogen, um die Krankheitsstoffe abzuhalten. Die Augen waren<br />

durch Kristallbrillen geschützt; die Nase war behufs Aufnahme schützender, wohlriechender<br />

Spezereien zu einem Schnabel erweitert, nach welchem diese Männer auch Schnabeldoktoren<br />

genannt wurden. In den mit Handschuhen bekleideten Händen trugen sie einen langen Stab,<br />

um auf das hinweisen und das bezeichnen zu können, was der Kranke zu gebrauchen und zu<br />

beobachten habe“ [Aus der Masurischen Heimat, 1886 H. Braun, S.56].<br />

39


Die Wirtin brachte das bestellte Abendbrot, dem der Diakon<br />

tüchtig zusprach. Nach dem Dankgebet legte er sich bequem<br />

zurecht und schlief sogleich ein.<br />

Esther war etwas besorgt, dass ihr Vater von dem gerühmten<br />

Perlenwasser nur einmal getrunken habe, doch Thomas beruhigte<br />

sie und meinte, dass solch ein ruhiger, gesunder Schlaf ihren<br />

Vater mehr stärken würde <strong>als</strong> alles Wasser über zerstoßene Kiesel<br />

gegossen. Er wünschte dem Mädchen eine gute Nacht und ging<br />

in’s große Zimmer, wo der Herr Bürgermeister noch immer<br />

verhandelte.<br />

Als corpus delicti 52 lag auf dem großen Tisch neben dem Tuch,<br />

das Esther dem Bettler geschenkt hatte, der Stein, der in den<br />

Wagen nach dem Haupte des Jasch geworfen war, die dem<br />

Strolche von Cerber abgerissenen Kleiderfetzen und ein großer<br />

Knüttel, den Joseph <strong>als</strong> Siegestrophäe aufgehoben hatte.<br />

Glücklicherweise war bei der Vernehmung der Knechte kein<br />

Dolmetscher nötig, da der Stadtschreiber der polnischen Sprache<br />

vollständig mächtig war. Damit dem Herrn Bürgermeister beim<br />

Diktieren der Mund nicht zu trocken werden möchte, stellte<br />

Thomas eine Flasche Wein auf den Tisch.<br />

Endlich war man mit den Knechten fertig, und nun gab Thomas<br />

seine Aussage kurz und klar zu Protokoll, während der<br />

Bürgermeister sich durch einen Schluck Wein stärkte.<br />

Nachdem die Verhandlung geschlossen war, übergab der<br />

Bürgermeister die Akten und die erbeuteten Gegenstände dem<br />

Stadtschreiber und setzte sich wieder nieder, um den Rest des<br />

Weins zu vertilgen. Thomas brachte noch eine Flasche und setzte<br />

sich zu ihm.<br />

„Nun, gestrenger Herr Bürgermeister“, begann er das Gespräch,<br />

„was gedenkt Ihr denn gegen die Wegelagerer zu unternehmen?“<br />

Der Bürgermeister schlürfte langsam sein Glas aus, setzte es<br />

bedächtig nieder und sagte:<br />

„Der Herr muss wissen, dass der Wald, in dem er überfallen<br />

worden, nicht zum Stadtgebiet gehöret, sondern der Witwe Helene<br />

Tiesel v. Daltitz 53 . Morgen gedenke ich, alles dem Herr<br />

Amthauptmann Gnaden Otto Wilhelm v. Perband 54 zu übergeben,<br />

52 Beweisstück<br />

53 Im <strong>Angerburg</strong>ischen begüterte Adelsfamilie.<br />

54 Otto Wilhelm v. Perband, geb. 1635, gest. 1705, Amtshauptmann, Obermarschall,<br />

Landhofmeister, Ritter des Schwarzen Adler-Ordens.<br />

40


der dann wohl in einiger Zeit an die Oberratsstube in Königsberg<br />

berichten wird“.<br />

„Auf diese Art kann’s aber noch lange dauern, bis das Gesindel<br />

aufgegriffen wird. Inzwischen kann noch Mancher überfallen<br />

werden“, erwiderte Thomas.<br />

„Nun“, meinte der Herr Bürgermeister, „bei dem schlechten Weg<br />

reisen <strong>jetzt</strong> wenige Menschen, und ist erst Schlittbahn, dann<br />

fahren so viele Schlitten, dass Niemand sie anzugreifen wagen<br />

wird“.<br />

„Doch Ihr könnt mir vielleicht sagen, Herr Bürgermeister, ob<br />

nicht im Laufe des morgenden Tages von hier aus Jemand nach<br />

Lyck fährt?“ fragte Thomas.<br />

„Bei dem schlechten Wege wartet jeder auf den Schlittweg“,<br />

antwortete der Bürgermeister, „außer der Post fährt <strong>jetzt</strong> kein<br />

Mensch!“<br />

„Wann kommt denn die Post?“ fragte Thomas.<br />

“Morgen ganz früh soll die Post, die von Königsberg wöchentlich<br />

seit 2 Jahren hier durch bis Lyck geht, ankommen. Es wird aber<br />

gut Mittag, auch wohl noch später werden, bevor sie hier anlangt.<br />

Doch es ist spät“, mit diesen Worten stand er auf und empfahl<br />

sich.<br />

Thomas ging in den Stall, nach den Knechten und Pferden zu<br />

sehen. Er fand Jasch und Joseph in lebhafter Unterhaltung im<br />

Heuwinkel liegen, eine große Kruke 55 Branntwein zwischen sich<br />

und Cerber zu ihren Füßen.<br />

„Jasch!“ morgen geht’s früh fort, auch für dich Joseph“, sagte<br />

Thomas, seinen Hund streichelnd, „<strong>jetzt</strong> werde ich noch jedem von<br />

Euch einen Schnaps geben, das übrige verwahre ich bis morgen<br />

früh. Steht zeitig auf, dann könnt Ihr die Kruke von mir holen. Du<br />

hast doch für den Cerber gesorgt, Jasch?“ Dieser bejahte.<br />

„Nun, gute Nacht, geht mit dem Licht vorsichtig um“, sagte<br />

Thomas und begab sich in der kleinen ihm angewiesenen Kammer<br />

zur Ruhe. Er dankte Gott von Herzen für die gnädige Bewahrung.<br />

Da Thomas von Rastenburg östlich ablenken musste und fernerhin<br />

dem Diakon und seiner Tochter nicht weiter Schutz und<br />

Unterstützung verschaffen konnte, war es ihm eine große<br />

Beruhigung, dass sie bis Lyck mit dem Postwagen zusammen<br />

fahren konnten, und so schlief er recht ermüdet ein.<br />

55 Steinkrug<br />

41


Bald nach 3 Uhr morgens war am anderen Tage Jasch schon mit<br />

seiner Laterne da, um den Schnaps abzuholen. Thomas kleidete<br />

sich an und ging in den Stall, wo er die Knechte neben dem<br />

Branntwein im Heu liegend fand. Bei seiner Annäherung sprangen<br />

beide auf und begannen, die Pferde zu putzen. In’s Haus<br />

zurückgekehrt, fand Thomas die Magd schon auf und bestellte<br />

Frühstück. Als er in die große Wirtsstube gehen wollte, kam ein<br />

leichter Schritt die Treppe herab, und bei dem hellen roten Schein<br />

des Feuers, der durch die gewölbte offene Küchentür fiel, erkannte<br />

er Esther.<br />

„Guten Morgen, mein liebes Jungferchen“, rief Thomas ihr<br />

freundlich entgegen. „Schon auf und fertig angezogen? Es ist ja<br />

kaum ½ 5 Uhr. Wie geht es denn mit unserem Kranken?“<br />

„Danke“, erwiderte Esther, „mein Vater hat bis <strong>jetzt</strong> vortrefflich<br />

geschlafen. Als er aufwachte, hungerte ihn, deswegen wollte ich<br />

das Frühstück bestellen gehen“.<br />

„Ist schon geschehen“, sagte Thomas, doch wenn Sie erlaubt,<br />

Jungfer Esther, so gehe ich mit Ihr zum Vater, da ich bald<br />

abreisen muss“.<br />

„Wie, Ihr wollt nicht mehr mit uns zusammen fahren?“ fragte<br />

Esther, ihn mit den hellen braunen Augen ansehend.<br />

„Muss eilen, dass ich heim komme“, antwortete Thomas. „Mein<br />

alter Vater erwartet mich schon seit mehreren Tagen“.<br />

Beide stiegen gemeinsam die Treppe hinauf und traten in das<br />

Kämmerchen. Dieses war schon vollständig aufgeräumt und<br />

Esthers Bette gemacht. Der Diakon saß mit der Brille auf der Nase<br />

im Bette und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Er<br />

winkte seiner Tochter und ihrem Gefährten und las mit lauter<br />

Stimme den Morgensegen, dann begann er, mit seiner zitternden<br />

Stimme zu singen:<br />

„In Jesu Namen reis’ ich aus,<br />

der selbst aus seines Vaters Haus<br />

<strong>als</strong> aus dem höchsten Freudental<br />

ist kommen in dies Jammertal.<br />

Was man in Jesu Namen tut,<br />

das macht uns freudig Herz und Mut.<br />

Es muss in ihm geraten wohl<br />

und seines Segens werden voll.<br />

Du Jesu, richtest meinen Fuß,<br />

dass nichts an dir mich wenden muss.<br />

42


Du führst mich aus und wieder ein,<br />

durch dich wird Alles heilsam sein.<br />

Befiehl den Engeln, dass sie mich<br />

auf allen Wegen sicherlich<br />

begleiten und durch ihre Wach’<br />

abwenden alles Ungemach.<br />

Treib unsre Sachen glücklich fort<br />

und bringe selbst mich an den Ort,<br />

wo ich will diesmal reisen hin.<br />

Lenk aller frommen Christen Sinn,<br />

dass sie mich willig nehmen an,<br />

wenn ich nicht weiter reisen kann.<br />

Zu solchen Leuten führe mich,<br />

die fromm sind und recht lieben dich.<br />

Vor Straßenräubern mich bewahr’,<br />

vor Wassers Not und Kriegsgefahr,<br />

vor wilden Tieren, Fall und Brand,<br />

behüte mich vor Sünd’ und Schand!<br />

In deine Händ’ ergeb’ ich dir<br />

Leib Seel’ und was sonst ist bei mir,<br />

an allen Orten, nah und weit,<br />

bei jedermann zu jeder Zeit.<br />

Behüt’ in Gnaden Weib und Kind,<br />

Blutsfreunde, Haus, Hof, Vieh, Gesind,<br />

und was ich mehr verlassen hab’,<br />

allda wend’ alles Unglück ab.<br />

Und wenn ich glücklich dann vollbracht,<br />

was zu vollbringen ich gedacht,<br />

so führe mich selbst in mein Haus,<br />

wie du mich hast geführet aus.<br />

Und lass mich finden unversehrt,<br />

was Du aus Gnaden mir beschert.<br />

Für solchen Schutz und Geleit,<br />

o Gott! Dank ich in Ewigkeit“.<br />

Esther sang mit ihrer vollen reinen Stimme mit bis zu Ende.<br />

„Gott segne unseren Ausgang und Eingang, mein lieber Freund“,<br />

sagte der Diakon, Thomas die Hand reichend.<br />

„Gott Lob, dass ich Euch so wohl finde, mein würdiger Herr“,<br />

sagte Thomas, „doch Euer Fuß, ist er besser? Erlaubt, dass ich ihn<br />

besehe“.<br />

43


Nachdem der Verband entfernt war, zeigte sich der Fuß, wenn<br />

auch noch nicht ganz heil, doch ohne jede Spur von Entzündung.<br />

„Der Fuß sieht ja, Gott sei Dank, ganz gut aus“, sagte Thomas,<br />

die Binden wieder umlegend, „das ist für mich ein großer Trost, da<br />

ich leider in einer Stunde Euch verlassen muss. Bleibt <strong>jetzt</strong> bis<br />

gegen Mittag im Bett, die Post, welche von Königsberg nach Lyck<br />

fährt, kommt heute hier durch, und wenn Ihr der Post immer<br />

nachfahrt, so kommt Ihr, so Gott will, wohlbehalten heim“.<br />

Esther war unterdessen in die Küche gegangen, damit das<br />

Frühstück schneller fertig würde, und erschien nun, gefolgt von<br />

der Magd, die eine große Zinnschüssel voll Biersuppe trug, mit<br />

Zinntellern und Löffeln. Ein Tisch wurde an das Bett des Diakon<br />

gerückt, von Esther zierlich bedeckt und die Schüssel und Teller<br />

darauf gestellt. Dem Vater reichte sie seinen Teller in’s Bett und<br />

setzte sich Thomas gegenüber. Plötzlich drehte sich Esther mit<br />

einem kleinen Schrei um. Da stand Cerber freundlich wedelnd und<br />

legte ihr seine kalte Schnauze in die Hand. Esther zog erschreckt<br />

die Hand fort, legte sie aber gleich wieder liebkosend auf den Kopf<br />

des Hundes.<br />

„Seht, Jungfer Esther“, sagte Thomas, „wie der Hund Euch<br />

zugetan ist. Es ist sonst nicht seine Art zu schmeicheln“.<br />

„Der schöne treue Hund“, sagte Esther, „er ist Euch gewiss recht<br />

wert!“ Sie schöpfte einen Teller voll Suppe, brockte Brot ein und<br />

setzte ihn für den Hund zu ihren Füßen. Cerber leckte ihr die Hand<br />

und begann zu frühstücken. Thomas hatte bald sein Mahl beendet,<br />

ging zu den Knechten, ließ die Sachen des Diakon auf seinen<br />

Wagen laden und die Gefäße zurecht machen.<br />

„Nun pass auf, Joseph“, sagte Thomas, <strong>als</strong> alles zu seiner<br />

Zufriedenheit geordnet war. „Ich kann nicht weiter mit Euch<br />

mitfahren, aber ich hab’ dem Postmeister gesagt, der wird dir<br />

vorfahren. Du bleibst immer mit deinem Wagen so weit hinter dem<br />

Postwagen, wie gestern hinter dem meinen. Wo der Postwagen<br />

fährt, da fährst du auch. Wo der Postillon füttert, da fütterst du<br />

auch. Schläfst mir auch nicht ein, und deinem Herrn hilf immer gut<br />

vom Wagen und wieder herauf. Der Postmeister wird mir sagen,<br />

wie du dich betragen hast. War’s gut, sollst du einen schönen<br />

Jahrmarkt 56 kriegen, war’s schlecht dann gibts Padoschke 57 . Du<br />

kennst mich!“<br />

„Ach Herr“, antwortete Joseph, „ich werd alles gut machen!“<br />

56<br />

Belohnung / Geschenk<br />

57<br />

Prügel<br />

44


„So, <strong>jetzt</strong> nimm noch einen Schnaps. Ihr habt doch schon<br />

gefrühstückt?“<br />

„Ja, Herr“, antworteten beide Knechte. „Dann spanne gleich<br />

meinen Wagen an, Jasch. Wir müssen heute nach Hause, und es<br />

sind 4 starke Meilen“.<br />

Thomas ging in die Wirtsstube und, nachdem er bezahlt hatte,<br />

stieg er die Treppe hinauf und trat wieder in das Kämmerchen, wo<br />

der Diakon im Bette las und Esther an der Erde kniete, den<br />

schönen Hund streichelnd, welcher sich diese Liebkosung gern<br />

gefallen ließ.<br />

„Ich komme, Abschied von Euch zu nehmen, würdiger Herr“,<br />

sagte Thomas. „Gott gebe Euch und Eurer Jungfer Tochter eine<br />

glückliche Heimkehr“.<br />

Der Diakon nahm die Brille ab, legte sie in’s Buch und reichte<br />

Thomas seine beiden Hände:<br />

„Gott segne Euch, mein Sohn“ sagte er, „und vergelte Euch nach<br />

seiner reichen Gnade, was Ihr an uns getan habt. Wir werden<br />

Eurer im Gebet vor dem Herrn gedenken“.<br />

Esther begleitete Thomas mit dem Lichte in der Hand hinaus.<br />

„Tragt Sorge, Jungfer Esther“, sagte er, sich zu ihr wendend,<br />

„dass Euer Vater bis gegen Mittag im Bett bleibt. Wenn Ihr das<br />

Posthorn hört, ist’s für ihn Zeit aufzustehen. Lass Euer Joseph sich<br />

nur immer dicht hinter dem Postwagen halten. So kommt Ihr gut<br />

nach Hause. Nun lebt wohl“.<br />

Esther sah verlegen zur Erde: „Verzeiht, Herr Thomas“, sagte<br />

sie. „Was Ihr an uns seit vorgestern Abend getan habt, kann Euch<br />

nur der liebe Gott vergelten“. Sie drehte das Schürzenband, „aber<br />

Ihr habt so viele und mancherlei bare Ausgaben für uns gehabt.<br />

Wollt Ihr mir nicht die Summe nennen? Ich glaube, mein Vater<br />

würde daran denken…“.<br />

Thomas schaute ihr lächelnd in das errötende Gesicht.<br />

„Mein liebes Jungferchen“, sagte er „<strong>als</strong>o Sie will durchaus <strong>als</strong><br />

rechter Kaufmann das Credit und Debet in Ordnung bringen. Da<br />

muss ich schon darauf eingehen und Ihr eine Gegenrechnung<br />

machen. Was meint Sie wohl, dass meine Waren wert sind, die ich<br />

geladen habe?“<br />

Esther sah groß und verwundert zu ihm auf. „Nun, dass alle<br />

diese Waren noch mein sind, dass ich und Jasch noch ganze<br />

Gliedmaßen haben, ja, dass wir noch am Leben sind, alles das<br />

habe ich nur Ihrer Geistesgegenwart zu verdanken, mit der Sie<br />

beim Überfall den Knechten zurief, dass sie uns zu Hilfe kommen<br />

sollten. Wie kann ich Ihr, meine liebe Jungfer Esther, so viel<br />

45


zahlen, <strong>als</strong> ich, Jasch und mein Wagen nebst seinem Inhalte wert<br />

sind? Doch nun lebt wohl!“<br />

Esther blieb auf dem Treppenabsatz stehen, das Licht in der<br />

Hand. Er wandte sich um und reichte ihr nochm<strong>als</strong> die Hand.<br />

Unten an der Treppe erwartete ihn Joseph mit dem Mantel.<br />

„Joseph, bring deine Herrschaft gut nach Hause“, waren die<br />

letzten Worte, die Esther von Thomas hörte. Dann zogen die<br />

Pferde an, und allmählich verschlang der Lärm der sich<br />

belebenden Straße das Rollen des sich entfernenden Wagens.<br />

Esther kehrte zurück in die Kammer und, da ihr Vater<br />

eingeschlafen war, löschte sie das Licht, setzte sich in der daneben<br />

liegenden Stube an eines der Fenster, die zum Markt gingen, und<br />

schaute hinaus in den dämmrigen kühlen Morgen.<br />

Bald gesellte sich die alte korpulente Wirtin zu ihr, welche<br />

neugierig durch die Worte vom Überfall der Räuber, die sie<br />

gestern vernommen und dem späten Besuch des Bürgermeisters<br />

und Stadtschreibers, <strong>jetzt</strong> das junge Mädchen so recht von Grund<br />

aus ausfragen wollte.<br />

„Einen schönen guten Morgen“, sagte sie knicksend, „die Jungfer<br />

schaut dem Herzliebsten nach. Ja, ja, so geht es. Lieben und<br />

meiden, schweigen und scheiden, trauern und…“<br />

„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Esther, sich schnell zu ihr<br />

umwendend. Was meint Sie damit?“<br />

„Nun“, sagte die Wirtin, mehrm<strong>als</strong> mit dem Kopfe nickend, „den<br />

stattlichen Herrn meine ich, der eben abfuhr und mit dem Sie so<br />

verschämt vor dem Abschied redete“.<br />

Esther traten die Tränen in die Augen: „Wie können Sie so etwas<br />

sagen, Frau Wirtin? Ich habe den Herrn vorgestern Abend zum<br />

ersten Mal im Leben gesehen“, und nun erzählte sie in fliegender<br />

Eile ihre Erlebnisse.<br />

„Tut mir leid, mein liebes Jungferchen“, sagte die Alte gutmütig.<br />

„Durch meine unüberlegten Worte Ihr weh getan zu haben. Wenn<br />

Sie aber gehört hätte, wie der Herr vor einer halben Stunde Euren<br />

Vater und besonders Euch, die Ihr allein und unbekannt mit Eurem<br />

durch Gelehrsamkeit, Krankheit und Alter unbehilflichen Vater und<br />

einem spitzbübischen faulen polnischen Knechte unterwegs wäret,<br />

meiner Sorgfalt empfahl, so würdet ihr nicht Euch so wundern<br />

dürfen, dass ich glaubte, der Anderson stände Euch näher und…“<br />

„Der Herr heißt <strong>als</strong>o nicht Thomas?“ fragte Esther verwundert.<br />

„Sein Knecht und wir alle haben ihn immer Herr Thomas genannt“.<br />

„Das ist nur sein Vorname“ sagte lächelnd die Wirtin. „Er heißt<br />

so nach seines Vaters Bruder Tom Anderson, der seinerzeit ein<br />

46


schmucker Bursche war. Seht, ich stamme auch, wie die<br />

Andersons, aus schottischem Geblüt. Mein Vater, der alte<br />

Hamilton war ein Blutsfreund von Thomas’ Großvater, und wir<br />

Schotten halten zusammen. Der alte Wilm Anderson aus<br />

<strong>Angerburg</strong>, der Vater des Thomas, ist noch nie irgendwo anders in<br />

Rastenburg eingekehrt <strong>als</strong> hier, wenn er herkam. Ich kann mich<br />

sehr gut darauf besinnen. Es mögen wohl an 16 Jahre her sein,<br />

(mein Eheherr lebte dam<strong>als</strong> noch), <strong>als</strong> der Thomas zuletzt hier<br />

war. Früher kam er öfters. Der Vater nahm ihn immer auf seinen<br />

Handelsreisen mit“.<br />

„Seit einigen Jahren hab’ ich mich zur Ruhe gesetzt, weil aber<br />

vorgestern meine Tochter mit ihrem Manne nach Drengfurt zu<br />

einer Hochzeit fuhr, hab’ ich mich schon der Wirtschaft annehmen<br />

müssen, bis sie wiederkommen. Seht, liebe Jungfer, <strong>jetzt</strong> leben<br />

wir Schotten hier in Rastenburg in Ruh und Frieden, aber mein<br />

Vater seeliger hat mir 100 Mal erzählt, wie schwer es ihm<br />

geworden ist, in der Stadt Aufnahme zu finden und wie dann Anno<br />

1611 Johannes Storkowius hier ein Pasquill 58 wider die ganze<br />

schottische Nation spargiret 59 hat. Nun er hat, nach öffentlichem<br />

Widerruf seinen Lohn bekommen, denn Seine Königliche Würden<br />

Jacob von Großbritannien 60 haben sich der hiesigen Schotten<br />

angenommen“.<br />

So plauderte die alte Wirtin weiter und kam aus dem<br />

Hundertsten in’s Tausendste. Als wolle sie ihre übereilten Worte<br />

gutmachen, war sie so überaus herzlich und freundlich gegen<br />

Esther, dass es dieser, die seit Wochen mit keinem befreundeten<br />

weiblichen Wesen gesprochen hatte, so recht wohl zu Mute ward<br />

und sie sich ihrerseits hingebend an die gute Alte anschloss.<br />

Der Diakon schlief bis gegen Mittag und erwachte sehr gestärkt.<br />

Die Post, ein großer offener Leiterwagen, auf dem die Poststücke<br />

mit Ketten befestigt waren, kam um 2, und <strong>als</strong> er nach 2 Stunden<br />

abfuhr, folgte ihm der Wagen des Diakon wie sein Schatten,<br />

bergauf, bergab, bis er sich nach 3 Tagen an der Kirche in Lyck<br />

von ihm trennte.<br />

58<br />

Schmähschrift<br />

59<br />

Verbreitet<br />

60<br />

Jacob I. lebte von 1566 – 1625. Sohn und Erbe der schottischen Königin Maria Stuart. Nach<br />

dem Tod der engl. Königin Elisabeth I. im Jahre 1603 vereinigte er die Kronen von England<br />

und Schottland in Personalunion.<br />

47


5. Der Besuch in Rosengarten 61<br />

Thomas fuhr mit Jasch nach Osten. Es ging langsam, denn es<br />

hatte in der Nacht ein wenig gefroren. Der Herr war schweigsam,<br />

wogegen Jasch, noch unter dem Einfluß des Geistes der<br />

Branntweinkruke fortwährend plapperte, wie Joseph sein bester<br />

Freund geworden sei und wie es ihm leid tue, dass er sich von ihm<br />

trennen müsse. Dann kam er auf die Brotherrschaft dieses<br />

Freundes und vervollständigte nach den Mitteilungen Josephs das<br />

Bild, welches Thomas sich seit der Nacht im Krug zu Zohlen<br />

gemacht hatte. Er unterbrach Jasch auch nicht, so oft dieser auch<br />

weit abschweifte.<br />

Später wurde der Weg weicher. Endlich gegen Mittag erreichten<br />

sie das große, schön gelegene Dorf Rosengarten, und der Wagen<br />

fuhr durch einen schmalen Torweg in den Pfarrhof ein.<br />

Die Widdem 62 war ein niedriges, langgestrecktes Gebäude mit<br />

hohem Strohdach. Vor der Tür hielt der Wagen. Thomas sprang<br />

ab.<br />

„Komm, Cerber“, sagte er. „Hier braucht der Wagen nicht mehr<br />

deine Wache“.<br />

Der Pfarrherr eilte vor die Haustür:<br />

„Bruder Georg“<br />

„Thomas“ riefen beide und lagen sich in den Armen.<br />

„Jasch, fahr’ den Wagen in die Scheune, spanne aus und lass’<br />

Matthes gleich nach Hafer kommen“, sagte der Pfarrer zu dem ihn<br />

begrüßenden Knechte.<br />

„Nein, lieber Georg 63 “, sagte Thomas, „ich kann nicht die Nacht<br />

bleiben, der Vater erwartet mich schon seit vorgestern. Ich darf<br />

ihn nicht länger in Ungewissheit lassen“.<br />

„Das ist auch nicht nötig“, erwiderte der Pfarrer, „komm’ in’s<br />

Haus und schreibe ihm eine Zeile. Mein Matthes kann nun damit<br />

abgehen. Bis zur Vesperzeit ist er in <strong>Angerburg</strong>“.<br />

„Gut, Jasch, wir bleiben“, sagte Thomas, nahm ein Kästchen<br />

vom Wagen und folgte seinem Bruder, der ihn durch einen mit<br />

Ziegeln ausgelegten Hausflur und ein Kämmerchen in eine große<br />

61<br />

Kirchort 14 km südwestlich von <strong>Angerburg</strong>, mittwegs zwischen Rastenburg und<br />

<strong>Angerburg</strong>.<br />

62<br />

Hier ist das Pfarrhaus gemeint. Als Widdem bezeichnete man oft aber auch das ganze<br />

Pfarrgrundstück.<br />

63<br />

George Anderson, Pfarrer in Rosengarten 1682-1706<br />

48


niedrige Stube führte, deren Fenster auf die Dorfstraße<br />

hinausgingen.<br />

„Nun mach’s dir bequem, lieber Thomas“, sagte der Pfarrer,<br />

„meine Frau hat heute nach der Schweineschlächterei das<br />

Wurstmachen, da kann ich dich nicht gleich zu ihr hinführen.<br />

Werd’ ihr aber sagen, dass sie bald herüber kommt“.<br />

Mit diesen Worten verließ er den Bruder. Thomas legte den<br />

Mantel ab, schrieb einige Zeilen an seinen Vater, setzte sich dann<br />

in einen der hochlehnigen Stühle am lodernden Kamin (Cerber zu<br />

seinen Füßen) und schaute sich in der Stube um. Neben dem<br />

zweiten Fenster stand ein schmaler offener Aktenschrank mit<br />

wenigen Papierbündeln und den Büchern des Pfarrers. Auf dem am<br />

Fenster stehenden Tische daneben, der auf dicken gedrehten<br />

Füßen stand, befand sich ein kolossales hölzernes Tintenfass. An<br />

der Wand war eine Lehnbank befestigt. Was aber zu der schlichten<br />

Einrichtung nicht zu passen schien, war ein großes Bild an der<br />

langen Wand mit römischen Figuren und geschnitztem Rahmen,<br />

sowie mehrere Sessel von dunklem Holz mit gepresstem,<br />

vergoldeten Leder bezogen. Ein alter massiver Kleiderschrank kam<br />

Thomas sehr bekannt vor. Er stand auf, um näher die eingelegte<br />

Arbeit zu betrachten, und schob eben einen Vogel von Messing<br />

fort, hinter dem das Schlüsselloch sich befand, <strong>als</strong> der Pfarrer<br />

wieder eintrat.<br />

„Ach, du besiehst den alten Schrank“, sagte er. „Das war mein<br />

erstes Wirtschaftsstück. Der Vater gab ihn mir, <strong>als</strong> ich Anno 1682<br />

hier einzog und alles so leer fand wie auf einem Kornboden vor<br />

der Ernte. Die Stühle und das Bild schickte mir mein Herr Patron,<br />

der Oberburggraf v. Lehndorff 64 aus Steinort, <strong>als</strong> er zum ersten<br />

Mal bei mir gewesen war“.<br />

64 Ahasverus Gerhard Reichsgraf von Lehndorff geb. 9.Febr.1637 in Steinort, starb den<br />

14.Febr.1688 in Königsberg. Er war Kur-Brandenburgischer Generallieutent, Amtshauptmann<br />

zu Pr.-Eylau und Bartenstein, Obermarschall und Oberburggraf. Seine 3. Gemahlin Marie<br />

Eleonore geb. Dönhoff (a.d.H. Schweigsten), geb. 15.März 1664 war die Bauherrin des 1689<br />

erweiterten Schlosses Steinort. Sie starb am 12.April 1724.<br />

49


Ahasverus v. Lehndorff<br />

„Kann dein Matthes nicht bald abgehen?“ fragte Thomas, „ich<br />

möchte gerne so bald <strong>als</strong> möglich dem guten Vater Nachricht<br />

geben. Der Brief liegt da“.<br />

„Matthes isst nur noch“, antwortete der Pfarrer. „Es möchte<br />

nicht ratsam sein, ihn fortzuschicken, wenn er nicht bis zum H<strong>als</strong><br />

vollgestopft wäre“.<br />

50


Bald trat auch Matthes mit vollen Backen kauend ein, den Hut in<br />

der Hand und die Lischke umgehängt.<br />

„Gib diesen Brief meinem Vater“, sagte polnisch der Pfarrer.<br />

„Erzähl’ ihm auch, was Jasch und die Pferde machen. Bleib’ Nacht<br />

und geh morgen, wenn es Tag wird, von <strong>Angerburg</strong> fort und<br />

besauf’ dich nicht!“<br />

Matthes steckte den Brief bedächtig in die Lischke und ging<br />

schweigend ab.<br />

Die Brüder setzten sich auf die gräflichen Stühle an das<br />

nach dem Ende der Reise gesehnt“.<br />

rster Nähe“.<br />

rg gefahren. Du warst aber schon einen<br />

ichaeli<br />

Johannes über Drengfurt, Barten 66 Kaminfeuer. Behaglich streckte Thomas sich in der strahlenden<br />

Wärme aus.<br />

„Ach, wie angenehm ist es nach einer beschwerlichen Reise, sich<br />

wie zu Hause zu fühlen“, sagte er. „Besonders seit vorgestern<br />

habe ich mich recht<br />

Er erzählte nun seine Reiseabenteuer, oftm<strong>als</strong> von den Ausrufen<br />

des Pfarrers unterbrochen.<br />

„Dem Hund verdankst du <strong>als</strong>o eigentlich“ sagte der Pfarrer, <strong>als</strong><br />

Thomas geendet, „Leben und Eigentum, nächst Gottes Hilfe“.<br />

„Dem Mädchen noch mehr, und ihrer Geistesgegenwart, sonst<br />

hätten wir es schlimm mit den Kerlen. Sie liefen aber davon, da<br />

sie glaubten, wir hätten Hilfe in unmittelba<br />

„Aber, lieber Thomas“, sagte der Pfarrer, „weshalb unternahmst<br />

du die Reise nach Königsberg überhaupt, bevor Schnee eintrat?<br />

Ich kam gleich, nachdem ich deine Ankunft erfahren hatte, mit<br />

meiner Frau nach Angerbu<br />

Tag mit dem Bruder Johannes fort“.<br />

„Die Fahrt war notwendig“, antwortete Thomas. „Bis M<br />

musste ich in Elbing bleiben und <strong>als</strong> ich nach <strong>Angerburg</strong> kam, sah<br />

ich gleich, dass durch die lange Krankheit des Vaters viel versäumt<br />

war. Wenn wir überhaupt in diesem Herbst und Winter Geschäfte<br />

machen und etwas verdienen wollten, so mussten sogleich die<br />

gangbarsten Waren herbeigeschafft werden, und zwar, bevor<br />

unser Konkurrent Rohr<br />

und Schippenbeil. Unterwegs<br />

65 sie hätte. Dann aber war es auch nötig,<br />

den Bruder Johannes sobald <strong>als</strong> möglich <strong>als</strong> Kaufbursch<br />

unterzubringen. Die schweren Lehrjahre kann er nicht früh genug<br />

beginnen. Darum hielt ich mich eben nur so lange in <strong>Angerburg</strong><br />

auf, bis ich das Manko festgestellt hatte, machte auch keine<br />

Besuche und fuhr, weil dam<strong>als</strong> Weg und Wetter gut waren, mit<br />

65<br />

S. FN 579<br />

66<br />

Stadt im Kreis Rastenburg,<br />

16 km nördl. von Rastenburg.<br />

51


habe ich mich viel mit Johannes unterhalten und mich recht über<br />

den lieben munteren Jungen gefreut. Er hat schon eine ganz<br />

hübsche Warenkenntnis und überhaupt mehr vom Handel weg, <strong>als</strong><br />

mancher aufgeblasene Kaufgeselle meiner Bekanntschaft. Das hat<br />

er aber alles unserem Vater<br />

zu verdanken, der, wie ich <strong>jetzt</strong> es<br />

erst recht erkennen und würdigen kann, ein Kaufmann ist, wie er<br />

sein soll“.<br />

Jetzt trat die junge Frau des Pfarrers ein, die noch ganz rot im<br />

Gesicht vom Sputen war:<br />

„Herzlich willkommen bei uns, Herr Schwager“, sagte sie,<br />

Thomas die Hand reichend. „Ihr werdet heut’ schon sehr vorlieb<br />

nehmen müssen“.<br />

„Ach, Frau Schwägerin“, sagte Thomas, „ich muss mich sehr<br />

entschuldigen, dass ich Euch so unvermutet überfalle. Doch habe<br />

ich noch nicht meinen Glückwunsch zu Eurer Hochzeit<br />

ausgesprochen. Leider konnte ich der Einladung nicht<br />

entsprechen, denn ich befand mich dam<strong>als</strong> in Wilna<br />

rin<br />

hte Thomas ihr die Kiste, welche sie<br />

ie andere Seite des Hauses“.<br />

inwand gemalten Tapete waren die Wände<br />

stehende Tisch war weiß bedeckt und mit mächtigen Schüsseln<br />

voll Fleisch beladen. Nach dem Tischgebet des Pfarrherrn setzte<br />

r Hausfrau alle Ehre an. Als der<br />

Dankgebet gesprochen hatte, gingen die Brüder wieder<br />

be des Pfarrherrn hinüber, indess die Hausfrau ihren<br />

ngen nachging.<br />

67 . Doch habe<br />

ich, ein kleines Angedenken meiner lieben Frau Schwäge<br />

mitzubringen, nicht unterlassen wollen“.<br />

Mit diesen Worten überreic<br />

mit Dank empfing und unter Ausrufen von Freude und<br />

Bewunderung die hell wie Silber glänzenden Zinngefäße auf dem<br />

großen Tisch auspackte.<br />

„Doch das Mittagessen wird kalt“, sagte sie, ihre Beschäftigung<br />

unterbrechend, „kommt auf d<br />

Sie führte die beiden Brüder durch den Hausflur in’s<br />

Wohnzimmer. Dieses war kleiner <strong>als</strong> die Stube des Pfarrers, doch<br />

mit einer auf grobe Le<br />

bekleidet, während die niedrige Holzdecke, grau gestrichen, mit<br />

weißen wunderlichen Arabesken bemalt war, zwischen denen sich<br />

einige zirkelrunde Bilder mit lateinischen Umschriften befanden,<br />

alles grau in grau gemalt. Der große in der Mitte des Zimmers<br />

man sich und tat der Kochkunst de<br />

Pfarrer das<br />

in die Stu<br />

unterbrochenen Wirtschaftsbeschäftigu<br />

67 Stadt in Litauen.<br />

52


„Wie kam es denn eigentlich, dass der Herr Oberburggraf dich<br />

kennen lernte?“ fragte Thomas, nachdem die Brüder am Kamin<br />

sich niedergesetzt hatten.<br />

„Es ist mir so, <strong>als</strong> hätte ich gehört, dass du bei seinem Regiment<br />

<strong>als</strong> Prediger angenommen werden solltest, weiß aber nichts<br />

Näheres“.<br />

„Du erinnerst dich vielleicht noch“, antwortete Georg, „dass ich<br />

Anno 1663, noch nicht volle 14 Jahre alt, auf die Universität nach<br />

Königsberg kam. Ich war dam<strong>als</strong> viel zu jung und unerfahren,<br />

wurde aber deponiert und immatrikuliert. Ich habe auch die<br />

Dienstbarkeit des Pennalismus 68 zu Genüge erdulden müssen,<br />

aber gar wenig dam<strong>als</strong> dort gelernt. Da wurde zu meinem Glück<br />

durch ein Rescript 69 unsers allergnädigsten Kurfürsten der<br />

Pennalismus abgeschafft. Ich ging nach Hause zurück, studierte<br />

fleißig unter Anleitung des Pfarrer Andreas Helwing 70 und des<br />

Diakon Schultz 71 , unterrichtete dabei auch die Anna und dich“.<br />

„Ja, ja“, sagte Thomas, „von dir habe ich das wenige Latein<br />

gelernt, das ich noch weiß“.<br />

„Anno 1669 bezog ich wieder die Königsberger Universität“ fuhr<br />

Georg fort. „Der Rektor magnificus, Herr Daniel Beckher 72 ,<br />

bestand aber darauf, dass ich mich nochm<strong>als</strong> immatrikulieren<br />

lassen musste. Nun konnte ich mit Nutzen die Collegia besuchen,<br />

bei dem Prof. Th. Prim…“ 73<br />

„Dabei wirst du aber doch nicht den Herrn Oberburggrafen<br />

Ahasverus v. Lehndorff kennen gelernt haben?“ unterbrach<br />

Thomas den Bruder.<br />

„Ja, so“, sagte lächelnd der Pfarrer, „die Collegia wie die Namen<br />

und Titel der damaligen Professoren sind dir herzlich gleichgültig,<br />

<strong>als</strong>o lassen wir das. Anno 1677 war ich <strong>als</strong> Candidatus Theol. zu<br />

Hause in <strong>Angerburg</strong>, zu der Zeit, <strong>als</strong> der Herr Oberst Ahasverus v.<br />

Lehndorff die Werbungen für sein Regiment in unserer Gegend<br />

ausführen ließ. Die angeworbenen Leute wurden in den Städten<br />

68<br />

Hänselung der neuen Studenten im Probejahr.<br />

69<br />

Verordnung<br />

70<br />

S. FN 801<br />

71<br />

Jacob Schultz, Diakon in <strong>Angerburg</strong> 1657-1685.<br />

72<br />

Daniel Beckher der Jüngere, geb. 1627 und gest. 1670 in Königsberg. Er war seit 1655<br />

ordentl. Professor der Medizin an der Albertina, bekleidete dort 1665 und 1669 das Rektoramt<br />

und war seit 1663 auch Kurfürstlicher Rat und Leibarzt.<br />

73<br />

Georg Anderson war dann im Sommersemester<br />

1670 in Leipzig immatrikuliert, am<br />

23.2.1673 in Straßburg und am 7.5.1674 in Wittenberg.<br />

53


der polnischen Ämter in Johannisburg, Oletzko, Drengfurth und<br />

<strong>Angerburg</strong> untergebracht. Bei der Werbung geschahen manche<br />

Gewalttätigkeiten, die wohl unvermeidlich waren, denn es war<br />

unter den Angeworbenen viel gottloses Volk. Den Bürgern war es<br />

eben nicht zu verdenken, dass sie nicht allzu freundlich behandelt<br />

wurden, denn sie stahlen wie die Raben, und immer waren Klagen<br />

über die lästigen Gäste, die zum Glück noch keine Waffen hatten“.<br />

„In Elbing war dam<strong>als</strong> die Werbung verboten“, sagte Thomas,<br />

„aber es wurden haarsträubende Dinge erzählt von den Prügeleien<br />

und blutigen Köpfen in der Gegend von Graudenz 74 bei der<br />

Werbung mit französischem Geld für den Kronfähndrich<br />

Lubomieski und den Hofmarschal Chmawski 75 “.<br />

„Von diesen abgedankten polnischen Regimentern“, fuhr der<br />

Pfarrer nach dieser Unterbrechung fort, „hat der Herr Oberst v.<br />

Lehndorff eine ganze Anzahl guter Soldaten für sein Regiment<br />

dam<strong>als</strong> im Geheimen anwerben lassen. Mehrere polnische Offiziere<br />

traten in sein Regiment ein. Ärger, Verdruss und Schaden hat er<br />

genug gehabt. Einmal, ich glaube, es war im Juni, war der Herr<br />

Oberst v. Lehndorff in <strong>Angerburg</strong> gewesen, hatte einen Streit<br />

geschlichtet, sich schwer ärgern müssen und war fortgeritten. Da<br />

hörte ich auf der Straße (etwa ½ Stunde später) großes Geschrei.<br />

Der Bäcker Elias Grunau hatte einen von den angeworbenen Kerls<br />

beim Weizenbrot Stehlen ertappt, ergriffen und schleppte ihn mit<br />

vielen Scheltworten<br />

auf’s Rathaus. Seine Kameraden wollten ihn<br />

befreien.<br />

Bürger, Gesellen und Lehrburschen kamen dazu, schrien<br />

sich an. Der Tumult wurde immer größer. Als ich dazu kam, wollte<br />

schon der Stadtdiener George Bros die Sturmglocke ziehen, was<br />

ich eben noch verhindern konnte. Den Kerl, der gestohlen hatte,<br />

kannte ich, weil er bei uns im Quartier war. Ich schimpfte ihn<br />

niederträchtig herunter, fragte, ob er bei uns nicht satt zu essen<br />

bekäme. Der Meister Elias Grunau ließ sich begütigen, da ich ihm<br />

sein Weißbrot bezahlte. Ich schob den Kerl vor mir her in unser<br />

Haus, und das Volk verlief sich allmählich. Wir wussten alle nicht,<br />

dass der Herr Oberst v. Lehndorff unterwegs in Reußen unserem<br />

Herrn Amthauptmann begegnete, zu ihm in den Wagen stieg,<br />

während des Tumults zurückkehrte und das letzte Ende des<br />

Vorgangs mitangesehen hatte. Am anderen Tage ließ der Herr<br />

Oberst mich aufs Schloss rufen und trug mir die Stelle <strong>als</strong> Prediger<br />

bei seinem Regiment an. Mir kam der Antrag sehr überraschend,<br />

74 Stadt an der Weichsel, 100 km südl. von Danzig.<br />

75 Hofbeamten des poln. Königs Johann Kasimir, 1648 – 1668.<br />

54


denn der Pfarrer Helwing hatte mir kurz vorher gesagt, ich müsse<br />

jedenfalls der Nachfolger des Rektor Christoph Rüdiger 76 in<br />

<strong>Angerburg</strong> werden, denn dieser sei schon zum Adjunkt des alten<br />

Pfarrers Mrosovius in Kutten bestimmt. Das hatte mir auch der<br />

Erzpriester 77 Magister Heiligendörfer bestätigt, <strong>als</strong> er zur<br />

Kirchenvisitation nach <strong>Angerburg</strong> gekommen war. Ich bat <strong>als</strong>o den<br />

Herrn Oberst v. Lehndorff, mir Bedenkzeit zu geben, und besprach<br />

die Angelegenheit mit unserem Vater, dem Pfarrer Helwing und<br />

anderen Freunden, und kam schließlich zu dem Entschluss, das<br />

mir so gütig vom Herrn Oberst v. Lehndorff angetragene Amt<br />

abzulehnen. Das Regiment ging im September nach Pommern,<br />

doch musste ich länger <strong>als</strong> ein Jahr warten, ehe Rüdiger <strong>als</strong><br />

Pfarradjunkt nach Kutten kam und ich Rektor in <strong>Angerburg</strong><br />

wurde“.<br />

Der Pfarrer berichtete weiter, dass der Herr v. Lehndorff ihm<br />

stets und zu aller Zeit ein sehr gnädiger Herr gewesen sei, auch<br />

ihn später, nachdem er 1679 aus Kgl. Dänischen Diensten<br />

geschieden und Obermarschall und Oberrat geworden, immer im<br />

Auge behalten habe. Dann erzählte der<br />

Pfarrer weiter, wie er, da<br />

d er Große Kurfürst <strong>als</strong> Beweis hoher Gunst dem Herrn v. Lehndorff<br />

Anno<br />

1683 das jus patronatus<br />

erliehen hat.<br />

78 der Kirche zu Rosengarten<br />

v<br />

76<br />

Er war von 1679 – 1682 Rektor der <strong>Angerburg</strong>er Lateinschule.<br />

77<br />

Seit Ende des 16. Jhdts. nahm der Pfarrer von <strong>Angerburg</strong> auch die Funktionen eines<br />

Erzpriesters wahr. Mit dem Tod des Pfarrers Uriel Bertram (1657) ging die Erzpriesterstelle in<br />

<strong>Angerburg</strong> ein. Ihre Aufgaben wurden vom Rastenburger Erzpriester wahrgenommen. Erst<br />

1725<br />

wurde <strong>Angerburg</strong> wieder Sitz einer kirchlichen Verwaltungsstelle, die<br />

zunächst <strong>als</strong><br />

Probstei und später <strong>als</strong> Superintendantur bezeichnet wurde.<br />

78<br />

Patronatsrecht<br />

55


Die 1727 der Kirche Rosengarten von ihrem Kirchenpatron Graf Ernest Ahasverus v.<br />

Lehndorff gestiftete Glocke 79<br />

Er wurde ohne sein Zutun von ihm <strong>als</strong> Pfarrer vociret 80 . Bei der<br />

nicht zu großen Gemeinde von 20 Ortschaften, die sich durch die<br />

umsichtige Fürsorge seines Herrn Patrons, den er in jeder<br />

Beziehung nur<br />

loben könne, beinahe ganz von dem Einfall der<br />

Tataren vor 30 Jahren und der Invasion der Schweden im Winter<br />

78 erholt hätte, fände er eine, in jeder Beziehung befriedigende<br />

Stellung. Auch über<br />

den Besitzer des Gutes Doben, wo seine Filial-<br />

Kirche 81 stände, den leider vor einem halben Jahr verstorbenen<br />

Kanzler v. Tettau hätte er nie klagen dürfen.<br />

„Ist denn dein Kirchspiel von den Tataren so arg verwüstet<br />

worden?“ fragte Thomas.<br />

79<br />

Die Inschrift lautet: IN MAIOREM DEI GLORIAM - ERNEST AHASVER9 GRAF<br />

LEHNDORFF LEHNS HERR DER ROSENGARTSCHEN<br />

KIRCHEN - ME FVNDEBAT<br />

GEORGIVS BERNHARDVS KINDER REGIOMONTI ANNO 1727.<br />

Zur höheren Ehre Gottes - Ernest Ahasverus Graf Lehndorff - Lehnsherr der Rosengartschen<br />

Kirchen - mich goss Gerorg Bernhard Kinder in Königsberg, Anno i. J. 1727.<br />

80<br />

Berufen<br />

81<br />

S. FN 772<br />

56


„Nicht von den Polen und Tataren allein haben vor 30 Jahren die<br />

Verwandten des Herrn Reichsgrafen große Verluste und Schaden<br />

gehabt, sondern auch von anderen gottlosen Leuten. Die haben<br />

Steinort bei Nacht angesteckt, Schuppen und Scheunen, Vieh und<br />

Pferde, alles wurde verbrannt, Pristanien war ganz eingeäschert<br />

und ruiniret. Labab ist…“<br />

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein schöner schneeweißer<br />

dänischer Hund mit silbernem H<strong>als</strong>bande sprang wedelnd auf den<br />

Pfarrer zu und legte seine Pfoten auf das Knie desselben.<br />

Der Pfarrer sprang auf: „Wenn der Phöbus da ist“, rief er, „so ist<br />

Exzellenz der Oberburggraf auch nicht weit. Doch, wie seh’ ich aus<br />

mit dem Schlafpelz, ohne Perücke“.<br />

Er eilte in die Kammer und erschien bald wieder in der<br />

Stutzperücke und langem schwarzen<br />

Rock mit vielen Knöpfen, die<br />

vom<br />

H<strong>als</strong>e bis zum Ende des Schoßes in einer Reihe standen.<br />

Durch die geöffnete Tür aber trat ein schöner hochgewachsener<br />

Herr von 50 Jahren im pelzverbrämten<br />

Jagdrock, eine blonde<br />

Perücke<br />

und einen Federhut auf dem Haupt, eine schöne Dame im<br />

Reitkleid am Arm führend, in das niedrige Zimmer.<br />

Beide Brüder verneigten sich tief. Durchs Fenster sehend<br />

bemerkte Thomas auf der Straße mehrere berittene Diener und<br />

einige Jäger, welche die Hunde an der Leine hielten.<br />

„Nun, was sagt der Pastor dazu, dass wir ihn bei der Hetze so<br />

unversehens überfallen, um ein wenig<br />

auszuruhen?“ fragte der<br />

hohe Herr.<br />

Der Pfarrer und Thomas rückten schnell die Lehnstühle zum<br />

Kaminfeuer, und ersterer bat die Herrschaften, sich<br />

niederzulassen.<br />

„Wen habt Ihr da bei Euch?“ fragte der Oberburggraf, nachdem<br />

er und seine<br />

Gemahlin sich niedergesetzt hatten.<br />

„Meinen Bruder Thomas, Exzellenz zu dienen“, sagte der Pfarrer,<br />

„der die Handlung unseres Vaters in <strong>Angerburg</strong> übernimmt. Mein<br />

Bruder kam mit Waren aus Königsberg, ist aber von Räubern<br />

zwischen Bartenstein und Rastenburg überfallen und ihnen nur mit<br />

knapper Not entgangen“.<br />

„Erzählt mir genau den Vorgang“, wendete sich der<br />

Oberburggraf<br />

an Thomas.<br />

Dieser berichtete nun einfach, kurz und genau, wie es sich<br />

begeben hatte, sowie über seine Anzeige in Rastenburg, während<br />

der<br />

Oberburggraf<br />

und seine Gemahlin gespannt zuhörten.<br />

57


„Kann lange dauern, bis die Sache in Fluss kommt“, sagte der<br />

Oberburggraf kopfschüttelnd. „Muss sie schon selbst in die Hand<br />

nehmen und in der Oberratsstube vortragen. Doch, Herr Pfarrer“,<br />

wendete er sich an Georg, „nehmt die Kirchenschlüssel, ich<br />

gedenke nämlich für die Kirche hier einen neuen Altar bei dem<br />

Meister Johannes Döbel 82 in Königsberg machen zu lassen. Der<br />

Altar, den er für die Kirche in Quednau 83 gefertigt hat und welchen<br />

<strong>jetzt</strong> Meister Gottfried Haarhausen malt, hat mir recht<br />

wohlgefallen, nun will ich mir die Örtlichkeit ansehen, damit ich<br />

mit dem Meister besser verhandeln kann“.<br />

Nach diesen Worten stand der Oberburggraf auf, bot galant<br />

seiner Gemahlin den Arm und wendete sich der Tür zu. Im<br />

Hausflur stand, den Hut in der Hand, ein Jäger. Diesem befahl der<br />

Oberburggraf, mit seinen Kameraden und den Hunden nach<br />

Steinort zurückzukehren.<br />

Schloss Steinort<br />

82 Der Bildhauer Michael Döbel kam 1640 von Schweidnitz/Schlesien nach Königsberg. Er<br />

und seine Söhne Johann Michael (1635-1705) schufen viele Altäre, Kanzeln und Epitaphien<br />

für ostpr. Kirchen.<br />

83 Nördlicher Vorort von Königsberg.<br />

58


„Wo habt Ihr denn Eure Frau, Herr Pastor?“ wendete sich<br />

inzwischen die Gräfin an den Pfarrer, der mit den<br />

Kirchenschlüsseln neben ihr ging.<br />

„Bitte dieselbe entschuldigen zu wollen“, antwortete dieser,<br />

„dass sie die gnädige Herrschaft noch nicht begrüßte, da sie mit<br />

der Wurstmacherei beschäftigt ist“.<br />

Man näherte sich der Kirche. Der Pfarrer öffnete, die Männer<br />

entblößten das Haupt. Sie traten in das Gotteshaus ein und alle<br />

sprachen ein kurzes stilles Gebet. Das Kirchlein<br />

chem Rankewerk<br />

zustimmten, welcher lebhaft die Vorzüge der<br />

Pfarrfrau mit tiefen<br />

sich an den Oberburggrafen und fragte, ob es den<br />

orden“.<br />

er, wo der Tisch mit einem<br />

von verschiedener Art. Nach<br />

ie besten<br />

tücke anpries.<br />

diese, „es ist ehrliches Zinn, das<br />

es heute zum ersten Mal gebraucht wird.<br />

84 war nicht groß,<br />

aber hell und freundlich. Die Decke und ein Teil der Bänke waren<br />

mit grellen Farben angestrichen und mit wunderli<br />

bemalt.<br />

Nachdem ziemlich lange über den neu zu errichtenden Altar<br />

verhandelt war, wobei die Gräfin und der Pfarrer dem<br />

Oberburggrafen<br />

Stelle an die er kommen sollte hervorhob, und die Breite abschritt,<br />

kehrte die kleine Gesellschaft zum Pfarrhaus zurück. An dessen<br />

Haustür wurden die Herrschaften von der<br />

Knicksen empfangen. Nach der Begrüßung nahm sie schnell ihren<br />

Mann beim Arm und flüsterte ihm etwas in’s Ohr. Der Pfarrer<br />

wendete<br />

gnädigen Herrschaften nicht gefällig wäre, einen kleinen Imbiss<br />

einzunehmen.<br />

„Eure Frau versteht zu leben, Pastor“, sagte lächelnd der<br />

Oberburggraf. „Ich bin wirklich von der Jagd hungrig gew<br />

Mit diesen Worten trat er mit seiner Gemahlin durch die Tür, die<br />

Thomas öffnete, in das Wohnzimm<br />

zarten weißen Damast-Tischlaken, dessen Ecken aufgeknüpft<br />

waren, bedeckt war. In blanken Zinnschüsseln befand sich eine<br />

Menge Fleisch und rauchende Wurst<br />

dem Tischgebet setzten sich die vornehmen Gäste nieder und<br />

sprachen den Speisen zu. Die Pfarrfrau aber hatte ein heimliches<br />

Zwiegespräch mit ihrem Schwager, der darauf schnell zu seinem<br />

Wagen ging und bald zurückkam.<br />

„Was habt Ihr für schweres Silbergeschirr?“, fragte die Gräfin<br />

zur Pfarrfrau, die ihr eine Schüssel präsentierte und d<br />

S<br />

„Ach, gnädigste Gräfin“, meinte<br />

ist nur so glänzend, weil<br />

84<br />

S. Kirchenchronik Rosengarten .<br />

59


Mein Schwager Thomas gab es mir<br />

heute zum nachträglichen<br />

Hochzeitsgeschenk“.<br />

Den Gästen schien das Mahl zu<br />

munden. Die Pfarrfrau erschien<br />

mit Wein und kredenzte ihn auf einem zinnernen Teebrett dem<br />

hohen Besuch. Dankend<br />

nahm der Oberburggraf, kostete, trank<br />

sein Glas langsam aus, drohte dem Pfarrer lächelnd mit dem<br />

Finger und sagte:<br />

„Ei, ei, Herr Pfarrer, Ihr führt ja wahrhaftig bessern Wein <strong>als</strong> wir<br />

in Steinort, das muss ich sagen!“<br />

„Ach, Exzellenz“ rief der Pfarrer, „aus meinem Keller ist der<br />

Wein nicht, den hat mein Bruder Thomas mitgebracht“.<br />

„Immer der Thomas“, sagte der Oberburggraf, sich an diesen<br />

wendend, „kommt doch einmal her und berichtet, was Ihr denn<br />

eigentlich für ein Hexenmeister seid“.<br />

Thomas näherte sich bescheiden dem hohen Herrn und sagte,<br />

indem er einen blanken Zinnteller mit feinem hellgelben Tabak,<br />

auf dem eine Kalkpfeife lag, präsentierte, sich tief verneigend:<br />

„Vielleicht ist’s<br />

Euer Exzellenz genehm, nach der Mahlzeit Tabak<br />

zu trinken?“<br />

Der Oberburggraf nahm die zierliche gestopfte Pfeife, drückte<br />

den Tabak<br />

fest, setzte ihn in Brand und sagte:<br />

„Gewiss seid Ihr, mein Freund, schon in der Welt weit herum<br />

gewesen, weil Ihr wisst,<br />

was einem alten Soldaten mundet. Doch<br />

setzt Euch her und erzählt mir, wo Ihr gewesen seid!“<br />

Thomas berichtete nun, wie er schon früh in das Handlungshaus<br />

des Ratsherrn Ramsey nach Elbing gekommen sei und in<br />

Handelsgeschäften dieses Hauses die wichtigsten Handelsplätze<br />

des polnischen Reichs und Norddeutschlands kennengelernt habe.<br />

Jetzt wäre er, da sein Vater alt geworden, heimgekehrt, um<br />

dessen Handlung in <strong>Angerburg</strong> zu übernehmen.<br />

Der Oberburggraf hatte aufmerksam zugehört, stand auf,<br />

reichte Thomas die Hand und sagte: „Gott gebe Euch seinen<br />

Segen, was ich für Euch tun kann, soll geschehen, schon um Eures<br />

Bruders willen.<br />

Thomas dankte dem hohen Herrn für seine gütige Gesinnung<br />

und dieser wendete sich zum Fenster, während seine Gemahlin<br />

sich freundlich mit der<br />

Pfarrfrau unterhielt.<br />

Auf dem Fensterbrett lag ein rot eingebundenes dünnes<br />

Buch in<br />

Quartformat. Der Oberburggraf nahm es in die Hand und blätterte<br />

darin.<br />

„Aber Pastor“, sagte er nach einiger Zeit, „was habt Ihr da für<br />

ein drolliges Buch? Der Titel heißt: Musikalischer<br />

Leute-Spiegel,<br />

60


welcher sich vor ehrlichen Leuten wohl darf sehen lassen,<br />

herausgegeben von einem deutschen Spaniol – 1687“.<br />

„Das Buch kenne ich ja gar nicht“, rief der Pfarrer näher tretend,<br />

„weiß gar nicht, wo es herkommt“.<br />

„Ach, das Büchlein habe ich <strong>als</strong> das Neueste aus Königsberg<br />

mitgebracht“, sagte Thomas, „und freue mich, dass Euer Exzellenz<br />

Gefallen daran zu finden scheinen“.<br />

Der Oberburggraf blätterte weiter: „Da steht ja Mancherlei“,<br />

sagte er, „alles in Versen mit darüber gesetzten Melodien. Von des<br />

Teufels seinem Kram und wie er nichts anders <strong>als</strong> Häute feil habe.<br />

Und hier: Wie ein Narr ein Doktor und auch ein Doktor ein Narr<br />

sein könne. Da ist auch ein Liedlein für meine junge Frau“,<br />

wendete sich der Oberburggraf zu dieser. Höre einmal:<br />

Ein schönes Bild, ganz liebelich,<br />

gütig, mild, holdseelig,<br />

freundlich, treu,<br />

wie auch dabei<br />

von Art sehr zart und fein,<br />

seind unsre Weiberlein.<br />

Leutseligkeit und aller Tugend Preis<br />

hängt an ihnen Zentner weis’,<br />

wie auch Barmherzigkeit, wie sie oftenm<strong>als</strong> getan<br />

an manchem Mann,<br />

und zwar sogar an dem,<br />

der liebet ihr Gebrehm. 85<br />

Doch wir müssen uns auf den Heimweg machen, die Sonne senkt<br />

sich“.<br />

Vor der Tür scharrten die ungeduldigen Rosse. Die Gräfin wurde<br />

von ihrem Gemahl auf den schöngezäumten spanischen Zelter<br />

seinen prächtigen Braunen, und nachdem die Herrschaften den<br />

Hausbewohnern, die vor der Tür standen, noch freundlich<br />

en sie, gefolgt von den Reitknechten davon,<br />

rrhauses über den Zaun ihnen<br />

te.<br />

86<br />

gehoben. Der Oberburggraf schwang sich wie ein Jüngling auf<br />

zugenickt, sprengt<br />

während das Gesinde des Pfa<br />

nachschau<br />

85<br />

Aufschlag eines Kleides.<br />

86<br />

Meist kleines Damenpferd, besonders wenn es von milchweißer<br />

Farbe ist.<br />

61


Die Hausfrau rief die Mägde und ging mit ihnen an die heute oft<br />

unterbrochene Arbeit. Die Brüder aber setzten sich wieder an den<br />

Kamin.<br />

„Hattest du dir den Herrn Oberburggrafen so vorgestellt?“ fragte<br />

Georg seinen Bruder.<br />

„Er hat in seinem Benehmen viel von einem französischen<br />

Kavalier“, antwortete Thomas.<br />

„Das sind nur äußere Manieren, weil er fünf Jahre (1657-1662)<br />

in Paris zugebracht hat“, sagte der Pfarrer. „Sonst ist unser Graf<br />

ein durch und durch deutscher Mann. Treu, offen, ehrlich, bieder,<br />

kurz ein wirklicher Edelmann im wahrsten Sinne des Wortes.<br />

seine Muttersprache wäre. An<br />

chaften umgesehen.<br />

r gemacht.<br />

Galeere<br />

ging später nach Warschau, wo er Kammerherr<br />

zurück und verlieh ihm die Amtshauptmannschaften Pr.<br />

u daraus ersehen, dass er vom Kaiser Leopold 91<br />

Dabei besitzt er eine feine Gelehrsamkeit. Latein spricht und<br />

schreibt er so fließend, <strong>als</strong> ob es<br />

mich schreibt der Herr Graf immer Latein, und ich verwahre mir<br />

jedes Zettelchen. Das gute Latein hat er auf dem Jesuiten –<br />

Collegio in Braunsberg<br />

or anderthalb Jahren in den Reichsgrafenstand erhoben wurde“.<br />

87 gelernt. Dann aber hat er in Leyden 88 , wo<br />

er das jus 89 studierte, sich in allen Wissens<br />

Reisen hat der Herr Oberburggraf in aller Herren Lände<br />

Niederlande, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien<br />

kennt er. Im Jahre 1663 segelte er auf einer Malteser<br />

durchs Mittelmeer von Gibraltar bis zu den Dardanellen. Dann war<br />

er in Madrid und<br />

und Gardeoberst in polnischen Diensten wurde.<br />

Anno 1672 tat er gegen Frankreich Kriegsdienste. Du siehst<br />

<strong>als</strong>o, dass das französische Wesen rein äußerlich ist. Unser<br />

allergnädigster Kurfürst rief den Grafen vor 11 Jahren nach<br />

Preußen<br />

Eylau und Bartenstein. Schon nach einem Jahr schickte er ihn mit<br />

einem Regiment Fußvolk den Dänen gegen Schweden zu Hilfe.<br />

Anno 1679 wurde er Regimentsrat und Obermarschall und vor vier<br />

Jahren Oberburggraf. Wie sehr auch fremde Potentaten 90 ihn<br />

ehren, kannst d<br />

v<br />

87<br />

Das Jesuitenkolleg in Braunsberg ist im Zuge der Gegenreformation auf Veranlassung des<br />

ermländischen Bischofs Stanislaus Hosius (1504-1579) <strong>als</strong> Gegengewicht zur Universität<br />

Königsberg 1565 gegründet worden und erlebte eine rasche und andauernde Blüte, ebenso wie<br />

das gleichzeitig in Braunsberg errichtete päpstliche Priesterseminar.<br />

88<br />

Universität in den Niederlanden.<br />

89<br />

Lat.: Das Recht.<br />

90<br />

Gekrönte Herrscher (lat.: Oberherrschaft).<br />

91<br />

S. FN 653<br />

62


So erzählte der Pfarrer und konnte nicht müde werden, einzelne<br />

Züge von dem hohen Herrn mitzuteilen. 92<br />

Schon längst war die Lampe angezündet, <strong>als</strong> Thomas aufsprang.<br />

„Ich muss doch meinem Jasch sagen, dass wir morgen recht<br />

früh aufbrechen müssen“, sagte er und ging, vom Pfarrer<br />

begleitet, durch den Hausflur. Hier tönte ihnen<br />

eine laute, nur<br />

durch eine Tür etwas gedämpfte Stimme entgegen. Als der Pfarrer<br />

die Tür der Volksstube<br />

esinde stets beschäftigt<br />

taunenden Hörern zu erzählen. Schon von Königsberg<br />

eitsche zur Hand war,<br />

eitsche in der Luft herum. Dabei ließ er<br />

ber nicht den gefüllten zinnernen Bierkrug aus der Linken, um<br />

sich gelegentlich die Kehle zu netzen.<br />

„Und wenn noch drei Räuber gewesen wären, ich hätt’s mit<br />

sechs aufgenommen“, schrie er.<br />

Mit offenem Mund, Grausen und Staunen hörten die polnischen<br />

Mägde und Daniel ihm zu. In den Augen der Mägde wurde Jasch<br />

ein höchst bedeutender Mann, der mehr wert sei <strong>als</strong> der<br />

Hundepeitscher des gnädigen Herrn Grafen.<br />

Lächelnd schloss der Pfarrer die Tür der Volksstube:<br />

93 öffnete, erschien den Brüdern eine<br />

wunderliche Gruppe.<br />

Jasch war den ganzen Tag nicht dazu gekommen, seine<br />

Heldentaten zu berichten, da das G<br />

gewesen war. Als man aber abends den Zibber 94 in dem eisernen<br />

Triangel, der von der Decke an einer Kette herabhing, angezündet<br />

hatte, die Mägde ihre Spinnrocken 95 vornahmen und der<br />

Kleinknecht Daniel auch in die Volksstube gekommen war, begann<br />

Jasch den s<br />

ab hätten Räuber den Planwagen verfolgt. Durch seine Schlauheit<br />

wären die Räuber in Bartenstein irre geführt. Wie sie aber doch<br />

vor Rastenburg den Wagen überfallen, hätte er aber mit seiner<br />

Peitsche die drei Räuber verjagt. Im Eifer seiner Schilderung war<br />

Jasch aufgesprungen. Er zog, da ihm keine P<br />

den Oberwecken 96 mit dem Heeden-Wickel 97 aus dem Spinnrad<br />

eines der polnischen Mägde, stieg auf den Fleischklotz und focht<br />

mit der improvisierten P<br />

a<br />

92<br />

Die Quelle dafür dürfte vornehmlich die 1866 erschienene Biografie von Wilhelm Hosäus<br />

gewesen sein: Der Oberburggraf Ahasverus v. Lehndorff 1637 – 1688.<br />

93<br />

Gesindestube<br />

94<br />

Kienspan (s. FN 8)<br />

95 Spinnrad zum Spinnen von Leinen, Flachs und Wolle.<br />

96<br />

Oberer Holzbalken am Spinnrocken.<br />

97<br />

Wollknäuel<br />

63


„Wir wollen den Leuten ihr Vergnügen lassen“, sagte er. „Vor<br />

dem Schlafengehen kannst du ja noch genug anordnen“.<br />

„Wie doch dieselbe Sache so verschieden erzählt werden kann“,<br />

sagte Thomas.<br />

Doch nicht die Brüder allein waren unfreiwillige Zuhörer der<br />

Erzählungen des Jasch gewesen, auch die Frau Pfarrer hatte in der<br />

neben der Volksstube gelegenen Vorratskammer alles gehört und<br />

kam <strong>jetzt</strong> in die Stube. Lange noch unterhielten sich die drei am<br />

Kamin.<br />

Thomas wies Cerber seinen Platz auf dem Wagen <strong>als</strong><br />

Nachtquartier an. Dann las der Pfarrer den Abendsegen und<br />

brachte seinen Bruder zu einem großen Himmelbett, wo dieser<br />

nach den vielen unruhigen Nächten, im Gefühl der Sicherheit sehr<br />

bald einschlief.<br />

Am anderen Morgen erhob sich Thomas schon früh, zündete ein<br />

Licht an und ging in die Volksstube, um seine Laterne zu holen.<br />

Hier fand er die Mägde schon beim Spinnen, während ein Kessel<br />

mit Erbsen zum Frühstück am Haken über dem Herde des Kamins<br />

hing.<br />

Jasch kam eben mit der Stall-Laterne hinein.<br />

„Guten Morgen, Herr“, sagte er, sich in die Hände pustend und<br />

die Arme über die Schultern schlagend. „Hat gut gefroren. Werden<br />

schwer fahren“.<br />

„Hilft nichts“, sagte Thomas. „Wir müssen bald<br />

abfahren, besser<br />

wird’s wohl nicht. Mache nur alles zurecht, dass wir bald<br />

fortkommen und füttere die Pferde gut satt“.<br />

Der Pfarrer kam dazu: „Ich denke, lieber Bruder“, sagte er nach<br />

dem Morgengruß, „du bleibst noch einige Stunden. Wenn die<br />

Sonne heraufkommt, wird sich’s schon besser und weicher fahren.<br />

Ich gebe dir dann Daniel mit meinen Pferden <strong>als</strong> Vorspann. Dann<br />

kommst du zeitig genug nach Hause“.<br />

Thomas ließ es sich gefallen und ging mit seinem Bruder in die<br />

Stube. Bald fand sich auch die Schwägerin ein und, nachdem die<br />

Morgenandacht gehalten war, wurde unter lebhafter<br />

Unterhaltung<br />

das Frühstück genommen. Thomas musste viel von seinen Reisen<br />

erzählen.<br />

Als es Tag geworden war, führte der Pfarrer seinen Bruder, trotz<br />

des kalten Morgens, in den Garten,<br />

um ihm seine jungen<br />

Obstbäume<br />

zu zeigen. Ein Besuch der Ställe und des Viehes wurde<br />

ihm auch nicht erlassen. Dann führte er ihn in’s Dorf, wo er auf die<br />

neu erbauten Häuser aufmerksam machte.<br />

64


„Dort nach Süden, ¾ Meilen von hier“ sagte der Pfarrer, „liegt<br />

meine Filial-Kirche Doben, das 1419 Dobelyn 98 genannt wurde und<br />

dam<strong>als</strong> ganz wüst war.<br />

Filialkirche in Doben<br />

n<br />

Handfeste von 1437 Handscharwerke 100<br />

Von Rosengarten war in jenem Jahr die Hälfte wüst. Ein Hof zu<br />

ben gehörte dem Pfl ger von Lötzen<br />

zu bessern hatten. Es scheint, <strong>als</strong><br />

am Ende des 15. Jahrhunderts, zu katholischer Zeit,<br />

99 Do e<br />

, für den die Bauern vo<br />

Rosengarten<br />

nach ihrer<br />

tun mussten und die Scheunen<br />

ob in Doben<br />

ein eigener Pfarrer gewesen ist, denn in der Handfeste 101 von<br />

98<br />

Zutreffend: 1417, gem. Zinsbücher des Deutschen Ordens.<br />

99<br />

Teilbereiche des späteren Hauptamtes <strong>Angerburg</strong> gehörten zu dieser Zeit zur Pflege Lötzen,<br />

so z.B. Doben, Rosengarten, und Masehnen.<br />

100<br />

Dienstleistungen, die unbezahlt und von Hand verrichtet wurden.<br />

101<br />

handschriftliche Besitzverschreibungs-Urkunde.<br />

65


Doben heißt es 1496: die Einwohner sollen ihrem Pfarrer den<br />

Decem 102 und Kirchengerechtigkeit gleich anderen Dörfern geben“.<br />

„Ich bewundere deine Kenntnis aus so alter Zeit“, sagte<br />

Thomas, „du musst lange daran studiert haben“.<br />

„Meinst du?“, fragte der Pfarrer lächelnd. „Von Rosengarten<br />

kann ich dir aus früherer Zeit noch so mancherlei erzählen. Die<br />

Kirche bestand schon in katholischer Zeit und die Pfarre war mit<br />

Land und 2 Last<br />

. Die Kirche in Rosengarten war dem heiligen Nicolaus<br />

103 20 Scheffel 16 Metzen Getreide dotiert. Dem<br />

Dorf Rosengarten waren 1437 58 Hufen 104 verschrieben, in denen<br />

die 4 Hufen des Pfarrers enthalten waren, die Einwohner sollten an<br />

Decem (Messekorn) 1 Scheffel Roggen und 1 Scheffel Hafer pro<br />

Hufe geben<br />

geweiht“.<br />

„Du kannst mir viel erzählen“, sagte Thomas. „Ich muss dir’s<br />

schon glauben“.<br />

„Du ungläubiger Thomas“, sagte der Pfarrer. „Da muss ich dir<br />

doch sagen, dass nach der Reformation im 16. Jahrhundert Doben<br />

eine filia 105 von Rosengarten wurde und der Pfarrer Jacob<br />

Dologowius 106 vor hundert Jahren hier war, der die Formula<br />

Concordiae 107 unterschrieben hat. Das jetzige Kirchengebäude hat<br />

des Herrn Oberburggrafen Gnaden vor 14 Jahren beinahe von<br />

Grund auf erbaut, aber erst Seiner Exzellenz Mutter hat es Anno<br />

1674 fertigstellen lassen. Damit du dir übrigens, lieber Bruder,<br />

nicht so sehr den Kopf zu zerbrechen nötig hast, woher ich die<br />

angeführten alten Nachrichten habe, so muss ich dir sagen, dass<br />

102<br />

Zehnt = periodische Abgabe an die Kirche, in früherer Zeit <strong>als</strong> Naturalien, später meist <strong>als</strong><br />

Geldbetrag erhoben.<br />

103<br />

1 Last = 60 Scheffel, 1 Scheffel = 16 Metzen, 1 Metze = 3,4 Liter. 1 Scheffel entspricht<br />

<strong>als</strong>o ca. 55 Litern. Für den Scheffel <strong>als</strong> Grundmaß gab es jedoch keine einheitliche Definition,<br />

so dass zeitlich und örtlich unterschiedliche Größenangaben berücksichtigt werden müssen.<br />

104<br />

1 Hufe entspricht ca. 17,5 ha.<br />

105<br />

Lat. – Tochter, hier Tochtergemeinde.<br />

106<br />

1576-82<br />

107<br />

Die nach dem Tode Martin Luthers (1546) verstärkt einsetzenden Lehrstreitigkeiten<br />

und<br />

anhaltender Theologenhader bedurften<br />

dringender Abhilfe. Man fand sie, indem man ein<br />

einheitliches Lehrbekenntnis aufrichtete: die Formula Concordia von 1577. Sie ist das<br />

abschließende Bekenntnis des Luthertums geworden, konnte sich aber nicht überall<br />

durchsetzen, so dass die konfessionelle Zersplittterung auch danach andauerte. Vor allem<br />

vers chärfte sich der Gegensatz zwischen Luthertum ind Kalvinismus.<br />

In Preußen wurde die<br />

Annahme<br />

der Konkordienformel durch alle Theologen 1579 von Herzog Georg Friedrich<br />

angeordnet.<br />

66


unser Schwager Nebe 108 , der Diakon in <strong>Angerburg</strong>, sich gern mit<br />

solchen Antiquitäten beschäftigt und sie überall hervorkratzt. Von<br />

doch einmal, Georg“, sagte Thomas. „Was ist denn<br />

igentlich der Schwager Nebe für ein Mann? Bei meiner kurzen<br />

Anwesenheit in <strong>Angerburg</strong> habe ich ihn nur einmal flüchtig<br />

eil er schon 1657 starb. Der kleine Jacob war bei seiner Mutter<br />

Wittwenhaus und kam oft zu uns. Später wurde er bei<br />

erwandten untergebracht und ich habe ihn eigentlich wieder auf<br />

er Universität kennengelernt. Da war er still für sich und steckte<br />

mer in alten Büchern. Auf der Schlossbibliothek 109 war er stets<br />

z<br />

Vor 2 Jahren kam er i ach <strong>Angerburg</strong>, um den<br />

Bruder seiner Mutter, den kranken Diakon Schultz 110 , zu vertreten.<br />

es Wesen einzuwenden, da er ihnen wohl<br />

tte. So wurde<br />

enn Nebe am Tage Bartholomäi in Königsberg ordiniert 113 dem habe ich meine Weisheit her“.<br />

„Sag<br />

e<br />

gesehen und habe kein Urteil über ihn gewonnen. Ich hatte auch<br />

nicht Zeit, den Vater nach ihm zu fragen“.<br />

„Der Schwager Jacob Nebe ist ein alter Bekannter aus frühester<br />

Kindheit“, antwortete der Pfarrer. „Sein Vater war der Diakon<br />

Nebe in <strong>Angerburg</strong>, auf den ich mich nur wenig zu besinnen weiß,<br />

w<br />

im<br />

V<br />

d<br />

im<br />

u finden.<br />

m Sommer n<br />

Als sein Oheim gestorben war, bewarb er sich bei dem Magistrat<br />

und<br />

111<br />

um das Diakonat, das er auch erhielt. Die Ratsherren hatten wohl<br />

manches gegen sein still<br />

nicht Ehre genug erwiesen haben mag. Unser Vater aber, der sich<br />

bei mir nach Herrn Nebe erkundigt hatte, setzte seine Wahl durch,<br />

was ihm schwerlich gelungen wäre, wenn einer der Ratsherren<br />

einen Sohn oder Verwandten anzubringen gehabt hä<br />

112<br />

d<br />

4 Wochen darauf in <strong>Angerburg</strong> introduziert 114 . Da er es wohl<br />

wusste, dass vorzugsweise unser Vater ihm zu der Stelle verholfen<br />

hatte, so kam er, soweit er sich von seinen alten Schwarten<br />

losreißen konnte, zuweilen in des Vaters Haus. An der Anna hatte<br />

er, wenn sie am Spinnrocken saß, immer eine sehr aufmerksame<br />

108<br />

Der Diakon Jacob Nebe, geb. in Angerb. im Juli 1651, starb 1710 im Okt. an der Pest,<br />

ebenso seine Frau.<br />

109<br />

Von Herzog Albrecht gegründet und auch für Königsberger Studenten zugänglich.<br />

110<br />

Jacob Schultz, Diakon 1657-85.<br />

111<br />

Das Patronat über die Stadtkirche und damit auch das Vorschlagsrecht für die Besetzung<br />

der Pfarrstellen lag bei der Stadt <strong>Angerburg</strong> und wurde vom Magristat ausgeübt.<br />

112<br />

24. August<br />

113<br />

Ordination:<br />

Feierliche Einführung in ein evangelisches Pfarramt.<br />

114<br />

Introduktion:<br />

Einführung vor versammelter Kirchengemeinde.<br />

67


Zuhörerin wenn er seine alten Geschichten, die den anderen sehr<br />

langweilig waren, erzählte. Er kam immer öfter zu den Eltern und,<br />

<strong>als</strong> er erst seine Schüchternheit überwunden hatte, erschien der<br />

Pfarrer Helwing eines Tages <strong>als</strong> Freiwerber. Nun, die Ehe ist ganz<br />

gut geraten. Die Anna mit ihrer Lebhaftigkeit<br />

mag dem<br />

Bücherwurm wohl zuweilen unbequem sein, aber dafür hat sie ihm<br />

auch alle äußeren Geschäfte abgenommen, die ihm immer störend<br />

waren. Er kann nun ganz in seinem Amt und mit seinen Büchern<br />

leben“.<br />

Ziemlich erfroren<br />

kehrten dann beide Brüder in’s Pfarrhaus<br />

zurück.<br />

Die Kirche von Rosengarten in der achteckigen Gestalt, wie sie nach viermaligem Auf- bzw.<br />

Umbau (vor 1437, 1581, 1681 und 1827) noch heute zu sehen ist. Der kunstsinnige Kronprinz,<br />

nachmaliger König Friedrich Wilhelm IV., verfertigte den Plan, nach welchen die Kirche die<br />

eigentliche Gestalt eines regulären Achtecks erhielt. Der Patron, Generalmajor Reichsgraf<br />

Christian Friedrich Ludwig v. Lehndorff, lieferte sämtliches Material (s. Kirchenchronik<br />

Rosengarten).<br />

68


6. Die Heimkehr nach <strong>Angerburg</strong> und das Wiedersehen mit<br />

der Familie<br />

Thomas wollte sogleich anspannen lassen, das ließ aber die<br />

Schwägerin nicht zu, erst musste ein tüchtiger Imbiss<br />

eingenommen werden.<br />

Darauf fuhr der Planwagen vor. Daniel hatte die Pferde des<br />

Pfarrers vorgelegt und saß stattlich auf dem einen. Nach<br />

herzlichem Abschied von dem Ehepaar, das demnächst nach<br />

<strong>Angerburg</strong> zu kommen versprach, fuhr Thomas ab.<br />

Langsam ging’s, trotz seiner Ungeduld, da der Weg, wie man zu<br />

sagen pflegt, nicht hielt und nicht brach. Hinter Taberlack g’s<br />

Weg ist hier schon befahren, und<br />

e rasselte der Wagen<br />

115 gin<br />

etwas besser, und in dem Wäldchen war’s noch gefroren und hielt<br />

meistens über. Als der Wagen die letzten Bäume vorbei war,<br />

erblickte Thomas über die blinkende Fläche des Mauersees den<br />

spitzen Turm seiner Vaterstadt. Vor Tiergarten 116 ließ Thomas<br />

anhalten.<br />

„Nun reite zurück, Daniel“, sagte er, diesem einen<br />

Dreipölchner 117 reichend. „Der<br />

du wirst zu Hause gebraucht, da der Matthes nicht da ist. Ich<br />

wundere mich, wo der stecken mag. Er hätte doch schon in<br />

Rosengarten sein müssen, <strong>als</strong> wir abfuhren, oder wenigstens<br />

hätten wir ihm begegnen müssen“.<br />

Jasch zeigte mit der Peitsche auf den Abhang neben dem Wege.<br />

Da lag Matthes schwer betrunken und schlief.<br />

„Wecke ihn auf, Daniel“, sagte Thomas, „und sieh’, wie du ihn<br />

fortbringst. Nun vorwärts, Jasch, dass wir die Stadt erreichen“.<br />

Die Pferde zogen an, und nach einer Stund<br />

durch die ungepflasterten gefrorenen Straßen des Städtchens<br />

<strong>Angerburg</strong>.<br />

Neben der Haustür auf der Bank vor dem Vaterhaus saß in<br />

seinem Hauspelz der alte Wilm 118 und schaute erwartungsvoll nach<br />

115<br />

Gut 4,5 km nördlich von Rosengarten.<br />

116<br />

1436 gegründet, Ort 4 km westl. von <strong>Angerburg</strong>, an der Straße nach Rastenburg und<br />

Drengfurth.<br />

117<br />

S. FN 7<br />

118<br />

Dam<strong>als</strong> übliche Kurzbezeichnung für Wilhelm, vergleichbar dem heutigen Willy.<br />

Wilhelm<br />

Anderson, Bürger und Handelsmann in <strong>Angerburg</strong>, ist am 12.08.1660 Taufpate in<br />

Lötzen [VFFOW, Sonderschr. 32, S.149], gest. vor 29.04.1688.<br />

69


dem Wagen aus. Als dieser um die Ecke bog, stand er auf und<br />

ging ihm langsam an seinem Stab entgegen. Thomas hatte nun<br />

seinen greisen Vater erblickt, <strong>als</strong> er absprang und ihm<br />

entgegenlief, um ihm die Hand zu küssen. Der Alte aber umarmte<br />

ihn herzlich und rief:<br />

„Gott sei Dank, dass du wohlbehalten da bist!“<br />

Der Bruder kam herausgestürzt, die Schwester gleich darauf, sie<br />

begrüßten Thomas, führten ihn in’s Haus in die geräumige<br />

Hinterstube und nahmen ihm den Hut aus der Hand. Die alte<br />

Mutter war vom Spinnrad aufgesprungen und kam ihm entgegen.<br />

„Lass Jasch auf den Hof fahren“, sagte Thomas zu dem Bruder<br />

Wilhelm, „ich werde gleich herauskommen, damit wir alles<br />

ordentlich noch bei Tage abladen können“.<br />

„Wie ist dir’s denn ergangen, mein Sohn?“ fragte der Vater, „ich<br />

war deinetwegen schon recht besorgt“.<br />

„Gott Lob, im Ganzen gut“, antwortete Thomas. „Den Bruder<br />

Johannes habe ich gut untergebracht, er ließ Euch alle sehr, sehr<br />

grüßen. Doch erlaubt, dass ich erst die Waren ablade, dann<br />

erzähle ich alles genau“.<br />

Mit diesen Worten le gte er seinen R ock ab und ging auf den Hof,<br />

wo mit Hilfe des Bruders Wilhelm und Jasch, der die Pferde in den<br />

gewohnten Stall gebracht hatte, des Kleinknechts Balzer und der<br />

Mägde die Kisten, Tonnen, Pakete und die übrige Ladung des<br />

Wagens vor Eintritt der Dunkelheit in die Warenräume geschafft<br />

wurden.<br />

Einige Stücke nahm Thomas selbst. Mit anderen belud er den<br />

Bruder Wilhelm, und so kamen beide in die Hinterstube, <strong>als</strong> eben<br />

die Lampe angezündet worden war. Die Mutter eilte geschäftig hin<br />

und her, um alles zum Abendessen zu bereiten.<br />

„Mein gutes Mütterchen“, sagte Thomas. „Ich habe Ihr Zeug zu<br />

einer Smarge<br />

Rolle Seidenzeug.<br />

Vater überreichte Thomas das Flaschenfutter mit<br />

Weinflaschen zur Stärkung nach der überstandenen Krankheit.<br />

„Ihr müsst mir verzeihen, lieber Vater“, sagte er dabei, „dass<br />

einige Flaschen schon leer sind. Diese habe ich unterwegs einem<br />

119 mitgebracht“.<br />

Mit diesen Worten überreichte er ihr eine<br />

„Ei, mein Sohn“, sagte sie erfreut, „schönen Dank, das ist ja<br />

aber viel zu kostbar für mich“.<br />

Doch ließ sie die Seide in dem Lichte spielen und strich mit der<br />

Hand über die knisternden Falten.<br />

Dem<br />

119 Wohl ein weibliches seidenes Festtagsbekleidungsstück?<br />

70


Kranken und dem Herrn Oberburggrafen Ahasverus v. Lehndorff<br />

Exzellenz spenden müssen“, während er den Geschwistern und<br />

auch den Mägden jedem ein kleines Geschenk zuteilte.<br />

„Wie bist du dazu gekommen, den Herrn Grafen zu bewirten?“<br />

fragte der Vater verwundert.<br />

Thomas erzählte das gestrige Zusammentreffen in Rosengarten.<br />

Inzwischen wurde der Tisch gedeckt. Jasch, Balzer und die<br />

Mägde fanden sich ein. Der alte Vater nahm sein Mützchen ab und<br />

betete, dann setzte er sich an das obere Ende des Tisches. Die<br />

Mutter und Kinder folgten. In der Mitte des Tisches<br />

stand das<br />

Salzfass von Zinn und durch dieses von der Herrschaft getrennt,<br />

saßen die Dienstleute am unteren Ende. Bei Tisch sprach der<br />

Hausvater meistens mit Thomas. Die übrigen aßen schweigend<br />

und redeten nur, wenn sie gefragt<br />

wurden.<br />

Nach dem Dankgebet nahmen Mutter und Tochter die<br />

Spinnwocken vor. Die Mägde räumten den Tisch ab. Der<br />

Hausvater aber zündete ein Licht an, und winkte seinem Sohne<br />

Thomas, ihm in die kleine Hinterstube zu folgen. Dieser nahm eine<br />

Flasche und ein Glas und folgte dem Vater. Er rückte ihm seinen<br />

Lehnstuhl an die Seite des hell brennenden Kamins, und schenkte<br />

dem Vater ein.<br />

„Ich danke<br />

dir, mein lieber Sohn“, sagte der alte Wilm Anderson,<br />

indem er sich niederließ. „Doch nun erzähle vor allen Dingen, wie<br />

es dir gelungen ist, den Johannes <strong>als</strong> Kaufburschen<br />

unterzubringen. Ich wollte beim Abendessen in Gegenwart der<br />

Dienstboten nicht davon anfangen“.<br />

„Es hat auch schwer genug gehalten“ antwortete Thomas, indem<br />

er sich an der anderen Seite des Kamins niederließ, „Ihr wisst,<br />

lieber Vater, dass es ein übel Ding ist, wenn ein Kaufbursch nicht<br />

bei einem der<br />

Großbürger der Kaufmannszunft seine Lehrjahre<br />

durchmacht. Er kommt später <strong>als</strong> Kaufgesell niem<strong>als</strong> bei einem<br />

solchen an. Die Großbürger der Königsberger<br />

Kaufmannszunft<br />

haben es aber einem Fremden noch viel mehr <strong>als</strong> anderenorts<br />

erschwert. Da haben sie im Handels-Reglement eine Reihe von<br />

ellenlangen Paragraphen, in denen bis aufs Kleinste<br />

vorgeschrieben ist, was alles bei Annahme eines Kaufburschen zu<br />

beobachten ist und was man ihm alles beibringen muss“.<br />

„Ich weiß, mein Sohn“, sagte der Vater, seinen Kopf wiegend.<br />

„Habe ja die<br />

sauren Gänge, Laufereien und Bitten, unseres<br />

Wilhelms wegen, vor zwei Jahren gehabt, und es war doch alles<br />

vergebens. Die Mitglieder der Kaufmannszunft wollen eben nur<br />

71


ihre Söhne oder Verwandten <strong>als</strong> Kaufburschen zulassen. Doch wie<br />

ist es dir trotz alledem gelungen, den Johannes unterzubringen?“<br />

„Glücklicherweise“, antwortete Thomas, „hat die<br />

Kaufmannszunft kürzlich auf spezielle Verwendung unsers<br />

Durchlauchtigsten Kurfürsten sich dazu bequemt, zwei Schotten in<br />

die Kaufmannszunft aufzunehmen. Einer von diesen, Wilhelm<br />

Smit, hat durch Vermittlung Eures alten Freundes John Krahl den<br />

Johannes <strong>als</strong> Kaufburschen angenommen und ihn einschreiben<br />

lassen. Sieben Jahre muss er lernen. Smit ist, wie Wilhelm Gray<br />

und besonders John Krahl, auf dessen Wort schon etwas zu geben<br />

ist, ein durchaus gewissenhafter rechtschaffener Kaufmann, der<br />

mir auch ganz wohlgefallen hat mit seinem ruhigen, bestimmten<br />

und ernsten Wesen. Was mich aber außerdem<br />

sehr freut ist, dass<br />

unser Johannes mit einem sehr netten munteren Kaufburschen<br />

zusammen ist. Franz Gordon<br />

n schon in voller Tätigkeit. Er schien mir<br />

genommen ist“, sagte der Vater, „<strong>jetzt</strong> ist es seine Sache,<br />

en Umweg über<br />

120 heißt er“.<br />

„Das ist wohl ein Enkel des Königlichen Agenten Franz Gordon,<br />

den Anno 1635 oder 1636 der König Karl v. Großbritannien 121<br />

nach Elbing an den Rat und an den König von Polen wegen der<br />

englischen Handelsgesellschaft in Elbing schickte?“ fragte der<br />

Vater.<br />

„Jawohl“, antwortete Thomas. „Der Vater Franzens ist früh<br />

gestorben, und Smit hat ihn erzogen. Aber warum ließt Ihr, lieber<br />

Vater, den Johann nicht schon vor’m Jahr bei Ramsey in Elbing<br />

eintreten? Der hätte ihn mit Freuden angenommen“.<br />

„Das wollte ich der Mutter nicht zu Leide tun“, erwiderte der<br />

Vater. „Johann ist ihr jüngstes Kind und ihr Herzblatt. Nun weiß<br />

sie, dass du eine so lange Reihe von Jahren nicht heimkommen<br />

konntest. So weit wollte sie den Jungen nicht fortlassen. Nach<br />

Königsberg denkt sie schon eher einmal hinkommen zu können.<br />

Doch wann hast du den Johannes zuletzt gesehen?“<br />

„Am Tag meiner Abreise besuchte ich Johannes noch ein halbes<br />

Stündchen und fand ih<br />

ganz zufrieden zu sein. Ich empfahl ihm, mit Franz Gordon gute<br />

Kameradschaft zu halten“.<br />

„Gott sei Dank, dass die Sorge des Johannes wegen mir vom<br />

Herzen<br />

mit Gottes Hilfe fortzukommen. Wie kam es aber, mein Sohn, dass<br />

du auf der Rückreise von Königsberg den weit<br />

120<br />

Ein Gordon wird später <strong>als</strong> Kaufgeselle bei Thomas A. genannt, und stirbt mit ihm am<br />

selben Tag (s. Gedenkbuch im Anhang) an der Pest.<br />

121<br />

Karl I.<br />

König von 1625 – 1649. Auf Betreiben Oliver Cromwells in London hingerichtet.<br />

72


Rosengarten machtest? Den Bruder Georg hättest du ja von hier<br />

aus viel bequemer besuchen können. Ich war ganz verwundert, <strong>als</strong><br />

gestern der Matthes mir dein Zettelchen aus Rosengarten<br />

brachte“.<br />

„Die Brücke über die Alle in Schippenbeil 122 ist unpassierbar“,<br />

antwortete Thomas. „Auf dem Hinweg schon wäre ich nicht<br />

hinübergekommen, wenn nicht der brave William Douglas, welcher<br />

Euch, lieber Vater, herzlich grüßen lässt, durch seinen Einfluss es<br />

veranlasst hätte, dass mit dem Abbruch der Brücke eine<br />

Viertelstunde gewartet würde, bis ich hinüber war. Mein Wagen<br />

war der letzte, der hinübergelassen wurde. Es war ganz<br />

gefährlich“.<br />

„Aber weshalb ließ man die Brücke so verfallen“, fragte der<br />

Vater, „und baut nicht eine Notbrücke?“<br />

„Ja, die Stadt Schippenbeil will’s nicht tun“, antwortete Thomas,<br />

„und das Amt auch nicht. Wer weiß, wie und wann sie sich<br />

einigen. Den Rückweg musste ich <strong>als</strong>o über Preußisch Eylau und<br />

Bartenstein nehmen“.<br />

„Konntest du denn nicht von Bartenstein über Barten fahren?“<br />

fragte der Alte weiter, „das wäre doch etliche Meilen näher<br />

gewesen“.<br />

„Bei trockenem Sommer und langen Tagen wäre es schon<br />

gegangen“, meinte<br />

Thomas. „Auf den kleinen Nebenwegen von<br />

einem Dorf zum anderen durchzukommen, hätte sich auch <strong>jetzt</strong><br />

vielleicht noch machen lassen, wenn wir das schöne trockene<br />

Wetter behalten hätten, das wir bei der Abreise hatten. Nun zog<br />

ich es denn doch vor, auf der großen Straße zu bleiben, die mir<br />

und Jasch überall wohlbekannt war, und lieber den Umweg zu<br />

machen, besonders, da wir volle Ladung hatten“.<br />

„Nun, mein Sohn“, sagte der Vater, „du bist ja weit genug<br />

gereist und müsstest am besten wissen, wie du gut fortkommst.<br />

Doch wie war’s mit dem Prahlsacht, mein Sohn? Ich war etwas<br />

besorgt, dass deine Spekulation mit diesem Zeuge, von der du dir<br />

so viel versprachst, etwas übereilt sei“.<br />

„Wenn ich nur mehr gehabt hätte, lieber Vater, <strong>als</strong> die wenigen<br />

Stücke, die ich während meiner kurzen Anwesenheit hier<br />

zusammenbekam“, antwortete Thomas. „Reißend würde ich sie in<br />

Königsberg losgeworden<br />

sein. Doch ich hatte versprochen, sie<br />

nach Danzig zu liefern. Da habe ich mich aber wieder über die<br />

Königsberger Großbürger schwer ärgern müssen. Ich bin doch an<br />

122 Stadt 50 km westl. von <strong>Angerburg</strong>.<br />

73


so manchem Handelsplatz gewesen und bin es auch schon<br />

gewöhnt, dass man uns Schotten überall beim Handel mancherlei<br />

Hindernisse in den Weg legt, doch so arg wie in Königsberg ist’s<br />

doch nirgends. Ich wollte die kleine Lieferung, es war ja kaum der<br />

Rede wert, einem Schiffer Janzon, der in dieser Woche nach<br />

Danzig fährt, übergeben. Da kommt aber eine große Perücke und<br />

meint, ich dürfe nichts verladen. Das käme allein den zünftigen<br />

Großbürgern zu. Was soll ich Euch, lieber Vater, alle die vielen<br />

Scherereien erzählen. Das Ende vom Lied war, dass Smit sich in’s<br />

Mittel legte, mir das Prahlsacht nominell<br />

abkaufte und unter<br />

seinem Namen verlud. Wenn ich meinen eingegangenen<br />

Verpflichtungen nachkommen soll, so muss ich immer durch ihn<br />

nach Danzig senden“.<br />

„Diese kleine Kalamität<br />

es die<br />

, doch nur auf<br />

e einmal mein Sohn, wie bist du<br />

ten Abend<br />

mit der Inventur und Rechnungen zu tun hattest“.<br />

„Im vorigen Jahr“, erzählte Thomas, „wurde ich sehr dringend<br />

vom Vetter Andreas Anderson, dem Riesenburger Stadtrichter, zu<br />

123 kannst du schon überwinden“, sagte<br />

der Vater, „doch hat der John Krahl nicht erzählt, wie<br />

Königsberger Kaufmannszunft mit ihm gemacht hat?“ fragte der<br />

Vater.<br />

„Er setzte wahrscheinlich voraus, dass ich’s wusste“, sagte<br />

Thomas. „Darum hat er es mir nicht mitgeteilt“.<br />

„Der Schotte John Krahl“, erzählte der Vater, „hat, wie du weißt,<br />

seit Jahren ein Detail-Geschäft auf der Burgfreiheit<br />

eine Konzession des Durchlauchten Kurfürsten. Als Schotte wurde<br />

ihm das Bürgerrecht in den drei Städten Königsberg verweigert.<br />

Da erteilte der Durchlauchte Kurfürst Anno 1682 dem Sohn des<br />

Krahl, der dam<strong>als</strong> 16 Jahre alt war, veniam ätatis 124 . Dieser war in<br />

Königsberg geboren, und man konnte ihm zwar das Große<br />

Bürgerrecht nicht versagen, dagegen nahmen ihn die<br />

Kaufmannszünfte nicht auf, und so war der Sohn ebenso wenig<br />

wie sein Vater zur Ausübung des Handels berechtigt. Die Waren<br />

des Krahl wurden daher beschlagnahmt, und es half meinem alten<br />

Freund nichts, dass er sich die Volljährigkeitserklärung für seinen<br />

Sohn verschafft hatte. Doch, sag<br />

darauf gekommen, dass du so eifrig hinter unserem Prahlsacht,<br />

dem sonst kein Mensch nachfragte, her bist? Bei deiner kurzen<br />

Anwesenheit bin ich nicht einmal dazu gekommen, dich danach zu<br />

fragen, da du immer vom frühen Morgen bis zum spä<br />

123 Übel<br />

124 Venia aetatis (lat.), Erklärung der Volljährigkeit durch den Landesherrn.<br />

74


seiner Hochzeit nach Garnsee 125 eingeladen. Da ich gerade im<br />

August in den Tagen der Hochzeit von Warschau die Weichsel<br />

herabkommen musste, so gestattete mir Ramsey, einige Tage<br />

länger fortzubleiben und die Hochzeit mitzumachen. Er würde sich<br />

schon behelfen.<br />

In Graudenz verließ ich meinen Kahn und fuhr nach Garnsee.<br />

Hier fand ich im Haus des Brautvaters, des Bürgermeisters Johann<br />

Hartmann, schon unsere ganze Riesenburger Verwandtschaft: Den<br />

Bräutigam, seinen Bruder Wilhelm, der den Handel des<br />

verstorbenen Oheims übernommen hat, aber noch unverheiratet<br />

ist, den anderen Bruder Christian, welcher bei ihm <strong>als</strong> Kaufgesell<br />

ist, und seine Schwester Elisabeth. Auch der Vetter Wilhelm<br />

Anderson, der Tuchhändler aus Riesenburg, war gekommen. Er ist<br />

ein Enkel Eures Oheims David Anderson, des Geheimen<br />

Siegelsekretärs König Jacobs. Wilhelm ist nur wenig älter <strong>als</strong> ich<br />

und, wie er mir sagte, 1655 in Edinburg geboren“.<br />

„Ich kenne ihn, mein Sohn. Sein Vater, mein Vetter Wilm hatte<br />

ihn zuerst an mich gewiesen, <strong>als</strong> er ihn vor ungefähr 10 Jahren, es<br />

kann aber auch schon länger her sein, nach Preußen schickte“,<br />

sagte der Vater.<br />

„Aber auch noch andere Schotten waren zur Hochzeit<br />

gekommen“, fuhr Thomas fort. „Aus der Verwandtschaft der<br />

Brautmutter, der<br />

Frau Bürgermeisterin Anna Hartmann. Da waren<br />

aus Neuenburg<br />

ohnte noch<br />

einige Jahre da, bis er seines Schwiegervaters Grundstück und<br />

Handel in Dirschau übernahm. Ihr seht, lieber Vater, die Schotten<br />

sind auch im polnischen Preußen wie eine große Familie“.<br />

„Das ist wahr“, sagte der Vater. „Wir Schotten halten<br />

n bei frohen Festen, sondern auch in<br />

126 Fox, Gertson, Linn und Scott. Aus Christburg<br />

Jacob Sterlin, der auch aus Edinburg herstammt. Aus Dirschau 127<br />

Adam Forster mit seinem Sohn Georg“.<br />

„Ich habe in meiner Jugend einen Georg Forster gekannt“, sagte<br />

der Vater, „welcher sich nach Auflösung der Elbinger<br />

Handelsgesellschaft in einem Städtchen des polnischen Preußens<br />

ansiedelte. Dirschau war es aber nicht“.<br />

„Das war Georgs Großvater, der wohnte bis zu seinem Tode in<br />

Neuenburg“, sagte Thomas. „Auch Adam Forster w<br />

zusammen, aber nicht allei<br />

Not und Tod. Was wäre aus mir und meiner Familie geworden,<br />

125<br />

Stadt im Weichseltal, 15 km südl. von Marienwerder.<br />

126<br />

Stadt am westl ichen Weichselufer, 80 km südl. von Danzig.<br />

127<br />

Stadt an der Weichsel, 30 km süd-südwest.<br />

von Danzig, wichtiger Flussübergang.<br />

75


wenn sich vor 30 Jahren die braven Schotten nicht unserer<br />

angenommen hätten. Doch ich fragte dich nach dem Prahlsacht<br />

und du erzählst mir von der Hochzeit in Garnsee“.<br />

„Verzeiht, Herzensvater“, sagte Thomas. „Ich komme gleich<br />

darauf. Nach der Hochzeit drangen die Riesenburger Vettern sehr<br />

in mich, dass ich wenigstens auf einige Tage zu<br />

ihnen nach<br />

Riesenburg kommen sollte, so dass ich zusagte. Jetzt wollte mich<br />

jeder beherbergen, doch der Vetter Tuchhändler nahm mich bei<br />

Seite und sagte: Komm nur zu mir und meiner Alten. Bei den<br />

jungen Eheleuten bist du übrig, die sind sich selbst genug, und bei<br />

Vetter Wilhelm wird gebaut, da er sich wohl bald verändern wird.<br />

Er freit um die schöne Debora, des Administrators zu<br />

Roggenhausen<br />

erne sieht das<br />

. Da hat der<br />

t.<br />

128 Jacob Boytyn jüngste Jungfer Tochter. Das soll<br />

aber noch kein Mensch wissen.<br />

Ich nahm <strong>als</strong>o meine Herberge bei dem freundlichen Vetter und<br />

wurde von seiner Ursula sehr herzlich empfangen. Da sie<br />

bedeutend älter ist wie er, so leben sie wie Mutter und Sohn<br />

zusammen, scheinen sich aber sehr gut zu vertragen.<br />

Riesenburg 129 hat mir sehr wohlgefallen. Schloss und Stadt liegt<br />

auf einem Berg. Unten fließt der Liebe-Fluss. Von F<br />

Schloss besonders stattlich aus mit seiner Schlosskirche, seinen<br />

Türmen und Toren und mit dem Dantzker 130 an der Liebe. Es ist<br />

aber auch bis vor hundert Jahren 131 der Sitz der Bischöfe von<br />

Pomesanien 132 gewesen. Leider verfällt es allmählich.<br />

Die Stadt mit ihrer großen deutschen und daneben liegenden<br />

polnischen Kirche sieht recht freundlich aus, und man merkt es ihr<br />

nicht mehr an, dass sie in den Schwedenkriegen viel hat leiden<br />

müssen. Im letzten Schwedenkrieg ist, wie mir Vetter Andreas<br />

erzählte, die Hungersnot so groß gewesen, dass die Anzahl der<br />

Armen und Elenden größer war <strong>als</strong> der Proviant<br />

Magistrat die Haupt-Armen ausgesondert, sie mit dem Ratszeichen<br />

von Blei, so man ihnen um den H<strong>als</strong> gehängt, begütigt und nach<br />

Möglichkeit versorg<br />

128<br />

Ort 18 km östl. von Graudenz an der Straße nach Deutsch-Eylau und Allenstein.<br />

129<br />

Ort 18 km östl. von Marienwerder.<br />

130<br />

Über einem fließenden Gewässer stehender Toilettenturm, welcher durch einen gedeckten<br />

Gang mit dem Haupthaus der Ordensburg verbunden war.<br />

131<br />

Nur bis 1525.<br />

132<br />

Altpreußische Landschaft östl. von Nogat und Weichsel (zwischen Elbing und Graudenz)<br />

bis zur Drewenz.<br />

76


Der Vetter Wilhelm, der Tuchhändler, hat ein schönes Haus am<br />

Markt, das der verstorbene Heyn, der erste Mann der Frau Ursula,<br />

von Grund aus gebaut hat. Auch hat er ein großes Warenlager. In<br />

dem Warenlager fielen mir einige Stücke Zeug auf, welches große<br />

Ähnlichkeit mit unserem Prahlsacht hatte. Auf mein Befragen<br />

erzählte mir der Vetter, dass dies Zeug sehr begehrt sei und von<br />

Danzig aus über See verschickt werde. Aber Ihr trinkt ja gar nicht,<br />

mein Vater“.<br />

„Jetzt nimm deine Aufzeichnungen und Rechnungen hervor,<br />

mein Sohn“, sagte der Vater, sein Glas leerend. „Wir wollen doch<br />

einmal sehen, was du eingehandelt hast“.<br />

Thomas breitete seine Papiere auf dem Tische aus, zog dann ein<br />

133<br />

in grüngefärbtes Schweinsleder gebundenes Oktav-Büchlein<br />

hervor,<br />

band die Bänder auf, durch die es am Schnitte<br />

geschlossen war, und erstattete seinem Vater Bericht. Dieser<br />

setzte seine Brille auf, folgte sehr aufmerksam, prüfte jeden<br />

Posten, jede Zahl und sah alle Papiere genau durch.<br />

„Du hast alle deine Geschäfte, ohne Ausnahme, so gut gemacht,<br />

wie ich es selbst nicht besser hätte machen können“, sagte der<br />

Vater, <strong>als</strong> Thomas geendigt hatte.<br />

„Da ist nicht das Geringste auszusetzen. Doch vermisse ich<br />

einen Posten. Du hast ja den Wein, den ich eben trinke, und das<br />

Seidenzeug der Mutter nicht in Rechnung gestellt“.<br />

„Aber lieber Vater, Ihr werdet mir doch erlauben, Euch und der<br />

Mutter eine kleine Verehrung zu bringen“, sagte Thomas errötend<br />

und seine Papiere zusammenlegend. „Ohnedies war die Reise<br />

recht teuer. Ach, wie beschwerlich ist es doch, alle Waren so viele<br />

Meilen weit zu Wagen herschaffen zu müssen. Wir hätten doch<br />

einen vortrefflichen Wasserweg bis Königsberg auf unserer<br />

Angerapp und dem Pregel, wenn nur etwas für die<br />

Schiffbarmachung der Angerapp geschehen würde“.<br />

„Mein lieber Sohn“, sagte der Vater, „meinst du, ich hätte länger<br />

<strong>als</strong> 40 Jahre in <strong>Angerburg</strong> gewohnt und nicht an diesen<br />

Wasserweg gedacht? Allein auf alle meine schriftlichen und<br />

mündlichen Vorstellungen erhielt ich entweder gar keine Antwort<br />

oder den Bescheid, es wären schlechte Zeiten und zu einer<br />

solchen Unternehmung kein Geld vorhanden.<br />

Endlich gelang es mir vor 8 Jahren, den Herrn General-<br />

Quartiermeister v. Scheidler dafür zu interessieren. Auch bin ich<br />

mehrere Wochen mit ihm an den Seen und der Angerapp<br />

133 Buchformat (Höhe zw. 18,5 u. 22,5 cm).<br />

77


umhergereist. Hauptsächlich wollte er die bei dem Mauersee<br />

gelegenen kleinen Seen, namentlich den Talter-, Kottel-, Schimon-<br />

, Hensel- (oder Gurkel-) 134 und den Löwentinsee 135 , welche schon<br />

durch kleine natürliche Wasserläufe im Zusammenhang gewesen<br />

zu sein scheinen, durch Kanäle verbinden. Wäre diese Kanal-<br />

Verbindung fertig, so müsste die Regierung schon dafür sorgen,<br />

dass der Angerapp-Fluss schiffbar gemacht würde.<br />

Wasser hat er genug, nur ist es nötig, die vielen großen Steine<br />

aus dem Flussbett zu schaffen und an wenigen Stellen den Fluss<br />

gerade zu legen.<br />

Anno 1681 hat Herr v. Scheidler den Plan gefertigt und<br />

eingereicht, wie er mir sagte. Seitdem ruht die Sache, und ich<br />

werde es wohl nicht mehr erleben, dass der Kanal begonnen wird.<br />

Doch setze dich her, mein Sohn, ich habe noch einige Worte mit<br />

dir zu reden. Es hat mich sehr gefreut, dass du ein so umsichtiger<br />

Geschäftsmann geworden bist. Ich kann dir mit gutem Vertrauen<br />

alles übergeben und mich mit der Mutter in’s Stübchen<br />

zurückziehen. Auch habe ich das Vertrauen zu dir, dass du deinen<br />

jüngeren Geschwistern mit Rat und Tat beistehen wirst. Es ist kein<br />

großer Reichtum, den du bekommst, mein Sohn. Ich habe unter<br />

schwierigen Umständen klein anfangen müssen, doch hatte der<br />

Herr meine Bemühungen gesegnet, denn an seinem Segen ist ja<br />

alles immerdar gelegen. Da verlor ich vor 30 Jahren alles mühsam<br />

Erworbene“.<br />

„Ihr habt, so viel ich mich aus meiner Kindheit erinnere, nie<br />

darüber gesprochen, lieber Vater“, sagte Thomas.<br />

134<br />

Diese Seen-Kette befindet sich süd- östlich von Rhein.<br />

135<br />

See in der Masurischen Seenplatte zwische n deren größten Seen, Mauer- und Spirdingsee,<br />

mit einer Fläche von 2.604 Hektar und einer größten Tiefe von etwa 40 Metern. Am Nordende<br />

liegt die Stadt Lötzen.<br />

78


Die Seen im nördl. Masuren, wie sie bis ins 20. Jhdt. schiffbar gemacht wurden.<br />

[Skizze aus „unvergessenes <strong>Angerburg</strong>“, S. 246]<br />

79


7. Erinnerungen des Vaters an den Tartareneinfall<br />

„Es ist mir immer schmerzlich gewesen, daran zu denken“,<br />

sagte der Vater, „doch ist es recht, dass das jüngere Geschlecht<br />

davon erfährt, und ich will es dir mitteilen“, sagte der Vater. „Das<br />

Jahr 1656 war vom Frühling an ein sehr unruhiges Jahr. Die<br />

Nachrichten von den Zügen der Heere unseres allergnädigsten<br />

Kurfürsten, des Schwedenkönigs und der Polen ängstigten uns<br />

wegen der besorglichen Kriegsläufe. Schon dachten wir, aller<br />

Gefahr entgangen zu sein, <strong>als</strong> der glorreiche Sieg bei Warschau<br />

über die Polen von der Kanzel verkündigt wurde. Da hieß es auf<br />

einmal, gegen den Herbst, die Polen sammeln sich nicht weit von<br />

der Grenze und würden in Preußen einfallen. Da wurde wieder die<br />

Angst sehr groß. Die Alten erzählten, wie Anno 1629 die Polen vor<br />

die Stadt <strong>Angerburg</strong> gekommen, mit viel Volks und ihr Oberster<br />

eine Brandschatzung gefordert. Wie aber die Bürger sich zur Wehr<br />

gesetzt, am Mühlgraben Posten gefasst und eine Wagenburg von<br />

beladenen Mistwagen gemacht hätten. Verschiedene<br />

Polen seien<br />

getötet worden. Da hätten die Polen sich gewendet und 27 Bürger<br />

niedergehauen. Die übrigen wären in den nächsten Morast<br />

retiriret<br />

er Polen, mit denen sich ein ungeheurer Schwarm<br />

136 . Während dieses Gefechts hätte ein alter Bürger<br />

namens Purtzizki, Vater des alten Schusters Purtzizki, auf den du<br />

dich wohl noch besinnen wirst, in der Stadt auf einer alten<br />

Trompete angefangen, Lärm zu blasen, worauf die Polen sich<br />

retiriret und die Flucht ergriffen hätten. So meinten die Alten,<br />

würden uns die Polen nicht viel schaden.<br />

Bald kam auch die Nachricht, dass einige von unseren<br />

Kriegsvölkern zur Grenze zögen. Es kamen auch einige<br />

schwedische Truppen durch <strong>Angerburg</strong>, die nach Lyck<br />

marschierten. In Unruhe und Erwartung vergingen uns die Tage,<br />

da man nichts Gewisses erfahren konnte. Da erscholl plötzlich das<br />

Gerücht, die Polen hätten nicht weit von Lyck gesiegt. Bald kamen<br />

auch die ersten Flüchtlinge. Es waren Schweden, meistens leicht<br />

verwundet, voller Schmutz und sehr erschöpft. Sie erzählten, dass<br />

die Übermacht d<br />

Tataren verbunden hatte, zu groß gewesen sei. Die beiden<br />

Generale Fürst Racziwill und Israel Riederhelm wären von den<br />

Tataren gefangen und der kommandierende General Graf v.<br />

Waldeck, der auch leicht verwundet sei, retirirte mit der übrigen<br />

Mannschaft nach <strong>Angerburg</strong>.<br />

136 Zurückweichen<br />

80


Die Schweden hielten sich nicht lange auf, erquickten sich und<br />

ihre Pferde und ritten nach Barten weiter.<br />

Am Nachmittag schon kamen immer mehr von den<br />

geschlagenen Truppen. Schweden und Brandenburger, Reiterei<br />

und Fußvolk durcheinander. In mein Haus wurde der Herzog v.<br />

Weimar getragen, der durch einen Pfeil im Rücken gefährlich<br />

verwundet war. Die Mutter und die Großmutter mit euch Kindern<br />

musste ihm Platz machen und in eine kalte Bodenkammer sich<br />

betten. Das ganze Haus war von den Leuten des Herzogs in<br />

Beschlag genommen, doch hatte dies das Gute, dass sie niemand<br />

mehr hereinließen. Denn fortwährend kamen Flüchtlinge an,<br />

meistens Verwundete. Der Herzog v. Weimar litt große Schmerzen<br />

und am Abend wurde ihm der Pfeil von einem Feldscheer<br />

herausgeschnitten. Spät abends langte der General v. Waldeck an,<br />

der im Schlosse Quartier nahm.<br />

Die Nacht verging uns sehr unruhig, auf den Straßen die<br />

Verwundeten ächzend und stöhnend. Dabei das fortwährende<br />

Geschrei und Jagen der schweren Reiter.<br />

Als es Tag geworden war, ritt der General v. Waldeck vor die<br />

Stadt und befahl, Verschanzungen aufzuwerfen. Soldaten, Bürger,<br />

Bauern, alle mussten<br />

an den Wällen arbeiten. Gegen Mittag kam<br />

der General v. Waldeck mit unserem alten Amthauptmann Hans v.<br />

Kreytzen vor meine Tür gesprengt. Er fragte, ob der Herzog v.<br />

Weimar in meinem Hause wäre und sprang vom Pferde. Ich führte<br />

die Herren zum Herzoge. Der Graf erkundigte sich teilnehmend<br />

nach seiner Wunde und sagte dann, dass er sich mit den unter<br />

dem General Steenbock und Obersten Sparre heranziehenden<br />

Kriegsvölkern bei Lötzen vereinigen wolle und fragte den Herzog,<br />

ob er sich kräftig genug fühle, mit ihm zu ziehen. Er würde noch<br />

an demselben Tage ausrücken. Der Herzog meinte, er würde es<br />

schon aushalten. Darauf verließen die Herren das Haus, und kaum<br />

eine Stunde später wurde Alarm geblasen. Die Truppen<br />

sammelten sich und zogen auf der Lötzener Straße ab, uns ihre<br />

schwer Verwundeten und die halb vollendeten Schanzen<br />

zurücklassend.<br />

Da jede Stunde die Polen und Tataren kommen konnten, so<br />

wurde schnell die Brücke über die Angerapp abgeworfen und<br />

beladene Wagen wurden in die Lücken der unvollendeten Wälle<br />

gefahren. Dabei überfiel uns die Nacht. In der ganzen Stadt hat<br />

wohl kein Mensch geschlafen, denn am östlichen Himmel sahen<br />

wir an vielen Stellen den blutigroten Schein der von den Feinden<br />

angezündeten Dörfer. Bei Tagesanbruch sahen auch schon die auf<br />

81


dem Kirchturm ausgestellten Bürger einzelne Trupps der<br />

grausamen Feinde jenseits des Flusses, wie sie da und dort einen<br />

Übergang über die tiefe Angerapp suchten. Ein größerer Trupp ritt<br />

unterhalb der abgebrochenen Schneiderbrücke. Ein halbnackter<br />

blutender Mensch, den ein Tatar an sein Pferd gebunden hatte und<br />

der von den anderen noch fortwährend geschlagen wurde, führte<br />

sie gegenüber den Gärten an eine Stelle des Flusses, wo im<br />

Sommer bei niedrigem Wasserstande zuweilen das Vieh<br />

durchgetrieben wird. Hier setzten sie über den Fluss und, da erst<br />

einige am diesseitigen Ufer waren, folgte bald der ganze Haufe.<br />

Ich befand mich gerade auf dem Turm und du kannst dir<br />

denken, mit welcher Hast ich die steilen Treppen hinunter eilte.<br />

Ich rief den auf der Gasse stehenden zu, sich in’s Schloss zu<br />

flüchten, rannte nach Hause, gab dich, den Säugling, der Mutter<br />

auf den Arm. Sie fasste die kleine Anna bei der Hand. Ich trug<br />

deine kranke Großmutter. Georg lief nach, und so liefen wir durch<br />

die schmale Gasse an der Schule vorbei, dann über den Steg am<br />

Mühlenwehr. Hinter uns drängten die geängstigten Nachbarn.<br />

Schon hörte man das Schreien und Toben der wilden Feinde und<br />

das Kreischen und Angstgeschrei der armen Menschen, die sie<br />

ergriffen hatten.<br />

Ganz atemlos und erschöpft kamen wir auf dem Schlosshofe an.<br />

Die Tataren mit ihren schnellen<br />

Pferden waren schon an der<br />

Mühle, da wurde die Zugbrücke aufgezogen, gegen die ein Hagel<br />

von Pfeilen rasselte. Deine Großmutter hatte ich niedergesetzt. Sie<br />

war umgesunken. Deine Mutter kniete weinend vor ihr und hielt<br />

ihr den Kopf. Ihr Kinder weintet. Da kam der alte brave Herr<br />

Amthauptmann Hans v. Kreytzen und hieß uns, in seine Wohnung<br />

kommen. Ich trug mit dem Amtsschreiber die Großmutter die<br />

Wendelstiege hinauf und wir legten sie auf ein Bett. Deine Mutter<br />

hob ihren Kopf und ich spritzte ihr Wasser in’s Gesicht. Sie kam<br />

wieder zu sich. Du warst eingeschlafen<br />

und die kleine Anna saß<br />

vergnügt an der Erde und spielte mit den bunten Troddeln der<br />

Bettdecke. Da fasste mich der kleine Georg an der Hand und<br />

deutete durch das Fenster. Auf dem Wiesenfleck an der Angerapp<br />

hatten die Tataren die armen halbnackten blutenden Menschen,<br />

die sie mit Pferdezäumen und Stricken gefesselt hatten,<br />

zusammengetrieben. Immer mehr brachten einzelne Reiter. Das<br />

Winseln und Jammern der armen gequälten Menschen war<br />

herzzerreißend.<br />

Da brachen plötzlich an vielen Stellen die Flammen aus den<br />

Dächern. Ein dichter Rauch stieg auf. Die ganze Stadt schien zu<br />

82


ennen. Nur zuweilen erschien zwischen den Rauchwolken auf<br />

Augenblicke die Spitze des Kirchturms. Nun kamen die Tataren<br />

einzeln oder in kleinen Trupps, die Pferde bepackt mit geraubten<br />

Sachen, zu ihren Gefangenen gesprengt.<br />

Dann sammelten sich die Tataren und ritten um das Schloss. Da<br />

sie es aber überall von Wasser und starken Mauern umgeben<br />

fanden, so machten sie zwar drohende Bewegungen, schrien auch<br />

tüchtig, begnügten sich aber damit, einen Hagel von Pfeilen<br />

abzuschießen. Einzelne schossen auch aus Feuerröhren, auch<br />

wurden brennende Pfeile aufs Dach geschossen. Das alles tat aber<br />

keinen Schaden und die Tataren ritten ab. Die alte Haushälterin<br />

des Herrn Amtshauptmanns brachte uns etwas zu essen, doch<br />

keinem schmeckte etwas. Nur Georg sprach tapfer zu.<br />

Inzwischen war es dunkel geworden,<br />

doch der helle Feuerschein<br />

der brennenden Stadt machte die Stube heller <strong>als</strong> am Tage die<br />

Sonne. Ach, das war ein schrecklicher Abend und eine schreckliche<br />

Nacht. Die Großmutter lag stöhnend auf ihrem Bett. Die Kinder<br />

weinten. Die Mutter und ich versuchten den Kranken zu helfen und<br />

euch zu beruhigen. Draußen strömte der Regen. Kein Schlaf kam<br />

in unsere Augen.<br />

Die Stube war voller Menschen, jeder schwer von dem Unglück<br />

getroffen. Die Frauen jammerten und weinten, die Männer waren<br />

in stummer Verzweiflung.<br />

Als der Tag zu grauen begann, stiegen einige der Männer auf<br />

den Turm des Schlosses und sahen durch die Luke am Seiger.<br />

Nach einiger Zeit kamen sie mit der Nachricht, dass die armen<br />

gefangenen Menschen mit Sonnenaufgang fortgetrieben wären,<br />

nachdem sie die Oktobernacht elend bekleidet<br />

im Freien hatten<br />

zubringen müssen, und dass die Tataren sich zum Aufbruch<br />

rüsteten. Bald darauf kam die Nachricht, die Tataren zögen nach<br />

Norden, und die letzten Reiter wären eben in den Bäumen des<br />

Stadtwaldes verschwunden.<br />

Ich verließ mit einigen Männern das Schloss. Die Luft roch<br />

brandig, dicke Rauchwolken stiegen aus den Brandstätten auf.<br />

Über Schutt und Trümmer bahnten wir uns einen Weg. Kirche,<br />

Pfarrhaus, Schule und mehrere Häuser waren vom Feuer<br />

verschont geblieben. Gott der Herr hatte durch den Regen das<br />

Feuer gedämpft. Einige elende Menschen, denen es gelungen war,<br />

den Feinden in Gärten oder Feldern zu entwischen, umstanden die<br />

rauchenden Trümmer ihrer Wohnungen. Unser Haus stand noch,<br />

war aber vollständig ausgeplündert und verwüstet. Kein Fenster<br />

war ganz gel assen, kein Wirtschaftsstück<br />

auf seiner Stelle. Alles<br />

83


war mutwillig umgestürzt, zerschlagen, zertrümmert und<br />

beschmutzt worden. Kirche und Pfarrhaus waren durch einen<br />

vornehmen polnischen Befehlshaber der Plünderung entgangen.<br />

Ein polnischer Pfaffe hatte die Kirche anzünden wollen, war aber<br />

von einem Bürger erschossen worden, den dafür die Tataren im<br />

Garten des Diakons in Stücke gehauen hatten.<br />

Mit Hilfe einiger Leute gelang es mir, notdürftig etwas Ordnung<br />

in der kleinen Hinterstube unseres Hauses herzustellen, die<br />

Fenster zu verstopfen und zu vernageln. Dann holte ich Weib und<br />

Kinder ab. Die Großmutter war sehr krank. Wir hatten nichts zu<br />

essen. Da entdeckte ich beim Forträumen eines großen<br />

umgestürzten Schrankes, dass die Falltür des Kellers von den<br />

Tataren nicht gefunden wurde, da der Schrank sie bedeckte. So<br />

war uns wenigstens etwas erhalten.<br />

Die anderen Schotten, die in <strong>Angerburg</strong> wohnten, kamen zu<br />

uns: Thomas Hamilton mit seinem Weib Katharina und David<br />

Wilson. Sie hatten ihre seit wenigen Jahren betriebene Eisenfabrik,<br />

in der aus Sumpf- oder Wiesen-Erz das Eisen gewonnen wurde, in<br />

Schutt und Trümmer sinken sehen. Die Arbeiter waren erschlagen,<br />

gefangen fortgeführt oder entflohen. Nach einigen Tagen rüsteten<br />

sich unsere Freunde zum Abzuge. Sie drangen in uns, die verödete<br />

Heimat zu verlassen und eine neue zu suchen. Doch die todkranke<br />

Großmutter verlassen? Das ging nicht, wir blieben.<br />

Was half es uns, <strong>als</strong> wir nach einigen Wochen hörten, dass die<br />

Polen, von denen sich die Tataren getrennt hatten, bei Philippowo<br />

aufs Haupt geschlagen wären. Die Tataren waren immer noch im<br />

Lande. Sie sollten, wie erzählt wurde, raubend, plündernd und<br />

mordend am Memelstrom herumstreifen.<br />

Es war ein trauriger Winter, dem wir entgegengingen. Das Haus<br />

konnte uns kaum gegen die Kälte schützen. Überall stiemte 137 es<br />

ein. Fische waren das einzige, woran wir nicht Mangel litten, und<br />

dabei sollte noch immer den Armen gegeben werden, die gar<br />

nichts hatten. Deine Großmutter wurde immer schwächer. Ach, es<br />

hat meiner Euphemia viele Tränen gekostet, dass sie ihre Mutter<br />

nicht so pflegen konnte, wie sie gern wollte. Sie wachte Tag und<br />

Nacht an ihrem Lager, bis endlich der Todesengel die alte müde<br />

Frau von allen Leiden erlöste.<br />

Deine arme Mutter war so schwach geworden, dass sie kaum die<br />

wenigen Schritte bis in die Kirche zu gehen vermochte, <strong>als</strong> wir<br />

deine Großmutter zur Seite<br />

des Altars begruben. Nach Hause<br />

137<br />

Es fiel ein feiner Schneegriesel.<br />

84


gekommen, fiel die Mutter aufs Lager und konnte nicht mehr<br />

aufstehen. Ein traurigeres Weihnachtsfest habe ich nie begangen.<br />

Nach dem neuen Jahre wurde die Mutter allmählich besser, nur<br />

war sie sehr hinfällig und kraftlos. Wie hofften wir auf das<br />

Frühjahr, wenn wir wieder würden Brot für uns und unsere Kinder<br />

haben! So kam die Fastenzeit. Die Tataren hatten unsere Betten<br />

geraubt, zerschnitten und die Federn ausgestreut. So mussten wir<br />

denn in unseren Kleidern schlafen und uns zu bedecken suchen, so<br />

gut es ging. Du warst <strong>als</strong> Säugling sehr unruhig. Ich hatte dich aus<br />

dem Bette der kranken Mutter genommen und dich eben still<br />

gemacht, es mochte etwa 3 Uhr morgens sein, da hörte ich in der<br />

Stille der Nacht auf dem hartgefrorenen Boden fernes<br />

Pferdegetrappel. Ich weckte die Mutter. Wir hörten, wie es sich<br />

schnell näherte. Ich riss schnell die Decken aus dem verstopften<br />

Fenster, da hörten wir das Angstgekreisch fliehender Menschen.<br />

Augenblicklich raffte ich die schlafenden Kinder auf, samt ihrer<br />

Decken. Ich fasste die schwache Mutter am Arm und wir eilen zur<br />

Haustüre hinaus. Atemlos erreichten<br />

wir das schmale Gässchen an<br />

der Schule. Da kam uns am Ende derselben schon ein Trupp der<br />

Tataren entgegen. Schnell riss ich die Mutter zurück und wir<br />

flüchteten mit Euch durch die offen stehende Tür des Kirchturms<br />

in die Kirche. Hier fanden wir den alten Pfarrer Magister Uriel<br />

Bertram und den Diakon Nebe mit ihren Familien nebst einigen<br />

anderen Flüchtlingen. Wir Männer verschlossen die Turmtür von<br />

innen und hörten gleich darauf die Tataren mit Geschrei in<br />

rasendem Galopp vorbeijagen. Wir gingen in die Kirche, wo ich<br />

mein armes Weib in einen Beichtstuhl trug, während die anderen<br />

Männer die Verbindungstür zwischen Turm und Kirche<br />

verschlossen. Die Frauen knieten um den Altar. Wir hörten mit<br />

Grausen und Entsetzen das Jammern und Hilfsgeschrei der armen,<br />

im Schlaf überfallenen Menschen. Dazwischen das Geschrei, Toben<br />

und Fluchen der grausamen Feinde.<br />

Plötzlich erhellten sich die Fenster der dunkeln Kirche und<br />

warfen rote Spitzbogen auf die Decke und die Mauern der Kirche.<br />

Ach, es waren unsere Häuser und unsere letzte Habe. Es war die<br />

Todesfackel der armen Stadt, welche die Barbaren an allen Ecken<br />

angezündet hatten.<br />

In der neben der Kirche liegenden Widdem hörten wir das<br />

Aufschlagen der Türen und Schränke, das Klirren der Fenster und<br />

das Toben der Räuber.<br />

Da schallten plötzlich donnernd Axthiebe gegen die<br />

verschlossenen<br />

Kirchtüren, alle fuhren entsetzt auf. Schnell in die<br />

85


Sakristei, hieß es. Ich trug mein ohnmächtiges Weib durch den<br />

niedrigen Eingang und ließ sie in den Lehnstuhl des Pfarrers<br />

gleiten. Die Tochter des Pfarrers, Katharine, die Frau unseres<br />

jetzigen Pfarrers Helwing, trug dich und die kleine Anna mir nach.<br />

Alle eilten in das gewölbte Gemach. Dann wurde die Tür von innen<br />

verschlossen und verriegelt. Eine große Wagenlade, in der früher<br />

die Kirchenkleider verwahrt wurden, wurde vorgeschoben. Unter<br />

dem Beistande der Frauen kam deine Mutter allmählich zu sich.<br />

Die schwere eichene Tischplatte wurde auch noch gegen die Tür<br />

gestemmt. Ich stieg auf die Lade, um die Tischplatte oben mehr<br />

durch eine Eisenstange zu befestigen. Allmählich war der Morgen<br />

angebrochen. Es war ein schrecklicher Sonntag Estomihi, dieser<br />

11. Februar 1657.<br />

Während ich mich bemühte, die Tischplatte an der starken, mit<br />

großen eisernen Nägeln beschlagenen<br />

Bohlentür zu befestigen,<br />

entdeckte ich in der Tür ein Loch, aus dem der Nagel gefallen war,<br />

durch das man den Platz am Altar und einen kleinen Teil der<br />

Kirche übersehen konnte.<br />

Noch war die Kirche leer, doch immer gewaltiger<br />

erdröhnten die<br />

Hiebe der Äxte an den Türen. Man hörte das Krachen und Splittern<br />

des Holzes. Plötzlich, mit einem gewaltigen Krachen wichen die<br />

Verbindungstür am Turm und die zweite Tür, und fast im selben<br />

Augenblick erschienen die wüsten Gestalten der Tataren. Die<br />

meisten waren betrunken. Sie rannten gegen den Altar, und in<br />

wenigen Minuten war der rote Umhang von Samt, das Kirchenbuch<br />

mit seinen Silberbeschlägen (beides Geschenke des<br />

Amtshauptmannes Hr. v. Kreytzen) und die silbernen Leuchter<br />

abgerissen, heruntergezerrt und <strong>als</strong> Fetzen in den Händen der<br />

Kirchenräuber. Immer mehr Banditen drangen nach. Ein<br />

Freudengeheul erhob sich, <strong>als</strong> sie das Aerarium 138 in der Mauer<br />

hinter dem Altar entdeckten. Mit gewaltiger Anstrengung rissen sie<br />

die Eisenstangen ab. Die heiligen Geräte, das mühsam<br />

gesammelte Geld, alles geriet in ihre Hände. Über die Teilung des<br />

Geldes entstand ein Streit. Das Gotteshaus hallte wider von den<br />

Flüchen und Schreien der Barbaren. Da kam ein riesiger Tatar auf<br />

die Tür der Sakristei zugeschritten und, da er sie verschlossen<br />

fand, führte er mit seiner Streitaxt einen furchtbaren Hieb gegen<br />

dieselbe. Als er den Hieb wiederholen wollte, sagte ein<br />

Befehlshaber in polnischer Sprache, die Hand auf seine Schulter<br />

138 Die Kirchenkasse / Schatzkammer<br />

86


legend: „Was machst du da? Die Tür führt in’s Freie. Hilf mir, die<br />

Leute zusammentreiben. Wir müssen gleich weiterreiten“.<br />

Beide gingen auf das Schiff der Kirche zu, wo sich noch immer<br />

die Tataren um ihre Beute schlugen. In dem Augenblick kam ein<br />

Tatar mit wildem Geschrei, zwei Feuerbränden in jeder Hand,<br />

herzugelaufen und wollte sie in’s Holzwerk des Altars werfen. Der<br />

Anführer riss ihm einen Brand aus der Hand, schlug ihn damit über<br />

den Kopf, sodass Funken und Feuer umherflog, worauf der Kerl<br />

den Brand auf die Fußsteine der Kirche warf und heulend<br />

davonrannte. Dem Begleiter des Anführers schien das nicht zu<br />

gefallen. Doch dieser zeigte auf ein Marienbild, wobei er ihm<br />

wahrscheinlich sagte, die Kirche wäre eine katholische und sie<br />

sollten durchs Niederbrennen derselben die Polen nicht erzürnen.<br />

Daraufhin gingen beide auf die Tataren los, die sie mit Fluchen<br />

und Hieben aus der Kirche trieben.<br />

Bald darauf hörten wir Pferdegetrapp, das sich immer mehr<br />

entfernte. Zu sehen war nichts, denn, wie du weißt, geht das<br />

kleine stark vergitterte Fenster der Sakristei auf den Kirchhof, der<br />

steil nach den Wiesen der Angerapp abfällt.<br />

Nach dem Toben war <strong>jetzt</strong> alles still. Ich hatte große Furcht,<br />

dass die fortgeworfenen Brände doch noch die Kirche anzünden<br />

könnten. Fasste sie Feuer, so müssten wir unrettbar in der<br />

Sakristei, die nur den einen Ausgang nach dem Schiffe der Kirche<br />

zu hatte, ersticken. Ich sprang schnell von der Lade und teilte den<br />

Männern meine Besorgnis mit. Wir schoben die Lade fort, öffneten<br />

die Tür und horchten. Alles war still in der Kirche. Wir liefen zu<br />

den glimmenden<br />

Bränden, zogen sie von den Kirchenstühlen, die<br />

schon an einer Stelle zu schwelen anfingen, auf die Steine und<br />

traten das Feuer aus. Während die Männer auf den Kirchturm<br />

stiegen, eilte ich zu meinem armen Weibe. Sie saß auf dem Stuhle<br />

halb liegend. Die kleine Anna küsste weinend ihre Hand. Die gute<br />

Katharine hatte sich deiner angenommen. Du allein wusstest<br />

nichts von all dem Jammer umher. Schlafend und lächelnd lagst<br />

du in ihrem Arm. Die Frauen fragten alle zusammen, wo die<br />

Feinde wären und ob noch zu fürchten wäre, dass sie<br />

zurückkämen. Ich reichte meiner Euphemia die Hand und<br />

versprach, sogleich auf den Turm zu steigen. Oben aus den<br />

Schallöchern konnte man die ganze schreckliche Verwüstung<br />

sehen. Von der Stadt waren nur etliche Hüttchen am Fluss übrig<br />

87


geblieben 139 . Alles andere waren rauchende Trümmer. Durch den<br />

Rauch sahen wir überall die armen Dörfer unserer Gemeinde<br />

brennen. Wir konnten aber auch wahrnehmen, dass keine Feinde<br />

mehr da seien. Sie hatten alles ausgeplündert und ritten nun<br />

weiter, um an anderen Orten ebenso zu hausen. Weshalb sollten<br />

sie sich auch hier noch länger aufhalten? Zugleich sahen wir aber<br />

auch, dass wir wenigen Überlebenden, die durch ein wahres<br />

Wunder dem Tode entgangen waren, hier nicht länger weilen<br />

könnten. Der Pfarrer Mag. Uriel Bertram 140 wollte nach Kutten zu<br />

141<br />

seinem Freund, dem Pfarrer Mrosovius<br />

fliehen. Der Diakon<br />

Daniel Nebe<br />

Tod unter<br />

zur Flucht behilflich. Ich verband ihm den<br />

142 mit seiner Frau und dem kleinen Jacob, unserem<br />

jetzigen Diakon, wollten sie begleiten. Sie konnten entfliehen.<br />

Was sollte ich aber mit dem kranken Weibe und den kleinen<br />

Kindern machen? Ich eilte auf die Straße. Nichts sah ich hier <strong>als</strong><br />

rauchende Trümmer und da und dort die ausgeplünderten<br />

Leichname der Erschlagenen. Ach, die Tataren hatten ihr<br />

Handwerk gut verstanden. Die armen Menschen, welche in den<br />

Häusern ihr Versteck gesucht hatten, waren entweder verbrannt<br />

oder durch das Feuer herausgetrieben und hatten ihren<br />

den Mörderhänden gefunden. Auch viele Leute vom Land, die zur<br />

Frühpredigt gekommen waren, hatten sterben müssen.<br />

Von unserem Hause stand nichts mehr <strong>als</strong> der Schornstein, an<br />

einer Seite desselben der zertrümmerte Ofen und an der anderen<br />

dieser Kamin, an dem wir sitzen. Nichts Lebendes war zu sehen<br />

<strong>als</strong> ein zurückgelassenes Tatarenpferd, welches am Hinterfuße<br />

verwundet und niedergestürzt war, und vergebens aufzustehen<br />

versuchte.<br />

Da gab mir Gott einen Gedanken. Vielleicht ist das Pferd des<br />

Feindes uns<br />

verwundeten Fuß mit einem der vielen umherliegenden Lappen<br />

und half ihm auf. Doch woher einen Wagen nehmen? Reiten<br />

konnte mein schwaches kraftloses Weib mit den Kindern nicht. Da<br />

fielen mir die Wagen ein, die im Herbste zusammengefahren<br />

waren, um uns gegen die Tataren zu schützen. Richtig, da standen<br />

sie noch. Eingefroren und verstiemt. Ich lief <strong>als</strong>o zur Kirche, um<br />

139<br />

Im <strong>Angerburg</strong>er Kirchenbuch befand sich ein Bericht von Pfarrer Uriel Bertram, der den<br />

Zustand<br />

der Stadt nach dem Tartareneinfall beschreibt (Abschrift aus Verfilmung s. Anhang<br />

3a) .<br />

140<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1631-57<br />

141<br />

Pfarrer in Kutten 1655-78<br />

142<br />

Diakon in <strong>Angerburg</strong> 1649-57<br />

88


die<br />

Männer zu bitten, mir einen der Wagen losmachen zu helfen.<br />

In der Sakristei fand ich die Mutter allein mit den 3 Kindern. Die<br />

Anderen waren schon fort, um ihr Asyl zu erreichen. Die gute<br />

Katharine hatte dich, in ihr Tuch gewickelt, der Mutter auf den<br />

Schoß gelegt. Ich tröstete mein liebes Weib, das sehr geduldig<br />

war, nahm den kleinen Georg mit mir, damit er mit seinen<br />

schwachen Kräften mir helfen möchte. Ich holte vom Turm die<br />

Glockenseile, um den Gaul anspannen zu können, und ging zu den<br />

Wagen. Mit unendlicher Mühe gelang es mir, endlich einen<br />

derselben loszumachen.<br />

Es war schon spät am Nachmittag. Georg blieb beim Wagen. Ich<br />

eilte in die Kirche, um mein Weib und Euch Kinder zu holen. Aus<br />

der Sakristei führte ich die Mutter.<br />

Wir knieten in der Kirche an<br />

dem Gewölbe, das unsere Lieben, die Großmutter und dein<br />

Schwesterchen Marie, barg. Die waren allem Elend entgangen.<br />

Dann trug ich Euch auf den Wagen. Nicht einmal eine Hand voll<br />

Stroh hattet Ihr <strong>als</strong> Sitz. Dann eilten wir, den Ort des Mordes, des<br />

Brandes und des Schreckens, der so lange unsere traute Heimat<br />

war, zu verlassen und den nächsten Wald zu erreichen.<br />

Hinter uns lag die rauchende Stadt. Ach, wie langsam und<br />

wie<br />

beschwerlich ging unsere Fahrt auf dem gefrorenen holprigen<br />

Wege mit dem lahmen Gaul. Endlich, spät in der Nacht erreichten<br />

wir Neu Masehnen<br />

, dass eure Flucht nicht<br />

unserem Gewölbe hier beisetzen, doch habe ich es unterlassen.<br />

143 . Alles war voller Flüchtlinge aus den<br />

verbrannten Ortschaften, doch fanden wir wenigstens eine warme<br />

Stube und etwas zu essen. Auch der arme Gaul fand ein wenig<br />

Futter. Doch, wir mussten weiter. Ach, wie oft habe ich dam<strong>als</strong> an<br />

das Wort des Herrn gedacht: Bittet<br />

geschähe im Winter und wehe den Schwangeren und Säugenden<br />

zu der Zeit. 144<br />

Was soll ich dir den Jammer erzählen? Deine treue Mutter starb<br />

auf dem Wege nach Königsberg. Der alte Mann stand auf und<br />

wendete sich gegen den Kamin, wo er sich mit dem Feuer zu<br />

schaffen machte. Thomas schwieg. „Auf einem einsamen<br />

Dorfkirchhofe liegt sie begraben. Ich wollte später ihre Gebeine in<br />

Die Erde ist überall des Herrn“.<br />

143<br />

Masehnen – Ort 5 km süd- östl. von Rosengarten.<br />

144<br />

Bibelzitat: Math. 24,20.<br />

89


8. Die Andersons und andere Schottenfamilien in Preußen<br />

„Endlich kam ich mit Euch Kindern in Königsberg an. Wir<br />

wussten nicht, wo wir unser Haupt niederlegen sollten. Da haben<br />

die Schotten sich unserer angenommen. Ein braver<br />

Kellerschotte 145 Kant 146 nahm uns bei sich auf. Seiner Frau hast<br />

du, nächst Gott, die Erhaltung deines Lebens zu verdanken, mein<br />

Sohn. Die anderen Schotten gaben uns Kleider, Wäsche und<br />

Nahrung. Viele Menschen waren vor den Tataren nach Königsberg<br />

geflohen, und in der Stadt herrschte Mangel. Auf den Wällen<br />

wurde Wache gehalten, falls die Tataren einen Überfall machen<br />

würden. Diese Horden streiften bis 3 Meilen vor Königsberg und<br />

brannten die Dörfer nieder.<br />

Durch einen Schotten, der nach Elbing reiste, erfuhr mein<br />

Freund Carolus Ramsey von unserem Schicksal. Einige Tage<br />

darauf kam er selbst. Er fand mich heimatlos, <strong>als</strong> einen Bettler,<br />

einen Wittwer im dumpfen Brüten. Da hat er mich getröstet und<br />

aufgerichtet, besser <strong>als</strong> ein Pfarrer es vermag. Er nahm mich und<br />

meine Kinder sogleich mit nach Elbing. Seine Frau vertrat die<br />

Mutterstelle an meinen Kindern. Mir gab er Beschäftigung.<br />

Nachdem endlich die Tataren das Land verlassen hatten und<br />

Ruhe eingekehrt war, fuhr Ramsey selbst mit mir nach <strong>Angerburg</strong>.<br />

Ach, hier war noch immer Jammer und Not genug. Von den<br />

wenigen Einwohnern, die im Herbst und Winter den Tataren<br />

entgangen und im Sommer zurückgekehrt waren, hatte eine<br />

Seuche die Hälfte fortgerafft. Auch der Pfarrer Bertram und der<br />

Diakon Nebe waren derselben erlegen.<br />

Es tat mir weh, mein altes wüstes Haus zu sehen. Es war Zeuge<br />

gewesen meiner Freuden und meiner Leiden. In diesem Winkel<br />

waren die Kinder geboren worden. Am Ofen hatte ich mit der Frau<br />

oft zusammengesessen, mit offenem Herzen, voller Liebe und<br />

Vertrauen. Als ich am Winkel stand und den Ofen sah, da weckte<br />

der bekannte Anblick in mir die alte Stimmung wieder. Es tauchte<br />

die alte Zeit in mir auf mit ihren Freuden, ihren Leiden. Aber den<br />

145<br />

Kellerschotten waren Schotten in Königsberg, die ihre Waren nur in ihren Kellern lagern,<br />

jedoch nicht in der Stadt verkaufen durften.<br />

146<br />

Diesen Namen trugen einzelne schottische Einwandererfamilien, und Immanuel Kant<br />

glaubte<br />

deshalb, seine Familie sei schottischer<br />

Abstammung. Wie neuere Forschungen<br />

ergaben,<br />

hat der berühmte<br />

Philosoph sich geirrt. Sein Nachname kommt auch <strong>als</strong><br />

einheimischer Personen- und Ortsname in den baltischen Ländern vor. Der älteste urkundlich<br />

nachzuweisende Vorfahre Kants ist sein Urgroßvater Richard, Krugpächter in Ruß, Kr.<br />

Heydekrug.<br />

90


Leiden hatte diese Zeit den Stachel genommen, während die<br />

Freuden noch frisch und lieblich in der Erinnerung blieben“.<br />

„Aber warum gingt Ihr denn überhaupt nach <strong>Angerburg</strong> zurück,<br />

eber Vater?“ fragte Thomas. „Ich sollte meinen, dass Ihr es in<br />

Elbing oder einer anderen Stadt weit besser gehabt haben<br />

würdet“.<br />

„In <strong>Angerburg</strong> hatte ich aber den Aalfang 147 li<br />

in Pacht und hatte<br />

die Lieferung für Aale für den Akademischen Probst bei dem<br />

Convict<br />

er Riesenburger Onkel konnte mir wenig geben. Da hat<br />

nnenswerter war, da ja oft Reichtum mit Geiz<br />

148 in Königsberg übernommen. Ich musste meinen<br />

Verpflichtungen nachkommen. Außerdem hatte ich hier Ländereien<br />

und mein schwer errungenes Bürgerrecht“, antwortete der Vater.<br />

„Das hätte ich an einem anderen Ort nur für vieles Geld erwerben<br />

können. Zudem meinte Ramsey, nach dem Frieden würde hier viel<br />

gebaut werden müssen und dann werde es mir an Verdienst nicht<br />

fehlen. Doch woher das Geld nehmen zum Anfang? Das war meine<br />

Sorge. D<br />

dann Ramsey für mich bei den Schotten in Preußen gesammelt.<br />

Jeder gab nach seinem Vermögen. Das Meiste aber gab Ramsey<br />

selbst, was ihm zwar bei seinem Reichtum nicht schwer fiel, aber<br />

umso anerke<br />

verbunden ist. Gott hat mir später geholfen, dass ich alles das<br />

Geliehene wiedergeben konnte“.<br />

„Wie war denn Ramsey zu solchem Reichtum gekommen?“,<br />

fragte Thomas. „In der Familie ist nie darüber gesprochen<br />

worden“.<br />

„Der stammt von seinem Großvater her“, antwortete der Vater.<br />

„Ich habe den alten Mann noch ganz gut gekannt. Er war einer<br />

von den Merchant Adventurers 149 , die sich zur Zeit der<br />

niederländischen Unruhen in Danzig niedergelassen hatten. Da<br />

wären diese Schotten wohl auch geblieben, aber die Stadt Danzig<br />

147<br />

<strong>Angerburg</strong> war berühmt wegen seines Aalfangs. Alle alten Schriften berichten über den<br />

Aalfang in der Angerapp. Von April an ziehen die weiblichen Tiere in dunklen Nächten bei<br />

trübem Wetter oder Gewitter stromabwärts durch die Angerapp, die Pissa und den Pregel in<br />

die Ostsee und zum Ozean, um zu laichen. Die flussabwärts ziehenden Aale sind<br />

ausgewachsen bis 1,20 m lang. <strong>Angerburg</strong> hatte zwei Aalfänge: am Schloss (alte Wasserkunst)<br />

und an der Fischbrutanstalt im Mühlenkanal.<br />

148<br />

Wohnheim / Internat<br />

149<br />

Als Merchant Adventurers (= kaufmännische Abenteurer) wurden in England seit dem 13.<br />

Jahrhundert<br />

Fernkaufleute bezeichnet, die überwiegend nach Kontinentaleuropa reisten, um<br />

dort handel zu treiben.<br />

91


wollte (1576) dem König Stephan 150 nicht huldigen. Dieser belegte<br />

sie mit der Acht. Untersagte allen Handelsverkehr mit ihr und<br />

errichtete eine Polnische Niederlassung in Elbing 151 .<br />

Stich von C. Hartknoch von Elbing, 1684<br />

Da begaben sich viele von den schottischen und englischen<br />

Handelsleuten nach Elbing, unter ihnen der alte Ramsey. Der<br />

Polenkönig, mit den Dänen verbunden, belagerte Danzig, konnte<br />

es aber nicht bezwingen. Die Danziger nahmen in diesem Kriege in<br />

3 Tagen auf dem Haff 60 Schiffe fort, die mit Ladung nach Elbing<br />

gingen, wovon viele den Schotten gehörten. Diese litten auch<br />

großen Schaden, <strong>als</strong> die Danziger die Stadt Elbing berannten und<br />

die Speicher mit ihren Gütern anzündeten. Doch blieben sie in<br />

Elbing.<br />

Nach dem Frieden erwirkten die Danziger vom Könige von Polen<br />

ein Rescript an die Stadt Elbing, in dem ihr verboten wurde, den<br />

150<br />

Stephan Báthory, ungarisch István Báthory, (geb. 27. September 1533 in Szilágysomlyó<br />

(ung.)/Simleu Silvaniei Siebenbürgen, <strong>jetzt</strong> Rumänien; gest. 12. Dezember 1586 bei Grodno<br />

(heute: Hrodna), Großfürstentum Litauen, <strong>jetzt</strong> Weißrussland) war 1576 bis 1586 König der<br />

Adelsrepublik, eines Doppelstaates Polen-Litauen und<br />

1571 bis 1576 Fürst von Siebenbürgen.<br />

151<br />

1580: Der Aufruhr der Danziger gegen König Stephan<br />

Báthory von Polen wird von den<br />

Elbingern, die dem König treu bleiben, geschickt<br />

ausgenutzt. Nun spielt Elbing eine<br />

Schlüsselrolle im polnischen Überseehandel: Durch die Nogat, die dam<strong>als</strong> tiefer ist <strong>als</strong> die<br />

Weichselmündung<br />

bei Danzig, geht der ganze polnische Getreideexport nach Westeuropa und<br />

der ganze Import<br />

der westlichen Luxuswaren nach Polen.<br />

92


Schotten und Engländern eine Niederlage 152 ihrer Waren zu<br />

vergönnen.<br />

Auf Vermittlung der Königin Elisabeth 153 erlaubte ihnen der<br />

Polenkönig, sich anzusetzen, wo sie wollten, und gestattete ihnen<br />

einen freien Handel durch ganz Polnisch Preußen. Da erhob sich<br />

der Elbinger Handel mächtig, obgleich die Danziger immer<br />

entgegen waren. Ramsey handelte besonders mit englischen<br />

Laken (Tuch). Er ließ die Tücher unbearbeitet kommen, sie wurden<br />

in Elbing bearbeitet und gefärbt. Er beschäftigte mehr <strong>als</strong> 20<br />

Tuchbereiter und Tuchscherer-Meister, die etwa 200 Gesellen<br />

hatten. Nun wirst du dich wohl nicht wundern, dass er bei diesem<br />

Handel reich wurde. Das ganze Revier, das dam<strong>als</strong> „der Rahmen“<br />

genannt wurde, war den Tuchbereitern zum Tuchrahmen 154<br />

angewiesen. Sie führten die Tücher aus der Schönfärberei bei<br />

Elbing unter den Speichern zu Wasser dahin, um sie daselbst<br />

aufzuhängen“.<br />

„Der Platz heißt heute noch der Rahmen“, sagte Thomas, „doch<br />

von der Tätigkeit der Tuchbereiter ist da nichts mehr zu sehen“.<br />

„Die war schon in meiner Jugend eingestellt“, sagte der Vater.<br />

„Leider währte die goldene Zeit der Schotten in Elbing nur etwas<br />

über 30 Jahre, <strong>als</strong> sie ihr großes Pack- und Warenhaus in der<br />

Spirdingsstraße und ihre eigenen gottesdienstlichen<br />

Versammlungshäuser hatten. Das eine war für die Episcopalen 155<br />

in der Heiligen-Geist-Gasse, das andere für die Presbyterianer 156<br />

auf der Lastadie. Das war, <strong>als</strong> der ausgezeichnete schottische<br />

Prediger Daräus unter ihnen wirkte. Der König Siegesmund 157 tat<br />

die Stadt Ebing in den Bann, weil sie sich weigerte, die Nicolai-<br />

Kirche den Katholiken zu übergeben. Er verbot dabei der<br />

englischen Societät allen Handel mit Polen und polnischen<br />

Preußen. Dann eroberten 1626 die Schweden die Stadt Elbing und<br />

die Danziger nutzten diese Zeit, den Handel an sich zu ziehen.<br />

Dazu kam noch die Pest nach Elbing, das schwedisch blieb. Da lag<br />

der Handel ganz darnieder. Die reichen Häuser Achenwall,<br />

152<br />

In diesem Sinne ein Speicher / Vorratsraum für Kaufleute.<br />

153<br />

Elisabeth I. – englische Königin 1558-1603.<br />

154<br />

Die Tuchbereiter verwenden einen Holzrahmen, um darauf das Tuch, wenn es getrocknet<br />

werden soll, auszuspannen und zu streichen.<br />

155<br />

Anhänger der anglikanischen Bischofskirche.<br />

156<br />

Anhänger der kalvinischen Lehre in Schottland.<br />

157<br />

Gemeint: Sigismund III., König von Polen 1587 – 1632; König<br />

von Schweden 1594 –<br />

1604.<br />

93


Lambert, Ramsey, Rupson und andere hielten sich. Die ärmeren<br />

Schotten zerstreuten sich, suchten sich in den kleinen Städten<br />

anzusiedeln. Den meisten gelang es aber nicht und sie durchzogen<br />

nun mit Wagen und Pferd hausierend das Preußenland.<br />

Später machte die Stadt Elbing große Anstrengungen, die<br />

englische Handels-Societät ihrer Stadt zu erhalten. Der König Karl<br />

1.<br />

r seine<br />

nun schon 18 Jahre zu überleben. Doch<br />

. Euch Kindern, besonders dir und der Schwester<br />

158 bezeugte sich ihr auch sehr gnädig und sendete mehrm<strong>als</strong><br />

den Schotten Franz Gordon nach Elbing und Warschau. Doch kam<br />

der Handel, der sich von der Stadt allmählich abgezogen hatte,<br />

nicht mehr in Blüte. Die Schotten, welche noch in Elbing waren,<br />

wurden lutherisch oder vereinigten sich mit den Reformierten. Um<br />

die Mitte dieses Jahrhunderts fingen die unruhigen Zeiten in Polen<br />

an. Dazu kam, dass auch in England nach der Entsetzung König<br />

Karls 1. viel Verwirrung herrschte. Der Handel konnte <strong>als</strong>o nicht<br />

gedeihen. Der Schwedenkönig Karl Gustav 159 besetzte Anno 1655<br />

die Stadt Elbing, wer <strong>als</strong>o nicht in früherer Zeit etwas erworben<br />

hatte, musste nun daran denken, dasselbe zu erhalten. Das war<br />

denn auch mit Ramsey der Fall. Carolus Ramsey und ich, wir<br />

waren junge Burschen, <strong>als</strong> wir uns kennenlernten. Er hat mi<br />

Freundschaft geschenkt, solange er lebte, obgleich er viel<br />

gelehrter war <strong>als</strong> ich. Er hatte in Leyden 160 2 Jahre studiert, dann<br />

weite Reisen gemacht. Das ganze Polenreich, Holland, England,<br />

Frankreich, Italien hat er kennen gelernt. Dann kehrte er nach<br />

Elbing zurück, wurde Ratsverwandter, dann Ratsherr. Ach, ich<br />

hätte nicht geglaubt, ihn<br />

genug von ihm. Durch seine Hilfe hauptsächlich, konnte ich hier<br />

wieder zu wirtschaften anfangen. Das Bauen war sehr<br />

beschwerlich, doch half Gott, dass Anno 1658 das Haus bezogen<br />

werden konnte. Aber Ihr Kinder brauchtet eine Mutter, das<br />

Hauswesen eine Hausfrau. Ja nun, da führte mir Gott Eure<br />

Stiefmutter Barbara zu, und ich kann ihm nicht genug für die<br />

Gnade danken<br />

Anna ist sie stets eine gute Mutter gewesen“.<br />

„Langsam, sehr langsam fand sich der frühere Verkehr und<br />

Handel wieder. Doch hat der Herr meine Bemühungen gesegnet.<br />

Ich habe Euch Kinder erziehen und etwas lernen lassen können.<br />

Dein Bruder Georg ist wohl versorgt. Anna hat ihr Brot und einen<br />

158<br />

S. FN 121<br />

159<br />

Gemeint ist hier Karl X. Gustav, König von Schweden 1654 – 1660.<br />

160<br />

Universität Leyden in den Niederlanden gegründet 1575.<br />

94


guten Mann. Du bist ein tüchtiger Geschäftsmann geworden und<br />

Barbara wird, so Gott will, auch bald in die Ehe treten. Johannes<br />

ist auch gut untergebracht. Nur mit Wilhelm hat’s einen Haken: Er<br />

ist sonst ein guter Junge<br />

und zu allem willig. Er hat aber zum<br />

Handel wenig Anlage. Als ich 19 Jahre alt war, hatte ich schon<br />

mehr Geschäfte gemacht <strong>als</strong> mancher mit 30. Doch nun sage,<br />

mein Sohn, es ist ein wahres Schriftwort: Es ist nicht gut, dass der<br />

Mensch allein sei<br />

ich ihr vorlas<br />

homas genannt.<br />

161 . Hast du nicht schon eine unter den Töchtern<br />

des Landes, die ich <strong>als</strong> Tochter in meinem Hause willkommen<br />

heißen kann? Deine Schwester Barbara wird bald das Elternhaus<br />

verlassen und ihrem Manne folgen. Deine Mutter ist alt und<br />

möchte gern die Last des Hauswesens auf jüngere Schultern<br />

legen“. Der Vater schwieg und sah den Sohn fragend an, der vor<br />

ihm mit gesenktem Haupte saß. Nach kurzer Zeit hob Thomas den<br />

Kopf und sagte:<br />

„Ihr wisst, mein Vater, dass ich, eben aus dem Knabenalter<br />

getreten, in das Haus Eures Freundes Carolus Ramsey von Euch<br />

gebracht wurde. Der alte Herr war schon längere Zeit verstorben.<br />

Doch seine Witwe, eine würdige Frau, stand, da der Sohn noch<br />

unverheiratet war, dem Hauswesen vor. Obgleich ich nur ein<br />

armer Kaufbursch war, hat sie mich immer wie einen Sohn<br />

behandelt. Ich musste in meinen freien Stunden, deren freilich<br />

nicht viele waren, in ihrer Hangelstube 162 sein, wo<br />

oder mit der kleinen Tochter Elisabeth spielte. Sonntags musste<br />

ich die Frau Ramsey zur Kirche begleiten. Ihr ältester Sohn, der<br />

jetzige Ratsherr, behandelte mich mehr wie einen jüngeren Bruder<br />

<strong>als</strong> wie seinen Kaufburschen, obgleich er mir keine Arbeit erließ<br />

und äußerst strenge auf die pünktlichste Pflichterfüllung hielt. So<br />

hat er mich in meiner ganzen Lehrzeit niem<strong>als</strong> geschlagen. Ich<br />

hing aber auch sehr an der Familie und wurde von den anderen<br />

Kaufburschen, weil ich mich nicht mit ihnen umhertrieb, der –<br />

heilige- Thomas, auch der –ungläubige- T<br />

Als die kleine Elisabeth größer wurde, half ich ihr bei ihren<br />

Aufgaben, die sie vom Informator bekam. Ich sang mit ihr auch<br />

zusammen aus Alberti 163 Arien. Ihr Bruder nahm mich noch <strong>als</strong><br />

Kaufbursch mit auf seine Handelsreisen. Er verstand zwar ziemlich<br />

161<br />

Bibelzitat: 1. Buch Mose, Kap.2,18.<br />

162<br />

Kleiner Raum im Treppenhaus.<br />

163<br />

Heinrich Albert (Alberti), geboren 1604 in Lobenstein und 1651 in Königsberg verstorben,<br />

war Lieder- und Opernkomponist. In seinem Garten am Pregel versammelten sich die<br />

Mitglieder des Königsberger Dichterkreises um Simon Dach.<br />

95


gut polnisch, doch mit dem Reden wollte es nicht gehen, da war<br />

ich denn Dolmetscher.<br />

Bei diesen Gelegenheiten kam ich denn in Warschau, Wilna,<br />

Kowno, Thorn, Danzig und anderen Städten in Bekanntschaft mit<br />

großen Handelshäusern, was mir später, <strong>als</strong> ich selbständig reiste,<br />

von großem Nutzen war. Aber auch schon aus den Gesprächen mit<br />

Ramsey konnte ich viel lernen. Kamen wir nach Elbing zurück, so<br />

musste ich Elisabeth immer viel erzählen, sonst war sie mit mir<br />

unzufrieden.<br />

Als ich nach langer Dienstzeit endlich Kaufgesell geworden war,<br />

blieb Ramsey zu Hause und überließ mir die Reisen selbständig.<br />

Da habe ich oft viele Wochen unterwegs zubringen müssen und in<br />

Polen auch oft die Waren erst durch Geschenke an einzelne Große<br />

des Landes frei machen müssen. Durch Geschenke an die<br />

Starosten<br />

isch<br />

ilte so wenig ich<br />

urde mir von Ramsey nach Danzig nachgesendet.<br />

Credit auf seinen Namen in<br />

r Jahren nach Elbing hinbrachte.<br />

Eine solche Neigung zu einem guten Mädchen in der Jugend ist<br />

164 und all das Gesindel, das bei ihnen ist“.<br />

„Ich kenne das, mein Sohn“, sagte der Vater. In meiner Jugend<br />

war’s noch schlimmer“.<br />

„Aus dem lieblichen Kind Elisabeth, war eine blühende Jungfrau<br />

geworden und ihre Mutter meinte, es schicke sich nicht mehr, dass<br />

wir wie Kinder zusammenkämen. Ich sah Elisabeth nur bei T<br />

oder in der Kirche. Dadurch, dass man uns trennte, vermissten wir<br />

einander. Ich erhoffte, dass ich vielleicht Elisabeths Hand erlangen<br />

könnte. Es waren eitle Gedanken. Als ich vorigen Herbst 9 Wochen<br />

lang von Elbing fern gewesen, fand ich sie begraben. Ihre Mutter<br />

übergab mir weinend das Gebetbüchlein, das Elisabeth täglich<br />

benutzte und das sie in ihrer Sterbestunde für mich bestimmt<br />

hatte. Um auf andere Gedanken zu kommen, widmete ich mich<br />

mit verdoppeltem Eifer meinem Beruf. Ich we<br />

konnte in Elbing. Auch Euer Brief, mein Vater, den Ihr auf dem<br />

Krankenbette dem Bruder Wilhelm diktiertet, mit dem Ihr mich<br />

heim riefet, w<br />

Dieser hat sich wie ein Bruder gegen mich benommen. Er bat<br />

mich, nur bis Ende September bei ihm zu bleiben, damit er einen<br />

Ersatz für mich fände. Beim Abschiede beschenkte er mich<br />

überreich und eröffnete mir einen<br />

Königsberg, der mehr wert ist <strong>als</strong> vieles Geld“.<br />

„Ich besinne mich noch auf das freundliche kleine Mädchen“,<br />

sagte der Vater, „<strong>als</strong> ich dich vo<br />

164<br />

Verwaltungsbeamte in Polen. Ihre Funktion entsprach in etwa der von Amtshauptleuten in<br />

Preußen.<br />

96


nicht tadelnswert, ja sogar etwas gutes, denn sie schützt vor<br />

mancherlei Rohheiten und Ausschweifungen. Das liebe Kind ist<br />

aber tot, und du magst ihr immer in deinem Herzen ein liebreiches<br />

Andenken bewahren. Doch ohne Frau kannst du hier nicht<br />

bestehen. Abgesehen davon, dass aus einem Junggesellenleben in<br />

der Regel wenig Kluges herauskommt“.<br />

„Mein Vater“, sagte Thomas, „ich habe eine Jungfrau kennen<br />

gelernt, die ich gern zum Weibe haben möchte. Sie ist aus<br />

ehrbarem Stande. Fromm, eine gehorsame Tochter, gute<br />

Schwester, herzensgut, gegen Arme mildtätig, umsichtig, fleißig,<br />

klug, eine gute Wirtin, aber auch entschlossen und dabei<br />

nicht<br />

ganz arm“.<br />

„Nun, das ist ja eine ganze Reihe trefflicher Eigenschaften“,<br />

sagte der Vater lächelnd. „Dass sie jung und hübsch ist, möchte<br />

ich auch wohl glauben. Du musst sie schon recht lange und sehr<br />

genau kennen. Wo ist sie denn<br />

her und wie heißt sie?“<br />

„Esther heißt sie“, antwortete Thomas. „Sie ist die Tochter des<br />

Diakon Schwindovius aus Lyck. Lange bekannt bin ich mit ihr nun<br />

wohl noch nicht, denn ich bin am vergangenen Dienstagabend<br />

zum ersten Male im Leben mit ihr zusammen getroffen“. Darauf<br />

erzählte er seine Reise.<br />

„Dass dir die Jungfer gefallen hat, will ich schon glauben“, sagte<br />

der Vater, „doch wie bist du dahinter gekommen, dass sie alle die<br />

häuslichen Tugenden besitzt, die du mir aufzähltest? Sie wird sich<br />

dir doch nicht angepriesen haben, wenn auch ein Tag der Reise<br />

vertraulicher macht <strong>als</strong> ein Monat anderen Umganges“.<br />

Thomas erzählte, wie er im Krug zu Zohlen ein ungesehener<br />

Ohrenzeuge gewesen, <strong>als</strong> der polnische Knecht des Diakons die<br />

Esther geschildert und setzte hinzu, dass vor den Dienstleuten die<br />

Herrschaft sich am wenigsten verstellen oder verbergen könne.<br />

Diese kennen alles, was in der Familie vorgehe, und was der<br />

Knecht nicht selbst gesehen,<br />

hätten ihm die Mägde erzählt.<br />

„Darin hast du nicht Unrecht, mein Sohn“, sagte der Vater. „Die<br />

dümmsten Dienstboten kennen die Schwächen ihrer<br />

Brotherrschaft und wissen sie auch gewöhnlich zu benutzen. Ein<br />

polnischer Knecht ist aber doch ein wunderlicher Freiwerber für<br />

dich. Vorläufig wollen wir die Sache noch ruhen lassen. Ich muss<br />

sie mir erst ordentlich überlegen. Nach Weihnachten, wenn dir’s<br />

ums Herz ist wie <strong>jetzt</strong>, wollen wir weiter darüber reden. Doch<br />

komme <strong>jetzt</strong> zur Mutter, es ist spät geworden“.<br />

97


Mit diesen Worten hatte er das Licht ergriffen und ging, gefolgt<br />

von Thomas, in die Hinterstube. Die Mutter empfing den Sohn mit<br />

den Worten:<br />

„Aber sag doch einmal, lieber Thomas, du bist unterwegs von<br />

Räubern überfallen worden? Der Jasch hat es den Mägden erzählt,<br />

und wenn ihm auch sonst nicht immer alles zu glauben ist, so<br />

muss doch was Wahres dran sein“.<br />

„Überfallen wurden wir“, antwortete Thomas, „doch schlugen wir<br />

die Wegelagerer in die Flucht. Das wird doch Jasch nicht<br />

vergessen haben zu erzählen“.<br />

Nun berichtete er sein Abenteuer. Der alte Vater hatte<br />

inzwischen die Hauspostille<br />

etzt gemeinschaftlich dem Herrn für den gnädigen<br />

en küssten die<br />

n eine<br />

d Johannes geschlafen<br />

eren lieben Vater weit frischer <strong>als</strong> bei meiner<br />

breise“, sagte Thomas zu Wilhelm.<br />

ürde.<br />

keit Bericht abstatten. Er war mit mir unzufrieden. Ich<br />

165 aus dem Winkelschaff 166 genommen<br />

und auf den Tisch gelegt.<br />

„Lasst uns j<br />

Schutz unseren Dank darbringen“, sagte er.<br />

Dann las er den Abendsegen. Nach demselb<br />

Kinder den Eltern die Hand, und dann gingen sie in ihr<br />

Schlafgemach. Schwester Barbara geleitete die Brüder i<br />

Kammer, in der bis dahin Wilhelm un<br />

hatten. Hier waren <strong>jetzt</strong> auch die Sachen des Thomas<br />

hineingestellt, die er von Königsberg mitgebracht hatte.<br />

Thomas zog seine Taschenuhr auf (ein Geschenk Ramseys, wie<br />

er erzählte), welche die Bewunderung der Geschwister erregte,<br />

denn sie hatten noch nie eine solche aus der Nähe gesehen. Dann<br />

wünschte Barbara den Brüdern eine gute Nacht, und diese legten<br />

sich zusammen in ein Bett.<br />

„Ich finde uns<br />

A<br />

„Er hat sich wirklich sehr erholt“, erwiderte dieser. „Du glaubst<br />

gar nicht, wie sehr die Krankheit ihn angegriffen hatte, besonders<br />

aber die Sorge, dass es mit dem Handel rückwärts gehen w<br />

Deshalb stand er auch zu früh auf und bekam einen gefährlichen<br />

Rückfall. Ich musste trotz seiner schweren Krankheit ihm von<br />

jeder Kleinig<br />

tauge doch einmal nicht zum Handelsmann. Der Vater hatte keine<br />

Ruhe, keinen Schlaf und machte sich vielleicht auch mehr Sorgen<br />

<strong>als</strong> nötig war. Ich sollte alles führen und verstand es doch nicht.<br />

Seitdem du da bist, wurde der Vater ruhig und erholte sich. Er<br />

freute sich, <strong>als</strong> er sah, wie du die Sache am rechten Ende anfingst.<br />

165<br />

Predigtbuch<br />

166<br />

Schrank<br />

98


Ich werde in meinem Leben kein solcher Kauf- und Handelsmann<br />

werden wie du. Ach, wenn ich doch zu meinen lieben Klassikern<br />

zurückkehren könnte“.<br />

„Lieber Wilhelm“, sagte Thomas zu dem aufgeregten Bruder.<br />

„Vorläufig bleibe nur bei der Handlung und lege dein Latein einige<br />

Zeit fort. Ich will mit dem Bruder Georg in Rosengarten, mit dem<br />

Schwager Nebe und mit dem Rektor Tranz deinetwegen reden.<br />

Dann mag der Rektor<br />

dich prüfen, ob du in einigen Jahren zur<br />

Universität kommen kannst. Wenn sein Gutachten für dich günstig<br />

ausfällt, so denke ich, wird der Vater vielleicht zu bewegen sein,<br />

dir die Erlaubnis zum Studium<br />

zu geben, wenn ich auch noch nicht<br />

recht weiß, wo die Kosten herkommen sollen. Doch nun schlafe<br />

ein, mein lieber Bruder, morgen ist Wochenmarkt. Da müssen wir<br />

früh heraus“.<br />

Im Traum sah Thomas wüste<br />

Gestalten, die in’s Haus<br />

eindrangen. Bald wurden sie groß, bald klein. Sie kamen an<br />

Thomas’ Bette und schwangen Feuerbrände in den Händen. Er<br />

wollte aufspringen und schreien, doch war es ihm<br />

nicht möglich.<br />

Da öffnete sich die Wand und herein schwebte Elisabeth, die aber<br />

wieder Esthers Züge trug. Bei ihrer Annäherung wichen die<br />

Schatten. Sie nickte Thomas lächelnd<br />

zu und verschwand.<br />

Thomas erwachte, setzte sich aufrecht und es dauerte einige<br />

Zeit bis er sich besann, wo er sich befand. Er machte Licht und<br />

sah zur Uhr:<br />

„Guten Morgen, lieber Bruder. Es ist wohl schon Zeit<br />

aufzustehen?“ fragte<br />

Wilhelm mit klarer Stimme.<br />

„Es ist gleich drei Uhr“, antwortete Thomas. „Wir wollen bald an<br />

die Arbeit gehen, wir haben noch vielerlei zu tun“.<br />

Beide Brüder kleideten sich schnell an.<br />

„Du hast im Schlaf gesprochen und gestöhnt, ich wollte dich<br />

eben wecken, <strong>als</strong> du ruhig weiterschliefst“, sagte Wilhelm.<br />

„Ich hatte einen sehr lebhaften Traum“, erklärte Thomas, „der<br />

sich auf das bezog, was ich mit dem Vater gestern Abend<br />

gesprochen, natürlich in wirrem Durcheinander eines Traums.<br />

Sonst pflege ich nicht so lebhaft zu träumen. Gestern Abend<br />

erzählte der Vater von dem schrecklichen Überfalle der Tataren<br />

vor 30 Jahren“.<br />

Thomas setzte das Licht in eine Laterne und ging über den<br />

schmalen langen Hof, auf dem ihm Cerber fröhlich<br />

entgegensprang, nach dem Stall, wo er an die Tür klopfte.<br />

99


„Steht auf!“, rief er den Knechten zu. „Balzer kann heute allein<br />

füttern, tränken und putzen. Du, Jasch, komme gleich auf den<br />

Speicher“.<br />

Er wendete sich zum Haus zurück, wo ihm Wilhelm, der<br />

inzwischen die Mägde geweckt und die Schlüssel, welche der alte<br />

Vater stets in der Nacht neben seinem Bette hängen hatte, geholt<br />

hatte, begegnete. Mit seiner und Jaschs Hilfe schaffte Thomas die<br />

gangbarsten Waren in den Laden, wo er ihnen mit Schnelligkeit<br />

und Geschick ihren Platz anwies, während eine Magd den Hausflur<br />

kehrte und mit Sand und gehackten Tannen ausstreute.<br />

Nach einigen Stunden kam Schwester Barbara, die Brüder<br />

die<br />

eben<br />

fertig geworden waren, in die Hinterstube rufen. Sie folgten<br />

und fanden Vater und Mutter nebst den Dienstleuten schon um<br />

den großen Tisch versammelt. Der Hausvater zog sich die Lampe<br />

näher und las den Morgensegen. Darauf setzten sich alle zum<br />

Frühstück.<br />

„Hättet Ihr nicht noch im Bett bleiben sollen, mein lieber Vater?“<br />

fragte Thomas.<br />

„Mein Sohn, die Zeit zum Ausruhen wird für mich schon<br />

kommen“, erwiderte der Vater, „heute ist Wochenmarkt, da gibt’s<br />

für uns alle viel zu tun“.<br />

„Du musst bald zu deiner Schwester Anna und ihrem Mann<br />

gehen, lieber Thomas“, sagte die Mutter. „Sie war vorgestern ganz<br />

traurig darüber, dass sie dich vor drei Wochen nur einen<br />

Augenblick bei sich gesehen hat“.<br />

„Mein liebes Mütterchen“, antwortete Thomas. „Dam<strong>als</strong> konnte<br />

ich nicht länger bleiben. Wenn der Markt zu Ende ist, gedenke ich,<br />

heute hinzugehen und recht lange zu bleiben“.<br />

Das Frühstück war kaum beendet, <strong>als</strong> auch schon die<br />

Bekannten<br />

vom<br />

Lande, die das gute Wetter nutzten um zum Markt zu<br />

kommen,<br />

in die Stube traten.<br />

Jeder und Jede brachte Mäntel oder Tücher aufzuheben,<br />

oder<br />

Pakete,<br />

Lischken usw. zu verwahren, so dass Mutter und Tochter<br />

genug zu tun hatten, um alles abzunehmen. Der Vater redete mit<br />

den Männern. Deutsche und polnische Worte klangen<br />

durcheinander.<br />

Thomas legte sein Wams an und ging in den Laden, in welchem,<br />

obwohl der Morgen erst anbrach, sich schon Käufer befanden. Mit<br />

großer Schnelligkeit wusste er alle Kunden zufrieden zu stellen.<br />

Für jeden, auch den Geringsten, hatte er ein freundliches Wort,<br />

zuweilen einen Scherz. Mit jedem konnte er handeln.<br />

100


Bald drängten sich im Hausflur die polnischen Bauern. Mancher<br />

hatte schon gehört, dass Thomas auf der Reise von Räubern<br />

überfallen sei, und wollte die Geschichte aus seinem eigenen<br />

Munde hören. Thomas erzählte freundlich, doch ließ er sich dabei<br />

im Verkauf nicht stören. Wilhelm hatte genug zu tun, das<br />

Begehrte herbeizuschaffen.<br />

Der alte Vater stand auf den Stufen, die zur Tür der Wohnstube<br />

führten, und sah dem munteren Treiben zu. Nachmittags wurde es<br />

etwas leerer im Laden. Die polnischen Bauern hatten sich<br />

betrunken und taumelten auf dem Markt oder in den Straßen<br />

umher, während ihre kleinen Pferdchen hungrig an den schlechten<br />

Wagen standen. Erst gegen Sonnenuntergang wurde es im<br />

Städtchen stiller. Der alte Vater Wilhelm saß in seinem Stübchen<br />

am Tisch in der Nähe des Kamins und sortierte die<br />

Tageseinnahme, indem er die gleichen Münzsorten in kleine<br />

Häufchen zusammenlegte. Thomas trat zu ihm.<br />

„Seit langer Zeit“, sagte der Vater, „haben wir keine solche<br />

Einnahme am Wochenmarkt mehr gehabt. Doch heute hast du<br />

genug geleistet. Was noch vorkommt, kann der Wilhelm besorgen.<br />

Zieh dich <strong>jetzt</strong> um, mein Sohn. Gegen Abend pflegen einige<br />

Bekannte herzukommen. Sie werden, da es Sonnabend ist, nicht<br />

lange<br />

bleiben. Ich will dich mit ihnen bekannt machen“.<br />

101


9. Zu Besuch beim Schwager, Diakon Nebe<br />

„Lieber Vater“, antwortete Thomas, „ich gedachte, wenn Ihr es<br />

gestattet, heute zur Schwester Anna zu gehen“.<br />

„Gut, mein Sohn“, sagte der Vater, „geh’ <strong>jetzt</strong> hin und komme in<br />

Zeit von einer Stunde wieder. Grüße auch Anna und ihren Mann<br />

von mir“.<br />

Thomas ging auf seine Kammer durch das Haus. Es war ein<br />

wunderliches Haus, das Vaterhaus. Zur Zeit der Not nur für das<br />

augenblickliche Bedürfnis erbaut, hatte es sich, <strong>als</strong> die Familie<br />

größer und der Handel ausgebreiteter wurde, allerlei Anbauten<br />

außen und innen gefallen lassen müssen. Der große Hausflur hatte<br />

seinen meisten Raum zu einem Stübchen hergeben müssen, in<br />

dem die Honoratioren<br />

unkle Gänge und Treppchen.<br />

mit Gittertüren, wie ungeschickte<br />

rde<br />

den beiden großen Wappen<br />

167 des Orts sich zu versammeln pflegten.<br />

Hinten war ein Stübchen auf dem Hof angebaut. Sogar das Dach<br />

war gehoben, um Raum für die Waren zu schaffen. Die Leiter,<br />

welche in der ersten Zeit zu den oberen Räumen führte, hatte<br />

einer unbequemen dunkeln Treppe mit vielen Absätzen Platz<br />

gemacht. Überall waren enge halbd<br />

Die Nischen in den Wänden waren zu Wandschränken benutzt<br />

und, wo die Nischen fehlten, waren größere und kleinere rot<br />

angestrichene Kästen<br />

Vogelbauer anzusehen, an den Wänden und der Decke befestigt.<br />

Thomas zog den Rock mit vielen Knöpfen über das Wams,<br />

wechselte die Schuhe und verließ das Haus. Der Markt und die<br />

Straßen des Städtchens waren leer. Nur hier und da stand noch<br />

das Angespann eines polnischen Bauern. Zuweilen taumelte einer<br />

derselben betrunken über die Gasse. Andere lagen an der E<br />

und schliefen ihren Rausch aus. Thomas ging am Rathaus vorbei<br />

dem hohen Kirchturm zu, der mit seinem spitzen bleigedeckten<br />

Dach, dem gewölbten Eingang und<br />

darüber ihm rötlich in der Abendbeleuchtung entgegenstrahlte.<br />

167 Amtsleute / Verwalter<br />

102


Kirchturm mit Eingangstor und Wappen der Amtshauptmänner v. Dohna und v. Kreytzen<br />

Da ertönten die tiefen vollen Schläge der großen Glocke 168 , mit<br />

welcher der Feierabend sonnabends eingeläutet wurde. Thomas<br />

entblößte das Haupt, trat durch die hohe Spitzbogentür und die<br />

Turmhalle in’s dämmrige Gotteshaus, sprach ein kurzes Gebet und<br />

verließ es wieder. Er ging dann links um die Ecke am Gartenzaun<br />

des Diakons vorbei und bog in das schmale Gässchen zwischen<br />

der Schule und dem Garten ein. An der niederen, gewölbten Tür<br />

der Schule vorbeigehend, trat er in die zweite Tür desselben<br />

Hauses, die zur Wohnung des Diakons führte.<br />

Ein großer mit Ziegeln ausgelegter Hausflur nahm ihn auf.<br />

Beim<br />

Öffnen der Haustür wendete sich eine junge Frau, die<br />

einen der<br />

großen<br />

Schränke aufgeschlossen hatte, nach dem Eintretenden.<br />

Da sie ihn erkannte, sprang sie mit einem Freudenschrei auf ihn<br />

zu, und fiel ihm um den H<strong>als</strong>. Die Tür der Wohnstube öffnete sich:<br />

„Aber Anna“, sagte eine tiefe Stimme. „Was machst du für ein<br />

Geschrei? Du störst mich ja beim Memorieren der Predigt“.<br />

„Sieh, Jacob“, sagte sie, „der Bruder Thomas ist gekommen.<br />

Doch komme herein, lieber Bruder“.<br />

Mit diesen Worten zog sie ihn über die Schwelle. Thomas<br />

begrüßte den Schwager, während die muntere Frau hinauslief, um<br />

Licht zu holen. Bald war sie mit demselben da.<br />

„Ich hab’ dich heute Vormittag schon von weitem einen<br />

Augenblick gesehen“, sagte sie. „Du warst in einem großen Haufen<br />

168 S. FN 746.<br />

103


polnischer Bauern, denen du deutlich machen wolltest, dass<br />

Bandeisen für sie viel vorteilhafter zu kaufen sein würde <strong>als</strong><br />

Stabeisen. Ich konnte nicht abwarten, bis du mit ihnen fertig<br />

warst, sonst wäre mir das Mittagessen angebrannt. Mein Jacob<br />

muss es schon immer zeitig am Sonnabend haben, bevor er in die<br />

polnische Beichte geht. Doch sage einmal, unsere Lotte brachte<br />

heute eine Geschichte vom Brunnen mit, die sie von<br />

Bürgermeisters Hanne gehört hatte. Du sollst ja von 16 Räubern<br />

überfallen sein. Ich hielt’s gleich für einen Unsinn, da ich dich<br />

frisch und gesund gesehen hatte“.<br />

Thomas lächelte und sagte: „Frau Fama 169 hat’s <strong>als</strong>o schon bis<br />

auf 16 gebracht? Doch ganz gelogen ist die Geschichte nicht, ich<br />

will sie Euch erzählen“.<br />

Er berichtete nun so kurz wie möglich sein oft erzähltes<br />

Abenteuer. Doch damit war der Schwester nicht gedient. Sie<br />

fragte immer nach allem genauer und examinierte den Bruder<br />

gründlich. Endlich war Thomas fertig, stand auf und wollte gehen.<br />

„Aber warum bleibst du nicht den Abend bei uns?“ fragte Anna.<br />

„Du hast noch nicht einmal meine kleine Euphemia gesehen“.<br />

„Ich habe dem Vater versprochen, in einer Stunde zurück zu<br />

sein“, sagte Thomas, „und dann will ich auch dich, lieber<br />

Schwager, nicht stören“.<br />

Anna war hinausgelaufen und kam gleich darauf mit einem<br />

kleinen Mädchen auf dem Arm zurück, das<br />

etwa ein Jahr alt war.<br />

„Es ist Großvaters Herzblatt“, sagte die glückliche Mutter,<br />

während der Onkel die einzige Nichte, die er hatte, gebührend<br />

bewunderte. „In seiner Krankheit musste ich täglich mit dem Kind<br />

zum Vater kommen. Dann saß ich an seinem Bett und er<br />

streichelte mit seinen abgezehrten zitternden Händen die weichen<br />

Händchen des Kindes. Ach, es war eine schwere Zeit für uns alle,<br />

<strong>als</strong> der Vater so krank war. Besonders für den guten Wilhelm, der<br />

alles führen sollte. Du solltest aber wirklich heute bei uns bleiben,<br />

Thomas“.<br />

„Ich bleibe ja <strong>jetzt</strong> in <strong>Angerburg</strong>“, erwiderte der Bruder. Da<br />

wollen wir gute Nachbarschaft halten und oft zusammen kommen.<br />

Gestern Abend musste ich doch zu Hause bleiben. Der Vater<br />

erzählte von dem Überfall vor 30 Jahren. Kannst Du Dich noch<br />

darauf besinnen, lieber Schwager? Du bist, denke ich, doch 4 oder<br />

5 Jahre älter <strong>als</strong> ich, der ich dam<strong>als</strong> noch in den Windeln war. Ich<br />

habe<br />

zwar gehört, dass die Schweden und<br />

Polen einmal hier<br />

169 Hier: Gerüchteküche.<br />

104


gewesen sind, aber das Genauere kann ich mich nicht besinnen,<br />

jem<strong>als</strong> gehört zu haben“.<br />

„Am Überfall selbst habe ich keine Erinnerung“, sagte der<br />

Schwager, „denn ich wurde schlafend fortgetragen. Aber nachher,<br />

<strong>als</strong> wir nach unserer Flucht hierher zurückkehrten, erinnere ich<br />

mich, dass ich mich sehr wunderte, dass hier im Haus alles<br />

geraubt und zertrümmert war. Auch an das Begräbnis meines<br />

Vaters kann ich mich noch besinnen, und wie es mir dann bei der<br />

Mutter im Witwenhause<br />

gar nicht gefiel. Ich bin auch außer der<br />

Schulzeit mehr bei Euch <strong>als</strong> bei der Mutter gewesen. Mit dir habe<br />

ich wenig gespielt, du warst mir zu klein. Desto mehr mit der<br />

Anna, denn der Georg war dam<strong>als</strong> schon ein großer Schüler. Der<br />

wollte sich mit mir nicht abgeben. Als meine Mutter starb, nahm<br />

mich meines Vaters Bruder zu sich und erzog mich mit seinem<br />

Sohn, dem jetzigen Pfarrer in Weinsdorf“.<br />

Thomas sah zur Uhr: „Ich bin wirklich über Gebühr lange<br />

geblieben. Nun gute Nacht. Dies Zettelchen schicke doch, liebe<br />

Anna, morgen vor der Kirche zum Herrn Pfarrer hinüber“.<br />

Damit sagte er nochm<strong>als</strong> Lebwohl und ging heim.<br />

Das Pfarrhaus auf dem Kirchberg wurde mit der Kirche 1610 zweistöckig erbaut. Im Jahre<br />

1864 ließ Superintendent Paulini es niederreißen und auf dem Fundament ein neues Pfarrhaus<br />

bauen, wie es noch heute zu sehen ist. (Aufnahme etwa 1926).<br />

105


10. Der Straßenräuber Schieler und die gestohlene<br />

Kriegskasse<br />

Als Thomas das Vaterhaus betrat, waren schon die Großbürger<br />

und einige Beamte in dem Stübchen neben dem Hausflur<br />

zusammen. Da war der alte Bürgermeister Herr Egidius Pech 170 ,<br />

die Ratsverwandten Wolff, Mrosovius, Bolz, Albrecht Basilius,<br />

Christian Kämpf, Schmidt, Winkler, Gisevius, dann der<br />

Stadtschreiber Vogel 171 , der Bräutigam Barbaras, und einige<br />

andere. Auch vom Kurfürstlichen Schloss und der Freiheit waren<br />

einige Bewohner gekommen, der Herr Amtsschreiber Michael<br />

Witt 172 und der Herr Amtswachtmeister Martin Lemke 173 .<br />

Als Thomas eintrat, war die Unterhaltung recht lebhaft. Als sein<br />

Vater ihn erblickte, ergriff er ihn bei der Hand und stellte seinen<br />

Sohn der Gesellschaft vor. Die meisten erkannte Thomas wieder.<br />

Nur einige waren ihm unbekannt.<br />

„Ihr habt ja wunderliche Fata 174 auf Eurer letzten Reise in dieser<br />

Woche erlebt. Euer Vater hat’s uns erzählen müssen“, sagte der<br />

Herr Bürgermeister. „Es ist nur gut, dass Ihr mit heiler Haut<br />

davongekommen seid“.<br />

„Sagt doch einmal“, fragte der Amtswachtmeister Lemke, „hatte<br />

der schielende, pockennarbige Kerl nicht eine rote Schmarre 175<br />

über der Stirn?“<br />

„Das kann ich wirklich nicht sagen“, antwortete Thomas, „da<br />

ihm die struppigen Haare über die Stirn hingen. Doch Ihr scheint<br />

ja den Patron zu kennen, Herr Amtswachtmeister“.<br />

„Glaube wohl, dass es der sein wird, den ich meine“, erwiderte<br />

der Amtswachtmeister. „Er diente mit mir zusammen bei den<br />

Treffenfeldschen Reitern, ein Kerl, den wir den Schieler nannten.<br />

Er nannte sich, wenn er besoffen war, was öfter vorkam, Herz-<br />

König. Seinen rechten Namen weiß ich nicht. Courage hatte der<br />

Kerl, wie der leibhaftige Teufel. Wenn ein Spitzbubenstreich<br />

vorgekommen war, so war der Schieler sicher dabei gewesen. Der<br />

Profoß 176 hatte immer mit ihm zu tun. Wir anderen Reiter mochten<br />

170<br />

Der Bürgermeister Egidius Pech starb 1703 in <strong>Angerburg</strong>.<br />

171<br />

Herr Jacob Vogel, Stadtschreiber, starb 28.Dezbr. 1709 an der Pest, so auch seine Frau.<br />

172<br />

Michael Witt, Amtsschreiber in <strong>Angerburg</strong> bis 1690.<br />

173<br />

Das Haus des Amtswachtmeisters<br />

Martin Lemke brannte 1707 ab.<br />

174<br />

Plural von<br />

Fatum [lat.:]<br />

Schicksal / Verhängnis.<br />

175<br />

Narbe<br />

176<br />

Polizeimeister<br />

106


nicht mit dem Schieler umgehen. Daraus machte er sich aber<br />

nichts und trieb sich mit allerlei Gesindel in den Kneipen herum.<br />

Wegen Diebstahls bekam er zweimal Spießruten 177 . Doch <strong>als</strong> er<br />

ausgeheilt war, blieb er ebenso. Seht, ich stand, wie ich schon<br />

sagte, bei den Treffenfeldschen und wir dachten, den Winter Anno<br />

1678 in den guten warmen Quartieren zuzubringen. Da hieß es auf<br />

einmal, der Schwede ist in Preußen eingefallen. Wir mussten H<strong>als</strong><br />

über Kopf satteln. Ich verlor noch eine Menge Sachen, die ich<br />

h Insterburg, doch kam unterwegs die<br />

n, durch Wildnisse und Brüche<br />

Unsere Reiter konnten nicht geschlossen<br />

aldbrand gewesen war. Eine große Flucht 179 nicht mitnehmen konnte. Nun ging’s fort, immer nach Osten zu.<br />

Wir sollten anfangs nac<br />

Ordre, wir sollten nach Tilse<br />

war<br />

ngte nun sein<br />

178 marschieren und zwar so schnell<br />

<strong>als</strong> möglich. Nun ging’s los, es dauerte nicht lange, so sahen wir<br />

den Nachtrab der Schweden. Wir immer hinterher, doch auf<br />

unwegsamen gefrorenen Wege<br />

konnten wir ihnen nicht so schnell nachkommen, besonders, da sie<br />

tüchtig ausrissen.<br />

bleiben, sondern jeder musste versuchen, so gut er konnte,<br />

fortzukommen. Da kamen wir an eine Stelle, wo vor einigen<br />

Jahren ein W<br />

heruntergebrannt (lschdaggen nennen es die Litauer). Einzelne<br />

mächtige verkohlte Stämme standen noch darauf schwarz und<br />

beschneit, dazwischen niedriges Strauchwerk. Da sahen wir die<br />

Schweden nicht weit vor uns. Jeder von uns stre<br />

Pferd an, um sie zu erreichen. Da stürzte mein Brauner über eine<br />

Baumwurzel und ich kopfüber herunter. Wir richteten uns beide<br />

auf, und es war uns kein Schade geschehen. Nur der Sattelgurt<br />

war geplatzt. Bis ich diesen zurecht machte, war die wilde Jagd<br />

mir schon weit voraus. Ich saß wieder auf und vorwärts. Plötzlich<br />

kam ich an das steile Ufer eines Flüsschens, das mit Eis belegt<br />

war. Was sah ich da! Da kniet mein Schieler an einer Wuhne 180<br />

und stößt mit seinem Pallasch 181 etwas unter das Eis. Auf dem<br />

jenseitigen Ufer aber steht ein leerer Geldwagen ohne Geldkasten.<br />

Die Pferde waren abgeschnitten. Schieler! Was machst du da?<br />

schrie ich ihn an. Der Kerl warf einen giftigen Blick auf mich,<br />

177<br />

Der Spießrutenlauf war eine militärische Leibesstrafe. Hierbei erhielt der Bestrafte in einer<br />

Soldatengasse von jedem Mann mit einer Hasel- oder Weidenrute (Spieß- oder Spitzrute)<br />

einen Schlag auf den Rücken.<br />

178<br />

Tilsit<br />

179<br />

Eine große Fläche.<br />

180<br />

Eisloch<br />

181<br />

Seitengewehr<br />

107


schwang sich auf sein Pferd und sprengte davon. Mir war die<br />

Geschichte merkwürdig. Bis ich den steilen befrorenen Abhang<br />

hinunter, übers Eis und auf der anderen Seite wieder heraufkam,<br />

war Schieler mir aus dem Gesichte. Ich ritt nun so scharf ich<br />

konnte, und bald hörte ich, dass Sammeln geblasen wurde. Die<br />

zerstreuten Reiter kamen nun auf eine schlechte Straße, und das<br />

Regiment ritt in scharfem Trabe geschlossen weiter. Unterwegs<br />

meldete ich den Vorfall mit Schieler einem Offizier, doch hieß es,<br />

<strong>jetzt</strong> ist keine Zeit, Vorwärts. So ritten wir denn weiter vielleicht 2<br />

Stunden oder auch länger. Wer fragte dam<strong>als</strong> nach der Zeit? Da<br />

hörten wir scharfes Schießen. Links von der Straße ging’s über<br />

Sandhügel, dann wurde<br />

zum Angriff geblasen. Wir sprengten vor,<br />

doch waren wir noch nicht an den Feind herangekommen, <strong>als</strong> ich<br />

von hinten eine Kugel durch den<br />

linken Arm bekam. Sie ging<br />

meinem Braunen in den Kopf. Er überschlug sich, und ich blieb<br />

bewusstlos liegen.<br />

Wie lange ich so lag, weiß ich nicht. Ich kam zum Bewusstsein,<br />

<strong>als</strong> einige Leute um mich hantierten und meinen zerschossenen<br />

Arm hoben. Dann träumte ich, ich flöge schnell<br />

davon, bis mir<br />

wieder die Sinne vergingen. Als ich zum klaren Bewusstsein kam,<br />

lag ich in einer Kammer auf einem Bette, mein Kopf und mein Arm<br />

wurden verbunden. Der Schmerz muss mich wohl erweckt haben.<br />

Neben dem Balbierer<br />

. Noch ist das Wundfieber nicht da, wird aber recht bald<br />

Ich drang in ihn, mir doch zu sagen, wie ich gerettet sei. Da<br />

erzählte er mir, dass ich mich in Tilse befände, dass er der<br />

182 stand ein etwas korpulenter Mann in<br />

Hemdsärmeln.<br />

„Nun, wie steht’s, Nachbar?“ fragte dieser in etwas fremder<br />

Mundart den Balbierer.<br />

„Die Wunden am Kopf haben wenig zu bedeuten, aber der Arm<br />

ist entzwei. Der Mensch ist <strong>jetzt</strong> vom großen Blutverlust recht<br />

schwach<br />

kommen“, sagte der Balbierer.<br />

Ich fragte, wo ich mich befände und ob wir die Schweden<br />

geschlagen hätten.<br />

„Bleibt nur ganz ruhig“, sagte der Mann, „Ihr seid in guten<br />

Händen, und die Schweden werden wohl schon über die Grenze<br />

gejagt sein“.<br />

182 Barbier = Wundarzt<br />

108


Seilermeister Fiedler 183 sei, und dass sein Sohn Georg und die<br />

Seilerburschen mich in sein Haus gebracht hätten.<br />

Es war an dem Tag der Schlacht natürlich an kein Arbeiten zu<br />

denken gewesen, und da war der 14jährige Georg mit den<br />

Seilerburschen und vielen anderen jungen Leuten auf die<br />

Sandhügel zwischen Tilse und Splitter 184 gelaufen, um die Schlacht<br />

anzusehen. Da fanden sie mich neben meinem toten Pferde noch<br />

lebend und atmend. Georg war in das Dorf Splitter gelaufen, hatte<br />

einen kleinen Handschlitten geholt. Er und die Burschen hatten<br />

mich aufgeladen, den Hügel hinunter auf das Eis der Memel<br />

geschoben und nach Tilse vor das Haus des Seilers Fiedler, das an<br />

der Memel liegt, gefahren. Dieser, und besonders seine Frau,<br />

waren anfangs sehr erschreckt, <strong>als</strong> sie den halbtoten, ganz mit<br />

gefrorenem Blut bedeckten Menschen sahen. Sie nahmen mich<br />

aber gütig auf und ließen mich in eine kleine Kammer tragen, wo<br />

ich denn auch bald von dem schnell herbeigeholten Balbierer<br />

verbunden wurde.<br />

Bald kam auch, wie der Balbierer gesagt hatte, das Wundfieber,<br />

welches mich so sehr abmattete, dass ich mich nicht umkehren<br />

konnte. Als ich mich soweit erholt hatte, dass ich wieder sprechen<br />

konnte, ließ ich den Seiler zu mir bitten. Ich erzählte ihm von der<br />

schwedischen Kriegskasse, die von einen Schurken unserem<br />

Allergnädigsten Kurfürsten wahrscheinlich entwendet werden<br />

sollte und dass er sie sich wohl gelegentlich holen würde. Zugleich<br />

bat ich ihn, da ich vielleicht bald würde sterben müssen, die<br />

Anzeige zu machen.<br />

Er schwieg, <strong>als</strong> ich meine Erzählung beendet hatte, schob sein<br />

Mützchen hin und her und ging.<br />

Noch an demselben Abend kam er wieder mit dem jungen<br />

Advocaten<br />

ussage<br />

185 Naugardt. Dieser fragte mich erst gut aus, ob ich<br />

nicht im Fieber rede. Dann nahm er meine ganze A<br />

schriftlich auf. Fiedler unterschrieb <strong>als</strong> Zeuge, und auch der junge<br />

Apotheker Falk, der zugegen war.<br />

183<br />

Der Sohn des Seiler Otto Fiedler in Tilsit, namens Otto Friedrich Fiedler geb. 1677 in<br />

Tilsit, besuchte die Provinzi<strong>als</strong>chule daselbst, kam 1692 z.Univ.Königsbg., ging dann nach<br />

Halle, wurde Lehrer an dem Collegio Friedericiano in Königsbg. 1709 Präzentor in Trempen,<br />

heiratete 1712 die Tochter des Offiziers Diezel, wurde 1711 Pfarrer in Trempen, wo er 1729<br />

starb. Seine Witwe Eleonora Fiedler geb. Diezel starb nach 1759.<br />

184<br />

S. FN 762<br />

185<br />

Anwalt / Notar<br />

109


Als sie sich entfernt hatten, war mir ein Stein vom Herzen<br />

gefallen. Ich schlief besser <strong>als</strong> die Nächte vorher. Mein Arm heilte<br />

allmählich, das Essen fing mir an zu schmecken. Ich hatte aber<br />

große Langeweile. Zuweilen kam abends der Meister zu mir oder<br />

der Advocat.<br />

Als ich etwas aufstehen konnte, war mein fortwährender<br />

Gefährte Otto der kleine Sohn Fiedlers von 5 Jahren, ein munteres<br />

Jungchen. Der ältere Georg<br />

konnte wenig bei mir sein, denn er<br />

besuchte die lateinische Schule und hatte zu Hause immer viel zu<br />

lernen.<br />

Eines Abends kam der Advocat zu mir und erzählte, der Herr<br />

Amthauptmann Joh. Friedrich v. Schlieben hätte an das<br />

Regiment<br />

geschrieben und angefragt, ob sich der so genannte Schieler bei<br />

demselben befände. Aber er hat zur Antwort bekommen, Schieler<br />

sei seit der Schlacht bei Splitter<br />

Schloss<br />

erufen, der mich ausfragte. Endlich, nach Ostern, konnte ich ein<br />

Pfer wir<br />

fingen von der S ar. Wir ritten in<br />

die Richtung nach Südwesten, d ch ungefähr angeben konnte,<br />

ück, da mein Arm<br />

186 nicht mehr bei dem Regiment.<br />

Ob er gefallen sei oder desertiert sei, wisse man nicht.<br />

Zugleich war der Advocat beauftragt, mich zu fragen, ob ich<br />

nicht bald soweit sein würde, um die Stelle, wo die Kasse versänkt<br />

sei, suchen zu helfen. Ich erholte mich langsam. Als ich gehen<br />

konnte, wurde ich zum Herrn Amthauptmann aufs<br />

b<br />

d besteigen. Es wurde ein Wagen mitgenommen und<br />

telle an, wo ich niedergestürzt w<br />

ie i<br />

kamen auch endlich an die Stelle, wo der Waldbrand gewesen war<br />

und auch an ein Flüsschen mit steilen Ufern. Im Sommer sah aber<br />

alles anders aus <strong>als</strong> ich es im Winter bei dem schnellen<br />

Vorüberreiten gesehen zu haben glaubte. Wir suchten überall am<br />

Ufer, bis ich endlich ohnmächtig vom Pferde sank.<br />

Ich wurde in einen weiten grauen Mantel gewickelt, zwischen<br />

Stroh verpackt und auf den Wagen gelegt, der den Geldkasten<br />

sichern sollte. Zwei Männer setzten sich neben mich, und nun<br />

ging’s zur Stadt Tilse zurück. Unterwegs kam ich wieder zu mir,<br />

musste aber lange liegen, ehe ich mich wieder erholte.<br />

Als ich endlich genas, wollte ich nach meiner Vaterstadt<br />

<strong>Angerburg</strong>. Zum Regimente konnte ich nicht zur<br />

steif blieb. Der Apotheker Falk nahm nicht nur nichts für seine<br />

186 Im November 1678 waren die Schweden unter General Horn von Livland her nach<br />

Ostpreußen eingefallen und bedrohten Königsberg. Zur Abwehr rückte von Pommern her der<br />

Große Kurfürst heran, passierte mit seinen Truppen auf Schlitten das Eis des Frischen und<br />

Kurischen Haffs und schlug die Schweden bei dem Dorf Splitter in der Nähe von Tilsit.<br />

110


Medikamente, sondern schenkte mir noch ein Viaticum 187 . Etwas<br />

Geld sammelte auch der Advocat Naugardt für mich bei seinen<br />

Bekannten, und so kam ich denn, nachdem ich meinen<br />

Lebensrettern nur mit Tränen hatte danken können, hier bei<br />

meiner alten Mutter an. Als der alte Amtswachtmeister<br />

Willudowius starb, gab mir der Herr Amthauptmann Wolf Albrecht<br />

v. Kreytzen den Amtswachtmeisterdienst“.<br />

„Wie wurde es aber mit dem Schatz?“<br />

fragte Thomas.<br />

„Der liegt wohl noch auf dem Grund des Flusses, was mir<br />

wahrscheinlich vorkommt“, sagte der Amtswachtmeister.<br />

„Nach Eurer Beschreibung ist Schieler ja ganz verlumpt“. „Also<br />

meint Ihr wirklich, Herr Amtswachtmeister, dass mein Bettler,<br />

Räuber usw. und Euer Schieler eine Person ist?“ fragte Thomas.<br />

„Ich glaube, es kann nicht 2 verschiedene Menschen geben, auf<br />

die das Signalement passt“, antwortete der Amtswachtmeister.<br />

Während der Amtswachtmeister seine Geschichte dem Thomas<br />

erzählte, hatten die Übrigen, die dieselbe schon oft gehört hatten,<br />

sich unter einander unterhalten. Der Herr Bürgermeister und<br />

Thomas’ Vater saßen in einer Ecke und sprachen angelegentlich<br />

halblaut zusammen. Endlich stand der Bürgermeister auf, reichte<br />

dem alten Mann die Hand und sagte:<br />

„In der nächsten Ratssitzung<br />

werde ich es vorbringen, Herr<br />

Ratsverwandter. Ich glaube, dass Euer Sohn dann bald <strong>als</strong> Bürger<br />

schwören wird und in’s große Bürgerbuch eingeschrieben werden<br />

kann. Wie viel das kosten wird, kann ich Euch nicht sagen. Ich<br />

werde Euch aber nach der Sitzung selbst Nachricht bringen, was<br />

der Rat beschlossen hat“.<br />

Damit empfahl er sich und die anderen gleichfalls. Sie schalten<br />

unterwegs den Amtswachtmeister, dass er gleich am ersten Abend<br />

den Thomas mit seiner Geschichte in Beschlag genommen hätte,<br />

obwohl er ihnen doch vielerlei hätte erzählen sollen.<br />

Thomas folgte dem Vater in die große Hinterstube, wo die<br />

Abendmahlzeit auf sie wartete. Nach dem Essen durfte<br />

von<br />

keinem der Hausgenossen eine Arbeit vorgenommen werden,<br />

worauf der Hausherr streng hielt. Er versammelte denn die<br />

Familienglieder und das Gesinde um den großen Tisch. Ein Lied<br />

wurde gesungen, dann mehrere Kapitel der Bibel gelesen und mit<br />

Gesang und Gebet die Woche geschlossen. Darauf ging das ganze<br />

Haus zur Ruhe. Um 9 Uhr lag schon alles in tiefem Schlaf.<br />

187<br />

Zehrpfennig für die Reise.<br />

111


11. Ein stiller Kirchensonntag in <strong>Angerburg</strong> und eine<br />

anstrengende Arbeitswoche<br />

Der folgende Tag war ein Sonntag (22. nach Trinitatis, den 26.<br />

Oktober 1687). Die Glocken riefen schon, <strong>als</strong> es noch ganz dunkel<br />

war, zur Frühmesse, welche der Diakon hielt. Zur Morgenandacht<br />

fanden sich die Hausgenossen zusammen, der Hausvater las das<br />

Sonntagsevangelium und die Sonntagsepistel vor, hielt dann das<br />

Morgengebet und bestimmte, in welcher Ordnung die Seinigen den<br />

Gottesdienst besuchen sollten. Er mit der Mutter und Thomas<br />

sollten zur deutschen Vormittagskirche, das polnische Gesinde<br />

dann zur polnischen, und Wilhelm mit Barbara zur Vesper gehen.<br />

Nach dem Frühstück gingen die Eltern in ihre Schlafkammer, um<br />

die Festkleider anzulegen. Thomas blieb mit Barbara in der<br />

Wohnstube allein, wo sie den Staub abwischte.<br />

„Komm’ doch einmal her, mein gutes Schwesterchen“, sagte<br />

Thomas. „Du kannst ja nachher weiter wischen. Ich habe mit dir in<br />

dem fortwährenden Sputen noch gar nicht recht reden können“.<br />

Barbara setzte sich zu ihm und er nahm ihre Hand:<br />

„Der Vater sagte,<br />

dass deine Hochzeit bald sein soll“, sagte er.<br />

„Dein Bräutigam gefällt mir sehr wohl, obgleich ich ihn nur einige<br />

Male ganz kurz gesehen habe“.<br />

„Ach, er ist auch wirklich gut“, sagte Barbara, „er hat lange auf<br />

mich warten müssen. Als er Gehilfe bei dem alten Stadtschreiber<br />

Bartholdi war, ließ es der Vater nicht zu, dass wir uns verlobten,<br />

so sehr es auch Vogels Mutter wünschte. Im vergangenen Jahr<br />

starb der Stadtschreiber Bartholdi“.<br />

„Ich weiß mich noch sehr gut zu besinnen“, unterbrach sie der<br />

Bruder. „Er hatte eine ausländische Aussprache, die mir <strong>als</strong> Junge<br />

viel Spaß machte. Weißt du nicht, was er für ein Landsmann war?“<br />

„Ich glaube, von Vogel gehört zu haben, dass er aus<br />

Merseburg<br />

schreiberdienst bekam, wurden wir<br />

r Tischler auch fertig,<br />

188 herstammte“, antwortete Barbara. „Als nun nach<br />

seinem Tode Vogel den Stadt<br />

Brautleute und zu Martini sollte in diesem Jahr die Hochzeit sein,<br />

mein Schaff 189 und meine Lade 190 machte de<br />

188<br />

Stadt in Sachsen-Anhalt. 1656-1738 ist Merseburg Residenzstadt der Herzöge von<br />

Sachsen-Merseburg, diese Zeit ist mit<br />

reger Bautätigkeit und kulturellem Aufschwung für die<br />

Stadt verbunden.<br />

189<br />

Truhe / Schrank<br />

190<br />

hölzerner Kasten für die Kleider.<br />

112


das steht <strong>jetzt</strong> auf der Lucht 191 . Da kam aber die Krankheit des<br />

Vaters. Nun habe ich Wäsche noch nicht fertig, keine Schweine,<br />

keine Gänse sind gemästet und zur Hochzeit nichts vorbereitet“.<br />

„Nun, wenn du auch ein Vierteljährchen später heiratest“, sagte<br />

Thomas, „so kannst du dich mit mir trösten. Ich habe noch nicht<br />

einmal eine Partnerin“.<br />

„Ich kann mit dir nicht länger plaudern“, sagte Barbara. „Ich<br />

muss in die Küche, damit ihr, wenn<br />

ihr aus der Kirche kommt, das<br />

Mittagessen fertig findet“.<br />

Mit diesen Worten eilte sie hinaus. Durch die andere<br />

Tür traten<br />

<strong>jetzt</strong> Vater und Mutter. Beide hatten sich stattlich herausgeputzt.<br />

Der Vater mit einem langen dunkelfarbenen Rock von Ländischem<br />

Tuch, mit vielen Knöpfen auf den Ärmeln und an den Taschen, um<br />

den H<strong>als</strong> einen Streifen weißer feiner Leinwand,<br />

dessen beide<br />

Enden, mit Spitzen besetzt, auf die große, lang herabreichende<br />

Weste fielen. Weite<br />

dunkle Kniehosen, untadelige Strümpfe und<br />

Schuhe mit großen Schnallen vollendeten seinen Anzug.<br />

Die Mutter, mit einer großen Krause um den H<strong>als</strong>, hatte ihr<br />

Hochzeitskleid angelegt und suchte aus ihrer Wagenlade die<br />

Smarge, mit Fuchspelz besetzt, hervor.<br />

Als die Glocken mit langgezogenen Tönen über der Stadt<br />

erklangen, ergriff der Vater das Gesangbuch mit<br />

silbernen Ecken<br />

und Haken, nahm den Hut und den Stock mit silbernem Knopf und<br />

schritt stattlich seiner Frau und seinem Sohne voran zur Kirche.<br />

Von allen Seiten, aus allen Häusern kamen<br />

die Bewohner in’s<br />

Gotteshaus.<br />

Jeder derselben hatte seinen bestimmten Sitz.<br />

Während des Geläutes vor dem Beginn des Gottesdienstes sah<br />

Thomas sich in der Kirche um. Er hatte wohl viel großartigere,<br />

auch viel schönere Gotteshäuser gesehen, aber mit diesem hingen<br />

die Erinnerungen seiner Kindheit zusammen.<br />

Auch die Kirchenbesucher kannte Thomas zum Teil noch aus<br />

seiner Kindheit, da die deutsche Gemeinde <strong>Angerburg</strong>s dam<strong>als</strong><br />

nicht sehr groß war, weil fast die ganze Landgemeinde und viele<br />

Bewohner der Stadt aus den untern Ständen zur polnischen<br />

Gemeinde gehörten. Nur die jüngere Generation kannte Thomas<br />

nicht. Sie waren dam<strong>als</strong> Kinder gewesen, <strong>als</strong> er die <strong>Angerburg</strong>er<br />

Schule besuchte.<br />

Er gedachte<br />

des Tages, <strong>als</strong> er, kurz vor seiner Abreise nach<br />

Elbing<br />

in dieser Kirche weinend<br />

mit den Eltern und Geschwistern<br />

an der Gruft seiner Schwester<br />

Agneta stand, <strong>als</strong> sie in dem<br />

191 Dachboden<br />

113


Gewölbe beigesetzt wurde. Nun schwiegen die Glocken. Die<br />

schöne Orgel begann. Nach dem Eingangslied betrat der Diakon<br />

und <strong>als</strong><br />

kon vor dem<br />

nen Gott 195 Nebe den Altar. Das Kyrie<br />

. Nach der Vorlesung des Evangelii<br />

ismus vorgezählt<br />

„Insonderheit wird dem Herrn gedankt für den gnädigen Schutz<br />

s<br />

die Gemeinde: Erhalt’ uns, Herr, bei<br />

des Vaterunsers ablas, worauf er die verba<br />

192 wurde dreimal gesungen<br />

dann der Priester allein gesungen hatte: Ehre sei Gott in dem<br />

allerhöchsten, folgte: Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für<br />

seine Gnade. 193 Die Epistel 194 wurde von dem Dia<br />

Altar dem Volk abgelesen, dann sang man die Litanei und Wir<br />

glauben all an ei<br />

sang die Gemeinde: Nun bitten wir den heiligen Geist, während<br />

der Diakon den Altar verließ.<br />

Darauf betrat der Pfarrer Helwing die Kanzel und predigte von<br />

der Waffenrüstung des gläubigen Christen.<br />

Nach der Predigt hat er alle Stücke des Katech<br />

mit feinen unterschiedlichen klaren Worten. Dann geschah das<br />

Gebet für den geistlichen und weltlichen Stand, für das<br />

Hausregiment, für den Landesfürsten und für die verordnete<br />

Regierung. Dann fuhr der Pfarrer fort:<br />

und die Bewahrung, die er Einem von uns in der vergangenen<br />

Woche gnädiglich gewährt hat“.<br />

Alle Augen richteten sich auf Thomas, der mit gerührtem Herzen<br />

die Dankesworte des Pfarrherrn leise mitsprach.<br />

„Ein Jeder bitte auch für sich selbst, für sein Weib und Kind und<br />

was ihm befohlen ist, auch für alle Betrübten leiblich und geistlich.<br />

Für diese und alle andere Not und für uns selbst lasset un<br />

miteinander sprechen das heilige Vaterunser“.<br />

Nach dem Gebet sang<br />

Deinem Wort.<br />

Unterdessen ging der Pfarrherr von der Kanzel vor den Altar, wo<br />

er die Paraphrasis<br />

consecrationis 196 sang und das gesegnete Brot und den<br />

gesegneten Kelch den Kommunikanten 197 austeilte.<br />

192<br />

Kurzform von „Kyrieeleison“ = Herr, erbarme dich! (Bittruf in der Messe und im luth.<br />

Hauptgottesdienst).<br />

193<br />

Textdichter: Nikolaus Decius.<br />

194<br />

Vorgeschriebenene gottesdienstliche Lesung aus den neutestamentlichen Briefen u. d.<br />

Apostelgeschichte.<br />

195<br />

Textdichter : Martin Luther (sowie der nächsten zwei Liedertexte).<br />

196<br />

Einsetzungsworte des Abendmahles.<br />

197<br />

Abendmahlsteilnehmer<br />

114


Nachdem die Kollekte gesungen 198 und der Segen dem Volk<br />

erteilt war, entließ der Pfarrherr die Gemeinde.<br />

Als die Deutschen die Kirche verließen, drangen die Polen<br />

hinein. Ein unangenehmer Regen empfing die Heimkehrenden,<br />

jeder eilte so schnell er konnte nach Hause.<br />

Wilhelm empfing die Eltern im Hausflur und half ihnen, die<br />

nassgewordenen Oberkleider abzulegen. Barbara hatte den Tisch<br />

gedeckt und trug auf. Nach der Mahlzeit gingen die Eltern ein<br />

Mittagsschl äfchen halten. Barbaras Bräutigam kam, um mit ihr<br />

und Wilhelm in die Vesper zu gehen. Thomas blieb allein. Er ging<br />

in seine Kammer und begann seine Sachen auszupacken. Da<br />

kamen verschiedenartige Dinge zum Vorschein, die er geschenkt<br />

erhalten oder auf seinen Reisen erworben hatte. An jedes<br />

derselben knüpfte sich eine Erinnerung. Als Wilhelm eintrat, fand<br />

er den Bruder an der Erde sitzen, umgeben von Pludderhosen<br />

en, Guffknöpfen, Bändern und allerlei<br />

„Ja, schon eine ganze Weile“, antwortete Wilhelm. „Die Eltern<br />

199 ,<br />

seidenen Strümpfen, Schnall<br />

Papieren. Er blätterte in einem Stammbuch.<br />

„Ist schon die Vesper aus?“ fragte Thomas aufsehend.<br />

sind aufgestanden und erwarten dich. Doch was sind das für<br />

merkwürdige Sachen, die du da mitgebracht hast?“<br />

„Ein andermal zeige ich sie dir“, sagte Thomas, indem er alles in<br />

die Truhe legte.<br />

Die Brüder gingen in die Hinterstube. Der Hausvater saß schon<br />

hinter dem Tisch und blätterte in der Hauspostille 200 .<br />

„Du kannst uns heute die Predigt vorlesen, Thomas“, sagte er,<br />

indem er das Buch dem älteren Sohne zuschob.<br />

Thomas las, die Anderen saßen um den Tisch.<br />

„Gott lasse sein heiliges Wort, das wir heute gehört haben,<br />

hundertfältige Frucht bringen an unseren Herzen“ sagte der Vater.<br />

Auf seinen Wink trug Wilhelm die Bücher in die Schlafkammer,<br />

wo sie auf einem Brett ihren Platz hatten.<br />

„Wir könnten wohl heute zum Pfarrer Helwing gehen“, sagte der<br />

Vater zu Thomas. Dieser war dazu bereit.<br />

198<br />

Gemeint: Das während der Einsammlung der Kollekte von der Gemeinde gesungene<br />

Kirchenlied.<br />

199<br />

Pluderhosen waren weite pauschende Hosen. Sie gingen nur bis auf die Knie.<br />

200<br />

Erbauungs – Predigtbuch für den Hausgebrauch.<br />

115


Bald schritten beide dem Pfarrhaus zu. Dieses war ein großes<br />

massiv von Feldsteinen (1619) aufgeführtes Gebäude mit steilem<br />

hohem Dach, aus dem zwei große Schornsteine hervorragten. Es<br />

stand der Kirche gegenüber und war am Abhang des Hügels<br />

erbaut, auf dem hinter dem Haus der Pfarrgarten angelegt war.<br />

Der große, mit Ziegeln ausgelegte Hausflur sah noch ebenso aus<br />

<strong>als</strong> zu Thomas Kinderzeit.<br />

Als Vater und Sohn in die große Stube traten, fanden sie den<br />

Pastor im bequemen<br />

Lehnstuhl am Fenster sitzen. Er hatte einen<br />

Brief in der Hand.<br />

„Ich habe eben einen Brief von meinem Sohn Georg Andreas<br />

Pfarrer, nachdem er die<br />

201<br />

aus Wittenberg erhalten“ sagte der<br />

201<br />

Helwing, Georgius Andreas (3. Kind des Andreas Helwing und der Katharina Bertram).<br />

Magister, Dozent, Pfarrer und Probst, Naturforscher, Mitglied der Akademie der<br />

Wissenschaften in Berlin. Geb. in <strong>Angerburg</strong> 14.12.1666, gest. ebd. 3.1.1748.<br />

Er besuchte die <strong>Angerburg</strong>er, dann die Löbenicht’sche Stadtschule in Königsberg. 1684<br />

Studium in Königsberg, dann in Wittenberg und Leyden und wird 1688 in Jena Magister.<br />

Mehrere Reisen durch Deutschland, Italien und Holland. In Jena hält er theologische,<br />

philosophische und mathematische Vorlesungen. 28.10.1691 Ordinierung und<br />

Assistenz/Adjunkt seines Vaters in der <strong>Angerburg</strong>er Gemeinde. 1705, nach dem Tode des<br />

Vaters, übernimmt er dessen Pfarrstelle<br />

und wird 1725 Probst des <strong>Angerburg</strong>-Lötzenschen<br />

Distrikts. 1738 wird ihm sein Sohn George Aemilius adjungiert, der 1748 auch sein<br />

Nachfolger wird. Helwing hat sich <strong>als</strong> Naturforscher, zumal <strong>als</strong> Botaniker, wohlbegründeten<br />

Ruf erworben und wird 1709 Mitglied der Kgl. Preuß. Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.<br />

Er veröffentlichte zahlreiche Schriften, die zur Erweiterung der Naturlehre dienen. Er ist der<br />

bedeutendste preußische<br />

Naturforscher des 18. Jhdts. Aufgrund seiner wissenschaftlichen<br />

Leistungen wird er der „preußische Plinius“ genannt. Helwing sammelt systematisch<br />

umfangreiche Herbarien, von denen noch 5 Exemplare erhalten sind. Er hat ein viel besuchtes<br />

Naturalien-Cabinet und einen Botanischen Garten auf seinem Gut Stullichen seit 1700/1710.<br />

Seine Sammlungen befanden sich in Königsberg, Dresden und Petersburg. Seine<br />

Bernsteinsammlungen vom Mauersee, seine Vogeleiersammlungen in Dresden und Bayreuth<br />

und seine Sammlung von Versteinerungen (erwarb der polnische König) sind berühmt. Auch<br />

<strong>als</strong> Mineraloge und Palänotologe hat er sich bestätigt. Unter den bedeutenden<br />

Schriften<br />

befinden sich Werke zur einheimischen Flora. 2 Pflanzenverzeichnisse mit 247 (in Masuren)<br />

bis dahin unbekannte Pflanzen und 1 Lexikon lithologicum handschriftlich befanden sich in<br />

der Königsberger Staatsbilbliothek. Die Breslauer Sammlung weist einen umfangreichen<br />

Katalog auf. Die<br />

mächtigen, schattigen Linden auf dem <strong>Angerburg</strong>er Kirchenberg sind von<br />

Helwings Hand in der Pestzeit 1706-1716, in der er sich <strong>als</strong> Helfer der Menschheit sehr<br />

bewährte, gepflanzt. Verh. In Königsberg 21.5.1693 Catharina Conzius (einzige Tochter des<br />

C. Andreas, Prof. der Mathematik und Astronomie in Königsberg, gest. 1682). G. A. Helwing<br />

hinterlässt 1748 5 Töchter, 4 Söhne, 29 Enkel und 18 Urenkel. G. A. Helwings<br />

Schriften:<br />

„Flora Quasimodogenita, Danzig 1712; „Litographia <strong>Angerburg</strong>ica“, Leipzig 1717/20; „Florae<br />

Campana<br />

seu Pulsatilla…“, Leipzig 1719 (?); „Historie<br />

der Grassation der großen<br />

Menschenpest 1706-1716“, erwähnt in Breslauer Sammlung 1722,<br />

„Supplemementum Florae<br />

Prussicae…“, Danzig 1726; „Florae Campanae“, 1726, Beiträge in der Breslauer Sammlung<br />

1717-1725 (http://www.angerburg.de/helwing.htm).<br />

[Abg. A-Z, B. Braumüller, S. 303-306].<br />

116


Eintretenden mit Herzlichkeit bewillkomnet hatte. „Ich war schon<br />

recht besorgt, da ich schon lange ohne Nachricht von ihm war. Der<br />

Brief ist 8 Wochen unterwegs gewesen. Gott Lob, dass es meinem<br />

Georg Andreas gut geht und er sehr zufrieden schreibt“.<br />

„Ihr habt recht viel Freude an Eurem Georg Andreas“, sagte<br />

Thomas’ Vater. „Er ist so alt wie mein Wilhelm und studiert schon<br />

auf der zweiten Universität“.<br />

Magister Probst Georg Andreas Helwing (geb. 1666, gest. 1748)<br />

117


„Ja, er ist recht begabt und fleißig“ sagte der Pfarrer mit<br />

leuchtenden Augen. „Im vergangenen Jahre, <strong>als</strong> er kaum zwei<br />

Jahre in Königsberg auf der Universität gewesen war,<br />

disputierte 202 er schon mit so großer Fertigkeit unter Vorsitz des<br />

Magister Petsch, dass die Philosophische Fakultät ihm von freien<br />

Stücken die höchste Würde in dieser Wissenschaft antrug. Er<br />

lehnte aber diese Ehre ab“.<br />

„Ja, ja, ich besinne mich, davon gehört zu haben“, sagte der<br />

ältere Anderson, „Euer Andreas war ja im vergangenen Winter<br />

hier, und mein Wilhelm war immer mit ihm zusammen, wenn er<br />

nur irgend fortlaufen konnte. Ich glaubte aber, Euer Andreas<br />

wollte im vergangenen Frühjahr eine Seereise machen?“<br />

„Er ging zu Wasser 203 nach Colberg 204 und von da nach<br />

Wittenberg“, erwiderte der Pfarrer, „wo er sich noch befindet und<br />

fleißig die Vorlesungen besuchte“.<br />

Durch die Nebentür kam die Frau<br />

Pfarrerin, Katharine Helwingin,<br />

die Tochter des Pfarrers M. Uriel Bertram, eine stattliche Frau von<br />

46 Jahren.<br />

Vater und Sohn schritten auf sie zu und begrüßten sie.<br />

„Frau Gevatterin“, sagte ersterer, „hier habe ich Ihr den kleinen<br />

Thomas mitgebracht“.<br />

Thomas verneigte sich und küsste ihre Hand.<br />

„Ich weiß es erst seit vorgestern Abend, mit welcher<br />

aufopfernden Güte Sie sich meiner angenommen hat, da ich ein<br />

hilfloses Kind war“, sagte er.<br />

„Gott hat Euch dam<strong>als</strong> wunderbar erhalten“, sagte sie, „doch ich<br />

hörte, Ihr wäret in voriger Woche wieder in Lebensgefahr<br />

gewesen. Ist dem so?“<br />

An Thomas’ Stelle nahm<br />

sein Vater das Wort und erzählte die<br />

Reise und den Überfall seines Sohnes und des Diakons<br />

Schwindovius aus Lyck.<br />

„Seit langer Zeit höre ich einmal wieder etwas von dem“, sagte<br />

Pfarrer Helwing lebhaft.<br />

„Kennt Ihr ihn denn, Hochwürdiger Herr?“ fragten<br />

Vater und<br />

Sohn zugleich.<br />

202<br />

Disputieren: Ein wissenschaftliches Streitgespräch führen.<br />

203<br />

Per Schiff.<br />

204<br />

Kolberg, früher Colberg, ist eine Hafenstadt in Westpommern an der Ostsee, an der<br />

Mündung<br />

des Flusses Persante. Westpommern<br />

kam nach dem Westfälischen Frieden 1648 an<br />

Brandenburg, Kolberg wurde<br />

aber erst 1653 von Schweden herausgegeben.<br />

118


„Was werd’ ich den Georg Schwindovius nicht kennen“,<br />

antwortete der Pfarrer. „Wir wohnten ja <strong>als</strong> Studenten zusammen<br />

in einer Stube im Alumnat 205 zur Zeit des Ober-InspeKtors<br />

Alumnorum Magister Michael Eifler 206 . Schon dam<strong>als</strong> kaufte der<br />

Schwindovius immer Bücher zusammen. Ich habe ihn viele Jahre<br />

nicht gesehen. Wie sieht er denn <strong>jetzt</strong> aus, Thomas?“<br />

„Er ist ein großer blasser Mann, der etwas gebückt geht“,<br />

antwortete dieser. „Ich hatte ihn aber für älter gehalten <strong>als</strong> Ihr,<br />

Hochehrwürden“.<br />

„Etwas älter <strong>als</strong> ich kann er wohl sein“, sagte der Pfarrer. „Ich<br />

bin <strong>jetzt</strong> 57. Er wurde auch einige Monate vor mir Anno 1657<br />

ordiniert. Ich begleitete ihn noch vor’s Friedländer Tor 207 , <strong>als</strong> er<br />

abfuhr. Er hatte wenig mehr <strong>als</strong> seine Kiste mit Büchern auf dem<br />

Wagen. In Lyck wird er Anno 1657 auch wohl wenig gefunden<br />

haben, denn das Städtchen war ja von den Tataren noch ärger<br />

verwüstet und verbrannt <strong>als</strong> <strong>Angerburg</strong>“.<br />

Das Gespräch wurde allgemein und die Frau Pfarrerin ließ sich<br />

von dem kleinen Thomas von seinen Reisen erzählen.<br />

Nach einer Stunde erhoben sich Vater und Sohn und gingen<br />

heim. Der Abend wurde im Familienkreis, zu dem auch Barbaras<br />

Bräutigam gehörte, in gemeinschaftlicher Unterhaltung zugebracht<br />

und mit der gemächlichen Abendandacht geschlossen.<br />

205<br />

Heim / Anstalt; Almunus: Zögling eines Almunats, eines mit einer Lehranstalt<br />

verbundenen und kostenfrei zu nutzenden Lehranstalt.<br />

206<br />

Hinweis im Manuskript: Vater von der Dichterin Möllerin.<br />

Gertrud Möllerin, (1635 – 1705) war in ihrer Zeit eine in Königsberg sehr bekannte Dichterin.<br />

Sie wurde auch Pregelhirtin<br />

genannt.<br />

207<br />

Stadttor in Königsberg.<br />

119


12. Patricius Bell: Schicksale eines schottischen Kaufmanns<br />

Eine Woche voll vielseitiger Beschäftigung und Arbeit folgte.<br />

Durch die lange Abwesenheit des Knechtes und der Pferde war in<br />

der Wirtschaft manches aufgeschoben, was vor dem Eintritt des<br />

Winters gemacht werden musste. In der Scheune vor dem Tor<br />

mussten die Drescher beaufsichtigt werden. In den Warenräumen<br />

war viel zu ordnen und zu bessern. Dazu musste Thomas die<br />

aufgeschobenen Besuche im Städtchen machen, wobei Jeder und<br />

Jede viel von ihm erzählt haben wollte.<br />

Die Mutter hatte große Wäsche und das Licht-Ziehen<br />

er<br />

Vogel zu<br />

as oft und malte es sich in seinen<br />

Gedanken sehr hübsch aus, wenn sie <strong>als</strong> junge Hausfrau in diesen<br />

Räumen walten würde. Mit dem Vater davon zu sprechen, wagte<br />

er noch nicht, da dieser über die Sache noch scherzen wollte.<br />

208 vor und<br />

beaufsichtigte die Mastung der Gänse und Schweine. Der alte<br />

Vater hatte wieder seine eigenen Gänge in die Sitzungen des<br />

Rates oder in das Haus des Bürgermeisters. Thomas legte neue<br />

Handlungsbücher an und trug aus der Kladde abends alles<br />

übersichtlich ein. Dabei stellte sich dann heraus, dass eine große<br />

Menge armer Leute im Schuldbuche standen. Mit diesen musste<br />

dann verhandelt werden und Thomas gestattete ihnen, die Schuld<br />

allmählich durch Lieferung von Prahlsacht oder Gespinnst<br />

abzutragen, gab auch in einzelnen Fällen Vorschuss. Auch ließ<br />

spinnen, um den Garnhandel in Schwung zu bringen.<br />

Die Abende wurden meistens mit diesen Schreibereien und<br />

Rechnungen ausgefüllt, wenn nicht der Stadtschreiber<br />

Besuch kam. Dann wurden die Bücher zugeklappt, und in der<br />

Unterhaltung gewann Thomas den bescheidenen verständigen<br />

Schwager in spe 209 immer lieber.<br />

An Esther gedachte Thom<br />

Eines Abends, <strong>als</strong> Thomas an seinen Handelsbüchern saß und<br />

sein Vater die Jahresrechnung des Spit<strong>als</strong>, dessen Vorsteher er<br />

war, fertigte, klopfte es stark an die Haustür. Wilhelm öffnete, und<br />

in die Stube trat bald darauf, mit den ersten Schneeflocken<br />

bestreut, der alte Schotte Patricius Bell, welcher mit Pferden und<br />

Planwagen regelmäßig in bestimmten Zeiten die Provinz zu<br />

durchziehen pflegte. Der Hausherr war erfreut, ihn zu sehen. Bell<br />

fragte bescheiden, ob er ein Nachtquartier für sich und seine<br />

Pferde finden könne.<br />

208 Kerzen ziehen (anfertigen).<br />

209 Künftig / zukünftig<br />

120


„So lange Ihr wollt, könnt Ihr bleiben, lieber Freund. Was fragt<br />

Ihr noch. Ich denke, Ihr wisst ja, dass die schottische<br />

astfreundschaft immer dieselbe bleibt. Wilhelm, geh’ hinaus und<br />

ringe Pferde und Wagen gut unter“.<br />

Der Sohn ging und der alte Bell begleitete ihn.<br />

„Ich glaube, in der langen Reihe von Jahren, dass ich ihn nicht<br />

gesehen, hat Bell sich gar nicht verändert. Doch wie seid Ihr mit<br />

ihm so genau bekannt geworden, lieber Vater? Seit meiner<br />

frühesten Kindheit erinnere ich mich, den alten Bell gesehen zu<br />

haben“ sagte Thomas.<br />

„Das ist schon eine alte Bekanntschaft, mein Sohn“, erwiderte<br />

der Vater. „Bell war <strong>als</strong> junger Mensch, in den vierziger Jahren von<br />

Edinburg nach Preußen gekommen und besorgte Aufkäufe für<br />

Edinburger Häuser. Dabei war ich mit ihm etwas bekannt<br />

geworden, denn er hatte mir auch Nachricht und Briefe von den<br />

Verwandten aus Schottland gebracht. Anno 1644 hatte Bell im<br />

Ermland für eigene Rechnung Flachs zusammengekauft, in<br />

Frauenburg niedergelegt und wollte ihn über Pillau verschiffen.<br />

Aber Elbing und Königsberg stellten sich dagegen, und der<br />

inzwischen übers Haff nach Pillau geschaffte Flachs wurde mit<br />

Arrest belegt. Bell kam ganz wild nach Elbing. Doch das<br />

Wettgericht 210 wollte den Arrest nicht aufheben, denn die Herren<br />

meinten, dann könne jeder Ausländer kommen und es ebenso<br />

machen. Ich tra verzweifelt. Ich<br />

edauerte den armen Kerl, der alles, was er besaß und geborgt<br />

ekommen konnte, in den Flachs gesteckt hatte. Ich ging zu<br />

arolus Ramsey, der anfangs zwar sich der Sache nicht annehmen<br />

ollte, aber doch endlich sich bewegen ließ, sich für Bell zu<br />

erwenden. Das Elbinger Wettgericht fertigte infolgedessen dem<br />

ell eine Schrift aus, dass es ohne Präjudix 211 G<br />

b<br />

f ihn auf der Straße ganz<br />

b<br />

b<br />

C<br />

w<br />

v<br />

B<br />

den Arrest aufheben<br />

wolle.<br />

Die Königsberger wollten und konnten allein den Arrest<br />

nicht<br />

aufrecht erhalten, ohne in Streitigkeiten verwickelt zu<br />

werden,<br />

und so wurde dem Bell endlich gestattet, gegen Erlegung<br />

des gewö hnlichen Zolls den Flachs auszuführen. Bei den Reisen<br />

und Verhandlungen war aber viel Zeit<br />

vergangen. Das Schiff ging<br />

erst gegen den Winter aus und in einem furchtbaren Sturm unter.<br />

210 Das Wettgericht / Wettamt überwachte die Einhaltung der Handelsbestimmungen. Es<br />

kontrollierte die Arbeit von Maklern und Getreideausträgern sowie Maße, Gewichte und<br />

Lebensmittelpreise.<br />

211 Ohne Anspruch auf gleiche Behandlung in künftigen Fällen.<br />

121


Seitdem durchzieht Bell hausierend das Land. Er hat mir aber den<br />

kleinen Liebesdienst nicht vergessen“.<br />

Der alte Bell kam wieder hinein und, nachdem ihm ein Imbiss<br />

vorgesetzt war und er sich gesättigt hatte, führte ihn der<br />

Hausvater in die Nebenstube zum Sitz neben dem wärmenden<br />

Kamin. Er hieß Thomas eine Flasche Wein holen und erlaubte ihm,<br />

in seiner und des Gastes Gesellschaft zu bleiben. Der Alte erzählte<br />

viel. Er war zwar lange nicht in Edinburg gewesen, aber mit seinen<br />

Geschwistern in lebhafterem Verkehr geblieben, <strong>als</strong> Wilm<br />

Anderson mit seinen entfernten Verwandten. Bell hatte aus<br />

Schottland neue Nachricht erhalten und erzählte von der<br />

Verfolgung der Convenanters unter Jacob II.<br />

rteil über Menschen und Verhältnisse. Er<br />

was mir<br />

Nicht durch meine Schuld, es war eine Schickung<br />

212<br />

Am anderen Tag besorgte der alte Bell seine Geschäfte in der<br />

Stadt, hatte aber eben nicht viel loswerden können. Da der Vater<br />

in der Ratssitzung war, unterhielt sich Thomas mit dem Gast und<br />

bewunderte dessen Geschäftskenntnisse sowie seinen klaren Blick<br />

und sein gesundes U<br />

konnte nicht umhin, ihm seine Verwunderung auszusprechen, dass<br />

er in seinem langen Leben nicht mehr vor sich gebracht hätte.<br />

„Mein junger Freund“, sagte der Alte, „ich habe in meinem<br />

Leben einen großen Fehler gemacht. Ich setzte Alles,<br />

gehörte und leider auch viel, was nur geliehen war, auf eine<br />

Unternehmung, durch die ich hätte bedeutend gewinnen können.<br />

Sie schlug fehl.<br />

Gottes. Seitdem habe ich viele Jahre lang arbeiten und mich<br />

plagen müssen, um denen, die mir das Ihrige vertraut hatten,<br />

gerecht zu werden. Dann kamen die nährlosen Zeiten, doch bin<br />

ich nicht verdorben in meinem Alter. Wenn Ihr einen Rat von<br />

212<br />

Jakob II. von England (* 14. Oktober 1633 in London; † 16. September 1701 in Saint-<br />

Germain-en-Laye), (engl. James II.), gleichzeitig James VII. von Schottland, wurde am 23.<br />

April 1685 zum König von England, König von Schottland und König von Irland gekrönt.<br />

Er war der letzte römisch-katholische Monarch, der über diese dam<strong>als</strong><br />

anglikanischen bzw.<br />

presbyterianischen Königreiche herrschte. Er setzt die Politik seines Vaters Charles II. fort und<br />

verfolgt die Presbyterianer auch Convenanter genannt. Wiedererrichtung der Monarchie. Viele<br />

seiner Untertanen misstrauten seiner Religionspolitik und einige warfen ihm Tyrannei vor.<br />

Dies führte schließlich dazu, dass das Parlament ihn während der Glorious Revolution 1688<br />

absetzte. Er flieht nach Irland. Man bietet dem Niederländer Willhelm von Oranien die Krone<br />

an, der sie annimmt. James VII. belagert 1689 wochenlang und erfolglos das protestantische<br />

Lon donderry. Dieser Sieg wird noch heute vom Oranjeorden gefeiert und ist Grund für die<br />

alljährlichen Unruhen. In der Schlacht von Boyne besiegt Willhelm von Oranien James VII. In<br />

Schottland kommt es zum Aufstand. Die Jakobiten - Anhänger<br />

von James VII. - liefern sich<br />

am Paß von Killicrankie eine Schlacht mit den Engländern und besiegen sie. Die Jakobiten<br />

sind 1692 endgültig Willhelm von Oranien unterworfen.<br />

122


einem alten Manne annehmen wollt, setzt nie alles auf einen Wurf,<br />

und wenn’s Euch noch so lockend und noch so sicher scheint“.<br />

Nach dem Abendgebet schickte der Hausvater alle<br />

Hausgenossen, auch Thomas, zu Bett und blieb noch lange mit<br />

dem alten Bell am Kamin in ernsten Gesprächen allein.<br />

Morgens, noch vor Sonnenaufgang, machte sich Bell reisefertig.<br />

Er betete, frühstückte mit den Hausgenossen und verabschiedete<br />

sich. Thomas sah, wie er dem Vater noch die Hand aus dem<br />

Wagen reichte und sagte:<br />

„Ich bringe Euch die zuverlässigste Nachricht. Zum Jahrmarkt<br />

bin ich hier“.<br />

Hartknoch – Stich von Königsberg, 1680<br />

123


13. Thomas Anderson leistet den Bürgereid<br />

Nach einigen Tagen, <strong>als</strong> Thomas auf dem Hof leere Tonnen und<br />

Kisten in einen Schuppen bringen ließ, kam sein Vater gegen<br />

Mittag von einem Ausgang und rief ihn in’s Stübchen.<br />

„Mein Sohn“, sagte der Vater, indem er Hut, Stock und Rock<br />

ablegte und den Hauspelz anzog. „Der wohllöbliche Rat hat heute<br />

beschlossen, dich ausnahmsweise nach der Ratssitzung am Freitag<br />

vor Martini 213 <strong>als</strong> Bürger unserer guten Stadt aufzunehmen. Dafür<br />

kannst du dem Rat besonders dankbar sein, da die Aufnahme<br />

neuer Bürger sonst immer mit der Kirche verbunden ist. Du hast<br />

vor versammeltem Rat mit Ober- und Untergewehr<br />

rräte an Salz und Eisen<br />

214 zu<br />

erscheinen. Vom Harnisch 215 und der Stahlhaube hat der Rat<br />

Abstand genommen. Doch wie geht’s mit der Handlung? Ich habe<br />

mich in der letzten Zeit nicht darum kümmern können, da ich mit<br />

den Hospital-Rechnungen zu tun hatte, die ich heute dem Rat<br />

übergab“.<br />

„Für die jetzige Zeit geht’s gut genug“, erwiderte Thomas,<br />

„wegen des schlechten Weges und des Wetters können die<br />

Auswärtigen wenig zur Stadt kommen. Wenn wir doch bald<br />

Schlittweg bekämen und frische Waren aus Königsberg holen<br />

könnten. Ich habe mir schon eine Menge Notizen gemacht von<br />

allem, was angeschafft werden muss. Es ist ein reines Glück, dass<br />

Ihr, lieber Vater, solch’ große Vo<br />

angeschafft hattet“.<br />

„Wir sind ja schon im November“, sagte der Vater. „Hoffentlich<br />

wird der Winter nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bevor<br />

der Jahrmarkt am Ende dieses Monats nicht vorbei ist, kann man<br />

sowieso nicht an eine Fahrt nach Königsberg denken“.<br />

„Eben zum Jahrmarkt fürchte ich, dass uns manches ausgehen<br />

wird“, sagte Thomas und ging an seine unterbrochene<br />

Beschäftigung.<br />

Es kam der festgesetzte Freitag den 7.November 1687. Thomas<br />

stand vor seinem Vater mit seinen besten Kleidern: Im roten Rock<br />

213<br />

Laut Bürgerbuch der Stadt <strong>Angerburg</strong><br />

ist Thomas Anderson tatsächlich bereits am 08. Juni<br />

1685 Bürger der Stadt <strong>Angerburg</strong> geworden.<br />

Lit.: Roland Seeberg-Elverfeldt "Die Bürger der<br />

Stadt<br />

<strong>Angerburg</strong> 1653 - 1853".<br />

214<br />

Gewehr = jede Art von Waffe: "Obergewehr“ wurde auf der Schulter getragen (Spieß,<br />

Muskete), "Untergewehr" am Gürtel (Pistole, Degen).<br />

215<br />

Harnisch [altfranz. Harnas] = Schutzwaffe des Kriegers bis zu Beginn der Neuzeit, die<br />

zusammen mit<br />

Helm und Schild den Körper gegen Feindeinwirkung abschirmen sollte.<br />

124


mit aufgeschlitzten Ärmeln und vielen Knöpfen, einer langen,<br />

gestickten Schoßweste, über welche die spitzenbesetzte weiße<br />

H<strong>als</strong>binde in zwei Enden herunterhing, Pludderhosen, untadeligen<br />

Strümpfen und hohen Schuhen mit großen Rosetten.<br />

„Du hast ja ein wunderschönes Faustrohr“, sagte der Vater, „der<br />

Lauf mit Silber eingelegt und der Schaft mit Perlmutter“.<br />

„Es ist ein Geschenk Ramseys“ sagte Thomas.<br />

„Aber dein Seitengewehr taugt nichts“, fuhr der Vater fort, „so<br />

schön auch das Bandelier 216 ist“.<br />

„Ich hab’s bei dem Aufzug der Kaufgesellen in Danzig getragen<br />

und besitze kein besseres“ sagte Thomas.<br />

Der Vater ging in die Kammer und holte einen langen Stoßdegen<br />

mit wunderlich geformtem, reich vergoldetem Handkorb.<br />

„Hier, mein Sohn“, sagte er, indem er den Degen in die Schlaufe<br />

des Bandeliers steckte. „Nimm die alte Waffe, ich schenke sie dir.<br />

Es ist das einzige Stück, das sich von der Erbschaft meiner<br />

Vorfahren noch erhalten hat. Sie haben es in Schottland geführt<br />

und mitgenommen, <strong>als</strong> sie während der Unruhen in jenem Land<br />

nach Holstein und Preußen zogen. Vor 30 Jahren, <strong>als</strong> die Tataren<br />

dieses Haus verbrannten, gab ich’s verloren. Beim Aufräumen des<br />

Schutts wurde die alte Waffe wiedergefunden. Sie war zwar ganz<br />

verschmutzt aber sonst wohlerhalten.<br />

Mein Nachbar, der Goldschmied Gregor Hoffmann, der dam<strong>als</strong><br />

nichts zu tun hatte (wer dachte schon daran, goldene oder<br />

silberne Kleinode fertigen zu lassen), reinigte und vergoldete es.<br />

Mag die alte Waffe dir heute zum friedlichen Zwecke dienen“.<br />

„Wie viel Geld soll ich denn mitnehmen, um das Bürgergeld zu<br />

bezahlen,<br />

lieber Vater?“ fragte Thomas, <strong>als</strong> er den Degen<br />

zurechtsteckte.<br />

„Ich weiß nicht, wieviel sie dir abnehmen werden“, antwortete<br />

der Vater. „Sie taten so geheimnisvoll vor mir. Steck etwa 60 Mark<br />

ein, mehr wird’s wohl nicht kosten. Doch ich muss in die<br />

Ratssitzung. Du bist <strong>als</strong>o pünktlich in 2 Stunden im Rathaus“.<br />

Er reichte Thomas die Hand, die dieser küsste. Dann<br />

ging<br />

er, die<br />

Seinigen im Familienzimmer flüchtig grüßend, dem Rathaus<br />

zu.<br />

Thomas wollte für die Zwischenzeit sich nicht vollständig<br />

umkleiden, da eben keine dringende Arbeit vorlag. Also zog er nur<br />

den Rock aus und setzte sich zur Mutter und zu Barbara, die<br />

an<br />

ihren Spinnrocken saßen.<br />

216<br />

Bandelier [frz.], ein breites, ledernes Wehrgehänge,<br />

an dem im 15. und 16. Jahrhundert<br />

Pulvertasche, Lunte, Kraut und Lot getragen wurden.<br />

125


„Erzähl doch über den Aufzug der Kaufgesellen in Danzig“, sagte<br />

die Mutter.<br />

„Bei dem Einzug des Polenkönigs Johann 217 Anno 1677?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Ich war nach der Bezwingung Danzigs durch den König, die Zeit<br />

der Belagerung war für den Handel Elbings sehr vorteilhaft, <strong>als</strong><br />

neugebackener Kaufgesell mit Ramsey nach Danzig gefahren, um<br />

die alten Verbindungen zu erneuern. Die Danziger stolzen<br />

Kaufherren waren so ungewöhnlich zuvorkommend gegen<br />

Ramsey, dass sie ihn einluden, an der Einholung des Königs<br />

teilzunehmen. Mir wurde die Ehre zuteil, in der Compagnie 218 der<br />

Kaufgesellen der Stadt Danzig den König zu empfangen. Für kein<br />

Geld waren Mietgäule aufzutreiben, und Ramsey und ich mussten<br />

auf unseren schönen Wagenpferden reiten. Wir hatten eben noch<br />

Zeit, uns die nötigen Kleider zu beschaffen, doch bei dem großen<br />

Begehr waren die guten Seitengewehre alle weggekauft. Ich<br />

bekam nur noch das unnütze Ding da.<br />

Am 1. August 1677 vormittags ritten die 3 Compagnien zum<br />

Dorf Gute Herberge, wo der König das Nachtlager gehalten hatte.<br />

Die<br />

erste unter den drei Compagnien, in der auch Ramsey ritt,<br />

wurde geführt von Hr. Thomas Timpsen <strong>als</strong> Rittmeister, Hr. Hans<br />

Peglauen, <strong>als</strong> Lieutenant u. Hr. Hans Rennern <strong>als</strong> Cornet. Sie alle<br />

hatten schwarze samtne Röcke, weiße Schärpen, dergleichen<br />

Plumagen<br />

eiß<br />

rben auf den Hüten nebst<br />

r und zwei<br />

219 auf den Hüten und ritten auf sehr schönen, köstlich<br />

geputzten Pferden, führten eine weiße, mit Gold und Silber<br />

bordierte Estandarte, einen Pauker neben zwei blau und w<br />

gekleideten Trompetern und zwei wohlverzierte Handpferde vor<br />

sich her. Unsere zweite Compagnie von Kaufgesellen führte<br />

Andreas Keckermann Rittmeister, Christoph Kirkiby Lieutenant,<br />

und Johann Gergens v. Horn Cornet.<br />

Wir Kaufgesellen waren in allerhand Röcken aus Couleur-<br />

Laken 220 , mit Gold und Silber reich posamentiert 221 , angetan,<br />

hatten auch Federbüsche in allerhand Fa<br />

blauen Schärpen. Unsere Estandarte, ein Heerpauke<br />

blau gekleidete Trompeter waren ebenso ausgerüstet. Die dritte<br />

217<br />

Gemeint ist hier Johann III. Sobieski, der von 1673 bis 1696 König von Polen war.<br />

218<br />

Geführte Gruppe / Gemeinschaft.<br />

219<br />

Plumage [frz. Gefieder], Federbusch – Helmzier aus Straussen-, Reiher-, Hahnenfedern<br />

220<br />

Couleur-Laken [niederl.], gefärbtes/buntes Tuch.<br />

221<br />

Posament [ frz.], Borten, Schnüre, Fransen usw. zum Verzieren von Kleidern, Uniformen,<br />

und Möbeln.<br />

126


Compagnie bestand aus Fleischern. Die Namen der Offiziere habe<br />

ich vergessen. Sie hatten einen Pauker und zwei Trompeter vor<br />

sich, in Rot und Weiß gekleidet. 13 vorstädtische Compagnien mit<br />

grünen Fahnen und weitere 12 mit orange-farbigen Fahnen<br />

standen bis an den Platz vor dem Hohen Tor 222 zu beiden Seiten.<br />

Drei Compagnien mit blauen Fahnen standen am hohen Tor und<br />

bei dem Stock. Auf dem Langen Markt bis an das Rathaus war die<br />

Bürgerschaft mit 12 weißen Fahnen, und vom Rathaus bis an das<br />

Roggen- Quartier mit 12 roten Fahnen zu beiden Seiten<br />

positioniert. Mitten in der Langen Gasse waren 2 hohe Pyramiden<br />

aufgerichtet und mit einem Bogen von grünem Laubwerk<br />

zusammengeheftet, unter welchem ein grüner Lorbeerkranz hing.<br />

Die Postamente<br />

Ihrer Königlichen Majestät Person und verübte<br />

n aufgestellt. Diese hatte 4 Säulen und 4<br />

ssten uns vor der Brücke zu Pferde<br />

Mohr saß. Dann<br />

223 waren mit allerhand sinnreichen Bildern und<br />

Inschriften auf<br />

Heldentaten zielend, geziert. Vor dem Eingang in das Königliche<br />

Logement 224 war eine schöne Ehrenpforte, einem Tor gleich, auf<br />

etlichen Stufe<br />

Schwibbogen, über denen die Bildnisse der Könige Johann,<br />

Michael, Johann Casimir und Vladislaus IV. 225 aufgestellt waren. In<br />

der Mitte hing ein großer versilberter Adler mit einer Inschrift im<br />

Schnabel.<br />

Als wir den König eingeholt hatten und vor ihm herreitend auf<br />

die Brücke des Hohen Tores kamen, erwartete dort Euer Edler Rat<br />

Ihrer Majestät Ankunft. Wir mu<br />

auf dem Platz aufstellen. Der Einzug des Königs geschah um 3<br />

Uhr: Zuerst kam die königliche Bagage, dann weltliche und<br />

geistliche Herren, darunter der Bischof von Ermland 226 , darauf<br />

eine Compagnie Moldauer 227 in Janitscharen 228 - Montierung 229 , die<br />

vor sich zwei Kamele hatten, auf welchen je ein<br />

222<br />

Stadttor<br />

223<br />

Als Postament bezeichnet man in der Heraldik ein ornamentales oder der Natur<br />

nachgebildetes Grundelement, auf welcher der Wappenschild ruht und auch die Schildhalter<br />

stehen.<br />

224<br />

Wohnung, Behausung.<br />

225<br />

Vermutl. Johann III Sobieski, 1673 - 1696, Michael Korybut Wisniowiecki, 1669 - 1673,<br />

Johann II. Kasimir, 1648 – 1668 und Vladislaus (Wladislaw) IV., 1632 – 1648.<br />

226<br />

Von 1659 bis 1679 war Stephan Wydzga ermländischer Bischof.<br />

227<br />

Moldauer, ethnische Subgruppe der Rumänen.<br />

228<br />

Janitscharen [türk. ‚neues Heer‘], eine Truppe, die seit 1329 von den türkischen Sultanen<br />

aus zum Islam konvertierten Kriegsgefangenen gebildet wurde.<br />

229<br />

Montierung [niederl.],<br />

Uniform.<br />

127


kam ein Trupp Cavalire, eine Compagnie blaugekleideter<br />

Musketiere, ein Compagnie Heiducken 230 mit Feuerröhren, weiter<br />

die Äbte von Oliva 231 und Pelplin 232 mit Prälaten in zwei<br />

sechsspännigen Karossen, sechs königliche Handpferde mit<br />

schönen Schabracken 233 und Tigerdecken, hinter diesen der<br />

französische Ambassadeur mit zwei Bischöfen in kostbarer<br />

Karosse. Dann folgten vier königliche Heerpauker und acht<br />

Trompeter, die Ritterschaft aus Polen, eine Compagnie königlicher<br />

Trabanten. Schliesslich erschien Ihre Majestät selbst, nebst dem<br />

234<br />

öniglichen Prinzen Gavobo , in einer herrlichen, oben auf dem<br />

vergoldeten Karosse, die<br />

cken mit Feueröhren,<br />

zuletzt die königliche Kosaken-Compagnie.<br />

werken näherte,<br />

urden die Stücke 235 k<br />

Himmel mit einer Krone verzierten, ganz<br />

von sechs Pferden mit übergoldetem Geschirr und Federbüschen<br />

gezogen wurde. Danach folgte lhrer Majestät der Königin<br />

Leibkarosse, eine Compagnie königlicher Heydu<br />

R<br />

Als Seine Königliche Majestät sich den Außen<br />

w<br />

auf denselben und den Wällen gelöst. Bei der<br />

Brücke des Hohen Tors wurde er von dem Rat untertänigst<br />

empfangen und zum Handkuss gelassen. Ihm wurden dann die<br />

Schlüssel der Stadt präsentiert und übergeben. Darauf ging der<br />

Rat vor der königlichen Karosse her bis nach dem Langen Markt.<br />

Der König kehrte dann in die ihm bereiteten Häuser ein“.<br />

Der Ratsdiener Georg Roos empfing Thomas, <strong>als</strong> er nach zwei<br />

Stunden den Flur des Rathauses betrat, mit der Bitte, ein wenig zu<br />

verweilen. Die Sitzung<br />

würde gleich zu Ende sein. Er verschwand<br />

hinter<br />

einer Tür, erschien aber sogleich wieder, stieß die Tür auf<br />

und<br />

ersuchte Thomas einzutreten. Nachdem dieses geschehen<br />

war,<br />

schloss der Ratsdiener die Tür und stellte sich vor ihr auf.<br />

Der Rathaussaal war nicht größer <strong>als</strong> eine Stube und sah<br />

ziemlich<br />

kahl aus. Die silbernen Schilde der Handwerker-<br />

Innungen,<br />

die sich früher an den Wänden befanden, waren von<br />

den<br />

Tataren geraubt worden. Bürgermeister und Ratsherren saßen<br />

um einen großen Tisch auf hochlehnigen, lederbezogenen Stühlen.<br />

230<br />

Heiduck [madjar.], urspr. ungarische Söldnertruppen, die 1605 im H.-Komitat mit der<br />

Hauptstadt Debrecen angesiedelt wurden.<br />

231<br />

1186 gegründetes Zisterzienserkloster bei Danzig.<br />

232<br />

1274 gegründetes Zisterzienserkloster, ca. 30 km südwestl. von Marienburg gelegen.<br />

233<br />

Schabracke [türk.], Paradedecke, die auf den Pferderücken unter den Sattel gelegt wurde.<br />

234<br />

Vermutlich ist hier Jacob gemeint, der Sohn Sobieskis.<br />

235<br />

Geschütze<br />

128


Der Stadtschreiber saß hingegen seitwärts an einem kleineren<br />

Tisch allein. Thomas verneigte sich tief.<br />

Der alte Bürgermeister Egidius Pech redete ihn an:<br />

„Da Thomas Anderson bescheidentlich das Bürgerrecht der<br />

guten Stadt begehret, so hätte der Rat, wegen der Meriten<br />

nftigen Jahr am<br />

0 Mark zu bezahlen, davon sollten ihm<br />

dieser Anrede wurden vom Stadtschreiber aus der<br />

genwart des Rats in’s Bürgerbuch<br />

ingen versprach, und begab sich<br />

it seinen Gästen nach Hause, wo diese den Speisen und<br />

s sie denn natürlich mit allen<br />

welches der Herr Amthauptmann vom Schloss <strong>Angerburg</strong>, Herr<br />

236<br />

seines Vaters um die Stadt beschlossen, mit der Erteilung<br />

desselben nicht bis zur Kür, welche erst im kü<br />

Sonntage Reminiscere stattfände, zu warten, sondern ihn schon<br />

am heutigen Tag aufzunehmen. Auch kann der Rat ihm die<br />

Nachweisung erlassen, wovon er sich zu nähren gedenke. Seinen<br />

Geburtsbrief hätte der Rat eingesehen. Das Bürgerrecht hätte er<br />

nach dem Ratsschluss mit 6<br />

aber, wenn er ein Stadtkind ehelichte, 20 Mark aus dem<br />

Stadtsäckel zurückgezahlt werden. Außerdem würde ihm zur<br />

Pflicht gemacht, zwei lederne Feuereimer anzuschaffen, von denen<br />

der eine auf dem Rathaus, der andere in seinem Hause bleiben<br />

solle“.<br />

Nach<br />

Willkür 237 die Bürgerpflichten vorgelesen, die der neue Bürger zu<br />

erfüllen habe.<br />

Darauf musste Thomas den Eid leisten, das Bürgerrecht<br />

bezahlen und wurde dann in Ge<br />

eingetragen.<br />

Nachdem Thomas dem Wohllöblichen Rat gedankt, lud er die<br />

Herren ein, sein geringes Haus mit ihrer Gegenwart zu beehren<br />

und ein kleines Mahl einnehmen zu wollen. Da diese Einladung von<br />

allen angenommen wurde, übergab Thomas seine Waffen dem<br />

Ratsdiener, der sie ihm nachzubr<br />

m<br />

Getränken alle Ehre antaten.<br />

Nach der Mahlzeit brachte Thomas Tonpfeifen und Tabak und<br />

bat die Herren, Tabak zu trinken. Jeder hatte schon von dieser<br />

neuen Art des Genusses gehört und manche auch schon in<br />

Königsberg Tabak trinken sehen, wa<br />

Nebensächlichkeiten ganz ausführlich erzählten.<br />

Während nun alle eifrig mit ihren Pfeifen beschäftigt waren, kam<br />

der Ratsdiener in großer Eile gelaufen und brachte ein Schreiben,<br />

236 Verdienste<br />

237 Willkür, kurfürstliche Rechtssatzung für <strong>Angerburg</strong> von 1575 (Wortlaut der 62<br />

Paragraphen: s. „Chronik der Stadt <strong>Angerburg</strong>“, 1921 von Johannes Zachau, S.24 - 27).<br />

129


Oberst Gottfried v. Perband 238 zur sofortigen Übergabe an den<br />

Wohllöblichen Rat gesandt hätte. Der Bürgermeister legte<br />

bedächtig die Pfeife fort, setzte die Brille auf, trat an’s Fenster,<br />

öffnete das Schreiben und las, während die anderen sich um ihn<br />

drängten:<br />

„Nachdem sich viel fremdes Volk und herrenlos Gesindel in den<br />

Grenzen unsers Herzogtums finden und vermerken lassen und die<br />

Wege unsicher machen, so haben wir die Verordnung getan, dass<br />

nicht nur in Königsberg, sondern auch in den Toren unserer<br />

Preußischen Landstädte gute Wache gehalten werde, sondern die<br />

Wache auch von jedem, der nicht ein eingesessener und<br />

einheimischer Mann und ihnen bekannt ist, seinen Namen und wo<br />

er zur Herberge einzukehren vorhabe, fordern, auch dergleichen<br />

die Krüger auf dem Lande in ihren Krügen tun sollen.<br />

Königsberg, den 3. Novembris 1687,<br />

Joh. Ernst Wallenrodt, Land-Hofmeister, A. v. Lehndorff, Ob.<br />

Burggraf, G. Frdr. v. Kreytzen,<br />

Canzler, Georg Wilh. v. Kreytzen,<br />

Ober-Marschall, Daniel Kalau, Ober-Secretarius.<br />

An alle Ämter in unserem Herzogtum Preußen“.<br />

„Da muss sogleich die Bürgerwache verstärkt und je zwei Mann<br />

an das Königsberger und Litauische Tor gestellt werden. Die<br />

Besetzung auf der Oletzkoer Straße gehört zur Schlossfreiheit<br />

auch der Rat zusammen und ging<br />

239 ,<br />

damit haben wir nichts zu tun“.<br />

Der Stadtschreiber erbot sich, alles Angeordnete zu erledigen,<br />

nahm seinen Hut und bat die Herren, sich nicht stören zu lassen.<br />

Bis zum Abend blieb denn<br />

dann, einige Ratsmitglieder mit ziemlich schwankenden Schritten,<br />

seinen Häusern zu.<br />

238<br />

Gottfried v. Perband war Amtshauptmann in <strong>Angerburg</strong> von 1684 bis 1693, er war 1695<br />

schon verstorben.<br />

239<br />

Diese unterstand der direkten Verwaltung des Landesherrn, nicht der Stadt <strong>Angerburg</strong>.<br />

130


14. Schielers Überfall und seine Inhaftierung<br />

Die Hausgenossen kehrten nach dieser Unterbrechung zu ihrer<br />

gewohnten regelmäßigen Beschäftigung zurück.<br />

Der Herbst mit seinen Stürmen, trüben Tagen und Regengüssen<br />

kämpfte mit dem Winter, bald schien der eine, bald der andere die<br />

Oberhand behalten zu wollen, bis endlich nach der Mitte des<br />

Monats ein gelinder Frost eintrat.<br />

Zum Holzfällen wurde Jasch mit einem Arbeiter in den Ilmer<br />

Wald 240 gesendet, in dem jedes Bürgererbe seinen Holzanteil<br />

241<br />

hatte. Zwar<br />

war der Stadtwald viel näher, doch sehr durch den<br />

Aufbau des Städtchens vor 30 Jahren mitgenommen, so dass sich<br />

in demselben meistens nur Strauchwerk befand.<br />

Am Dienstag den 18. November 1687, <strong>als</strong> etwas Schnee gefallen<br />

war, gingen die Holzfäller schon früh des Morgens, mit den<br />

nötigen Lischken voller Lebensmittel ausgerüstet, nach dem 2 ½<br />

Meilen entfernten Ilmer Wald. Nach der Morgenandacht und dem<br />

Frühstück sagte Thomas:<br />

„Wenn Ihr es erlaubt, lieber Vater,<br />

so nehme ich den Balzer, der<br />

<strong>jetzt</strong> gerade zu Hause nicht viel zu tun hat, und ein kleines<br />

Schlittchen. Wir fahren nach Neu Masehnen, um zu sehen, wie<br />

weit die Leute in unserem Häuschen dort mit dem abzuliefernden<br />

Prahlsacht sind. Nach meiner Rechnung müssten sie schon fertig<br />

sein“.<br />

„Tue das, mein Sohn“, sagte der Vater. „Du kannst, wenn es dir<br />

nicht zu spät wird, nach Rosengarten fahren und einmal sehen,<br />

was der Bruder Georg und seine Frau machen. Die haben lange<br />

nichts von sich hören lassen“.<br />

Thomas ließ den leichten Schlitten bereit machen. Er ordnete<br />

an, was Wilhelm fertig machen sollte. Dann trug er ihm auf, nach<br />

den Fischerhäusern zu gehen und nachzusehen, ob das Prahlsacht,<br />

das die Fischer schon in der vergangenen Woche abzuliefern<br />

versprochen hätten, noch nicht fertig sei. Sie setzten sich in<br />

seinen Schlitten und fuhren ab.<br />

Den ganzen Tag über war Wilhelm verhindert, den<br />

aufgetragenen Gang zu machen. Erst gegen Abend in der<br />

240<br />

Die Stadt <strong>Angerburg</strong> hatte durch Verschreibung von 1620 sechs Hufen Waldgelände zu<br />

Illmen, Kr. Darkehmen erhalten.<br />

241<br />

Er lag an der Ausfallstraße nach Strengeln und an der späteren Eisenbahnstrecke<br />

<strong>Angerburg</strong> – Goldap.<br />

131


Dämmerung nach Sonnenuntergang pfiff er Cerber, mit dem er<br />

gern spielte und der ihn zu begleiten pflegte, und ging mit ihm<br />

durch die stillen Straßen der Stadt.<br />

Als er nicht mehr weit vom Schloss entfernt war, rannte Cerber,<br />

der bis dahin ruhig an seiner Seite<br />

gegangen war, plötzlich mit<br />

gesträubten Haaren in die offene Haustür des letzten Hauses in<br />

der Straße. Wilhelm folgte ihm und sah, wie der Hund wütend<br />

gegen die Stubentür sprang, hinter der ein halbersticktes<br />

Hilfegeschrei ertönte. Wilhelm klinkte die Tür auf. Der Hund<br />

stürzte in die Stube. Da lag der Amtswachtmeister Lemke an der<br />

Erde und auf ihm kniete ein großer zerlumpter Kerl, der ihm mit<br />

den Händen die Gurgel zuschnürte. Cerber fuhr sogleich dem Kerl<br />

an die Kehle und hatte ihn im Nu unter sich. Wilhelm rannte auf<br />

die Straße und schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Aus den Häusern<br />

kamen die Nachbarn vom Werktisch, von der<br />

Hobelbank, und aus<br />

der Schmiede. Die Weiber verließen ihre Spinnwocken, und alle<br />

folgten Wilhelm in das Haus des Amtswachtmeisters. Mit Mühe<br />

gelang es, den starken Kerl, der wütend<br />

mit den Fäusten schlug<br />

und mit den Füßen stieß, zu binden. Cerber ließ ihn erst los, <strong>als</strong> er<br />

festgebunden auf dem Gesicht lag.<br />

Der Amtswachtmeister Lemke hatte sich etwas erholt und saß,<br />

von Wilhelm unterstützt, ächzend in seinem Lehnstuhl.<br />

„Schleppt den Kerl aufs Rathaus“, rief der Schmied, der eben die<br />

letzten Knoten fester zog.<br />

Lemke erhob sich wankend. „Nein“, sagte er mit heiserer<br />

Stimme. „Aufs Schloss bringt ihn, dies ist Amtsgrund“.<br />

Wilhelm holte aus einem Eckschaff eine Flasche und gab dem<br />

Amtswachtmeister zu<br />

trinken.<br />

Die Handwerker fassten den Kerl am Kragen und schleppten ihn<br />

wie einen Sack auf<br />

die Straße, auf der sich inzwischen eine große<br />

Menschenmenge versammelt hatte. Die Stricke an den Füßen<br />

wurden losgemacht, der Kerl sollte gehen. Er rührte sich nicht,<br />

setzte keinen Fuß, sondern blieb liegen und warf sich nieder, wenn<br />

er aufgerichtet wurde. Der Amtswachtmeister kam auf Wilhelms<br />

Arm gestützt, aus dem Haus.<br />

„Fasst ihn nur an den Füßen und schleppt ihn zum Schloss“<br />

sagte er. Die Männer fassten den Gefangenen bei den Füßen und<br />

fuhren<br />

mit ihm ab. Kaum hatten sie ihn 30 Schritte auf der<br />

gefrorenen Straße geschleift, da stand er auf und ging. Es war<br />

inzwischen ganz finster geworden. Die Menge ging lärmend voraus<br />

oder folgte. Plötzlich erhob sich ein großes Geschrei:<br />

132


„Er rennt weg“. Der Kerl hatte den Schmied und den Tischler,<br />

die ihn führten, mit den Schultern niedergestoßen und war schnell<br />

unter das Volk gelaufen. Jeder schrie in der Dunkelheit. Einer stieß<br />

sich am anderen. Da hörte Wilhelm nicht weit vor sich einen<br />

schweren<br />

Fall und das Anschlagen eines Hundes. Er lief darauf zu.<br />

Da lag der Kerl mit den zusammengeschnürten Ellenbogen neben<br />

Cerber, der ihn mit einem Stoß zu Fall gebracht hatte. Bald waren<br />

auf Wilhelms Ruf alle um ihn versammelt. Jetzt wurden dem Kerl<br />

die Füße zusammengeschnürt<br />

und er ohne Barmherzigkeit bis in<br />

den Schlosshof geschleift. Der Amtswachtmeister ging sogleich<br />

zum Herrn Amthauptmann in’s Schloss, während die Menge in der<br />

Dunkelheit den Gefangenen umstand. Der Amthauptmann<br />

erschien auch bald mit dem Amtsschreiber und mehreren<br />

Amtsdienern, die Laternen<br />

trugen. Er rief Wilhelm und die<br />

Handwerker, die den Gefangenen gefesselt hatten, und ließ diesen<br />

in ein Gemach zu ebener Erde schaffen. Die Menschenmenge blieb<br />

auf dem Schlosshof und wartete der Dinge, die da kommen<br />

sollten.<br />

Als Wilhelm in’s Zimmer gerufen wurde, saß der Herr<br />

Amthauptmann in einer Fensternische, während der Amtsschreiber<br />

an einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers saß, auf dem<br />

zwei Lichte brannten. Der wildblickende Kerl wurde an den Tisch<br />

geführt. Das Verhör begann, der Amtsschreiber fragte ihn nach<br />

seinem Namen, seinen Verhältnissen und wie er in die Stadt<br />

gekommen. Doch allen Fragen setzte der Gefangene ein<br />

störrisches Schweigen entgegen.<br />

Auf Befehl des Amtshauptmanns<br />

wurde er durchsucht. Es<br />

fanden sich bei ihm aber nur ein langes, scharf geschliffenes<br />

Fleischermesser in einer Scheide und ein kleines ledernes<br />

Beutelchen mit einigen Kupfermünzen. Alle weiteren Fragen, die<br />

der Amthauptmann an den Gefangenen<br />

richtete, hatten keinen<br />

Erfolg. Dieser gab keinen Laut von sich.<br />

Er wurde deshalb vorläufig in einen Winkel des Nebenzimmers<br />

geschickt und durch zwei Amtsdiener bewacht.<br />

Darauf wurde der Amtswachtmeister Lemke, der ganz<br />

blutunterlaufene Augen hatte, verhört. Er gab zu Protokoll: Er<br />

wäre heute gegen Abend ermüdet nach Hause gekommen und<br />

hatte sich in seinen Lehnstuhl an das hell brennende Kaminfeuer<br />

gesetzt. Seine<br />

Frau wäre darauf mit der Magd zu einer<br />

Verwandten in die Vorstadt gegangen, der sie etwas Essen bringen<br />

wollten. Haus- und Stubentüre wären, wie gewöhnlich,<br />

unverschlossen<br />

gewesen.<br />

133


Da hätte sich die Stubentüre leise geöffnet und eine Stimme<br />

murmelnd um eine Gabe gebeten. Als er sich umgesehen, hätte er<br />

bei dem hell brennenden Kaminfeuer in dem Bettler mit den<br />

Krücken sogleich den sogenannten Schieler erkannt, der mit<br />

ihm<br />

vor Jahren bei demselben Reitertrupp gestanden und desertiert<br />

sei. Auf ihm ruhe auch der Verdacht, vor 4 Wochen mit 2<br />

Helfershelfern einen Wagen auf der Königsberger Straße<br />

überfallen zu haben.<br />

Er wäre aufgesprungen und hätte gerufen:<br />

„Schieler, ich verhafte dich!“ Der Kerl wäre heftig erschrocken,<br />

dann aber gleich mit den Worten:<br />

„Lemke, lebst du Hund noch?“ wütend auf ihn zugestürzt. Er<br />

hätte ihm einen so furchtbaren Hieb<br />

mit einer seiner Krücken über<br />

den Kopf gegeben, dass die Krücke zersplittert wäre. Er wäre wohl<br />

erschlagen worden, wenn der Hut nicht die Gewalt des Schlages<br />

etwas aufgehalten hätte. Der Kerl hätte sich auf ihn gestürzt. Da<br />

er einen steifen Arm und betäubt war, habe er sich nicht wehren<br />

können. Er hätte ihn bei der Gurgel gefasst und zu Boden<br />

geworfen. Er würde wohl unter den Händen des Mörders seinen<br />

Tod gefunden haben, wenn er nicht durch die Dazwischenkunft<br />

Wilhelms mit seinem Hunde gerettet wäre.<br />

Wilhelm sagte aus, was er gesehen und dass der<br />

Hund derselbe<br />

sei, welcher vor 4 Wochen den Räuber, welcher seinen Bruder<br />

überfallen habe, festgehalten hätte.<br />

Inzwischen war das Gerücht des Geschehenen in Wilhelms<br />

Vaterhaus gedrungen, jedoch ohne Zusammenhang. Räuber,<br />

Amtswachtmeister Lemke, Sohn Wilhelm, Abführung aufs Schloss<br />

usw. Der alte Vater nahm trotz der Abmahnungen seiner Frau eine<br />

angezündete Laterne und ging so schnell er konnte zum Schlosse.<br />

Hier fand er auf dem Schlosshof eine große Menschenmenge. Er<br />

fragte und nun wollte jeder erzählen, doch alle durcheinander.<br />

Soviel verstand er denn doch: Sein Sohn befände sich<br />

wohlbehalten im Schloss und würde vom Herrn Amthauptmann<br />

eben vernommen.<br />

Gleich darauf trat Wilhelm aus der Tür des Schlosses. Sein Vater<br />

eilte auf ihn zu:<br />

„Mein lieber Sohn, was hast du uns für Angst gemacht“, sagte<br />

er. „Komme schnell zur Mutter, damit sie sich<br />

nicht länger um dich<br />

ängstigt“.<br />

Wilhelm nahm seines Vaters Arm, trug die Laterne und erzählte<br />

auf dem Gange seine Erlebnisse.<br />

134


15. Familienrat über den Berufsweg von Wilhelm Anderson<br />

Die Mutter stand mit Barbara und den Mägden vor der Haustür,<br />

erwartungsvoll der Ankommenden harrend. Als alle in der<br />

Hinterstube beisammen, waren sagte sie:<br />

„Thomas hat den Balzer mit dem Schlittchen und diesem<br />

Briefchen von Rosengarten nach Hause geschickt“.<br />

„Thomas wird morgen mit Georg und seiner Frau herkommen“,<br />

sagte der Vater, nachdem er gelesen hatte.<br />

Am anderen Morgen kam ein Schlitten von Rosengarten. Auf<br />

ihm saß im Pelz gehüllt der Pfarrer mit seiner Frau und Thomas.<br />

Sie kamen über das Eis des Mauersees zur Stadt <strong>Angerburg</strong><br />

gefahren.<br />

Als sie das Königsberger Tor<br />

passieren wollten, hielten zwei<br />

Bürger ihnen ihre Spieße entgegen und hießen sie still halten, um<br />

nach „woher“ und „wohin“ zu fragen.<br />

„Was bedeutet das?“, fragte der Pfarrer seinen<br />

Bruder. Thomas<br />

lächelte und sagte:<br />

„Da siehst du, lieber Bruder, den Erfolg von dem, was vor 4<br />

Wochen in deiner Stube in Rosengarten verhandelt wurde. Der<br />

Herr Oberburggraf v. Lehndorff – Exzellenz, hat einen Befehl der<br />

Oberratsstube<br />

veranlasst, alles Gesindel aufzugreifen. Wir haben<br />

soviel über unseren Wilhelm zu reden gehabt, dass ich ganz<br />

vergessen hatte, es dir zu erzählen“.<br />

„Nun, Meister Iwarow<br />

en feinen Vogel gefangen“, antwortete lwarow, sich<br />

f seinen Spieß stützend und mit dem Daumen hinterwärts nach<br />

e in der Hinterstube<br />

nochm<strong>als</strong> willkommen geheißen.<br />

„Ich habe für heute Nachmittag die Anna mit ihrem Manne und<br />

Stadtschreiber Vogel (Barbaras Bräutigam) herbitten lassen“,<br />

t“, setzte sie mit einem Seufzer hinzu.<br />

242 “, wendete sich der Pfarrer zu seinem<br />

ehemaligen Schulkameraden, „bekommt Ihr denn auch zuweilen<br />

Einen?“<br />

„I, wir kriegen keinen, aber gestern Abend auf dem Schlosse, da<br />

haben sie ein<br />

au<br />

dem Schloss zeigend.<br />

Bald hielt der Schlitten vor dem Vaterhause. Wilhelm und<br />

Barbara liefen vor die Haustür. Die Eltern wurden von ihren<br />

Kindern im Hausflur begrüßt. Dann wurden all<br />

den<br />

sagte<br />

die Mutter. „Dann haben wir doch alle Kinder zusammen,<br />

nur<br />

mein Johann fehl<br />

242 Bemerkung im Manuskript: Eine lwarowsche wurde über 100 Jahre alt.<br />

135


„Was ist denn gestern Abend hier passiert?“, fragte Thomas, <strong>als</strong><br />

alle um den Tisch saßen und dem Warmbier und Backwerk fleißig<br />

zusprachen. „Meister Iwarow sagte, es wäre ein Gefangener im<br />

Schloss“.<br />

Der Vater erzählte, was sich am Abend des gestrigen Tages<br />

begeben hatte. Das Ereignis wurde hin und her besprochen. Nach<br />

einiger Zeit stand der Pfarrer auf und suchte nach seinem Hut.<br />

„Wohin willst du gehen, lieber Georg?“, fragte der Vater.<br />

„Ich möchte <strong>jetzt</strong> den Schwager Nebe besuchen“, antwortete<br />

dieser. „Würdet Ihr nicht, lieber Vater, dem Wilhelm erlauben,<br />

mich zu begleiten?“<br />

„Wenn Thomas ihn nicht braucht“, sagte der Vater, „so kann er<br />

mit dir gehen. Ich habe <strong>jetzt</strong> nichts für ihn zu tun“.<br />

Beide Brüder gingen nun in das Haus des Diakons, wo sie von<br />

Anna und ihrem Mann freundlich empfangen wurden. Nach der<br />

ersten Begrüßung sagte Georg:<br />

„Thomas erzählte mir, lieber Schwager, dass er mit dir und dem<br />

Rektor unsers Wilhelm wegen gesprochen habe. Wenn’s dir recht<br />

ist, so lassen wir den Herrn Rektor fragen, ob es ihm genehm<br />

wäre, wenn wir zu ihm kämen, oder ob er lieber hierher kommen<br />

wolle. Dem Thomas hat er gesagt, ihm wäre jeder Tag gleich, um<br />

den Wilhelm zu examinieren“.<br />

„Ich werde gleich die Magd hinschicken“,<br />

sagte Nebe.<br />

„Ach, wenn doch des guten Jungen Herzenswunsch, studieren zu<br />

können, in Erfüllung gehen möchte“, sagte Anna.<br />

Die Magd kam wieder mit der Nachricht: Der Herr Rektor ließe<br />

seine Empfehlung machen und die Herren bitten, sie möchten sich<br />

zu ihm bemühen.<br />

„Gott helfe dir, mein lieber Bruder“, sagte Anna, indem sie<br />

Wilhelm, der den Vorausgehenden folgen wollte, um den H<strong>als</strong> fiel.<br />

Der Rektor Andreas Tranz empfing die Herren in der Haustür<br />

und führte sie durch den mit Ziegeln ausgelegten Hausflur an der<br />

Tür der großen Klasse vorbei, in welcher eben noch der Kantor<br />

sang. Sie gingen in die kleine Klasse, wo ein helles Feuer im<br />

Kamin brannte. Hier bat er die Herren Pastores, sich zu setzen.<br />

„Wilhelm<br />

ist, nächst Georg Andreas Helwing der beste Schüler<br />

gewesen, den ich gehabt habe“, sagte er. „Ich hätte ihn gern<br />

länger behalten, <strong>als</strong> er die Schule verließ. Wollen doch einmal<br />

sehen, ob er viel vergessen hat“.<br />

Mit diesen Worten reichte er Wilhelm ein Buch. Das Examen<br />

begann und währte länger <strong>als</strong> 2 Stunden.<br />

136


Nachdem dieses beendet war, ging der Diakon nach Hause.<br />

Wilhelm schlich mit einem Herzen, geteilt zwischen Furcht und<br />

Hoffnung zu den Seinen. Georg begab sich zum Pfarrer Helwing,<br />

um diesen zu bitten, ein gutes Wort für Wilhelm bei seinem Vater<br />

einzulegen, damit er die Erlaubnis zum Studium erhielte.<br />

„Nun, wie ging denn das Examen?“ fragte der Pfarrer.<br />

„Besser, <strong>als</strong> ich erwartete“, erwiderte Georg. „Der Junge hat im<br />

Latein einen guten Grund gelegt und weiß auch eine Menge<br />

Vokabeln, den Curtius<br />

ne oration<br />

eten, notdürftig verstehen. Aus der Logic und aus der<br />

in ist, wenigstens kamen er und<br />

ilhelm mit dem 8. Kapitel Johannis nicht ganz zurecht. Das<br />

edete sich und eilte nach Hause, wo man schon<br />

Nebe mit Frau<br />

243 und die orationes Ciceronis selectas 244<br />

konnte er ziemlich geläufig explizieren, auch eine klei<br />

absque vitiis grammaticis 245 machen. Ebenso konnte er, was wir<br />

lateinisch red<br />

Doctrina Syllogistica hat er das allernotwendigste inne, auch aus<br />

der Geographie, Historie und Epistolographie. Im Griechischen<br />

hapert es noch etwas, doch mag’s wohl daran liegen, dass der<br />

Rektor selbst kein großer Held dar<br />

W<br />

hebräische fehlt noch ganz. 246<br />

Wenn wir nur den Vater dazu bewegen können, dass er dem<br />

Wilhelm zu studieren erlaubt, so hoffe ich, er soll in 1 ½ bis 2<br />

Jahren ein ganz tüchtiger Student werden“.<br />

„Nun, das ist ja schön“, sagte Pfarrer Helwing. „Benachrichtigt<br />

mich nur, wenn es nötig sein sollte. Ich will gern ein gutes Wort<br />

für den Freund meines Sohnes Georg Andreas, bei Eurem Vater<br />

einlegen, Herr Bruder. Ein gutes Wort findet ja auch eine gute<br />

Statt“.<br />

Georg verabschi<br />

auf ihn mit dem Essen gewartet hatte. Es war die Regel des<br />

Hauses, sich um 11 Uhr zu Tisch zu setzen. Nach der Mahlzeit fand<br />

Georg Gelegenheit, dem Bruder Thomas den guten Erfolg des<br />

Examens mitzuteilen. Bald kam auch der Diakon<br />

und Töchterchen. In der großen Hinterstube war die ganze Familie<br />

versammelt.<br />

243<br />

Rufus Quintus Cirtius: röm. Geschichtsschreiber. Verfasser einer Gesch. Alexanders d. Gr.<br />

244<br />

Ausgew. Reden Ciceros.<br />

245<br />

Fehlerfreie Rede.<br />

246<br />

Hier wird der originale Wortlaut aus Arnoldt 1746, 3. Bd., S.319 dem Rosengarter Pfarrer<br />

Georg Anderson in den Mund gelegt.<br />

137


Georg wendete sich an seinen Vater und suchte ihn zu<br />

überzeugen, dass für den Bruder Wilhelm das Studium eine<br />

Lebensfrage sei, von der sein ganzes Glück abhinge. Er führte<br />

alles an, was sich irgend dafür anführen ließ.<br />

Der Vater hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen,<br />

dann sagte er:<br />

„Das wird ja ganz hübsch aussehen, wenn der große Mensch<br />

unter den Kindern auf der Schulbank sitzen wird“.<br />

„Das darf ja der Wilhelm nicht, liebster Vater“, fiel ihm Georg<br />

in’s Wort. „Der Rektor Tranz<br />

und der Schwager Nebe wollen ihn<br />

privatim unterrichten. Den nächst folgenden Winter gedenke ich<br />

den Wilhelm zu mir zu nehmen und hoffe, dass er bis Michaeli<br />

1689 oder spätestens Ostern 1690 die Universität beziehen kann“.<br />

„Ihr solltet es erlauben, Herr Vater“, sagte der Diakon Nebe,<br />

damit Euer Wilhelm später im Weinberg des Herrn arbeiten<br />

möge“.<br />

„Ich habe schon einen Sohn im Dienst des Herrn“, sagte der<br />

Vater. „Meint Ihr, Herr Sohn, es ist mir nicht schwer genug<br />

geworden, den Georg eine lange Reihe von Jahren hindurch zu<br />

unterhalten? Das in einer Zeit, wo ich selbst für mich und meine<br />

Familie wenig genug hatte und mir seine Hilfe sehr wünschenswert<br />

gewesen wäre.<br />

Übrigens ist der Wilhelm in der letzten Zeit zu<br />

meiner<br />

Freude im Handel weit brauchbarer gewesen <strong>als</strong> früher“.<br />

„Das macht er, lieber Vater“, sagte Anna, „weil er von der<br />

Hoffnung<br />

erfüllt und getragen wurde, in kurzer Zeit vielleicht zu<br />

seinem<br />

geliebten Studium gelangen zu können. Ich glaube, dass<br />

er,<br />

wenn Ihr ihm die Erlaubnis versagt, ganz schwermütig und<br />

noch<br />

unbrauchbarer <strong>als</strong> früher wird“.<br />

Die Mutter, die Schwiegertochter und Barbara halfen gleichfalls<br />

bitten.<br />

„Ihr habt ja ein wahres Komplott gegen mich alten Mann“, sagte<br />

der<br />

Vater. „Alle verwenden sich für den Wilhelm, aber an meinen<br />

Thomas<br />

denkt keiner von Euch. Habt Ihr denn gar nicht bedacht,<br />

was<br />

dem die Hilfe seines Bruders wert ist? Er kann nicht allein<br />

bestehen,<br />

wenn sein Handel nicht leiden soll. Er muss auf Reisen<br />

sein,<br />

er muss auf’s Feld und er kann die Brauerei nicht<br />

vernachlässigen. Wer vertritt ihn dann zu Hause?<br />

Wenn er sich<br />

einen<br />

fremden Jungen nimmt, so unterhält er ihn nicht unter 100<br />

Mark jährlich. Ganz abgesehen davon, dass er noch besonders<br />

anfangs ihm genug Schaden macht, auch wenn er ganz ehrlich<br />

ist“.<br />

138


„Mein lieber Vater“, sagte Thomas, „ich bin es eigentlich, der<br />

dem Wilhelm Hoffnung gemacht hat, dass Ihr ihm die Erlaubnis<br />

zum Studieren erteilen würdet. Wenn er mir vorläufig beisteht, so<br />

hoffe ich, nach Weihnachten oder etwas später einen sehr<br />

brauchbaren Kaufburschen zu bekommen, der bei Ramsey war. Er<br />

musste von diesem wegen Krankheit entlassen werden. Als er<br />

wieder gesund geworden, war seine Stelle schon durch zwei<br />

andere ausgefüllt. Er hat mich noch vor meiner Abreise gebeten,<br />

ihn unterzubringen. Ich bitte mit den anderen für Wilhelm“.<br />

„Nun, wenn ihr denn alle so in mich dringt“, sagte der Vater, „so<br />

mag denn der Wilhelm studieren. Ich will ihm nicht entgegensein.<br />

Der Herr mache ihn nur recht treu in allem seinem Tun. Ich werde<br />

es wohl nicht mehr erleben, ihn im Amt zu sehen“.<br />

Wilhelm küsste gerührt des Vaters Hand. Die anderen dankten<br />

ihm. Die Familie, zu der auch noch Vogel kam, war in froher<br />

Stimmung beisammen, <strong>als</strong> der Pfarrer Helwing eintrat.<br />

„Der Vater hat die Erlaubnis gegeben“, jubelte Wilhelm ihm<br />

entgegen“.<br />

„Es wird Euch nicht gereuen, alter Freund“, sagte der Pfarrer,<br />

dem Hausvater die Hand schüttelnd. „Ich kenne den Wilhelm von<br />

frühester Kindheit an. Jetzt ist er in seinem rechten Element und<br />

Gott wird’s ihm gelingen lassen“.<br />

Am anderen Tag, bald nachdem<br />

die Rosengarter abgefahren<br />

waren, erhielt Thomas durch den Rat eine Vorladung, sogleich mit<br />

seinem Knecht Johann Podlesny m Herrn<br />

mthauptmann zu erscheinen. Hier wurde Thomas vom Herrn<br />

n, ob der Gefangene derselbe<br />

en gefügt, die<br />

chreiber.<br />

247 auf dem Schloss vor de<br />

A<br />

Amthauptmann in Gegenwart des Amtsschreibers genau wegen<br />

seines Überfalls vor 4 Wochen verhört, ebenso Jasch. Dann<br />

wurden Herr und Knecht vom Herrn Amtsschreiber zu dem Verlies<br />

des Schielers geführt, um zu sehe<br />

Mensch sei, den sie auf der Königsberger Straße vor 4 Wochen<br />

gesehen hatten.<br />

Durch halbdunkle feuchte Gänge und Keller kamen sie endlich<br />

zu einer massiven Tür, von starken eichenen Bohl<br />

mit Eisenstangen und riesigen Schlössern verstärkt war. Vor<br />

dieser ging ein Mann mit seiner Pike auf und ab.<br />

„Vor dem Fenster des Gefängnisses haben wir auch einen<br />

Wächter“, sagte der Herr Amtss<br />

247 Dies war Jasch’s vollständiger Name.<br />

139


In der Eingangstür befand sich ein frisch eingeschnittenes<br />

kleines Fenster mit einer Klappe, das es gestattete, den Raum des<br />

Gefängnisses zu übersehen. Ein stark vergittertes schmales<br />

Fenster in der dicken Steinmauer erhellte dürftig den Raum. Da<br />

saß der Verbrecher mit schweren Ketten belastet und an die Wand<br />

geschlossen an einem rohen Tisch. Er hatte sein Gesicht in den<br />

Händen vergraben und man hätte ihn für schlafend gehalten,<br />

wenn das Zucken seiner Glieder und das Klirren der Ketten es<br />

nicht<br />

verraten hätte, dass er wach ist.<br />

„So sitzt er <strong>jetzt</strong> immer“, sagte der alte Amtsdiener, <strong>als</strong> sie<br />

zurückgingen. „Das ist einer von der schlimmsten Sorte. Er ist wie<br />

ein toller Hund. Als ich ihm das erste Mal Wasser hineintrug, hat<br />

er mich bald totgeschlagen, <strong>als</strong> er mir den vollen Wassertopf nach<br />

dem Kopf warf. Glücklicherweise hinderte ihn die Kette, dass er<br />

nicht recht traf. Das Essen<br />

schieben wir ihm <strong>jetzt</strong> durch die Tür auf<br />

einem langen Brett zu“.<br />

Thomas sagte aus, dass ihm der Gefangene zwar so vorkäme,<br />

<strong>als</strong> ob er derselbe Mann sei, der ihn vor 4 Wochen angebettelt und<br />

überfallen habe, er aber es doch nicht beschwören könne. Jasch<br />

hatte den Bettler dam<strong>als</strong> gar nicht erblickt und beim Überfall auch<br />

nur einen Augenblick das Gesicht und den Oberkörper des<br />

Wegelagerers gesehen.<br />

„Wenn doch bald unser Landrichter Andreas v. Pelchowski<br />

käme“,<br />

sagte der Herr Amtsschreiber zu Thomas, <strong>als</strong> die<br />

Verhandlung<br />

zu Ende war. „Der Herr Amthauptmann flucht und<br />

will<br />

mit dem Strolch nichts mehr zu tun haben. Ich möchte die<br />

ganze<br />

Sache gern sobald <strong>als</strong> möglich dem Landgericht<br />

übergeben“.<br />

140


16. Jahrmarkt in <strong>Angerburg</strong><br />

Die Tage des Novembers waren immer zu kurz, um alle Arbeit<br />

zu bewältigen. Das Mastvieh musste geschlachtet werden. Das<br />

machte viel Unordnung. Von jedem Schwein musste <strong>als</strong> Abgabe<br />

der Rückstrang auf das Schloss geliefert werden. Dabei schlug das<br />

Wetter wieder um. Es taute, schlaggte und regnete unaufhörlich.<br />

So nahte der große Herbstmarkt heran. Dam<strong>als</strong> hatten die<br />

Jahrmärkte für die ganze Provinz und besonders für die kleinen<br />

Städte eine große Bedeutung, ja sie waren für die letzteren eine<br />

Lebensfrage. Durch unwegsame Gegenden, elende Wege, und alle<br />

Hindernisse überwindend, die dam<strong>als</strong> der Herbst dem Verkehr<br />

entgegensetzte, kamen die Planwagen oder Karren durch die Tore<br />

248<br />

des Städtchens. Krämer und Schotten, Paudelkrämer<br />

und<br />

Handwerker<br />

drängten sich in den engen Straßen durch Pferde,<br />

Vieh und Menschen im tiefen Schmutz. Am Tag vor dem<br />

Krammarkt war nämlich der Vieh- und Pferdemarkt.<br />

Fast ausschließlich war das kleine masurische Pferd, das auf<br />

mageren Weiden erzogen, zwar unansehnlich, aber von großer<br />

Ausdauer, mit lebhaften Augen, starken Kammhaaren und Schweif<br />

auf dem Pferdemarkt, sowie das kleine untersetzte masurische<br />

Vieh auf dem Viehmarkt, vertreten.<br />

Aus der ganzen Umgegend war<br />

man in die Stadt gekommen. Im<br />

Stübchen neben dem Hausflur, in dem vor kaum 3 Wochen der<br />

wohllöbliche Rat des Städtchens gesessen, befanden sich <strong>jetzt</strong> die<br />

adligen Herren, unter denen die Gans v. Gansenstein, die v.<br />

249<br />

Rauter, v. Packmohr, v. Klimken, v.Pasch und andere mit ihren<br />

Vettern und Verwandten vertreten waren. In der großen<br />

Hinterstube aber waren die Bekannten von auswärts, die<br />

Pfarrherren, die Köllmer usw.<br />

Trotz des Novembertages standen die Türen offen, da<br />

fortwährend Menschen sich hinaus- oder hineindrängten.<br />

Durch die Menschenmenge des Markts fuhr gegen Abend ein<br />

Planwagen, langsam, bald still haltend, bald wieder einige Schritte<br />

weiterfahrend, bis er endlich<br />

vor des Ratsverwandten Anderson<br />

Haus hielt. Der alte Bell stieg aus.<br />

„Schnell, Wilhelm“, rief der Vater seinem Sohn zu, „bring den<br />

Wagen unter“.<br />

248<br />

Händler, die ihre Waren in einem Korb auf dem Rücken trugen.<br />

249<br />

Adlige Grundbesitzerfamilien aus dem Umfeld von <strong>Angerburg</strong>.<br />

141


Das war nun eben nicht leicht, da der ganze Hof und alle Ställe<br />

voll waren. Es gelang schließlich doch.<br />

Bell kam in’s Haus und hatte kaum seinen Mantel abgelegt, <strong>als</strong><br />

der Hausherr ihn in’s Hinterzimmer führte und die Tür zuzog.<br />

„Nun, wie steht’s, alter Freund?“, fragte er. „Ich habe schon mit<br />

Ungeduld auf Euch gewartet“.<br />

„Zu einer solchen Tochter“, erwiderte Bell, „wenn sie die Frau<br />

Eures Thomas wird, kann man Euch Glück wünschen. Das ist ein<br />

Weib nach dem Herzen Gottes. Ihr könnt mir glauben, dass ich in<br />

Lyck alles genau erkundet habe, doch hat’s mir wenig Mühe<br />

gemacht. Die Leute wurden von selbst redselig, wenn<br />

von Jungfer<br />

Esther die Rede war. Ich brauchte nur wenig fragen und immer<br />

nur zuhören. Wenn Ihr und ich mehr Zeit habt, erzähl ich Euch<br />

alles ausführlicher“.<br />

Bis spät in die Nacht dauerte es, ehe die Besucher des<br />

Viehmarktes, soweit sie überhaupt noch dazu im Stande waren,<br />

das Haus verließen. Doch die Nachtruhe dauerte nicht lange, da<br />

die Krämer und Handwerker ihre Tische und Buden auf die Straße<br />

schafften. Dieser Jahrmarkt nach Martini war für das Gesinde ein<br />

höchst wichtiger Tag.<br />

Eine kleine Stadt von Leinwand und Stangen war über Nacht auf<br />

den Straßen entstanden. Vom frühen Morgen an drängten sich die<br />

Knechte und Mägde in den Straßen. Während am Viehmarkt die<br />

Männer vorzüglich vertreten waren, füllte sich die große<br />

Hinterstube in des Ratsverwandten Andersons Haus mit den<br />

Frauen und Töchtern der Besitzer, Köllmer und anderer Bekannten<br />

vom Lande. Jedes Haus hatte seinen Jahrmarktsbesuch.<br />

142


17. Vater Wilhelms Reise nach Königsberg<br />

Der Markt mit seinen Befürchtungen, Hoffnungen und seinen<br />

Freuden war vorüber.<br />

Endlich trat ein beständiger Frost ein. Die Schlitten waren schon<br />

längst vom Stellmacher und Schmied<br />

in guten Stand gesetzt. Den<br />

Pferden war eine Haferzulage gegeben und alles zur Fahrt nach<br />

Königsberg vorbereitet. Doch fehlte der<br />

Schnee. In einer Nacht fiel<br />

dieser reichlich. Das aufgekaufte Garn und die Rollen Prahlsacht<br />

wurden aufgeladen. Jasch sollte den ersten, Thomas den zweiten<br />

Schlitten fahren. Es musste über Rastenburg gefahren werden, um<br />

das dorthin dirigierte Prahlsacht mitzunehmen.<br />

Der alte Vater teilte seinen Entschluss mit,<br />

ebenfalls nach<br />

Königsberg mitzufahren und ließ sich von den Einwendungen und<br />

den Abreden der Seinigen nicht abhalten. Als Thomas sah, dass<br />

seines Vaters Entschluss feststand, ging er hinaus und packte den<br />

einen Schlitten ganz um. Er machte eine Art von Koje aus den<br />

festen Rollen mit einem bequemen Sitz für den Vater. Dann wurde<br />

die Plane übergezogen. Darauf ging Thomas in’s Rathaus, um für<br />

sich und seine Begleiter einen Pass abzuholen.<br />

Am anderen Morgen bestiegen unsere Reisenden nach der<br />

gemeinsamen<br />

Morgenandacht und dem Frühstück die Schlitten.<br />

Der Vater saß im Pelz gehüllt, und Cerber lag auf seinen Füßen<br />

und wärmte sie. Die Zurückbleibenden standen<br />

auf dem Hof. Die<br />

Schlitten, die von Wilhelm und Balzer mit einem Hebebaum<br />

losgemacht wurden, fuhren langsam durchs Tor. Anfangs ging’s<br />

langsam durch die Stadt, dann aber aufs Eis der Angerapp und die<br />

weite Fläche des Mauersees.<br />

250<br />

Im Krug auf dem Prystanyschen Werder wurde ein wenig<br />

angehalten.<br />

Dann ging’s weiter, und nach eingetretener<br />

Dunkelheit hielten die beiden Schlitten in Rastenburg vor dem<br />

„Lachs“.<br />

Hier war es aber nicht so still wie vor 6 Wochen, <strong>als</strong> Thomas von<br />

Königsberg kam. Die Straße und der Hof waren<br />

voller Schlitten.<br />

Überall<br />

waren Menschen, nüchterne und betrunkene. Die<br />

Reisenden traten in die große Stube. Da war nun nicht mehr die<br />

alte Wirtin. Deren Tochter bediente mit einer Magd die Gäste,<br />

während der Wirt in einer Ecke eifrig mit einigen Bauern handelte.<br />

Diese ließ sie aber stehen, begrüßte Vater und Sohn und teilte<br />

250 Das Werder bei Pristanien = Die Insel Upalten im Mauersee.<br />

143


ihnen mit, das Prahlsacht wäre an ihn abgeliefert und zum<br />

Aufladen bereit.<br />

Nach der Begrüßung sagte die junge Wirtin: „Wenn Ihr ein<br />

wenig warten wollt, Herr Oheim, können Eure Pferde in unserem<br />

Stall untergebracht werden. Die Marktleute fahren bald ab. Wollt<br />

Ihr aber nicht bei der Mutter eintreten?“<br />

Sie führte Vater und<br />

Sohn durch das Gedränge der Krugstube zu<br />

einer Tür, die sie öffnete und einzutreten bat.<br />

„I, du meine Güte“, sagte die Alte, indem sie von ihrem<br />

Spinnwocken aufstand. „Was sehen meine alten Augen, hat der<br />

Herr Vetter bei der Kälte sich herausgemacht? Willkommen, nun<br />

setzt Euch doch und auch der Thomas. Wisst Ihr, Herr Vetter, ich<br />

muss immer an Euren Bruder Thomas denken, wenn ich Euren<br />

Sohn sehe“.<br />

„Sagt doch, Frau Muhme“, fiel ihr Thomas in die Rede. „Wisst ihr<br />

nicht, wie die Reisenden, die vor 6 Wochen mit mir zusammen bei<br />

Euch einkehrten, nach Hause gekommen sind?“<br />

„Das kann ich Euch mit Wahrheit sagen, mein Sohn“, erwiderte<br />

sie. „Nach Lyck sind sie ganz gut hingekommen. Ich habe mir<br />

gleich am Mittwoch danach, <strong>als</strong> die Post von Lyck hier durch nach<br />

Königsberg fuhr,<br />

den Postillion herübergerufen und gründlich<br />

ausgefragt. Aber in eine schöne Patsche habt Ihr mich gebracht,<br />

Herr Thomas.<br />

Ihr hattet mir die Jungfer Esther so auf der Seel’<br />

gebunden, dass ich nicht anders dachte, <strong>als</strong> dass Ihr beide, wie<br />

man so sagt, verschwiegene Brautleute untereinander seid. Also<br />

ich, in meiner Dummheit<br />

fange an, die Jungfer zu trösten, dass<br />

der Herzallerliebste abgefahren ist. Da kam ich aber schön an.<br />

Nun ich hab’s wieder gut gemacht und die Jungfer Esther bei mir<br />

behalten, bis die Post abfuhr. Kommt einmal her, ich werd’ Euch<br />

etwas in’s Ohr sagen: Gut ist sie Euch doch“, sagte die<br />

Alte, <strong>als</strong><br />

Thomas sein Ohr niederbeugte, so laut, dass die Stube schallte.<br />

„Ich denke, Thomas“, sagte der Vater, „du siehst nach den<br />

Schlitten und sorgst dafür, dass die Pferde gut unterkommen“.<br />

Thomas nahm seinen<br />

Hut und ging hinaus. Auf den Hof war<br />

noch nicht mit den Schlitten heraufzukommen. Seine Pferde<br />

standen vor dem Haus, gut bedeckt, und wurden von Jasch mit<br />

Heu gefüttert.<br />

Thomas stand in dem Hausflur. Hier an<br />

diesem Treppenabsatz<br />

hatte er von Esther Abschied genommen und ihre Hand gedrückt.<br />

Ob sie wohl seiner gedenken mag? Das Wort der alten Muhme:<br />

Gut ist sie Euch doch, hatte ihn in’s innerste Herz getroffen.<br />

144


Er stand im kalten Hausflur, von aus- und eingehenden Männern<br />

gedrängt und geschoben und träumte. Inzwischen waren einige<br />

Schlitten abgefahren. Jasch kam zu seinem Herrn und fragte, ob<br />

e. Bei<br />

nn?“ fragte der Vetter.<br />

n“, erwiderte die Alte.<br />

<strong>als</strong> er sich hier in meine schöne volle Wirtschaft<br />

wollte.<br />

Krugstube verlassen, und nur<br />

Hause aus der Wegkostlischke 252<br />

sie <strong>jetzt</strong> nicht auf den Hof fahren wollten. Thomas fuhr zusammen,<br />

ging zu dem Schlitten, brachte alles in Ordnung und kehrte zum<br />

Vater zurück. Dieser hatte die Muhme immer weiter erzählen<br />

lassen, was sie denn auch mit großer Umständlichkeit tat, und<br />

<strong>als</strong>o schloss:<br />

„Herr Vetter, wenn Ihr die Jungfer Esther zur Schwiegertochter<br />

kriegt, so gönnt der Herr Euch für Eure Lebenszeit gute Tag<br />

der möcht’s Euch nicht so gehen wie mir in meinen alten Tagen<br />

bei meinem Schwiegersohn!“<br />

„Ich dachte, Euer Schwiegersohn wäre ein tüchtiger<br />

Geschäftsma<br />

„Das ist er auch, um die Wahrheit zu sage<br />

„Er gönnt mir aber kaum das Essen. Dabei hat er nur 500 Mark<br />

gehabt,<br />

einheiratete“. Nun begann sie ein langes Klagelied über ihren<br />

Schwiegersohn, das gar nicht enden<br />

Thomas kam herein und berichtete, dass Pferde und Schlitten<br />

sowie das von Masehnen<br />

it trockenem<br />

251 hergebrachte Prahlsacht gut<br />

untergebracht seien. Er fragte den Vater, ob er nicht etwas essen<br />

wolle, es hätten die Landleute die<br />

einige, die nach Königsberg wollten, wären noch da. „Na, das wär’<br />

mir schön, wenn Ihr in meinem<br />

essen solltet“, sagte die Alte. „Wo ich dumme Gans aber auch<br />

meine Gedanken gehabt habe. Ich lasse Euch m<br />

Munde sitzen und plappere. Kommt doch gleich hinüber zu meiner<br />

Tochter“.<br />

Sie ruhte nicht eher, <strong>als</strong> bis sie Vater und Sohn in’s<br />

Familienzimmer gebracht und bewirtet hatte.<br />

In derselben Kammer, in der vor einigen Wochen der Diakon<br />

Schwindovius mit Esther geruht, schliefen auch <strong>jetzt</strong> Vater und<br />

Sohn, Thomas sogar auf derselben Stelle und in demselben Bett,<br />

das Esther benutzt hatte. War’s da ein Wunder, dass er von ihr<br />

träumte?<br />

251<br />

Dorf [verschrieben 1392] und Gut [gegründet 1486] im Kirchspiel Rosengarten, 6 km<br />

südwestl. von Rosengarten.<br />

252<br />

Proviant/Picknick-Korb<br />

145


Sehr früh am anderen Morgen kratzte Cerber an der Tür der<br />

Kammer. Thomas stand auf und öffnete. Der Hund kam wedelnd<br />

herein, suchte überall umher und legte sich endlich neben der Tür<br />

auf den Boden, wo Esther ihn gefüttert hatte.<br />

„Was ist denn mit dem Hund?“ fragte der Vater. „Es ist ja sonst<br />

nicht seine Art, in die Stube des Nachts zu dir zu kommen“.<br />

„Er sucht wahrscheinlich die Jungfer Esther“, antwortete<br />

Thomas, „die in dieser Kammer vor 6 Wochen mit ihrem Vater war<br />

und den Hund hier liebkoste und fütterte“.<br />

„So, so“, sagte der Vater. „Doch wie spät mag’s wohl sein?“<br />

„Halb Vier“, antwortete Thomas, zur Uhr sehend. „Dann zieh<br />

dich an, mein Sohn“, sagte der Vater. „Sorge dafür, dass wir bald<br />

abfahren können“.<br />

Nach einer Stunde waren die Reisenden unterwegs. Thomas<br />

zeigte dem Vater im Wald die Stelle des Überfalls. Da kam es ganz<br />

von selbst, dass von Esther gesprochen werden musste.<br />

Die Straße war belebt. Viele Schlitten fuhren die Erzeugnisse des<br />

Hinterlandes zur Hauptstadt. Die Bahn war gut. In allen Krügen<br />

war aber ein großes Gedränge.<br />

Immer mehr Schlitten waren in<br />

den Krügen zusammen gefahren. Je näher sie der Hauptstadt<br />

kamen, sie die Türme der alten Stadt erblickten und nicht weit<br />

vom Friedländer<br />

Tor entfernt waren, war es eine ganze Karawane,<br />

die in langen Reihen vorwärts strebte. Thomas fuhr mit seinem<br />

Schlitten dicht hinter dem ersten, den Jasch fuhr. Zwischen den<br />

Schlitten drängten sich Kuppelweiber<br />

die Fremden an und fragte, was sie geladen<br />

chen, <strong>als</strong> auch schon der Sohn den<br />

253 , Händler, Verkäufer und<br />

andere. Jeder rief<br />

hätten usw.<br />

Plötzlich hörte Thomas eine helle Stimme in polnischer Sprache<br />

rufen:<br />

„Jasch, Jasch, wo kommst du her?“.<br />

Er sah einen schlanken jungen Menschen auf den ersten<br />

Schlitten springen.<br />

„War das nicht die Stimme des Johannes?“ fragte der Vater.<br />

Kaum hatte er ausgespro<br />

ersten Schlitten verließ, auf den zweiten zusprang, die<br />

Schlittenstufe bestieg und dem Vater die Hand küsste.<br />

„Was macht denn die liebe Mutter und Barbara und Wilhelm und<br />

Anna und…?“ fragte er, immer mitfahrend.<br />

253<br />

Bezeichnung für Königsberger<br />

Marktfrauen.<br />

146


„Sind alle gesund. Aber, mein Sohn, versäumst du auch nichts?“<br />

fragte<br />

der Vater.<br />

„Ihr habt doch das Prahlsacht geladen?“ fragte Johannes.<br />

„Prahlsacht und etwas Garn“ antwortete Thomas.<br />

„Dann fahre ich gleich mit Euch zu unserem<br />

Speicher“, sagte<br />

Johannes,<br />

„der Franz bleibt ja am Tor“.<br />

Das Tor war besetzt. Eines Jeden Legitimation wurde geprüft,<br />

wobei oft Streit entstand und es sehr laut herging.<br />

„Wisst Ihr nicht, was das zu bedeuten hat, lieber Vater, dass die<br />

Tore seit etwa 3 Wochen so scharf bewacht werden?“ fragte<br />

Johannes.<br />

„Nachdem dein Bruder Thomas auf der Rückreise von<br />

Königsberg unterwegs von Wegelagerern überfallen ist, hat<br />

die<br />

Regierung befohlen, das Gesindel aufzugreifen“, sagte der Vater.<br />

„Was, Thomas ist von Räubern überfallen? Davon weiß ich kein<br />

Wort“ rief Johannes.<br />

Der Vater erzählte. „Es wird wohl<br />

noch lange dauern, bis wir<br />

eingelassen werden“, unterbrach der Vater seinen Bericht.<br />

„Ich will gleich nachsehen gehen, wie viel Schlitten vor dem<br />

unseren noch abzufertigen sind, denn vorbeifahren dürfen wir<br />

nicht“, sagte Johannes und eilte dem Tor zu. Thomas kam ihm<br />

entgegen.<br />

„Wo willst du hin?“ fragte er den Bruder.<br />

„Nur nachsehen wollte ich, wie viel Schlitten noch abzufertigen<br />

sind“.<br />

„Ein Dreispänniger steht im Tor und 17 sind auf der Straße. Da<br />

kommt eben der 18. an, hält still“.<br />

„Ach, lieber Bruder Thomas, ich habe dir<br />

dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> du mir vor<br />

deiner Abfahrt Geld schenktest, gar nicht ordentlich gedankt. Wie<br />

gut war es doch, dass ich Geld hatte. Ich hätte gar nicht gekaisert<br />

werden können“, sagte Johannes.<br />

„Was hättest du nicht werden können, gekaisert? Das versteh’<br />

ich nicht. Was bedeutet das?“<br />

„Weißt du das nicht, wurden die Kaufburschen in Elbing denn<br />

nicht auch gekaisert?“ fragte Johannes verwundert.<br />

„Nein, ich hab’ nie davon gehört. Erzähle ordentlich“, antwortete<br />

Thomas.<br />

„Na, sieh’ mal. Durchs Friedländer Tor kommt die größte Zufuhr<br />

nach Königsberg.<br />

Da haben die Kaufleute ihre Kaufburschen, wie<br />

<strong>jetzt</strong>, vor das Tor geschickt. Nun haben diese es unter sich<br />

eingeführt, dass kein Junge eher unter ihnen geduldet werden soll,<br />

147


<strong>als</strong> bis er bei ihnen eingeschrieben und solemniter 254 bei ihnen<br />

recipiert 255 worden ist, weswegen sie einige Gesetze nebst einem<br />

Buch eingeführt haben. In der ersten Zeit schickte Herr Smit den<br />

Franz Gordon allein vor das Friedländer Tor. Dann musste ich mit<br />

und<br />

Franz sagte mir: Nimm all dein Geld mit. Sobald wir durchs<br />

Tor kamen, umringte uns eine große Zahl von Kaufburschen, auch<br />

kamen etliche Kaufgesellen. Da hieß es, dieser da ist noch nicht<br />

gekaisert und ehe ich mich versah, wurden ich und noch 3 andere<br />

von dem ganzen Haufen von der Straße mitgenommen und hier<br />

linker Hand, wohl an 60 Schritte weiter, auf einen kleinen kahlen<br />

Platz gebracht, auf welchem ein sehr großer Stein liegt. Du kannst<br />

seine Spitze dort aus dem Schnee heraus stecken sehen. Nun<br />

zogen alle die Hüte ab, ich natürlich auch. Dann haben alle, die da<br />

waren, insgesamt Hand an mich gelegt, ihre Hüte sämtlich bei<br />

dem Kaiserstein niedergeworfen und mich gegen den Stein viribus<br />

unitiis<br />

dafür zum<br />

eßen.<br />

i“, fragte der Vater<br />

it mir tauscht. Er wird’s<br />

Thomas hatte dem Vater heruntergeholfen.<br />

256 gestoßen. Dann kam ein Kaufbursch in feinen Kleidern an<br />

die Reihe. Wie ich später hörte, war er der Schwestersohn des<br />

Kaufmanns. Nun zog einer der Kaufgesellen ein Buch hervor, in<br />

welches ich mich selbst einschreiben musste und<br />

mindesten einen Taler, wie Franz mir zuflüsterte, erlegen musste.<br />

Der feine Junge hatte 3 Taler erlegt. Dafür legten die<br />

Kaufburschen ihre Mäntel über den Stein, bevor sie ihn sti<br />

Es dauerte lange, bevor Thomas, der mit den Pässen in’s<br />

Torhaus hineingegangen war, wiederkam. Endlich wurden die<br />

Schlitten durchs Tor gelassen. Über den Markt ging’s auf das Eis<br />

des Pregels zum Speicher.<br />

„Morgen ist Sonntag. Da hast du doch fre<br />

seinen Johannes, „dass du mit uns zusammen die Kirche besuchen<br />

kannst?“<br />

„Eigentlich ist erst der nächste Sonntag mein Ausgehtag, aber<br />

ich will Franz Gordon bitten, dass er m<br />

gewiss tun. Ihr glaubt gar nicht, lieber Vater, was der Franz für ein<br />

braver Junge ist“.<br />

Die Schlitten hielten an dem Speicher des Herrn Smit. Johannes<br />

sprang herunter und meldete sich bei dem Kaufgesellen, der im<br />

Speicher war.<br />

„Ich werde zu Krahl gehen“, sagte der Alte zu Thomas. „Wenn<br />

der erste Schlitten abgeladen ist, so lass ihn Jasch in den Ringkrug<br />

254 Feierlich<br />

255 Aufgenommen<br />

256 Mit vereinten Kräften.<br />

148


in die Vorstadt fahren, die Pferde unterbringen und dann den<br />

anderen Schlitten, der dann wohl abgeladen sein wird, nachholen.<br />

Bei Krahl triffst du mich“.<br />

Mit diesen Worten wendete er sich zum Gehen. Thomas ließ die<br />

Waren abladen, ging mit Johannes zu Smit und dann zu Krahl, wo<br />

er den Vater mit ihm im Hinterstübchen in eifriger Verhandlung<br />

über die einzukaufenden Waren, deren Güte und Preise fand.<br />

Stich von Jacob Boydt aus „Litographia <strong>Angerburg</strong>ica“, G. A. Helwing 1717<br />

149


18. Das Leben des braven Lehrburschen Johannes Anderson<br />

in Königsberg<br />

Am anderen Tag fand sich schon am frühen Morgen der<br />

Johannes bei seinem Vater ein, bestellte einen Gruß von seinem<br />

Lehrherrn und lud in dessen Namen Vater und Bruder zum<br />

Mittagessen ein.<br />

„Ich bin zur Mahlzeit schon vom Kaufmann Benkendorff<br />

eingeladen“, sagte Thomas. „Als ich wegen des Eisens mit ihm<br />

abgeschlossen hatte, hab ich auch zugesagt, zu kommen“.<br />

„So werde ich nach der Kirche alleine zu Smit gehen“, entschied<br />

der Vater. „Aber kannst du nicht noch ein halbes Stündchen hier<br />

bei uns bleiben, mein lieber Johannes? Die Uhr ist ja noch nicht<br />

halb sechs und heute ist Sonntag“.<br />

„Ich kann nicht bleiben, so gern ich auch möchte. Es ist von<br />

gestern noch so vielerlei wegzupacken und in Ordnung zu bringen,<br />

dass Franz und ich kaum fertig werden, bis es Tag wird. Später<br />

dann dürfen wir nichts mehr vornehmen“, erwiderte Johannes.<br />

„Just recht, hab’s mein Leben lang auch immer so gehalten“,<br />

sagte der Vater. „Der Feiertag ist der Tag des Herrn. Nun heute<br />

nach dem Essen werde ich mit dir noch zusammensein können“.<br />

Johannes küsste die Hand des Vaters und eilte heim.<br />

„Ich werde vor der Kirche selbst zu Smit gehen, ihm persönlich<br />

für seine freundliche Einladung danken und meine Entschuldigung<br />

geziemend vortragen“, sagte Thomas.<br />

„Tue das, mein Sohn“, sagte der Vater. „Dann kannst du mich<br />

abholen und wir gehen<br />

zusammen in die Domkirche. Da predigt<br />

heute der Magister Stein, welchen ich im Sommer vor einem Jahre<br />

hier in der Haberberger<br />

Kirche gehört habe, wo mir seine Predigt<br />

sehr wohlgefallen hat“.<br />

Bald nach 7 Uhr kam Thomas, seinen alten Vater abholen,<br />

Johannes im Sonntagsstaat<br />

g von deinem Herrn, dass er dich schon<br />

257 begleitete ihn.<br />

„Ich darf heute mit Euch zusammen, lieber Vater, die<br />

Hauptpredigt besuchen“, jubelte er. „Sonst müssen wir<br />

Kaufburschen einen Sonntag um den anderen in die Vesper<br />

gehen“.<br />

„Es ist sehr güti<br />

vormittags die Kirche besuchen lässt, doch es ist Zeit, dass wir<br />

257<br />

Kleidung, die nur an Sonn- u. Feiertagen getragen wurde.<br />

150


uns auf den Weg machen. Euer alter Vater kann nicht mehr so<br />

schnell gehen <strong>als</strong> Ihr Leichtfüße“.<br />

Als der alte Wilm sich nach der Kirche um 11 Uhr bei Smit<br />

einfand, wurde er von ihm schon an der Tür des Wohnzimmers<br />

empfangen und hineingeleitet. Es war ein hohes geräumiges<br />

Zimmer, das trotz des sehr breiten und hohen Fensters, welches<br />

auf den Hof ging, ziemlich dunkel war. Der große Tisch in der Mitte<br />

der Stube war schon gedeckt, und bald fanden sich auch die<br />

Familienglieder, die beiden Kaufgesellen, Herr Ranisch und Herr<br />

Faber, sowie die Kaufburschen ein. Letztere machten ihre stumme<br />

Verbeugung und blieben an der Tür stehen. Der alte Wilm<br />

begrüßte die Damen mit altmodischen Redensarten. Bald ging<br />

man zu Tisch. Der Hausvater sprach das Tischgebet. Johannes <strong>als</strong><br />

jüngster Kaufbursche, musste hinter dem Stuhl seines Herrn<br />

stehen und aufwarten. Sein Vater saß zwischen dem Hausherrn<br />

und Herrn Faber, die Damen auf der anderen Seite.<br />

Die Speisen waren sehr reichlich und gut. Das Mahl verlief<br />

ziemlich still, doch den Kaufgesellen schien es trotz der guten<br />

Bissen recht zu sein, bald aufzustehen und auszugehen.<br />

Als die Tafel aufgehoben war, aßen Franz Gordon und Johannes.<br />

„Ihr möchtet wohl gern, Herr, heute Nachmittag mit Euerm<br />

Sohn zusammenbleiben<br />

wollen?“ fragte Smit, nachdem der Vater<br />

seine nahe Abreise verkündigt hatte. „Ich gebe ihm Erlaubnis bis 9<br />

Uhr, dann muss er sich pünktlich einfinden“.<br />

Johannes war sehr froh, <strong>als</strong> er dies hörte, und<br />

schluckte so<br />

schnell er konnte, um seine Mahlzeit bald zu beendigen. Der Vater<br />

dankte und empfahl sich dem Hausherrn und seiner Familie. Im<br />

Hausflur empfing Johannes den Vater.<br />

„Ach, lieber Vater“, sagte er, „ich danke Euch sehr, dass Ihr mit<br />

einen freien Sonntag Nachmittag verschafft habt. Wenn es Euch<br />

recht ist, so zeige ich Euch unser Haus und Warenlager, das wir<br />

hier haben. Die meisten Waren sind aber in dem großen Speicher<br />

am Pregel“.<br />

Er führte den Vater in den Laden, der des Sonntags wegen<br />

geschlossen war, wo der Alte sich mit Franz Gordon während der<br />

Besichtigung der Herrlichkeiten unterhielt. Dann ging’s in die<br />

Räume des Hofes und Hintergebäudes und endlich die breite<br />

Treppe hinauf nach den oberen Stockwerken des Hauses. Hier<br />

öffnete Johannes eine Tür und bat den Vater einzutreten.<br />

„Das ist unsere Kammer, wo Franz und ich schlafen. Sonst<br />

haben wir wenig Zeit, uns hier aufzuhalten. Es ist hier eine<br />

151


größere Stube gewesen, aber später durch eine Bretterwand<br />

getrennt. In der Kammer nebenan, zu der der Herr Smit allein den<br />

Schlüssel hat, werden die Waren aufbewahrt, welche keine Kälte<br />

vertragen. Das kommt uns sehr zum Nutzen, denn der Ofen<br />

erwärmt auch zugleich unsere Kammer. Über dem Ofen ist ein<br />

Gitter, dass die Wärme hinein kann“.<br />

„Da ist’s dir ja sehr gut geworden, mein Sohn“, sagte der Alte,<br />

sich niedersetzend. „Viele andere deinesgleichen haben es nicht so<br />

gut, was die leibliche Nahrung und Pflege des Körpers betrifft.<br />

Doch nun setze dich her, mein lieber Sohn, dass ich noch einige<br />

Worte mit dir reden kann. Es ist mir sehr lieb, dass ich noch<br />

Gelegenheit habe, mit dir ungestört zu sprechen, denn <strong>als</strong> du im<br />

Herbst mit Thomas abfuhrst, ging alles so schnell, dass ich in der<br />

Eile gar nicht dazu kam. Wir konnten auch nicht, wie ich es so<br />

sehr gewünscht hätte, vor deinem Austritt aus dem Elternhause<br />

noch gemeinsam mit dir zum Heiligen Abendmahl gehen.<br />

Die Hauptursache meiner jetzigen Fahrt nach Königsberg war<br />

die, mit dir noch zu reden, und ich danke meinem Gott dafür, dass<br />

er es mir gelingen<br />

ließ“.<br />

„Wie gut Ihr seid, mein liebster Vater“, sagte Johannes.<br />

„Du bist <strong>jetzt</strong>, mein lieber jüngster Sohn“, fuhr der Vater fort,<br />

„aus dem Elternhaus in’s Leben eingetreten. Dein Vater und deine<br />

Mutter können dich nicht mehr leiten und führen.<br />

Du kennst ja das<br />

schöne Schriftwort: Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich<br />

gehen, wenn er sich hält an deinem Wort?<br />

en lang Gott vor Augen und hüte dich, dass du<br />

dass dir das Wort Gottes werde eine Leuchte deines Fußes<br />

258 Dies bedenke stets,<br />

mein lieber Sohn. Du hast uns bisher keinen Kummer gemacht.<br />

Nun habe dein Leb<br />

in keine Sünde willigst, noch tust wider Gottes Gebot. 259 Ich habe<br />

Dir hier deine Bibel mitgebracht, die du vergessen hattest, und dir<br />

hier noch einige Sprüche eingeschrieben. Beherzige sie alle,<br />

insbesondere den Spruch Sirach 9 V. 5. Lass aber das heilige Buch<br />

nicht hier unbenutzt auf deiner Kammer liegen, sondern lies fleißig<br />

darin,<br />

und ein Licht auf deinen Wegen sein“. 260<br />

Der Vater übergab die Bibel dem tief gerührten Johannes, der<br />

ihm die Hand küsste.<br />

„Ich weiß nicht, mein lieber Sohn“, fuhr der Vater fort, „ob du in<br />

diesem Leben mein Angesicht noch jem<strong>als</strong> sehen wirst. Für mich<br />

258 Bibelzitat: Psalm 119,9.<br />

259 Bibelzitat: Tobias 4,6.<br />

260 Bibelzitat: Psalm 119,105.<br />

152


sind Reisen nichts mehr und du bist so gebunden, dass du nicht zu<br />

uns kommen kannst. Aber deine liebe Mutter, die um dich sorgt<br />

und die deiner stets in ihren Gebeten gedenkt, wird wohl, so Gott<br />

öchste<br />

ielfach in meinem langen<br />

eben erfahren. Dein Herr hat dir, mein lieber Sohn, wie ich eben<br />

in Euren Warenräumen gesehen habe, viel anvertraut von dem<br />

Seinigen. Bedenke stets, dass ihm durch deine Nachlässigkeit<br />

großer Schaden entstehen kann, den du gar nicht im Stande bist,<br />

zu ersetzen.<br />

„Ach, liebster Vater“, fiel Johannes ein, „mit dem Herrn Smit bin<br />

ich gar wohl zufrieden. Mit dem einen Kaufgesellen, dem Herrn<br />

Ranisch, kommen wir nur zusammen, wenn frische Waren vom<br />

Speicher zu empfangen sind. Aber der Kaufgesell, der Herr Faber<br />

mit seinen schwarzen Augen und Haaren und der<br />

Schnupftabakdose, der plagt den Franz und mich gar sehr. Dabei<br />

kann der Faber nicht einmal ordentlich deutsch und ist sehr<br />

ungehalten, wenn wir ihn nicht gleich verstehen“.<br />

„Nun“, sagte der Vater, „ich habe mich heute bei Tische mit dem<br />

Hn. Faber unterhalten und finde gar nicht, dass er so sehr schlecht<br />

deutsch spricht“.<br />

„Ja, aber er ist doch sehr herrisch und unfreundlich“, unterbrach<br />

ihn Johannes.<br />

„Meinst du denn“, mein Sohn“, fiel dem Vater ein, „dass andere<br />

Leute in allen Verhältnissen nicht mit Menschen leben müssen, die<br />

ihnen oft unbe freundlichkeit,<br />

mürrisch rd das<br />

erhältnis nicht besser gemacht. Einer trage des Anderen Last 261 will, zu dir kommen, wenn Thomas nach Königsberg fährt. Nun, du<br />

weißt ja, mein lieber Sohn: Des Kaufmanns Tugend ist die h<br />

Redlichkeit. Wenn er stets zuverlässig und gewissenhaft ist, so<br />

findet er auch Vertrauen bei den Menschen, und wenn nie ein<br />

Schilling unlauteren Gewinnes in seine Hand kommt und er mit<br />

Fleiß und Pünktlichkeit das Seinige verwaltet, so bleibt der Segen<br />

Gottes auch nicht aus. Das habe ich v<br />

L<br />

quem sind? Mit Grollen und Un<br />

em Gebaren und widerwilligem Gehorsam wi<br />

V<br />

–<br />

heißt<br />

es in der Schrift. Vergiss auch nicht, dass der Herr Faber der<br />

Kaufgesell<br />

und du der Kaufbursche bist. Er hat auch seine Last zu<br />

tragen.<br />

Ich will dir sagen, mein Sohn, durch das schroffe und finstere<br />

Wesen<br />

hast du dich gegen den Herrn Faber einnehmen lassen.<br />

Weißt<br />

du aber auch, wie es ihm ergangen ist? Du weißt es nicht –<br />

261<br />

Bibelzitat: Gal. 6,2.<br />

153


ich habe es auch erst gestern von meinem alten Freund Krahl<br />

gehört.<br />

Der Herr Charles Favre, ich hier nennt Faber, war<br />

r einigen Jahren ein geachteter Kaufmann in…, ja den Namen<br />

einem Haus<br />

en lassen, wenn Favre<br />

lich gelingt, unter vieler Gefahr<br />

mit fand, der ihn erst auf Probe<br />

der<br />

nug quält. Versprich mir das, mein Sohn. Besonders<br />

müsst Ihr nicht lachen, wenn sein Deutsch etwas schief<br />

herauskommt. Ihr könnt dadurch viel Ärger vermeiden und dem<br />

braven Mann dazu helfen, seine Stelle zu behalten. Ich hoffe, mein<br />

Sohn, du wirst meinen Worten folgen und auch Franz dazu<br />

262<br />

oder wie er s<br />

vo<br />

habe ich vergessen, ich glaube es war Meaux, eine französische<br />

Stadt. Noch von seinem Vater her standen auf s<br />

Klostergelder. Das Kapital wird ihm gekündigt, kein katholischer<br />

Kaufmann will ihm das Geld borgen. Er bittet und fleht, da erhält<br />

er den Bescheid, man wolle das Geld steh<br />

katholisch wird. Das kann er nicht. Da wird alles das Seinige<br />

beschlagnahmt und er selbst eingesperrt. Mit Hilfe guter Freunde<br />

gelingt es ihm zu entfliehen. Er muss sich in den Gebirgen<br />

verbergen, bis es ihm end<br />

Frankreich zu verlassen. Er kam nach Lübeck, lernte dort mit<br />

vieler Mühe deutsch und musste sich elend behelfen. Von dort<br />

kam Faber nach Königsberg. Er lief hier lange herum, bis er<br />

endlich ein Unterkommen bei S<br />

nahm. Faber muss doch ein tüchtiger Geschäftsmann sein, weil<br />

dein Herr ihn behielt“.<br />

„Ja, fleißig ist er“, sagte Johannes. „Früh ist er der erste im<br />

Geschäft, nimmt die Handlungsbücher noch des Abends mit und<br />

arbeitet“.<br />

„Also nimm du“, sagte der Vater, „vor dem Mann den Hut ab,<br />

der, um seinem Glauben treu zu bleiben, alles das Seinige verlor,<br />

die Dragonaden 263 und alles Ungemach erduldete.<br />

Mache <strong>als</strong>o dem braven Mann, der schwer genug an seinem<br />

Geschick zu tragen hat, keinen Ärger durch deine Widerhaarigkeit.<br />

Franz und du, ihr könnt ihm viel helfen, besonders bei<br />

Warenkunde, die ihm im Deutschen noch nicht so geläufig ist, mit<br />

der er sich ge<br />

bewegen“.<br />

262<br />

Randbemerkung im Manuskript: Mündliche Mitteilung und Archiv - Rat Faber in<br />

Königsberg 1848.<br />

Karl Faber: 1773 in Königsberg geboren und 1853 verstorben, wurde 1808 Geheimer Archivar<br />

in Königsberg und 1848 pensioniert. Als Archivsekretär ist seit 1823 auch der „junge Faber“<br />

nachzuweisen.<br />

263<br />

Als Dragonaden bezeichnete man die Strafmaßnahmen des Königs Ludwig XIV. von<br />

Frankreich gegen die protestantischen Kamisarden (Hugenotten) in Südfrankreich.<br />

154


„Ich verspreche Euch, mein lieber Vater, von ganzem Herzen,<br />

Euren Worten zu folgen und alles wohl zu beherzigen, was Ihr mir<br />

gesagt habt“, sagte Johannes, des Vaters Hand küssend.<br />

„Du wirst es tun, ich glaube dir, mein lieber Sohn“, sagte der<br />

Vater. „Jetzt kannst du mich noch auf einem Gang zu dem<br />

Akademischen Probst Heidenreich begleiten, mit dem ich lange<br />

Zeit in Geschäftsverbindung stand, wie schon mit seinem<br />

Vorgänger Jacob Wurm“.<br />

„Erlaubt, liebster Vater“, sagte<br />

Johannes, „dass ich in den Laden<br />

laufe und dem Franz alle Schlüssel von den Warenräumen, in<br />

denen wir waren, übergebe. Die müssen immer nach der Größe<br />

am Schlüsselbrett hängen bei Tag und bei Nacht, dass man sie<br />

auch im Finstern, wenn etwa Feuer entstehen sollte, finden kann.<br />

Ich bin gleich wieder hier“.<br />

„Eine nachahmenswerte Einrichtung“, sagte der Vater, während<br />

Johannes nach den Schlüsseln griff. „Aber bleibe nur unten, ich<br />

hole dich ab“.<br />

Johannes stürmte die Treppe hinab. Sein Vater aber schloss die<br />

Tür der Kammer und trat in den Hausflur. Da kam ihm aus der<br />

daneben liegenden Kammer der Kaufmann Smit freundlich<br />

entgegen, reichte ihm die Hand und sagte:<br />

„Habe eben Euer Gespräch mit Johannes<br />

gehört, an mir soll’s<br />

nicht liegen, dass er ein braver Mensch wird. Die Anlage ist gut,<br />

doch Geld hättet Ihr ihm nicht geben sollen, bei mir bekommt er,<br />

was er braucht“.<br />

„Es waren nur einige<br />

Schillinge“, sagte der alte Wilm, „welche<br />

die<br />

Mutter für ihn gespart hatte. Ich bin sonst auch ganz Eurer<br />

Meinung, dass in der großen Stadt für einen Kaufburschen das<br />

Geld nicht taugt. Er weiß es nicht, wie schwer es zu erwerben ist,<br />

doch wenn ihr meint Herr, nehme ich es dem Johannes wieder<br />

ab“.<br />

„Ist nicht notwendig“, sagte Smit, „aber schickt ihm kein Geld<br />

weiter. Ich werde ihn <strong>jetzt</strong> noch mehr <strong>als</strong> früher beobachten, da<br />

ich weiß, welch einen braven Vater er hat. Ihr könnt Euch<br />

darauf<br />

verlassen, dass ich nach Kräften Eure Stelle an Eurem Sohne<br />

vertreten werde. Doch nehmt noch einen Schluck Wein zu Eurem<br />

Gange“.<br />

Mit diesen Worten nötigte er seinen Gast in die Kammer, die<br />

ganz mit Waren vollgestopft war, dass nur ein schmaler Gang<br />

nach dem Fenster blieb, an dem ein Tisch stand. Hier lagen neben<br />

der aufgeschlagenen Bibel mehrere große Handlungsbücher.<br />

155


Daneben stand eine Flasche mit Wein, aus der Smit die Gläser<br />

füllte.<br />

Johannes trappte schon in dem unteren großen Hausflur umher,<br />

<strong>als</strong> der Vater die Treppe hinabkam. Franz stand in der Tür.<br />

„Ich wollte eben hinaufkommen“, sagte Johannes. Sein Vater<br />

reichte Franz die Hand. Er sagte, er sehe seinem verstorbenen<br />

Großvater sehr ähnlich und bat ihn, seinen Lehrherrn Faber von<br />

ihm zu grüßen. Mit Johannes solle er treue Freundschaft halten.<br />

Dann ging er mit ihm aus der Haustür.<br />

Die (alte) Albertus-Universität zu Königsberg<br />

[Walther Hubatsch, Preußen in Bildern, Holzner, Würzburg 1966]<br />

156


19. Besuch bei einem alten Aalkunden der Andersons in<br />

Königsberg<br />

Vater und Sohn hatten nicht sehr weit zu gehen, um den großen<br />

Domplatz zu erreichen. Unterwegs fragte Johannes:<br />

„Was ist das denn für ein Probst, den Ihr besuchen wollt, lieber<br />

Vater? Ich habe nie von einem solchen Handlungshaus hier gehört<br />

und meine doch, sie sämtlich zu kennen“.<br />

Der Vater lächelte und sagte: „Glaubst du denn, mein Sohn,<br />

dass man nur mit Handlungshäusern Geschäfte machen kann? Du<br />

hast doch oft genug zu Hause die Fässer mit den Aalen gesehen,<br />

die nach Königsberg gingen“.<br />

„Ja, das habe ich oft gesehen“, antwortete Johannes, „aber ich<br />

dachte, die bekämen die armen Studenten hier zu essen. Bruder<br />

Wilhelm nannte die Aale, die nach Königsberg geschickt wurden,<br />

scherzweise Studentenfutter“.<br />

„Nun, der Akademische Probst ist ja eben der Ökonom, welcher<br />

die Studenten zu füttern hat. Es sind <strong>jetzt</strong> schon fast 150 Jahre<br />

her, wie mir der alte Akademische Probst Jacob Wurm erzählte,<br />

<strong>als</strong><br />

der Herzog Albrecht noch vor Errichtung der Universität, an<br />

seinem Partikular<br />

es Bier und<br />

iefert“.<br />

264 schon einen Probst anstellte, welcher den<br />

Scholaren 265 kochen und sie speisen möge. Nach wenigen Jahren,<br />

<strong>als</strong> die Universität gegründet war, wurde der Probst von dieser<br />

übernommen. Er sollte für gutes Brot, gesund<br />

genügende reinliche Speisen sorgen. Ein Speisezettel ist ihm<br />

vorgeschrieben, den er immer einzuhalten hat. Die Aale, welche er<br />

vorsetzen muss, habe ich seit vielen Jahren immer gel<br />

Inzwischen war man an eine Mauer mit 2 großen Toren<br />

gekommen.<br />

„Hier bin ich oft vorbeigegangen“, sagte Johannes, „ich dachte<br />

aber, dahinter läge ein Kirchhof, da ich die großen Linden hinter<br />

der Mauer sah“.<br />

264<br />

Der preußische Herzog gründete 1542 in Königsberg auf dem Kneiphof ein Partikular,<br />

eine höhere Schule, welche auf das Universitätsstudium vorbereiten sollte. Bei der Gründung<br />

der Universität im Jahre 1544 wurden der Leiter des Partikulars, Georg Sabinus <strong>als</strong> Rektor und<br />

der größere Teil der Schüler des Partikulars <strong>als</strong> Studenten übernommen. Das Partikular, <strong>jetzt</strong><br />

<strong>als</strong> Pädagogium bezeichnet, existierte aber noch bis 1617 <strong>als</strong> Vorbereitungsanstalt für das<br />

Universitätsstudium. Auch in anderen nord- und ostdeutschen Städten, so z.B. in Hamburg,<br />

Lübeck, Danzig und Thorn wurden im 16. Jahrhundert Partikulare bzw. akademische<br />

Gymnasien gegründet. Aber nur in Königsberg<br />

gelang die Weiterentwicklung zur Universität.<br />

265<br />

Scholar (von lateinisch scola = Schule) nannte man fahrende Schüler und Studenten,<br />

akademisch gebildete Kleriker ohne Amt und feste Stellung.<br />

157


„Dies Tor links“, sagte der Vater, „mit dem Steinbild des<br />

segnenden Erlösers führt in den Bischofshof. Wir gehen durch das<br />

andere Tor, über dem sich das Bildnis des Herzogs Albrecht, des<br />

Stifters der Universität, in Stein gehauen, befindet“.<br />

Damit öffnete er das Pförtchen in der Mauer, rechts von dem<br />

großen hölzernen Torweg.<br />

„Es gehört zu dem Amt des Probstes“, sagte er dabei, „alle Tage<br />

um 9 Uhr abends das Pförtchen zu verschließen“. Sie gingen nun<br />

über einen mit einer Reihe von Linden besetzten Platz zwischen<br />

einem Bretterzaun und der Domkirche. Am Ende des Zauns<br />

erschien links ein zweistöckiges Gebäude, die neue Kommunität,<br />

wie der Vater sagte, wo etliche Studenten sich<br />

aufhalten und<br />

gespeist werden, über dessen Tür eine Steintafel mit lateinischer<br />

Inschrift und zu beiden Seiten die Steinbilder des Herzog<br />

Albrecht<br />

olgte dem Vater, der an diesem Gebäude um die Ecke<br />

ächtigen regelmäßig aufgeschichteten Holzhaufen<br />

266 und seines Sohnes Albert Friedrich 267 eingemauert<br />

waren, wie der Vater erläuterte.<br />

„Halte dich nicht damit auf, die Inschrift zu lesen und zu<br />

übersetzen, du kannst ein anderes Mal hergehen, wenn du Zeit<br />

hast“, <strong>als</strong> Johannes hingehen wollte.<br />

Dieser f<br />

links bog, nach einem eingebauten Gebäude sich wendete,<br />

welches hinter m<br />

fast versteckt lag.<br />

Eine scheltende Stimme hörten die Nähertretenden, <strong>als</strong> sie<br />

herankamen, und vernahmen dazwischen eine weinende weibliche<br />

Stimme. Als Vater und Sohn durch die offene Haustür traten,<br />

sahen sie einen wohlbeleibten Mann in Hemdsärmeln vor einer<br />

weinenden Magd stehen, welche von ihm heftig gescholten wurde.<br />

„Nun, alter Freund“,<br />

sagte der alte Wilm, ihm die Hand auf die<br />

Schulter legend, „habt Ihr schon wieder Ärger gehabt?“<br />

Probst Heidenreich wendete sich um:<br />

„Ihr seid’s, alter Freund“, sagte er, ihm die Hand reichend.<br />

„Habt Euch lange nicht bei mir sehen lassen. Es ist aber auch<br />

wirklich dazu angetan, dass man sich zu Schanden ärgern muss.<br />

Hat da das dumme Mensch hier heute ein neues, reines, frisch<br />

gewaschenes Tischlaken mit einem Ende in die Fleischsuppe<br />

getaucht. Das sieht<br />

aber das blinde Mensch nicht und deckt es<br />

ruhig<br />

auf den ersten Tisch. Die niederträchtigen Famuli<br />

266 1490 - 1568<br />

267 1553 - 1618<br />

158


communes 268 , die zur Aufwartung kommen, haben’s gewiss<br />

gesehen, sagen mir aber nichts. Beim Essen sagt auch keiner von<br />

den Alumnis halben<br />

angelt, der<br />

mit guter und bescheidener<br />

twort begegnen. Was versuchen zu ändern und bessern, damit<br />

. Wer ist<br />

denn der junge Mensch, der bei Euch ist?“<br />

„Hätt’ ihn Euch längst vorgest llt“, sagte der alte Wilm. „Bei<br />

Euch kann man abe s ist mein jüngster<br />

Sohn J<br />

„Doch nun tretet ein mit Eurem Sohn“, sagte Heidenreich. „Ja,<br />

ja, es ist ein schweres Amt das meinige. Es nährt wohl seinen<br />

Mann, aber Verdruss und Ärger g lle Tage. Nicht einmal einen<br />

ord r<br />

nten und t ja eben<br />

269 ein Wort darüber. Da kommt vor ’ner<br />

Stunde der Oberinspektor Alumnorum, der Magister Hedio her,<br />

lässt mich in der neuen Kommunität 270 antreten und schimpft mich<br />

runter: Warum ich heute, am Sonntag kein frisches, ganzes und<br />

neugewaschenes, Tischlaken auf den Tisch gedeckt hätte. Ich<br />

verantworte mich: Ein besseres würde der Herr Magister auch<br />

nicht heute auf seinem Tisch gehabt haben. Ich hätte um 10 die<br />

Tischlaken, die ganz rein gewaschen und blank gem<br />

Magd selbst herausgegeben. Da holt er aus der Tasche ein Papier<br />

heraus und liest mir § 10 vor. Da es käme, dass der Herr<br />

Inspektor den Probst von Amtswegen sprechen will, soll der ihm,<br />

wie auch sein Weib und Gesinde,<br />

An<br />

der Probst nicht Anlass gebe, ein schärferes wider ihn<br />

vorzunehmen? Da hatt’ ich’s, ließ gleich alle Tischlaken bringen,<br />

um sie dem Magister zu zeigen. Richtig! Da finde ich eine Ecke<br />

ganz steif von dem Talg. Ich musste noch schöne Worte geben.<br />

Das hat aber ganz allein das Mensch hier verschuldet!<br />

Die Magd hatte sich, <strong>als</strong> ihr Brotherr sich umwendete, so schnell<br />

<strong>als</strong> möglich aus dem Staub gemacht. Heidenreich besann sich:<br />

„Aber ich lasse Euch im Hausflur stehen, alter Freund<br />

e<br />

r nicht zu Wort kommen. E<br />

ohannes“.<br />

ibt’s a<br />

entlichen Sonntag wie andere Menschen habe ich. Muss imme<br />

hi<br />

vorn sein und kann nicht ausgehen. Ihr hab<br />

gesehen<br />

und gehört, dass man sich aufs Gesinde nicht im<br />

Geringsten verlassen kann.<br />

Alle drei waren inzwischen in das niedrige Zimmer rechts zu<br />

ebener Erde eingetreten, dessen Fußboden mit ziemlich<br />

ausgetretenen Ziegeln ausgelegt war. Eine korpulente Frau saß<br />

268<br />

Gemeindediener<br />

269<br />

Studenten, die einen Freitisch erhielten.<br />

270<br />

Eine Kommunität (von lat. communitas, Gemeinschaft, Gemeinwesen) ist eine häufig<br />

religiös ausgerichtete Lebensgemeinschaft<br />

von Menschen.<br />

159


mit dem Gesangbuch an einem der kleinen Fenster mit trüben, in<br />

Blei gefassten Scheiben.<br />

Nach der Begrüßung setzten sich Vater und Sohn an den Tisch.<br />

Die dicke Frau legte das Gesangbuch fort und kam auch heran.<br />

Der Probst Heidenreich aber nahm einige Zinnkrüge vom Regal<br />

und entfernte sich.<br />

„Diese Stube kenne ich schon 40 Jahre und einige mehr“,<br />

begann der alte Wilm, während der Sohn die Schildereien an den<br />

Wänden musterte. „Ich glaube, sie sieht fast ebenso aus wie<br />

dam<strong>als</strong>“.<br />

„Ja, ja“, meinte die Frau. „Die Inventarstücke mussten wir alle<br />

übernehmen, und wenn etwas zu erneuern und zu bessern nötig<br />

ist, dann heißt<br />

es bei uns immer: Willst was haben, dann lass es<br />

dir machen. Es ist gar nicht möglich, aus der Kasse dazu Geld zu<br />

erlangen. So haben wir uns doch den alten Ofen für unser Geld<br />

müssen umsetzen lassen. Wenigstens gibt’s Holz genug“.<br />

Der Probst erschien mit 3 Zinnkrügen voll schäumendem Bier,<br />

setzte vor jeden Gast einen derselben nieder und trank ihnen zu.<br />

„Ein vortreffliches klares wohlschmeckendes Bier“, sagte der<br />

Alte, nachdem er getrunken hatte. „Für mich ein wenig zu stark.<br />

Ihr versteht Euch darauf, wie ich von früher weiß“.<br />

„Na“, sagte Heidenreich lachend. „Wenn ich für die viele Plage<br />

mir nicht einmal ein gutes Hausbier sollte brauen können, dann<br />

wäre es nur schade, dass ich die Brauerei betreibe“.<br />

Er trank seinen Krug bis auf den Boden aus und füllte ihn frisch<br />

aus der Kanne, die seine<br />

Frau inzwischen hineingebracht hatte.<br />

„Der Zweck meines Herkommens ist Euch zu danken, dass Ihr<br />

so viele Jahre mit mir in Geschäftsverbindung<br />

geblieben seid“,<br />

sagte der alte Wilm.<br />

„Was?“ rief Heidenreich. „Wollt ihr mir denn keine<br />

Aale mehr<br />

liefern? Es ist doch nichts vorgekommen und Geld habt Ihr ja auch<br />

immer erhalten, wenn auch manchmal etwas später, <strong>als</strong> es fällig<br />

war“.<br />

„Ich kann Euch die Aale<br />

nicht mehr liefern, Herr“, sagte Wilm,<br />

„weil ich den Aalfang in <strong>Angerburg</strong> nicht mehr habe. Den<br />

hat mein<br />

Nachbar Rohr erhalten. Nun wollte ich Euch ersuchen, ihm die<br />

Lieferung zu überlassen, wenn er Euch darum angeht, und er nicht<br />

mit dem Preise raufgeht“.<br />

„Weshalb habt Ihr aber, Herr“, unterbrach ihn Heidenreich, „den<br />

Aalfang abgegeben?“<br />

„Darüber ließe sich viel reden. Genug, ich habe ihn nicht mehr.<br />

Meinem Nachbar aber bitte ich Euch, nicht weniger zu geben <strong>als</strong><br />

160


mir bisher. Ich habe Euch die Aale schon zum allerbilligsten Preis<br />

gelassen und immer zur rechten Zeit frei Haus geschickt. Drückt<br />

<strong>als</strong>o meinen Nachbar nicht. Seht, er weiß es wohl noch nicht, wie<br />

viel Mühe und Kosten es verursacht, den Fisch bei Nacht zu<br />

fangen. Wie man sich absorgen muss, wenn der Fang<br />

nicht<br />

reichlich genug ausgefallen ist und man herumschicken muss, um<br />

zu jedem Preis die Aale aufzukaufen,<br />

damit die Lieferung zur Zeit<br />

hier ist. Genug, drückt meinen Nachbar nicht“.<br />

„Ich weiß wohl nicht“, sagte Heidenreich,<br />

„weshalb Ihr, Herr,<br />

den Aalfang nicht behalten habt, denn <strong>Angerburg</strong> hat den besten<br />

Aalfang im Land. <strong>als</strong> einen<br />

Euch den<br />

ast über den Tisch die Hand. Dieser schlug<br />

kt ja gar nicht“, sagte die Frau Heidenreich.<br />

e Gänge<br />

, sagte Heidenreich,<br />

icht<br />

em Sohn<br />

271 Da ich Euch aber seit vielen Jahren<br />

redlichen Mann kenne, so will ich Euch glauben und<br />

Willen tun, auf ein Jahr Eurem Nachbarn, wenn er mich darum<br />

angeht, den bisherigen Preis zahlen, vorausgesetzt, dass die<br />

Lieferungen immer so gut sind, wie die, welche ich von Euch<br />

erhielt“.<br />

Er reichte seinem G<br />

ein und sagte:<br />

„Ich danke Euch herzlich, mein alter Freund, dass Ihr mir das<br />

versprochen habt“.<br />

„Aber Ihr trin<br />

„Scheint Euch nicht zu schmecken. Trinkt doch aus, dass ich Euch<br />

frisch eingießen kann“.<br />

„Ich danke schon sehr“, sagte der alte Wilm, nachdem er den<br />

Rest ausgetrunken hatte. Sich erhebend: „Habe noch einig<br />

zu machen“.<br />

„Aber auf einem Bein kann niemand stehen“<br />

„ich bin schon beim dritten Krüglein“.<br />

Johannes trank aus und stand auf. Sein Vater ließ sich n<br />

halten, nahm wortreichen Abschied und ging mit sein<br />

denselben Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück. Der<br />

Probst aber legte sich nieder, um seinen vorherigen Ärger, den<br />

das gute Hausbier noch nicht ganz weggespült hatte, zu<br />

verschlafen.<br />

Auf dem Platz des Albertinums 272 sagte Johannes zu seinem<br />

Vater:<br />

„Ich begreife Euch nicht, liebster Vater. Der Rohr hat…“<br />

271<br />

Randnotiz im Manuskript: Henneberger.<br />

272<br />

Platz vor der Albertusuniversität.<br />

161


„Du hast doch, mein Sohn“, fiel der Vater ihm in’s Wort, „in der<br />

Erklärung des siebenten Gebots gelernt: Wir sollen unserem<br />

Nächsten sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten.<br />

Wenn ich alter Mann, der aus langer Erfahrung genau weiß, wie<br />

viel an der Lieferung im besten und schlimmsten Fall zu verdienen<br />

ist, so ist es meine Pflicht, meinen Nächsten, der das noch nicht<br />

so<br />

kennen kann, vor Schaden und Nachteil zu behüten“.<br />

Johannes ließ nach der Zurechtweisung den Kopf hängen und<br />

begleitete den Vater zu seinem alten Freund, dem Schotten Krahl,<br />

wo er am Ofen sitzend dem Gespräch der beiden alten<br />

Geschäftsleute mit Interesse folgte.<br />

Dann nach dem Abendessen und der Abendandacht geleitete er<br />

um 8 seinen Vater sorgsam in sein Quartier. Hier nahm er von ihm<br />

gerührt Abschied und mit dem Glockenschlag Neun trat er in das<br />

Haus seines Herrn ein. Franz nahm eine Lampe. Beide gingen,<br />

nach allen Schlössern und Türen nachsehen und begaben sich in<br />

ihre Kammer. Dort nahm Johannes noch die Bibel hervor, die der<br />

Vater ihm brachte.<br />

Er schlug nach der Reihe die Sprüche auf, die<br />

der Vater ihm hinten eingeschrieben hatte, und las sie.<br />

Königsberg: Der obere Fischmarkt<br />

(aus dem Buch „Die Provinz Ostpreußen“ von August Ambrassat, 1912)<br />

162


20. Auf der Rückreise von Königsberg nach <strong>Angerburg</strong>:<br />

Beim Schotten Douglas in Schippenbeil<br />

Thomas kam erst um 10 Uhr, denn der Geschäftsfreund<br />

Benkendorff hatte ihn nach großzügiger Bewirtung gegen Abend in<br />

den Junkergarten geführt. Dort hatte er eine ganze Anzahl<br />

der<br />

vornehmsten Bürger, die überwiegend Kaufleute waren,<br />

kennengelernt und diese<br />

freundlich und in guter Aufrichtigkeit<br />

vorgefunden. Es ist ihm schwer gefallen, sich aus der Gesellschaft<br />

zeitig loszumachen, da Alle ihn zum längeren Verweilen<br />

aufforderten.<br />

In den<br />

nächsten Tagen hatte Thomas viel umherzulaufen, zu<br />

kaufen, abzuschließen und Verbindungen anzuknüpfen, so dass er<br />

ganz müde und matt zu seinem Vater in’s Quartier kam, dem er<br />

über alles genauen Bericht erstattete und seinen Rat erbat. Einen<br />

Schlitten, den Jasch fahren sollte, hatte Thomas beladen lassen.<br />

Einen anderen, welcher aber nur bis Schippenbeil fuhr,<br />

der mit<br />

Getreide nach Königsberg gekommen war, hatte er bis dahin<br />

gemietet und gleichfalls beladen lassen. Diese beiden Schlitten<br />

sollten vorausfahren.<br />

„Ist das auch sicher genug, mein Sohn?“ fragte der Vater<br />

besorgt.<br />

„Ich gebe dem Jasch unseren Cerber mit. Der lässt nichts von<br />

den Schlitten stehlen. Dann bekommt Jasch ein genaues<br />

Verzeichnis der Ballen mit, die der andere Schlitten geladen hat.<br />

Diese sollen bei William Douglas, der mir angeboten hat, stets<br />

meine Kommissionen auszuführen, abgesetzt<br />

werden.<br />

Außerdem habe ich angeordnet, dass der fremde Schlitten<br />

vorausfährt, damit der hinten<br />

fahrende Jasch immer sehen kann,<br />

wenn er etwas verlieren sollte. Am liebsten wäre es mir freilich,<br />

wenn wir zusammen fahren könnten. Ich habe aber noch vielerlei<br />

zu besorgen. Auch ist unser Schlitten noch zu packen und zu<br />

beladen. Der fremde Schlitten kann aber nicht länger warten“.<br />

Als Thomas am Nachmittag ausging, traf er auf der Straße den<br />

alten Schotten Bell.<br />

„Schön, dass ich Euch treffe“, sagte dieser in seinem etwas<br />

harten Deutsch. „Was schafft Ihr hier?“<br />

Thomas berichtete und fragte dann: „Aber Ihr, lieber Bell,<br />

gedenkt Ihr, noch lange in Königsberg zu bleiben?“<br />

„O nein“, erwiderte dieser. „Ich muss morgen in aller Frühe<br />

abfahren, damit ich rechtzeitig zum Jahrmarkt, acht Tage nach<br />

163


Andreä in Lyck ankomme. 273 Die Weihnachtsfeiertage über werde<br />

ich dann dort bleiben“.<br />

„Ihr fahrt doch über Schippenbeil?“ fragte Thomas.<br />

„Gewiss“, antwortete der Alte, „<strong>jetzt</strong> im Winter, da die Alle<br />

gefroren ist, braucht man dort die Allebrücke nicht“.<br />

„Da könntet Ihr mir einen großen Dienst erweisen“, sagte<br />

Thomas, „wenn Ihr mit den beiden Schlitten, welche ich mit Waren<br />

vorausschicke, zusammen fahren wolltet, damit die Leute sich<br />

nicht besaufen und die Waren<br />

gut hinkommen“.<br />

„Natürlich will ich das, von Herzen gern“, sagte Bell.<br />

„Wollt Ihr nicht zu meinem Vater gehen, er ist auch hier, aber<br />

wo seid Ihr eingekehrt?“<br />

„Im Krug zum wilden Mann auf dem Steindamm“, erwiderte Bell.<br />

„Doch wo finde<br />

ich Euren Vater?“<br />

„Der sitzt bei seinem alten Freunde Krahl“, antwortete Thomas.<br />

„Wir wollen zusammen hingehen,<br />

wenn Ihr Zeit habt“.<br />

„Hab’ alles zur morgigen Abreise besorgt“, sagte Bell.<br />

„Lieber Vater“, sagte Thomas, indem er den alten Bell bei Krahl<br />

in das Hinterstübchen führte. „Hier habe ich den besten<br />

Geleitsmann für unsere Schlitten gefunden, den es gibt, unseren<br />

alten Bell. Er fährt morgen früh nach Schippenbeil und will die<br />

Schlitten begleiten“.<br />

Bell begrüßte den alten Wilm und Krahl.<br />

„Setzt Euch nieder, Mann“, sagte letzterer. „Heute Abend<br />

müssen wir Schotten zusammenbleiben“. „Nehmt einen Stuhl,<br />

Herr Thomas“.<br />

“Entschuldigt mich“, sagte Thomas, während Bell sich<br />

niedersetzte. „Ich habe noch einige ganz notwendige Einkäufe zu<br />

machen. Ihr seid wohl so gut, dem alten Bell alles Nötige wegen<br />

morgen zu sagen, lieber Vater. Abends hole ich Euch ab“.<br />

Abends fand Thomas den alten Bell im Stall des Wilden<br />

Mannes, seinen Pferden Futter einschüttend.<br />

„Würdet Ihr, lieber Bell, dieses leichte Paket, das gar nicht groß<br />

ist, nach Lyck mitnehmen?“, fragte er nach der Begrüßung.<br />

„Sehr gern“, antwortete Bell, „wo soll ich’s abliefern?“<br />

„Ich bitte Euch, lieber Bell“, erwiderte Thomas, „das Kistchen in<br />

das Haus des Diakon Schwindovius zu schaffen. Heimlich, wenn es<br />

geht am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages, wenn,<br />

wie Ihr<br />

273 Randnotiz im Manuskript: v.Werner, De oppido Lyck.<br />

Gemeint ist hier Ludwig Reinhold v. Werner, der Verf. Einer Stadtgeschichte von Lyck. Vgl.<br />

auch FN 819<br />

164


wisst, den Kindern etwas hingelegt wird. Es ist nicht viel darin. Ein<br />

Buch für den Diakon, ein Tuch für seine Jungfer Tochter und eine<br />

polnische Pelzmütze mit großer Troddel nebst polnischem Leibgurt<br />

für den Knecht“.<br />

„Ich will es Euch treulich besorgen“, sagte Bell, „doch soll ich die<br />

Jungfer Esther nicht auch von Euch grüßen und viel von Euch<br />

erzählen?“<br />

Thomas hatte sich gebückt, um einen Karton anders zu knüpfen.<br />

Bei der Frage des Alten richtete er sich schnell auf und sah in die<br />

freundlichen grauen Augen des alten Mannes.<br />

„Kennt Ihr denn die Jungfer Esther?“ fragte Thomas.<br />

„Ihr errötet ja wie<br />

eine junge Dirne, Herr Thomas“, sagte Bell<br />

lächelnd. „Nun, ich werde alles nach Eurem Willen besorgen!“<br />

Dienstag früh stand Thomas<br />

auf, fand Jasch schon bei den<br />

Pferden beschäftigt. Er befahl ihm, den beiden Langendorfer<br />

Schlitten zu besteigen. Nach dem<br />

mieteten 2 Schlitten der Langendorfer Bauern. Bell<br />

, nachsah, bis er in der Dunkelheit verschwand. Dann<br />

sehr viel zu besorgen, mein Sohn?“ fragte<br />

wohl ziemlich voll werden“, antwortete<br />

en.<br />

aufrichtend.<br />

274<br />

Bauern anspannen zu helfen, dann selbst anzuspannen und zu<br />

frühstücken. Darauf ging Thomas in den Wilden Mann und fand<br />

den alten Bell im Begriff, seinen<br />

Morgengruß setzten beide sich auf und fuhren auf dem Eis bis zur<br />

Vorstadt, wo sie die drei Schlitten schon zur Abfahrt bereit fanden.<br />

Um 5 ging’s los. Voran fuhr Jasch, dann folgten die mit Waren<br />

beladenen ge<br />

mit seinem Schlitten schloss den Zug, dem Thomas, seinen Cerber<br />

streichelnd<br />

erst ging Thomas zu dem Vater hinein, den er wach im Bett<br />

liegend fand.<br />

„Ich bin recht froh“, sagte Thomas, „dass unsere Waren unter<br />

der Aufsicht des alten Bell unterwegs sind. Auch dass ich den<br />

Cerber habe zurückbehalten können. Der wird hier in Königsberg<br />

nichts stehlen lassen“.<br />

„Hast du denn noch<br />

der Vater.<br />

„Unser Schlitten wird<br />

Thomas, setzte sich an das Licht und strich in seinem Journal die<br />

Posten der noch zu empfangenden Waren an.<br />

„Ich muss mich recht beeilen, dass ich bis zum Abend fertig<br />

werde und unser Schlitten beladen wird“, sagte Thomas“, <strong>als</strong> er<br />

fertig war und aufstand, um hinauszugeh<br />

„Willst du nicht erst frühstücken, lieber Sohn?“ fragte der Vater,<br />

sich im Bett<br />

274 Langendorf, Kr. Bartenstein.<br />

165


„Unterwegs werde ich einen Bissen nehmen“, sagte Thomas.<br />

„Ich kann nicht warten, bis das Frühstück fertig ist“.<br />

Es war schon sehr spät am Abend, <strong>als</strong> endlich Thomas, der<br />

seinen Schlitten beladen und dem Cerber zur Bewachung<br />

übergeben hatte, zu seinem alten Vater kam.<br />

Am Mittwochmorgen, lange vor Tagesanbruch, ging Johannes in<br />

den Ring-Krug, um noch ein Viertelstündchen mit Vater und<br />

Bruder zusammen zu sein. Dann stieg er auch auf den Schlitten<br />

und fuhr mit ihnen bis zur Ecke der Vorstadt, wo der Schlitten an<br />

der Köttelbrücke 275 auf das Eis des Pregels glitt und dann hielt.<br />

Johannes musste Abschied nehmen und küsste gerührt<br />

mehrm<strong>als</strong> des Vaters Hand.<br />

„Gott segne dich, mein lieber Sohn!“ sagte der Vater.<br />

„Der gute Junge sehnt sich doch sehr nach Hause“, sagte<br />

Thomas weiterfahrend.<br />

„Nun, er muss das Heimweh in der Arbeit zu vergessen suchen“,<br />

sagte der Vater. „An Arbeit fehlt es ihm nicht, und ich danke<br />

meinem Gott, dass er in ein so gutes, christliches Haus gekommen<br />

ist“.<br />

Er teilte<br />

nun seinem Sohne noch mit, wozu er im Drange der<br />

Geschäfte nicht gekommen war und wie Smit versprochen habe,<br />

sich des Johannes ganz besonders anzunehmen.<br />

Die Bahn war gut, nur an einigen Stellen etwas holprig. Eine<br />

Meile vor Domnau<br />

r, gereinigt und untersucht hatte.<br />

Als Thomas die Krugstube betrat, fand er den alten Vater<br />

276 hielt Thomas an und stieg ab.<br />

„Der Braune hat ein Eisen verloren“, sagte er, nachdem er den<br />

Huf, der mit Schnee beklebt wa<br />

„Wir müssen schon bei der bergigen Straße langsam fahren, damit<br />

das Pferd nicht stürzt“.<br />

„Mit dem beladenen Schlitten werden wir heute dann wohl nicht<br />

mehr Schippenbeil erreichen“, meinte der Vater.<br />

In Domnau wurde ein Schmied aufgesucht, der dann auch dem<br />

Pferd ein neues Eisen auflegte, sich dabei rühmend, dass er der<br />

geschickteste Schmied der ganzen Gegend sei und alle Edelleut<br />

bei ihm ihre Pferde beschlagen ließen.<br />

fröstelnd am Ofen sitzen.<br />

„Ich denke, lieber Vater“, sagte Thomas, „wir fahren heute nicht<br />

weiter. Schippenbeil erreichen wir in keinem Fall mehr, und in<br />

275<br />

Graben-Brücke über den alten Pregel von der Börsen- zur Köttelstraße.<br />

276<br />

Domnau, Kr. Bartenstein, am Kreuzungspunkt der Straßen Königsberg/Schippenbeil, Pr.<br />

Eylau/Friedland gelegen.<br />

166


einem der schlechten Krüge unterwegs zu nächtigen, möchte für<br />

Euch nicht gut sein. Meiner Meinung nach ist’s am besten, Ihr legt<br />

Euch <strong>jetzt</strong> bald nieder, damit Ihr Euch ordentlich erwärmt und<br />

ausruht, und morgen fahren wir dann recht früh aus“.<br />

„Du hast Recht, mein Sohn“, antwortete der Alte. „Mich hat die<br />

Fahrt doch mehr angegriffen, <strong>als</strong> ich dachte. Ich schäme mich<br />

aber <strong>jetzt</strong> schon zur Ruhe zu gehen. Es ist ja noch nicht einmal 5<br />

Uhr“.<br />

Thomas beeilte sich, für seinen Vater ein gutes Bett zu<br />

bestellen, und brachte ihn zur Ruhe. Der Alte schlief auch bald<br />

sanft ein. Thomas war noch einige Stunden in der Gesellschaft der<br />

guten Bürger Domnaus, die sich zum Abendbrot<br />

zusammengefunden hatten. Er verhielt sich aber, nach seiner<br />

Gewohnheit unter Unbekannten, meistenteils schweigend und<br />

aufmerksam zuhörend.<br />

Am anderen Morgen war der alte Wilm, den die Ruhe gestärkt<br />

und gekräftigt hatte, schon früh munter. Es wurde trotz der<br />

großen Dunkelheit recht früh abgefahren, um Schippenbeil zeitig<br />

zu erreichen. Als der Tag zu grauen begann, hielt Thomas an und<br />

stieg ab.<br />

„Was ist denn mit den Pferden?“ fragte sein Vater. „Ist etwas<br />

am Geschirr entzwei?“<br />

„O, nein“, erwiderte Thomas, den Vorderfuß des einen Pferdes<br />

untersuchend. „Den Braunen hat der Domnauer Schmied<br />

vernagelt. Das Pferd geht auf drei Beinen. Was machen wir nun?“<br />

„Da wird doch wohl nichts helfen“, sagte der Vater, „<strong>als</strong> Schritt<br />

für Schritt weiterzufahren. In den Dörfern, durch die wir kommen,<br />

ist keine Schmiede. Auch darfst du das Eisen nicht abreißen, denn<br />

bei den bergigen glatten Wegen kann das Pferd nicht<br />

unbeschlagen gehen“.<br />

Thomas stieg auf, indem er dem ungeschickten Schmiede in<br />

Domnau nicht eben das beste Lob erteilte. Langsam, sehr langsam<br />

ging’s weiter. Öfters musste angehalten werden, um dem lahmen<br />

Tier Ruhe zu gönnen. Thomas ging meistens mit Cerber neben<br />

dem Schlitten.<br />

„Gott Lob“, sagte Thomas, „da ist die Spitze des Kirchturms von<br />

Schippenbeil zu erblicken. Nun vorwärts, Brauner“.<br />

Es dauerte noch ziemlich lange, bis die Stadt zu den Füßen der<br />

Reisenden lag. Vorsichtig fuhr Thomas das steile Ufer der Alle<br />

hinab auf das Eis des Flusses<br />

und dann, da eine Brücke fehlte, auf<br />

der Alle an die östliche Seite der Stadt. Darauf ging’s wieder steil<br />

das Ufer hinauf, vor dem Einfluss der Guber in die Alle, und zuletzt<br />

167


lenkte er rechts in die Stadt hinein. Diese lag auf einer<br />

langgestreckten, von der Alle umflossenen Halbinsel.<br />

Durch das Mühlentor, in dem sich die Brücke befand, welche<br />

über den Kanal führte, der die nahen Ufer der Alle verband und<br />

die Halbinsel zu einer vollständigen Insel<br />

machte, führte der <strong>jetzt</strong><br />

einzige Eingang zur Stadt. Der Schlitten fuhr durch die<br />

Hauptstraße und hielt endlich auf dem Markt, dessen Mitte von<br />

dem stattlichen Rathaus eingenommen wurde, an dem Eckhaus,<br />

dem Wohnhaus des Schotten William Douglas.<br />

Die Turmuhr des Rathauses schlug drei, <strong>als</strong> Thomas absprang.<br />

Ein stattlicher Mann, der aus dem Fenster den Schlitten hatte<br />

halten sehen, kam aus dem Haus und begrüßte die<br />

Ankommenden.<br />

„So spät kommt Ihr, Herr Oheim?“, fragte Douglas, die Hand in<br />

den Schlitten reichend. „Ich erwartete Euch schon gestern um<br />

diese Zeit, oder wenigstens zur Nacht. Der alte Bell ist heute<br />

schon in aller Frühe samt Eurem Schlitten nach <strong>Angerburg</strong><br />

weitergefahren“.<br />

Mit diesen Worten war er dem alten Wilm beim Herabsteigen<br />

vom Schlitten behilflich.<br />

„Wir wären viel früher gekommen“, sagte Thomas, „wenn der<br />

Domnauer Schmied den Braunen nicht so vernagelt hätte. Könnt<br />

ihr uns nicht, Herr Douglas, hier einen Schmied nennen, der den<br />

Hufbeschlag besser versteht?“<br />

„Der Schmied Schultze auf der Königsberger Vorstadt wird<br />

allgemein <strong>als</strong> der beste in<br />

der Stadt gelobt“, antwortete Douglas.<br />

„Doch kommt herein, mein Gesinde kann Euer Fuhrwerk<br />

versorgen“.<br />

„Verzeiht“, sagte Thomas, „ich sehe<br />

gern selbst nach meinen<br />

Pferden“.<br />

Ein Knecht hatte den Torweg geöffnet, und während Herr<br />

Douglas den alten Vater in’s Haus geleitete, brachte Thomas mit<br />

Hilfe des polnischen Knechts das Fuhrwerk unter und versorgte<br />

seine Pferde. Herr William Douglas führte inzwischen den Alten in<br />

die erleuchtete und wohl erwärmte Wohnstube, wo er ihm den<br />

Pelz und Pelzstiefel ablegen half und ihm den bequemen Lehnstuhl<br />

an den Kamin schob.<br />

„Ihr seid ganz erfroren, Herr Ohm“, sagte Douglas. „Nun wärmt<br />

Euch ordentlich auf“.<br />

„Bin des Reisens nicht mehr so gewöhnt wie früher“, sagte der<br />

alte Anderson, sich behaglich niedersetzend. „Es fällt <strong>jetzt</strong> wirklich<br />

schwer, in Eure Stadt hineinzukommen, da die eine Brücke<br />

168


abgebrochen ist und man das einzige noch gangbare Mühlentor<br />

sich erobern muss wie das einer Burg“.<br />

„Es ist wirklich so“, sagte Douglas, „zum Schaden unserer<br />

Nahrung“.<br />

„Seid Ihr denn mit dem Brückenbau nicht bald fertig?“ fragte<br />

Anderson.<br />

„Ach“, erwiderte Douglas, „wer weiß, wie lange sich die<br />

n. Der Stadtkämmerer Martin Krause hat nämlich aus<br />

„Wer hat aber das Holz dazu gegeben, wer hat die Kosten<br />

getragen, der Landkasten 278 Verhandlungen zum Schaden unserer armen Stadt noch hinziehen<br />

können. Wenn das Kurfürstliche Amt hier zur Stelle wäre, so<br />

würde die Sache wohl eher in Fluss kommen, da ließe sich<br />

mündlich vieles schneller erledigen und das Amt hätte auch schon<br />

seinetwegen mehr Interesse. Nun aber sind wir Schippenbeiler ein<br />

Anhängsel an Rastenburg. Es ist schon bestimmt, dass der Herr<br />

Amthauptmann Otto Wilhem v. Perband fortkommen soll. Doch<br />

weiß man noch nicht genau, welches Hauptamt er bekommen<br />

wird. Der wird die Brückenbauangelegenheit wohl liegen lassen,<br />

und wir haben den Schaden“.<br />

„Sehnt Euch nur nicht danach, den Amthauptmann am Ort<br />

selbst zu haben“, meinte der Alte. „Solch ein Herr ist einer armen<br />

Stadt, die er immer vor Augen hat, öfters recht unbequem. Ich<br />

kann da aus Erfahrung sprechen. Ihr solltet Euch übrigens an die<br />

Oberratsstube<br />

oder die Stadt?“<br />

277 wenden. Der Herr Oberburggraf v. Lehndorff sitzt<br />

darin. Der hat ja selbst ein Interesse daran, dass er bei seinen<br />

häufigen Reisen von Steinort nach Königsberg die Alle bei<br />

Schippenbeil passieren kann. Ohne eine Brücke kann er das ja<br />

nicht“.<br />

„Nun, der Herr Oberburggraf ist ja nicht gezwungen, über<br />

Schippenbeil zu fahren“, sagte Douglas. „Der fährt über Domnau<br />

oder Pr. Eylau. Übrigens ist unser Rat schon bei der Oberratsstube<br />

eingekomme<br />

alten Akten herausgefunden, dass Anno 1567 acht Eisbrecher an<br />

der Allebrücke gefertigt sind“.<br />

277 Kollegialistische Zentralregierung des Herzogtums Preußen mit Sitz im Königsberger<br />

Schloss. Die Oberräte wurden später auch <strong>als</strong> Regimentsräte bezeichnet. Zu ihnen zählten der<br />

Landhofmeister, der Oberburggraf, der Kanzler und der Obermarschall. Besetzt wurden diese<br />

Stellen ausschließlich mit eingesessenen preußischen Adligen.<br />

278 Ständische Hauptkaste (ursprünglich in einem Kasten aufbewahrt) für die von den<br />

Landtagen bewilligten Steuern. Daneben existierten die fürstliche „Rentkammer“ <strong>als</strong> Kasse,<br />

über die nur der Landesherr bzw. beauftragte Beamte Verfügungsgewalt hatten, sowie Kassen<br />

unterer Verwaltungseinheiten, z.B. von Ämtern und Städten.<br />

169


„Ja, das weiß ich nicht“, antwortete Douglas. „Die Stadt wird<br />

wohl jedenfalls die Brücke übernehmen müssen, und es wäre<br />

nötig, dass es so schnell <strong>als</strong> möglich geschehen und der<br />

Brückenbau begonnen werden möchte, sonst geht der Stadt die<br />

Nahrung ganz verloren. Fast alle, die aus dem Hinterland<br />

kommen, fuhren über Barten oder Domnau nach Königsberg. Jetzt<br />

im Winter, da die Alle 279 hält, kommen viele aus alter Gewohnheit<br />

die alte Straße über Schippenbeil. Davon hat aber größtenteils der<br />

Krug vor der Stadt neben der Mühle den Nutzen, weil es dort für<br />

die Reisenden bequem ist einzukehren. Wird aber <strong>jetzt</strong> im Winter<br />

nicht eine Notbrücke über die Alle fertiggemacht, abgebunden und<br />

gleich nach dem Eisgang im Frühjahr aufgestellt, so geht im<br />

Sommer der Stadt alle Nahrung verloren. Ich habe im Rat leider<br />

nichts zu reden.<br />

Hab’s aber dem Stadtkämmerer dringend an’s<br />

Herz gelegt. Der hat’s in der Sitzung auch vorgebracht, vielleicht<br />

aber nicht auf die rechte Art. Der Rat will den Stadtsäckel<br />

schonen, ruiniert aber die Bürgerschaft. Wer weiß, wann die<br />

Eingabe an die Oberratsstube beantwortet wird und wie die<br />

Antwort ausfällt“.<br />

„Ich werde gleich nach meiner Heimkunft meinem Sohn, dem<br />

Pfarrer in Rosengarten, sagen, dass er bei dem Herrn<br />

Oberburggrafen v. Lehndorff ein gutes<br />

Wort für Euch einlegen<br />

möge“, sagte der alte Anderson. „Große Hoffnung habe ich nicht,<br />

dass die Oberräte den Brückenbau auf den Landkasten<br />

übernehmen werden. Diese werden wohl sagen: Wenn die Stadt<br />

Schippenbeil die Alle-Brücke zu ihrer Nahrung braucht, so muss<br />

sie die Brücke auch bauen und unterhalten. Vielleicht können die<br />

Oberräte der Stadt aber das Bauholz aus den Kurfürstlichen<br />

Wildnissen bewilligen, das dann mit geringen Kosten die Alle<br />

hinabgeflößt werden könnte“.<br />

„Die Stadt Heiligenbeil 280 soll, wie ich gehört habe, das Holz, so<br />

zur Unterhaltung derer Brücken nötig ist, erhalten“, sagte<br />

Douglas.<br />

„Das wird wohl in dem Privilegium der Stadt Heiligenbeil<br />

stehen“, meinte Anderson. „Wer hat denn das alte Holz der<br />

abgebrochenen Brücke in Empfang genommen?“<br />

279<br />

Größter Nebenfluss des Pregels. Ihre Quellen liegen im Kr. Neidenburg. Sie mündet bei<br />

Wehlau in den Pregel.<br />

280<br />

Stadt, 45 km südwestl. von Königsberg, 3 km vom Frischen Haff. 1301 unter dem Namen<br />

Heiligenstadt<br />

(1344 in Heiligenbeil umgewandelt) vom Deutschen Ritterorden mit<br />

kulmischem<br />

Recht gegründet.<br />

170


„Das Holz“, antwortete Douglas, „ist, ohne das schlechte von<br />

dem noch brauchbaren zu sondern, aufgeschichtet und ist viel von<br />

demselben von Leuten aus der Stadt und den Langendorfern<br />

gestohlen“.<br />

„Das ist schlimm genug“ meinte Anderson. „Das alte Holz hätte<br />

vielleicht schon zur Herstellung der Notbrücke gereicht, und die<br />

müsst Ihr unter allen Umständen haben“.<br />

„Wenn nur die Brücke nicht 155 Fuß lang und 20 Fuß breit<br />

wäre“, meinte Douglas bedenklich.<br />

„Die Stadt <strong>Angerburg</strong> hat auch Brücken zu bauen und zu<br />

unterhalten“, sagte der alte Anderson. „Eine auf der Darkehmer<br />

Straße über die Angerapp von 127 Fuß Länge, und eine auf der<br />

Königsbergschen Straße von 72 Fuß über die Angerapp. Die<br />

kleinere Brücke von 12 bis 24 Fuß in der Stadt und den<br />

städtischen Grenzen nicht einmal mit gerechnet. Ich weiß, was die<br />

Brücken für Ausgaben erfordern.<br />

Übrigens dürft Ihr, Herr, Euch nicht davor fürchten, dass der<br />

Weg aus dem Hinterland später nicht mehr über Schippenbeil<br />

gehen werde.<br />

Der kürzeste Weg nach Königsberg geht über<br />

Schippenbeil. Die Wege sind überall schlecht und jedermann wählt<br />

den kürzesten Weg. Da könnt Ihr, Herr, schon meiner langen<br />

Erfahrung glauben. Sorgt nur, dass bald die Brücke gebaut wird“.<br />

„Ich will den Mut nicht sinken<br />

lassen“, meinte Douglas, „denn,<br />

so Gott will, wird es mir doch hier nicht so schlecht gehen wie dem<br />

ersten Douglas, der hier nach Preußen kam“.<br />

„Ist denn vor Euch, Herr, schon einer aus Eurem Geschlechte<br />

hier in Preußen gewesen?“ fragte der Alte verwundert. „Ich<br />

glaubte, doch so ziemlich alle Geschlechter aus Schottland zu<br />

kennen, die seit 80 Jahren und länger sich in Preußen<br />

niedergelassen haben“.<br />

„Es sind aber schon fast 400 Jahre her“, sagte Douglas, „dass<br />

Wilhelm Douglas v. Nyddisdale aus Schottland nach Preußen kam<br />

und hier ein so trauriges Ende fand“.<br />

„Woher wisst Ihr das denn, Herr?“ fragte der Alte.<br />

„Archibald Douglas, der Bruder meines Großvaters“, antwortete<br />

Douglas, „besaß eine sehr alte, lateinisch geschriebene Chronik<br />

von Schottland. Es war ein auf Pergament in Mönchsschrift<br />

geschriebener Foliant, welcher der alte Mann sehr wert hielt und<br />

viel darin las. Mir erzählte er, wenn ich ihn bat, von der Familie<br />

Douglas, was er darin gefunden. Von William Douglas v.<br />

171


Nyddisdale 281 erzählte der alte Großoheim sehr oft, denn, da ich<br />

auch William Douglas hieß, interessierte mich dieser am meisten.<br />

Ich hörte mit leuchtenden Augen zu, wenn er von William erzählte.<br />

Von seinem hohen Wuchs, seiner Tapferkeit, Leutseligkeit,<br />

Rechtschaffenheit und Bescheidenheit. Wie er die Engländer durch<br />

seine Tapferkeit so sehr in Furcht gesetzt hätte, dass sie es nicht<br />

mehr wagten, in Schottland einzufallen und das Land zu<br />

verwüsten. William wäre so stark gewesen, dass er jeden, der sich<br />

mit ihm im Schwert-, Lanzen- oder Keulen-Kampf messen wollte,<br />

kampfunfähig<br />

machte oder tötete.<br />

Der alte Großohm erzählte mir besonders gern ein Heldenstück<br />

des William Douglas. Wie dieser mit einigen Begleitern über die<br />

englische Grenze gegangen wäre und die Vorstadt von Karlisle<br />

griffen. Er schlug aber den ersten Angreifer sogleich mit<br />

anderes Mal besiegte er mit 80<br />

ch nach Schottland zu senden, um für<br />

a er<br />

r seine Herrschaft und seine Gemahlin?“<br />

282<br />

angezündet hätte, und allein in die Stadt eindringen wollte. Bei der<br />

Außenmauer oberhalb der Zugbrücke auf einem kaum 2 Fuß<br />

breiten Raum stehend, wurde er von den tapfersten Fechtern der<br />

Stadt ange<br />

der Keule nieder, und die beiden nächsten packend, schleuderte er<br />

von der Mauer hinab. Dann eilte er unverletzt zu den Seinigen, die<br />

mit den Städtern fochten, und brachte diese durch seinen hitzigen<br />

Angriff zum Weichen. Ein<br />

Bewaffneten 300 Engländer, da er nie auf die Menge der Feinde<br />

sah im freien Felde, und brachte von ihnen 50 Gefangene nach<br />

Schottland. Wegen seiner Heldentaten, seines ritterlichen Mutes<br />

und seiner Tapferkeit gab ihm der König Robert von Schottland<br />

seine Tochter Egidia zum Weibe und verlieh ihm und seinen Erben<br />

die Herrschaft Nyddisdale. Die Königstochter ist so schön<br />

gewesen, dass der Ruf ihres Liebreizes den König von Frankreich<br />

bewog, einen Maler heimli<br />

ihn das Bild der königlichen Jungfrau zu fertigen, d<br />

beabsichtigte, dieselbe zur Ehe zu nehmen. Doch bevor der Maler<br />

nach Schottland gelangte, war William Douglas schon mit ihr<br />

vermählt!“<br />

„Wie kam er dann aber nach Preußen?“ fragte der Alte.<br />

„Weshalb verließ e<br />

281<br />

Nithsdale, Tal des Flusses Nith im Südwesten Schottland, strategische Einfallsroute von<br />

England in die Mitte Schottlands.<br />

282<br />

Carlisle, Stadt in der Grafschaft Cumbria im äußersten Nordwesten Englands, 16 km südl.<br />

von der Grenze zu Schottland.<br />

172


„Nach der Schlacht bei Otterburn 283 im Jahre 1388“, erzählte<br />

Douglas weiter, „war zwischen den Grenzrittern Schottlands und<br />

Englands eine Art von Waffenruhe eingetreten. Da nun bald<br />

nachher der Deutsche Orden durch ausgesendete Herolde die<br />

fremde Ritterschaft zu einem Ehrentisch und zu einer Preußenfahrt<br />

einlud, so vereinigten sich die langjährigen Feinde, um mit ihrem<br />

tapferen Arm dem Deutschen Orden gegen die heidnischen Litauer<br />

zu Hilfe zu kommen. Schotten und Engländer brachten eine Flotte<br />

von 240 Schiffen zusammen, deren Führung dem William Douglas<br />

übertragen wurde“.<br />

„Nun, das ist doch eine große Auszeichnung“, sagte der alte<br />

Anderson, „die dem William Douglas widerfuhr, wenn sogar seine<br />

bisherigen Feinde ihm bei dieser Kriegsreise gehorsam<br />

sein<br />

mussten“.<br />

„William Douglas führte die Flotte nach Preußen und landete<br />

hier“, fuhr Douglas fort. „Er wurde aber, <strong>als</strong> er unbewaffnet mit<br />

zwei Begleitern in die Kirche gehen wollte, am Ausgang einer<br />

Brücke von gedungenen Meuchelmördern überfallen und samt<br />

einem der Gefährten erstochen“.<br />

„Weiß man denn nicht“, rief der Alte aufspringend, „wer der<br />

infame Mensch gewesen ist, der einen solchen Helden auf so<br />

niederträchtige Art umbringen ließ?“<br />

283<br />

Im Werk “Scriptores Rerum Prussicarum, die Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit,<br />

bis zum Untergange der Ordensherrschaft“ (1863) von Dr. Theodor Hirsch, Dr. Max Töppen<br />

und Dr. Ernst Strehlke, wird die Geschichte über William Douglas ebenso wie hier von E.<br />

Anderson geschildert. Hier findet man den Hinweis, dass<br />

das Ereignis in preußischen Quellen<br />

(Wigand und Polsige) nur oberflächlich erwähnt und im Detail aus schottischen Quellen<br />

stammend (dort <strong>als</strong> Beilage aufgeführt), zum Teil nur einen sagenhaften Charakter trägt.<br />

Der Kampf von Otterburn fand im August 1388 <strong>als</strong> Teil des kontinuierlichen Grenzkriegs<br />

zwischen England und Schottland statt. Es war ein Sieg für die Schotten, angeführt von James<br />

Douglas, 2. Earl of Douglas und Earl of Mar. James war der ältere Sohn des William Douglas,<br />

1. Earl of Douglas, und dessen erster Ehefrau Margaret Countess of Mar. Er folgte seinem<br />

Vater <strong>als</strong> Earl of Douglas im Jahr 1384. Seit 1371 war er verheiratet mit Isabella Stewart,<br />

Tochter des Königs Robert II. (Robert Steward, geb. 2. März 1316 in Paisley, Renfrewshire;<br />

gest. 19. April 1390 in Dundonald Castle, Ayrshire; von 1371 bis 1390 schottischer König).<br />

James fiel in der Schlacht von Otterburn am 14. August 1388 und ist begraben in Melrose,<br />

Roxburgshire. Da er nur zwei uneheliche Söhne hinterließ (William, 1. Lord of Drumlanrig<br />

und Archibald der Stammvater der Familie Douglas of Cavers), folgte ihm der Cousin seines<br />

Vaters Archibald <strong>als</strong> 3. Earl of Douglas. Der in Preußen ermordete William Douglas (geb. vor<br />

1372) war der Sohn von Archibald Douglas, dem 3. Earl of Douglas und Joan Moray. Er<br />

heiratete Egidia Stewart, Tochter des Königs Robert II. und Eupheme de Ross, Countess of<br />

Moray, ca. 1387. Er wurde ca. 1392<br />

ermordet.<br />

173


„O ja“, antwortete Douglas, „das war der Engländer Clifford.<br />

Dieser hatte in früherer Zeit den William Douglas zum Zweikampf<br />

gefordert und einen Tag bestimmt, bis zu dem er sich stellen<br />

sollte. Douglas hatte nicht solche gute Waffen <strong>als</strong> Clifford und<br />

reiste nach Frankreich, um sich bessere Waffen, die denen des<br />

Clifford etwa gleich waren, zu beschaffen. Clifford verbreitete nun<br />

das verleumderische Gerücht, William Douglas sei entflohen, weil<br />

er sich vor ihm gefürchtet habe. Er durfte aber nicht lange<br />

triumphieren, denn Douglas stellte sich zur bestimmten Zeit. Nun<br />

entfloh der Clifford feige vor ihm. Die Freunde Cliffords hatten die<br />

Meuchelmörder gedungen. Die blutige Tat erzeugte zwischen den<br />

Schotten,<br />

Engländern und Franzosen, die sich dam<strong>als</strong> in Preußen<br />

befanden, die heftigste Erbitterung. Jean Beaucout, der Sohn des<br />

Marschalls von Frankreich, warf den Engländern laut und öffentlich<br />

die schlechte Tat vor und forderte jeden, der sie für etwas anderes<br />

halte, zum Zweikampf.<br />

Die Ritter aus England wollten aber nur<br />

den Schotten Rede und Antwort stehen“.<br />

„Hinterließ der William Douglas Söhne?“<br />

fragte der alte<br />

Anderson.<br />

„Es war ihm nicht vergönnt, einen neuen Zweig der Familie zu<br />

stiften“, sagte Douglas, „denn er hatte nur eine einzige Tochter,<br />

welche später an Heinrich v. Sancta Clara, den Bannerherrn des<br />

Königs vermählt wurde“.<br />

lich gehen“,<br />

werde, wie es in der benachbarten Stadt Bartenstein<br />

284<br />

„Nun, Ihr habt doch, Herr, hier in Preußen ein besseres Glück<br />

gehabt wie jener Euer Verwandter aus alter Zeit“, sagte der Alte.<br />

„Mit der Nahrung möchte es ja auch hier so ziem<br />

meinte Douglas. „Wenn der Rat unserer Stadt nur besser wäre“.<br />

„Nun, ich sollte doch meinen, dass der Rat in Schippenbeil dem<br />

Besten der Bürgerschaft nicht entgegen sein wird. Was habt Ihr<br />

denn gegen den Rat?“ fragte der Alte.<br />

„Es ist doch kein unbilliges Verlangen der ehrbaren<br />

Bürgerschaft, dass wenigstens alle zwei Jahre Kür und Wahl<br />

gehalten<br />

geschieht. Bei Euch in <strong>Angerburg</strong> ist’s doch ebenso?“<br />

„In unserem <strong>Angerburg</strong>er Stadt Privilegio von 1571 285 ist<br />

festgesetzt, dass ein Rat und Gericht bestellet sein soll und<br />

284 Nach anderen Quellen (s. Ahnenreihe „The Peerage“ von Darryl Lundy) hatte William<br />

Douglas mit Egidia Stewart neben der Tochter Egidia auch noch einen Sohn William (geb. ca.<br />

1388), der den Titel „Lord of Nithsdale“ erhielt.<br />

285 Unterzeichnet von Albertus Fridericus am 4. April 1571. Der vollständige Wortlaut ist<br />

abgedruckt in „400 Jahre <strong>Angerburg</strong> 1571-1971, Leistung und Schicksal einer Stadt“ S. 14 –<br />

20, Kreisgemeinschaft <strong>Angerburg</strong> 1971.<br />

174


derhalben eine ordentliche Wahl und Kür, wie man’s nennt,<br />

jährlich auf Reminiscere im Beisein u. Gegenwart des<br />

Amtshauptmanns gehalten werden soll. Das kostete aber soviel<br />

Geld, dass der Rat davon Abstand genommen und nicht mehr<br />

jährlich die Kür hält, womit die Bürgerschaft auch recht zufrieden<br />

ist. Was habt Ihr denn sonst für Klagen? “<br />

„Dass Bürgermeister und Rat ohne Wissen eines ehrbaren<br />

Gerichts und der Gemeinde nichts von den Stadtgütern, Intraden<br />

usw. verschenken, verkaufen oder verpfänden sollen“, sagte<br />

Douglas.<br />

„Wenn so etwas vorgekommen sein sollte, ist es<br />

unverantwortlich von Eurem Rat“, meinte der alte Anderson.<br />

„Dann kann doch auch die Bürgerschaft verlangen, dass die<br />

Bauern auf Langendorf und die Arbeitsleute bei der Stadt nicht<br />

allein vom Herrn Bürgermeister, sondern auch von jedem Bürger<br />

in der Stadt Bier zu kaufen und zu nehmen Freiheit haben<br />

mögen“.<br />

„Sie werden wohl die Freiheit schon haben“, meinte der alte<br />

Anderson, „sind aber dem Bürgermeister wahrscheinlich wegen<br />

rückständigen Zinses oder anderer Sachen verpflichtet. Da werdet<br />

Ihr wohl nicht viel ändern“.<br />

„Darum eben“, sagte Douglas, „müsste auch der Bürgermeister<br />

die Zinsen von Langendorf, wie auch andere Gefälle nicht sofort,<br />

wenn sie einkommen, an sich nehmen, sondern in den Kasten<br />

legen. Ebenso müssten auch die von Langendorf fälligen<br />

Zinshühner, deren alle 2 Jahre zwei von der Hufe gegeben<br />

werden, wie von alters her, der Stadt zum Behuf, wenn eine<br />

Ausrichtung geschieht, angewendet und nicht dem Bürgermeister<br />

gereicht werden“.<br />

„Wird sich vielleicht durchführen lassen“, meinte der Alte.<br />

„Die 25 Scheffel sogenannten Waldhafer“, fuhr Douglas eifrig<br />

fort, „welche die Langendorfer Bauern wegen ihrer Viehweide im<br />

Stadtwald Gilgenau geben müssen, müsste doch nicht der<br />

Bürgermeister, sondern die Stadt<br />

erhalten, wie es früher immer<br />

geschehen ist“.<br />

„Gewiss, wenn sie dem Bürgermeister nicht für seine Anstellung<br />

überwiesen worden sind“.<br />

„Wo der in den Stadtwäldern und auf Langendorf gebrochene<br />

Honig<br />

bleibt, weiß auch niemand“, sagte Douglas.<br />

„Da müsste wohl ordentliche<br />

Aufsicht bei dem Honigbrechen<br />

gehalten werden, wenn der Honig verkauft und das Geld, nach<br />

175


Abzug einer Ergötzlichkeit für den Aufseher, in den Kasten gelegt<br />

wird“.<br />

„Mit dem Holz weiß man auch nie, was verbraucht wird“, sagte<br />

Douglas. „Die Herren lassen immer brav schlagen und von den<br />

Langendorfer Scharwerksbauern anfahren. Es wäre doch genug,<br />

wenn der Bürgermeister 7, der Stadtschreiber 6, der Richter 5,<br />

jeder Ratsherr 4 Achtel 286 Holz bekämen. Auch die Gastereien 287<br />

t“, meinte der alte Anderson, „wenn Ihr<br />

ur, Herr, das alles genau dem Rat beweisen könnt. Der<br />

Amthauptmann würde dann schon dafür sorgen, dass den<br />

Beschwerden der Bürgerschaft abgeholfen werde“.<br />

„Es wäre auch wirklich an der Zeit“, meinte Douglas. „Sonst<br />

muss noch die Bürgerschaft verarmen. Die ganze Stadt hat ja nur<br />

94 Häuser (60 ganze, 32 halbe und 2 Viertelhäuser) und hat viel<br />

in den Schwedenkriegen liefern müssen, besonders Anno 1656, <strong>als</strong><br />

der König Karl Gustav 288 und Schmausereien, die der Stadt viel kosten, könnten entweder<br />

ganz abgeschafft, oder doch, da es eine alte Gewohnheit ist, sehr<br />

beschränkt werden. So müssten durch Rat und Gericht zusammen,<br />

so wie bei der Rezeptur des Zinses von Langendorf und schließlich<br />

bei der Einnahme des Geldzinses insgesamt, nicht mehr <strong>als</strong> 36 bis<br />

40 Mark aus der Stadtkasse ausgegeben werden“.<br />

„Das ist alles ganz gu<br />

n<br />

hier sein Hauptquartier hatte. Davon<br />

konnte die Bürgerschaft sich noch immer nicht recht erholen“.<br />

„Nun, Ihr sagtet mir doch selbst, Herr“, meinte der alte<br />

Anderson, „dass es mit der Nahrung so ziemlich ginge“.<br />

„Es ist wohl so“, erwiderte Douglas. „Es möchte mir noch besser<br />

gehen, wenn ich polnisch verstünde“.<br />

„Aber Eure Frau spricht ja, wie ich weiß, ganz gut polnisch. Wo<br />

ist sie denn? Ich habe sie ja noch nicht gesehen“.<br />

„Maria bringt noch den kleinen Johannes zu Bett“ antwortete<br />

Douglas. „Das überlässt sie keiner von den Mägden. Sie ist eine<br />

sehr zärtliche Mutter und verwöhnt mir eigentlich den<br />

Erstgeborenen zu sehr. Nun, das wird sich ja wohl legen, wenn er<br />

noch einen Nachfolger bekommt“.<br />

Die Tür öffnete sich und Frau Maria Douglas kam her ein, eilte<br />

auf<br />

den alten Anderson zu, reichte ihm beide Hände und rief:<br />

„Schön willkommen, Herr Oheim, ich war Euretwegen schon in<br />

Sorgen, da Ihr uns so lange auf Eure Ankunft warten ließet. Nun<br />

286<br />

Ein Achtel Holz = 11,13 m³.<br />

287<br />

Ein Gastmahl, eine feierliche Mahlzeit, zu welcher man Gäste einlädt.<br />

288<br />

Karl X. Gustav, Schwedenkönig von 1654 - 1660<br />

176


aber, was seid Ihr alt geworden, seitdem ich Euch zuletzt gesehen<br />

habe“.<br />

„Ja, ja, man wird alt“, sagte Anderson. „Dazu habe ich, nach<br />

einer steten Gesundheit über die ich mich mein Lebtag erfreuen<br />

konnte, in diesem Sommer ein mühseliges, schweres und langes<br />

Krankenlager durchmachen müssen. Ein alter Körper erholt sich<br />

schwer und langsam. Aber Sie sieht<br />

recht blühend und munter<br />

aus, Mariechen. Sie hat sich ordentlich in die Breite gelegt. Was<br />

macht denn<br />

Ihr kleines Söhnlein?“<br />

„Ist ein prächtiger Junge geworden“, antwortete die glückliche<br />

Mutter mit leuchtenden<br />

Augen. „So klug und verständig für sein<br />

Alter“.<br />

Frau Maria erzählte nun ausführlich von den Künsten und dem<br />

Verstand<br />

des kleinen Johannes, während der Alte und ihr Mann<br />

lächelnd<br />

zuhörten. Plötzlich unterbrach sie sich und rief<br />

aufspringend:<br />

„Ich muss machen, dass ich in die Küche komme, sonst<br />

bekommen wir sobald kein Abendessen“.<br />

„Es ist<br />

eine rechte Freude“, sagte der alte Anderson, „solch eine<br />

glückliche<br />

Mutter zu sehen. Gott erhalte Euch, lieber Freund, dies<br />

brave Weib,<br />

das ich seit ihrer Kindheit kenne, und Euer liebliches<br />

Kind“ .<br />

„Der Herr hat durch meine Maria mein Haus sichtbar gesegnet“,<br />

sagte Douglas.<br />

„Ohne sie hätte ich mich schwerlich so in Preußen<br />

einleben können,<br />

das mir eine zweite Heimat geworden“. Er<br />

erzählte nun von der Vortrefflichkeit seiner Hausfrau.<br />

„Einen schönen guten Abend gebe Euch Gott“, hörte der alte<br />

Anderson eine tiefe Stimme sagen. Er wendete sich um und<br />

sah<br />

einen Mann<br />

von etwa 30 Jahren mit Hut und Mantel eintreten.<br />

Douglas wendete sich ebenfalls, stand auf, reichte dem<br />

Eintretenden<br />

die Hand und sagte: „Schön, dass Ihr kommt, Herr<br />

Oheim, mein Freund und getreuer Nachbar, Herr Kantor Kaspar<br />

Heling“.<br />

Die Herren<br />

begrüßten sich und Heling setzte sich zu ihnen.<br />

„Freue mich, Euch in Person kennen zu lernen“, sagte der alte<br />

Wilm Anderson.<br />

„Hab’ schon Mancherlei von Euch durch meinen<br />

Schwiegersohn,<br />

den Diakon Nebe in <strong>Angerburg</strong> gehört, mit dem<br />

Ihr <strong>als</strong> Student in<br />

Königsberg zusammen gewohnt habt“.<br />

„Was macht denn mein ehrlicher Jacob?“, fragte Heling. „Hab’<br />

gar nicht<br />

gewusst, dass er verheiratet ist. Hab’ ihn seit Anno 1685<br />

nicht mehr gesehen, <strong>als</strong> er von der Ordination aus Königsberg hier<br />

durchkam und mich aufsuchte. Wie geht es ihm denn?“<br />

177


„Es g<br />

studiert<br />

„Er is<br />

sagte H o er immer ein Fuder 289 eht ihm ja so weit ganz gut“, antwortete der Alte. „Er<br />

noch immer seine alten Bücher, woran er seine größte<br />

Freude hat“.<br />

t <strong>als</strong>o immer noch derselbe wie Anno 1676 in Königsberg“,<br />

eling, „w<br />

zusammengeborgter alter<br />

Bücher auf unserer Stube hatte und…“<br />

„Wo nur der Herr Thomas bleibt?“ unterbrach ihn Douglas.<br />

„Ich<br />

muss doch sehen, ob ich ihm nicht draußen helfen kann“. Damit<br />

stand er auf und ging hinaus.<br />

„Ich besinne mich“, sagte der alte Anderson, „dass Nebe nach<br />

seiner Heimkunft viel von Euch, Herr Kantor,<br />

erzählte. Wie Ihr<br />

Anno 1678 mit zwei jungen Edelleuten von Königsberg Reisen<br />

nach Holstein, Dänemark, Norwegen, Lüttich, Holland, Brabant<br />

und Flanderen gemacht hättet. Wie Ihr dann den Seeräubern in<br />

die Hände gefallen wäret. Wie kamt Ihr denn von denen los?“<br />

„Den verfluchten Menschen musste ich zur Auslösung alle<br />

meine Habe opfern“, erwiderte Heling. „Ich habe mich deshalb<br />

später auf den Universitäten, besonders in Erfurt, sehr schlecht<br />

behelfen müssen. Es war mein Glück, dass der Rat mich Anno<br />

1681, <strong>als</strong> ich heimkehrte und der alte Kantor Großmann<br />

abgedankt hatte, hier in Schippenbeil zu der offenen Stelle<br />

vocirte<br />

. Das von den Schülern zu<br />

ich vier Stunden<br />

ein gewesen. Wie hat’s Euch denn da gefallen? Mein<br />

290 , obgleich der Pfarrer Mag. Zeidler mich anfangs nicht<br />

annehmen wollte, da ich in Königsberg nur die Juristerei studierte<br />

und in Leipzig die Theologen nur kurze Zeit hörte. Ich bekam 60<br />

Mark Gehalt und 30 Mark Kostgeld<br />

entrichtende Lehrgeld und andere zufällige Einnahmen hatte ich<br />

mit dem Herrn Rektor Hensel zu teilen. Zudem hatte ich, solange<br />

ich unverheiratet blieb, abwechselnd bei den vermögenden<br />

Bürgern einen freien Tisch“.<br />

„Euer Dienst ist wohl aber recht schwer?“ fragte der Alte.<br />

„Nun, meine Arbeit ist“, erwiderte Heling, „tägl<br />

zu informieren, an Sonntagen, Festtagen und in den<br />

Wochenandachten zu singen, auch einen Sonntag um den anderen<br />

figuraliter 291 zu musizieren“.<br />

„Sagt doch einmal, Herr Kantor“, fragte der alte Anderson, „Ihr<br />

seid ja in Holst<br />

289<br />

Ein Fuder entsprach etwa 1 m³.<br />

290<br />

vociren = berufen / ernennen<br />

291<br />

Wohl von dem mittelalterlichen Ausdruck choraliter für einstimmigen Gesang im<br />

Gottesdienst im Gegensatz zu figuraliter<br />

für das mehrstimmige Singen abgeleitet.<br />

178


verstorbener Vater, der daselbst gewohnt, rühmet das Land gar<br />

sehr“.<br />

„Ich habe mich dort nur kurze Zeit aufgehalten“, antwortete<br />

Heling, „kenne <strong>als</strong>o das Land eben nicht genauer. Es ist ein<br />

schönes fruchtbares Land. Ich glaubte aber, ihr wäret ebenso wie<br />

Douglas, aus Schottland eingewandert und mit ihm verwandt. Er<br />

nennt Euch ja auch immer seinen Oheim“.<br />

„Unsere Verwandtschaft ist weitläufig“ sagte der alte Anderson.<br />

„Des Herrn William Douglas Schwiegervater, der verstorbene<br />

Nieszbeth, war ein Blutsfreund meiner ersten Frau. Aus Schottland<br />

stammen meine Voreltern, ebenso wie William Douglas, der in<br />

Dondie im Nordosten Schottlands geboren ist. Doch wohnten sie<br />

292<br />

im Südwesten<br />

des Königreichs zu Dorohil in der Niedern<br />

Grafschaft Glasgow 293 .<br />

Kartenausschnitt Sitz des Anderson-Clans nördl. von Glasgow<br />

292<br />

Einen Ort namens Dorohil konnten wir nicht ausmachen, wohl aber eine Gegend namens<br />

Downhil bei Dollar, nordöstl. von Glasgow. Der Kartenausschnitt zeigt den ehem. Sitz des<br />

Anderson-Clans am River Carron, südwestl. von Banockburn und nordöstl. von Glasgow.<br />

293<br />

Glasgow, Schottlands größte Stadt, drittgrößte im Vereinigten Königreich, im Südwesten<br />

m Fluss Clyde, an der Westküste Schottlands. Geographische Breite [55 o des Landes a<br />

] ähnlich<br />

der von Königsberg.<br />

179


Übrigens ist die Douglassche Familie in Schottland von jeher<br />

vornehmer und reicher gewesen <strong>als</strong> die meinige, die in<br />

bescheidenen Verhältnissen lebte. Das ist schon aus einem alten<br />

schottischen Volkslied zu ersehen“.<br />

„Was ist das für ein Volkslied?“ fragte Heling. „Ich sammle seit<br />

Jahren die Volkslieder, wo ich sie finde. Möchtet Ihr mir, Herr, das<br />

Liedlein nicht in die Feder sagen?“<br />

„Sehr gern“, sagte der alte Anderson. „Es hat eben nicht großen<br />

Wert“.<br />

Heling hatte schon sein Journal hervorgezogen und der Alte<br />

diktierte:<br />

I. John Anderson mein<br />

Jo John, <strong>als</strong> wir uns einst gesehn,<br />

War deine Locke dunkelblond, die Stirne blond und schön;<br />

Bist nun so kahl geworden, John, die Locke ist wie Schnee,<br />

Den Segen<br />

auf dein greises Haupt, John Anderson, mein<br />

Jo!<br />

II. John Anderson, mein Jo John, du lagst mir stets im Sinn,<br />

Ich putzte dich fein säuberlich zu Markt und Kirche hin;<br />

Sagt einer, du wärst untreu John, so glaub ich nicht daran,<br />

Denn noch bist du mir immer gut, John Anderson mein Jo!<br />

III. John Anderson mein<br />

Jo John, sind Enkel unsre Lust,<br />

So bin ich immer glücklich noch an deiner treuen Brust,<br />

Und du bist es an meiner, John, ich weiß, du sagst nicht<br />

nein.<br />

Wenn auch die Jugendzeit verschwand, John Andersonmein<br />

Jo!<br />

IV. John Anderson mein Jo John, das Silber war genau,<br />

Doch sahn wir auch die Armut nicht so lang, wir Mann und<br />

Frau;<br />

Wir hatten Brod und Kleidung John, ein großes Erdenglück!<br />

Denn Eintracht sichert es im Haus, John Anderson mein Jo!<br />

V. John Anderson mein<br />

Jo John, es liebt die Welt uns Beid’,<br />

Wir sprachen gut von Nachbarn, John, und taten Keinem<br />

Leid;<br />

In Fried’ und Ruh zu leben war, du weißt ja, unser Ziel,<br />

Gewiss, man weint uns Tränen nach, John Anderson mein<br />

Jo!<br />

VI. John Anderson mein Jo John, manch Jahr hat uns gesehn,<br />

Und bald kommt<br />

auch das Jahr, mein John, wo wir zur<br />

Ruhe gehn;<br />

180


Doch lass uns nicht erzittern, John, da unsre Herzen rein,<br />

Und wir rechtschaffen wandelten, John Anderson mein Jo!<br />

VII. John Anderson mein Jo John, der Hügel ist erstrebt,<br />

Doch mancher frohe Tag, mein John, ward auch von uns<br />

erlebt;<br />

Nun wanken wir hinab, John, und gehen Hand in Hand,<br />

Um unten Beide auszuruhn, John Anderson mein Jo!<br />

. Die<br />

Anderson, „so kann mein<br />

Licht der<br />

2. Oktober in Domnau geboren. Ich wurde<br />

ine Familie ist seit Urzeiten in<br />

d ein Vorfahr von mir, Nicolaus Heling, ist schon<br />

469 hier Bürgermeister gewesen“.<br />

Dan an derselben Schule<br />

angeste fragte der alte Anderson.<br />

„Ich g, „unter dem Rektor<br />

Kaspar lange besucht, da meine Eltern<br />

mich n enichtsche Schule 294 „Das Liedlein werde ich meiner Sammlung einverleiben“, sagte<br />

Heling. „Ich dank Euch, Herr, sehr für Eure gütige Mitteilung<br />

Melodie ist wohl schon verloren gegangen?“<br />

„Wenn Ihr wollt, Herr Kantor“, sagte<br />

Sohn Thomas sie Euch vorsingen. Der wird es gern tun, wenn er<br />

mit Douglas hereinkommt. Aber Ihr, Herr Kantor, seid Ihr ein<br />

geborener Schippenbeiler?“<br />

„Ein geborener Schippenbeiler bin ich nun eigentlich nicht“,<br />

antwortete Heling. „Mir ist es gegangen wie dem Doktor Martin<br />

Luther, der auch nicht am Wohnort seiner Eltern das<br />

Welt erblickte. Mein verstorbener Vater, der Stadtkämmerer aus<br />

Schippenbeil, war mit der Mutter Ende September 1656 verreist,<br />

und ich wurde am 1<br />

aber <strong>als</strong> Schippenbeiler Stadtkind in das hiesige Taufregister<br />

eingeschrieben, denn me<br />

Schippenbeil un<br />

1<br />

„ n seid Ihr, Herr Kantor, <strong>jetzt</strong> <strong>als</strong>o<br />

llt, die Ihr selbst besucht habt?“,<br />

habe die hiesige Schule“, sagte Helin<br />

Friedr. Hoppius nicht sehr<br />

ach Königsberg auf die Löb<br />

brachten,<br />

von der ich Anno 1676 auf die Universität<br />

kam“.<br />

„Aber seid Ihr, Herr Kantor, nicht mit dem alten Hutmacher<br />

Urban Heling verwandt gewesen, der viele Jahre in <strong>Angerburg</strong><br />

wohnte und vor ungefähr 20 Jahren kinderlos starb?“<br />

„Ich glaube nicht“, sagte Heling, „denn ich habe nie etwas von<br />

ihm gehört“.<br />

Douglas kam mit Thomas hinein, der dem Herrn Kantor<br />

gebührend vorgestellt wurde.<br />

294<br />

Bereits 1441 <strong>als</strong> Löbenichtsche Stadtpfarrschule gegründet, seit 1525 Lateinschule, später<br />

Oberre<strong>als</strong>chule bzw. Realgymnasium.<br />

181


„Nun, wie ist’s mit dem Pferd, mein<br />

Sohn?“ fragte der alte<br />

Anderson, nachdem sich alle niedergelassen<br />

hatten.<br />

„Der Schmied in Domnau hat ein Meisterstück<br />

im Vernageln<br />

gemacht“, antwortete Thomas. „Nicht<br />

einmal fressen wollte das<br />

arme Tier. Der Fuß ist ganz heiß und sehr geschwollen. Ich<br />

brachte es mit dem Jannek, dem polnischen Knecht des Herrn<br />

la a auch noch lange<br />

warten, Eisen ab, und das Blut kam<br />

aus den ar nicht zu denken. Der<br />

Braune über in kaltem Wasser halten.<br />

Vielleic st recht<br />

ärgerlic dwerker in die Hände zu<br />

„Dad Besuch auch länger, <strong>als</strong> es<br />

sonst g . „Aber, was meint Ihr, Herr<br />

Oheim, n Leinsaat befassen, oder<br />

nicht? I ieser Gegend, soll ich<br />

kaufen?<br />

ewohnheit, anderen in<br />

Geschä wortete der Alte. „Da Ihr,<br />

Herr, m meine Meinung sagen. Ihr<br />

kauft hi er Scheffel, der fast noch einmal<br />

so gro erger Scheffel 295 Doug s, zum Schmied und wir mussten d<br />

bis er herankam. Er riss das<br />

Nagellöchern. An’s Beschlagen w<br />

muss den Fuß die Nacht<br />

ht geht’s morgen früh, meinte der Schmied. Es i<br />

h, einem so ungeschickten Han<br />

fallen“.<br />

urch habe ich aber Euren lieben<br />

ewesen wäre“, sagte Douglas<br />

soll ich mich mit dem Aufkauf vo<br />

hr wohnt ja schon so viele Jahre in d<br />

“<br />

„Es ist sonst nicht meine G<br />

ftssachen Rat zu geben“, ant<br />

ich aber fragt, so will ich Euch<br />

er den Lycker und Oletzko<br />

ß ist <strong>als</strong> der kupferne Königsb<br />

, für<br />

denselben Preis, den Ihr in Königsberg<br />

für den Königsberger<br />

Scheffel erhaltet. Für das bedeutende Übermaß, sollte ich meinen,<br />

könntet Ihr den Transport nach Königsberg<br />

besorgen und würdet<br />

doch einen bedeutenden Reingewinn haben“.<br />

„Ich fürchte nur“, sagte Douglas bedenklich,<br />

„dass viel Leinsaat<br />

zu Wasser den Memelstrom hinabkommen<br />

wird, denn Litauen soll<br />

ja sehr viel liefern“.<br />

„Das lasst Euch nur nicht anfechten“,<br />

sagte Thomas. „Ich habe<br />

Gelegen heit gehabt, selbst zu sehen und von anderen<br />

glaubwürdigen Leuten zu hören, dass in diesem Jahr wohl nicht<br />

viel Leinsaat aus Litauen kommen wird, weil der Lein dort schlecht<br />

geraten ist. Ihr dürft ja auch vorläufig<br />

nur soviel Leinsaat<br />

aufkaufen, <strong>als</strong> Ihr eben in Euren Räumen beherbergen könnt. Bis<br />

die Schifffahrt im künftigen Jahr beginnt, könnt Ihr viele Last nach<br />

Königsberg schaffen“.<br />

„Ja, der Raum, der Raum“, sagte Douglas, „damit<br />

ist’s bei uns<br />

hier in Schippenbeil knapp bestellt“.<br />

295 Die Scheffel-Maße wiesen regionale und auch produktabhängige Unterschiede auf.<br />

182


„Wir <strong>Angerburg</strong>er haben davon auch<br />

nicht zu viel“ sagte<br />

Thomas. „Wir müssen auch zwischen<br />

Himmel und Erde bauen.<br />

Man mu ss sich aber einrichten, wie es eben geht“.<br />

Der Kantor Heling war schon ungeduldig<br />

geworden, dass er mit<br />

seinem Büchlein nicht an Thomas herankam.<br />

Als Douglas sich nun<br />

an den alten Wilm Anderson wendete, um bei diesem sich noch<br />

genauer wegen der Leinsaat zu erkundigen,<br />

kam Heling gleich mit<br />

seinem Anliegen, wegen der Melodie<br />

des alten schottischen<br />

Volksliedes. Thomas musste lächeln über den Eifer des Kantors,<br />

fand sich aber gleich bereit, ihm zu willfahren<br />

und sang mit heller<br />

Stimme die erste Strophe, während<br />

Heling eifrig die Noten<br />

niederschrieb. Bei der dritten Strophe<br />

sang er schon mit und<br />

verbesserte einige Noten.<br />

„Die Weise kommt mir sehr bekannt<br />

vor“, sagte Douglas, das<br />

Gespräch abbrechend. „Ich muss sie in meiner Kindheit oft haben<br />

singen hören“.<br />

Erst leise, dann immer lauter sang er mit. Der alte Wilm<br />

Anderson setzte mit kräftigem Basse<br />

ein, und bei der letzten<br />

Strophe sangen die 4 Männer mit voller Stimme.<br />

„Nun , das geht ja hier ganz lustig zu“,<br />

sagte Frau Maria, <strong>als</strong> sie<br />

geendet hatten. „Ich stehe hier schon eine<br />

ganze Zeit, das ist wohl<br />

ein ganz<br />

neues Lied?“<br />

„O nein, mein Herz“, sagte Douglas.<br />

„Das ist ein sehr altes Lied,<br />

ich habe es in frühester Kindheit<br />

singen gehört. Hätte nicht<br />

geglaubt, es hier in Preußen zu hören“.<br />

„Die Herren vergessen aber über dem Gesang gar Essen<br />

und<br />

Trinken“.<br />

Damit bat die junge Frau die Anwesenden<br />

in das Hinterzimmer<br />

zur Abendmahlzeit. Man setzte sich<br />

zu Tische. Nachdem die Tafel<br />

aber aufgehoben war, empfahl sich Kantor<br />

Heling sehr bald.<br />

„Weshalb geht aber der Kantor seit einigen Tagen immer<br />

sogleich nach dem Abendessen fort?“ fragte Douglas seine Frau,<br />

die den Tisch abräumte.<br />

„Nun, merkst du es denn nicht, weshalb er so eilt?“ fragte<br />

lächelnd Frau Maria. „Er hat ja in diesem Herbst das Bürgerrecht<br />

hier erhalten und geht <strong>jetzt</strong> auf Freiersfüßen bei der Jungfrau<br />

Sybilla Krausin, des Stadtkämmerers Martin Krause ältester. Ich<br />

denke, er wird nicht mehr lange bei uns und den anderen<br />

Großbürgern den freien Tisch haben wollen, sondern auf eigenem<br />

Herd kochen lassen“.<br />

„Ihr Frauen wisst’s doch immer gleich, wenn eine Freierei im<br />

Werke ist“, sagte Douglas. „Nun, hoffentlich wird der Kantor bei<br />

183


der Jungfrau Sybilla heute Abend unsere Gesellschaft nicht<br />

vermissen“.<br />

„Der Kantor Heling hat mir recht wohlgefallen“, sagte der alte<br />

Anderson.<br />

„Er ist auch ein kenntnisreicher Mann“, sagte Douglas. „Dabei ist<br />

er gar nicht stolz auf sein Wissen, und aufgeblasen, wie manch<br />

anderer Gelehrter. Auf seinen Reisen hat er mannigfache<br />

Erfahrungen gesammelt. Er ist auch ein tüchtiger Lehrer. Er hat<br />

mehrere geistliche und einige weltliche Lieder gedichtet, die ihm<br />

wohlgeraten sind, und hat dazu auch die Melodien gesetzt“.<br />

„Schade, dass ich den Herrn Kantor nicht bat, uns sein<br />

Liederbuch zu zeigen“,<br />

sagte Thomas.<br />

„Nun, eines von seinen Liedern kann ich Euch zeigen“, sagte<br />

Douglas. „Er hat’s mir anvertraut. Es ist so eine Art von<br />

Spottgedicht auf die Schippenbeiler, welche wie Ihr wisst, den<br />

Beinamen Erbsenschmecker will der Kantor<br />

neugierig“, sagte Thomas. Douglas brachte einen<br />

nserem<br />

296 haben. Darum<br />

nicht, dass er <strong>als</strong> Verfasser des Liedes bekannt werde, weil die<br />

Schippenbeiler ihn sonst übel dafür ansehen würden“.<br />

„Ihr macht uns<br />

großen Bogen Papier, auf dem zierlich die Noten und das Gedicht<br />

geschrieben waren.<br />

„Seht“, sagte Douglas, „die Melodie ist auch von u<br />

gesangskundigen Kantor“.<br />

Thomas las:<br />

I. Haber, Bohnen, Gersten, Gricken,<br />

Hirsen, Linsen, Lein und Spelt,<br />

Weizen, Roggen, Hanf und Wicken,<br />

alles das, womit das Feld<br />

unser armes Leben nährt,<br />

hält man aller Ehren wert.<br />

296<br />

Von den Schippenbeiler Erbsenschmeckern [Ostpreußisches Sagenbuch, 1917, S.94/95]:<br />

„Die Schippenbeiler werden die Erbsenschmecker genannt. Das kommt daher: Einst kam ein<br />

Bauer aus Polkitten mit einer ganzen Wagenladung jener köstlichen Frucht, welche für den<br />

echten Ostpreußen der Inbegriff des Wohlschmeckenden ist, nämlich graue Erbsen, nach<br />

Schippenbeil herein. Da er aber aus irgendeinem Grunde mit den Kaufleuten nicht<br />

handelseinig wurde, so rief er seine Ware in den Straßen aus. Da die Schippenbeiler<br />

Hausfrauen die Vorliebe der Ostpreußen für graue Erbsen teilten, so liefen sie alle oder<br />

sandten ihre Mägde und verlangten Proben von dem Bauern, und das geschah so oft und<br />

vielfach, dass mit einem Mal die ganze Wagenladung<br />

aufgeschmeckt war, und der Bauer<br />

schimpfend und jammernd mit leerem Wagen nach Hause fahren musste“.<br />

184


II. Aber Erbsen sind die Gaben,<br />

die von Jugend auf bereit’t,<br />

schon bei uns den Vorzug haben,<br />

Erbsen ist ein Unterscheid!<br />

hiffer, was der Bauer?<br />

ippenbeil.<br />

ecken kann,<br />

wird allda kein Bürgersmann.<br />

V. Man erzählet, dass vor Jahren<br />

soll ein B<br />

sein mit Erbsen eingefahren.<br />

Als er nun gehalten hat,<br />

und kein Kaufmann ihn bespricht,<br />

I. 298 Erbsen, Speck und Wurst ist nicht<br />

ein unangenehm Gericht.<br />

III. Was speist wohl der Rahnenhauer<br />

Holla, fing er an zu bitten,<br />

ers nich verlaawe;<br />

halwe Mark.<br />

297<br />

bei der Arbeit in dem Wald,<br />

was der Sc<br />

Erbsen ist sein Unterhalt.<br />

Und wer ist wohl so ein Geck,<br />

der nicht Erbsen isst mit Speck.<br />

IV. Schuster, Schneider, Kürschner, Bäcker,<br />

jung und alt sind meisten Teil<br />

alle lauter Erbsenschmecker<br />

in dem Städtchen Sch<br />

Wer nicht Erbsen schm<br />

auer nach der Stadt<br />

schweigt er seiner Ware nicht.<br />

V<br />

Kinga, kaamt doch opp de Gaß!<br />

Hia senn Arfte von Polkitten 299 ,<br />

geel <strong>als</strong> een gewunge Waß.<br />

Se senn unter Maate feet,<br />

wie gekaakte Farkelfeet!<br />

VII. Eik well juh de grode gawe,<br />

de my Gott gegewe hefft,<br />

Juh <strong>als</strong> Naw<br />

de een Scheepel von my kefft,<br />

dem well eck <strong>als</strong> Narrewark,<br />

laate fer en<br />

297<br />

Rahne: Ein vom Windbruch ausgerissener oder zerbrochener Baum.<br />

298<br />

Die Verse VI bis VII sowie X bis XII werden<br />

im Anhang 2a auf S.522/523 in’s<br />

Hochdeutsche übertragen. (Der Bauer stammte aus Polkitten, Kr.Bartenstein. Sein Plattdeutsch<br />

zeigt deshalb Anklänge an das Platt, das im benachbarten Ermland gesprochen wurde).<br />

299<br />

Dorf im Kirchspiel Schönbruch.<br />

185


VIII. Ei, da liefen Mägd’ und Kinder<br />

auf den Gassen ohne Ruh,<br />

Knecht und Jungens auch nicht minder<br />

den gerühmten Erbsen zu;<br />

jeder holt ein Händchen voll,<br />

dass die Herrschaft schmecken soll.<br />

IX. Als man nun von allen Ecken<br />

tapfer hat herumgeschmeckt,<br />

war’n die Erbsen aus den Säcken,<br />

und der Bauer war gejeckt.<br />

O, was fing<br />

der arme Mann<br />

um die schönen Erbsen an.<br />

X. <strong>Free</strong>t dem Dood en juhne Mage!<br />

Hefft my denn nu de Pikulls<br />

hia nah Schöppenpell gedrage?<br />

Nicht umsonst schlog<br />

my de Puls,<br />

<strong>als</strong> eck utem Derp utfohr<br />

on dem linke Schlorr verlor.<br />

XI. Eck hebb hied noch nuscht genaate,<br />

myna Süng, as wie my dicht!<br />

Sy eck denn nu ganz begaate<br />

hied met itel Uhle Gicht,<br />

oda hefft<br />

myn linket Been<br />

wor een oole Hex gesehn!<br />

XII. Ach, wie geit ett doch my Arme!<br />

Ei wie ward myn leewet Wief<br />

emm de schöne Arfte karme,<br />

eck wull, dat enn juhnem Lief,<br />

jeda Arfte wart so groot<br />

wie een Lettausch Düttkebrod!!<br />

„Das ist ja ein vortreffliches Lied, ganz aus dem Leben gegriffen,<br />

besonders da, wo der Kantor seinen Bauer redend einführt“, sagte<br />

Thomas. „Wenn Ihr nichts dagegen habt“, wendete er sich an<br />

Douglas, „schreibe ich mir das Liedlein ab, Ihr könnt mir schon<br />

glauben, dass ich keinen Missbrauch davon machen werde“.<br />

Douglas gab seine Genehmigung. Während Thomas das<br />

Erbsenschmeckerlied<br />

abschrieb, hatte Douglas mit dem alten<br />

Anderson ein eingehendes Gespräch über die einzukaufende<br />

Leinsaat. Beide waren so vertieft, dass Thomas nach beendeter<br />

Abschrift sie nicht stören wollte, sondern in den Stall ging, um<br />

186


nach dem lahmen Pferde zu sehen. Als Thomas wieder in die<br />

Stube trat, stand Douglas auf und sagte:<br />

„Ihr werdet müde sein, Herr Oheim, erlaubt, dass ich Euch zu<br />

Eurem Lager geleite“.<br />

Am anderen Morgen stand Thomas schon früh auf und ging<br />

leise, um den Schlummer des Vaters nicht zu stören, hinaus, um<br />

nach dem Pferde zu sehen.<br />

Erst nach einigen Stunden, da es schon Tag geworden war,<br />

kehrte er in Douglas’ Haus zurück. Er fand seinen Vater in der<br />

Hinterstube im Lehnstuhle am Ofen sitzen, den kleinen Johannes<br />

auf dem Schoß.<br />

„Guten Morgen, mein Sohn“, sagte der Alte zu Thomas, der<br />

seinem Vater die Hand küsste. „Du siehst, ich habe mich schon<br />

ganz heimisch eingerichtet und bin mit dem Söhnchen unseres<br />

lieben Freundes bereits<br />

gut Freund’ geworden“.<br />

„Ja, ja, man sieht’s, dass Ihr, Herr Oheim, Großvater seid“,<br />

sagte Frau Maria und bat Thomas, der sie begrüßte, zum<br />

Morgenimbiss.<br />

„Nun, mein Sohn“,<br />

sagte der Alte, sich an Thomas wendend, der<br />

schnell einige Bissen nahm, „können wir uns bald auf den Weg<br />

machen? Hier ist’s zwar sehr gut, wir müssen aber heim“.<br />

„Wer weiß, wann wir fortkommen“, sagte Thomas. „Ich war<br />

schon lange vor Sonnenaufgang in der Schmiede. Der Schmied<br />

kam dann auch bald. Er hatte aber erst für einen Bürger zu<br />

schmieden. Ich stand wie auf heißen Kohlen. Endlich war’s fertig,<br />

der Schmied rüstete sich, zum Frühstück zu gehen. Ich fragte, ob<br />

der Braune <strong>jetzt</strong> geholt werden sollte, denn ich hatte das Pferd<br />

nicht gleich mitgebracht, weil ich den Fuß immer<br />

noch mit Wasser<br />

kühlen ließ.<br />

Lasst nur das Pferd herbringen, sagte er. Ich beeile mich.<br />

Des Herrn Douglas Knecht zäumt den Braunen auf und reibt ihn<br />

noch etwas ab.<br />

Es dauert nicht länger <strong>als</strong> ¼ Stunde, so sind wir<br />

mit dem Pferd an der Schmiede. Ich denke, der Schmied wird’s<br />

doch gleich beschlagen. Der macht aber gar keine Anstalt dazu.<br />

Meister, nun beschlagt doch das Pferd, sage ich zu ihm.<br />

Mein Herr, sagt er, das darf ich nicht!<br />

Warum denn nicht? Ich will’s Euch reichlich bezahlen.<br />

Ja, sagte er, sich hinter den Ohren kratzend, da hat eben der<br />

Bauer Gelhar<br />

aus Langendorf seinen Gaul gebracht. Der ist<br />

ausgerückt und steht da. Bevor der nicht beschlagen ist, darf ich<br />

Euer Pferd nicht in Arbeit nehmen.<br />

187


Nun, so nehmt denn doch den alten Gaul vor. Hab’ ich so lange<br />

gewartet, will ich auch darauf noch warten.<br />

Ja, das geht nicht. Der Bauer ist weggegangen, auf den muss<br />

ich warten.<br />

Kurz, trotz vielem Hin- und Herreden blieb der Schmied bei<br />

seinem Wort. Nach der Schmiederolle in Schippenbeil dürfe er<br />

nicht mein Pferd vor dem des Bauern beschlagen“.<br />

„Warum gingst du denn nicht zu einem anderen Schmied?“<br />

fragte der Vater.<br />

„Das habe ich auch getan“, sagte Thomas. „Der aber sagte, <strong>als</strong><br />

ich ihm die Arbeit antrug, er könne es nicht übernehmen. Der<br />

Meister hätte durch Abreißen der Hufeisen die Arbeit bereits<br />

einmal übernommen. Nach der Schmiederolle<br />

dürfe er es nicht.<br />

Doch nun entschuldigt mich schon, lieber Vater, ich will gleich<br />

wieder zu dem Schmied an dem Mühlentor. Der wird doch<br />

hoffentlich gefügiger sein“.<br />

Damit eilte er wieder fort.<br />

Hartknoch – Stich von Schippenbeil um 1684<br />

188


21. Kantor Heling <strong>als</strong> Kirchenführer in Schippenbeil<br />

Während Thomas nach dem Schmied suchte, war sein Vater vor<br />

die Haustür getreten und wanderte dann langsam über den Markt<br />

bei einem schönen Wintermorgen. Er gelangte in die Kirchenstraße<br />

und auch bald an die Kirche. Die Tür derselben stand offen, und<br />

eben wollte der Alte hineingehen, um ein stilles Gebet zu<br />

verrichten, <strong>als</strong> hinter ihm eine Stimme ertönte:<br />

„Einen schönen guten Morgen, Herr. Ich freue mich, Euch<br />

wiederzusehen“.<br />

Der alte Mann wendete sich um, da kam um die Ecke der Kirche<br />

biegend der Kantor Kaspar Heling, der ihm beide Hände<br />

entgegenstreckte.<br />

„Ich freue mich aufrichtig, mit Euch zusammenzutreffen“, sagte<br />

der alte Anderson.<br />

„Aber ich störe Euch wohl“, sagte Heling. „Wie ich sehe, wolltet<br />

Ihr eben in unsere Kirche treten“.<br />

„Durchaus nicht, ich habe überflüssige Zeit. Unser gemeinsamer<br />

Freund Douglas, seine liebe<br />

Ehegattin und mein Sohn haben ihre<br />

besonderen Geschäfte. Da ging ich bei dem schönen Morgen durch<br />

das freundliche Städtchen. Zwar kenne ich Schippenbeil seit vielen<br />

Jahren, habe aber nie Muße gehabt, die schöne Kirche anders <strong>als</strong><br />

von außen mir anzusehen. Da ich sie offen fand, wollte ich<br />

eintreten, denn ich pflege an einem geöffneten Gotteshaus,<br />

wenn’s irgend die Zeit erlaubt, nicht vorbeizugehen, ohne<br />

wenigstens auf kurze Zeit hineinzutreten“.<br />

„Wenn Ihr, Herr, nichts dagegen habt, begleite ich Euch“, sagte<br />

Heling.<br />

„Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein. Allein, habt Ihr<br />

nicht Dienst?“<br />

„Habe ihn soeben beendigt“, antwortete Heling. „Der Herr<br />

Rektor Joh. Georg Gottberg informieret jetzo weiter bis Mittag“.<br />

Beide Männer traten nun durch die Turmtür in die Halle und aus<br />

dieser in das Schiff der Kirche. Sie entblößten<br />

ihr Haupt und<br />

sprachen ein stilles Gebet.<br />

„Es ist ein mächtiges Bauwerk“, sagte der alte Anderson. „Viel<br />

großartiger <strong>als</strong> unsere <strong>Angerburg</strong>er Kirche. Ich denke, unsere<br />

Kirche wird nicht sehr viel länger sein, <strong>als</strong> diese breit ist“.<br />

„Sie ist 80 Schuh breit und 150 Schuh lang“, sagte Heling. „Das<br />

gewölbte Mittelschiff ruht auf acht massiven achteckigen Pfeilern.<br />

Seht diese beiden ersten tragen die Seite des Turms nach der<br />

Kirche zu“ .<br />

189


„Hier sieht man erst“, sagte Anderson, „wie groß der Turm ist.<br />

Von außen erscheint er wie ein Dachreiter“.<br />

„Der Turm hat unten sehr starke Mauern“, sagte Heling. „Die<br />

sind aber auch notwendig, da die Mauern des Turms fast 120<br />

Schuh hoch sind“.<br />

„Die Kirche macht im Innern einen sehr würdigen Eindruck“,<br />

sagte der Alte, sich umschauend.<br />

„Ja“, sagte Heling,<br />

„ich habe nirgends eine alte Kirche gefunden,<br />

welche so schöne Verhältnisse hat wie diese, obwohl ich doch, wie<br />

Ihr wisst, recht viele in verschiedenen<br />

Ländern gesehen habe.<br />

Entweder sind die Bauwerke zu kolossal oder zu gedrückt. Unsere<br />

Kirche ist gerade so groß, dass die<br />

Stimme des Geistlichen sie<br />

füllt. Trotzdem hat sie dabei die schönen Verhältnisse“.<br />

„Ist das Kirchengebäude denn schon so alt?“ fragte der alte<br />

Anderson.<br />

„Wann es genau gebaut ist, kann ich nicht sagen“, erwiderte<br />

Heling. „Nach der Bauart zu urteilen,<br />

ist die Kirche in der zweiten<br />

Hälfte des 14. Jahrhunderts fertig geworden. Dam<strong>als</strong> war hier in<br />

Schippenbeil der Sitz eines Archipresbyters<br />

tor Joh. Georg<br />

haben<br />

wir nur den Hochaltar, welcher erst vor 16 Jahren, Anno 1670,<br />

300 , welcher zur Hilfe<br />

noch 5 Vikare hatte und unter dem Bischof von Ermland stand.<br />

Der Archipresbyter hatte unter sich 20 auswärtige Kirchen. Barten,<br />

Gerdauen, Leunenburg mit der Umgegend gehörten zu seinem<br />

Sprengel, welcher sich von der Alle bis zum Pregel erstreckte“.<br />

„Außer dem Mauerwerk ist wohl aus katholischer Zeit hier nichts<br />

geblieben?“ fragte Anderson.<br />

Die beiden Männer waren langsam im Mittelgang fortgeschritten.<br />

„Hier in der Taufkammer findet Ihr, Herr, die einzige Reliquie 301 ,<br />

die, soviel ich weiß, aus jener Zeit noch vorhanden ist“ antwortete<br />

Heling, die Tür der Taufkammer öffnend. „Dieser alte Taufstein hat<br />

10 Schuh im Umfang. Vor 5 Jahren ist der Deckel von Holz dazu<br />

gemacht, und mein Vorfahr, der alte Kan<br />

Großmann, hat ihn, da er sich in seiner Muße mit Malen<br />

beschäftigte, mit einem Bildnis Anno 1682 geziert. Doch wir wollen<br />

in die Kirche gehen“.<br />

„Hier in den Nischen der Längswände der Kirche werden wohl<br />

zur katholischen Zeit Nebenaltäre gestanden haben. Jetzt<br />

fertig wurde“.<br />

300<br />

Katholischer Erzpriester, die Bezeichnung wurde jedoch auch in evangel. Zeit verwendet<br />

und dann durch „Superintendent“ abgelöst.<br />

301<br />

Überrest, kostbares Andenken.<br />

190


„Er hat viel Ähnlichkeit mit dem Altar in unserer <strong>Angerburg</strong>er<br />

Kirche“, sagte Anderson. „War denn vorher kein Hochaltar<br />

vorhanden?“<br />

„Auf den alten kann ich mich nur wenig besinnen“, erwiderte<br />

Heling. „Es war ein viereckiger Kasten. Inwendig werden wohl<br />

Heiligenfiguren gewesen sein. Ich habe <strong>als</strong> Knabe immer nur die<br />

verschlossenen bemalten Türen gesehen und mich gewundert,<br />

dass sich zwischen denselben in der Mitte gerade solch eine<br />

Türklinke befand, wie an unserer Küchentür“.<br />

„Dann war es ja auch wirklich Zeit, dass der alte Altar mit der<br />

Küchentürklinke entfernt wurde“, sagte Anderson lächelnd. „Wer<br />

hat denn das schöne Schnitzwerk gemacht? Es ist wirklich<br />

vortrefflich“.<br />

„Das hat der Bildschnitzer Joachim Pfaff gefertigt“ antwortete<br />

Heling, „es wurde Anno 1668 fertig, kostete aber auch<br />

fünfzehnhundert Mark. Die Malereien sind von Georg Krebs, der<br />

sie erst Anno 1670 vollendete. Seht, <strong>jetzt</strong> sind die Altarbilder<br />

gerade recht schön beleuchtet. Wenn die Sonne höher steigt,<br />

liegen sie im Schatten. Hier unten ist das heilige Abendmahl“.<br />

„Was ist das denn für ein Mann, der im schwarzen Rock<br />

neben<br />

den<br />

12 Jüngern auf dem Bilde gemalt ist?“ fragte Anderson,<br />

das<br />

Bild näher betrachtend.<br />

„Das ist das Konterfei des Pfarrers Georg Kluge, der dies Bild hat<br />

malen lassen“, erwiderte Heling. „Es ist älter <strong>als</strong><br />

die anderen Bilder<br />

des Altars, und der Bildschnitzer musste das Holzwerk so<br />

einrichten, dass es hinein passte. Mein seliger Vater hat den alten<br />

Pfarrer Kluge wohl noch gekannt. Er ist über 98 Jahre alt<br />

geworden und hat fast 58 Jahre im Predigtamt gestanden. Er hat<br />

auch noch 4 Wochen vor seinem Ende im Juni 1651 gepredigt und<br />

die Verrichtungen seines Amtes verwaltet“.<br />

„Nun, wenn der alte Mann ein so getreuer Knecht seines Herrn<br />

gewesen ist“, sagte der alte Anderson, „so gebühret ihm wohl<br />

auch ein Platz neben den Jüngern Christi auf dem Bilde“.<br />

„Gewiss ist Kluge ein frommer Pfarrherr gewesen“, sagte Heling,<br />

„doch hatte er einen so festen Charakter, dass man’s wohl<br />

zuweilen Eigensinn nennen konnte. So hat er Anno 1612, <strong>als</strong> der<br />

302<br />

neue Kalender hier in Preußen introduziert worden, diesen<br />

302 Auf den 22. August folgte sogleich der 2. September 1612. So hatte es Kurfürst Johann<br />

Sigismund in Umsetzung der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 angeordnet. Dam<strong>als</strong><br />

waren zehn Tage auf Weisung Papst Gregors XIII. ausgelassen worden, um den im Jahre 45,<br />

vor unserer Zeitrechnung, von Caesar eingeführten Julianischen Kalender wieder mit dem<br />

Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bringen.<br />

191


durchaus nicht annehmen wollen, auch noch etliche Jahre nachher<br />

das Weihnachtsfest nach dem alten Kalender gefeiert, bis zuletzt<br />

die Leute zur Kirche sich nicht mehr einstellen wollten“.<br />

„Zuweilen mag’s wohl auch für ihn nötig gewesen sein“, meinte<br />

Anderson, „besonders vor nahezu 100 Jahren, fest zu bleiben“.<br />

„Möglich ist’s schon“, sagte Heling, „besonders, da allhier in<br />

Schippenbeil wohl noch manche versteckte Anhänger<br />

des<br />

Osiandristischen Pfarrherrn Freudenhammer, der ein<br />

Schwiegersohn Osianders<br />

bei meiner Einführung <strong>als</strong><br />

rrichtete, weil sich der Rat nicht<br />

303 war, sich in der ersten Zeit der<br />

Amtsführung Kluges mögen gefunden haben. Dass aber der<br />

Pfarrer Kluge nur aus dem Grund, wie<br />

Kantor erzählt wurde, einst die Introduktion eines neuen Kantors<br />

an dem festgelegten Tag nicht ve<br />

pünktlich um die Stunde eingefunden hatte, wie es bestimmt war,<br />

sondern auf dem Feld spazierte, ist doch wohl <strong>als</strong> Eigensinn zu<br />

nennen. Aber hier ist das schönste Bild unserer Kirche: „Der<br />

sterbende Heiland am Kreuz zwischen den beiden Schächern 304 . Es<br />

ist das Mittelbild des Altars und es wird besonders die im Tode<br />

erkaltende bleiche Gestalt des Heilandes im Gegensatz zu den<br />

Körpern der beiden Schächer gerühmt“.<br />

Lange betrachtete der alte Mann schweigend mit gefalteten<br />

Händen das schöne Bild, dessen Vorzüge Heling hervorzuheben<br />

sich bemühte.<br />

„Über diesem Gemälde“ fuhr er dann weiter erklärend fort, „ist<br />

die Himmelfahrt des Herrn, und das Bild über diesem stellt die<br />

Ausgießung des heiligen Geistes dar. Hoch oben an der gewölbten<br />

Decke wird der Altar durch die Sonne gekrönt. Die beiden runden<br />

kleineren Bilder stellen dar: die Verkündigung der Maria und die<br />

Geburt des Heilandes.<br />

„Diese runden so wie das obere viereckige Bild sind für meine<br />

Augen zu hoch angebracht, <strong>als</strong> dass ich mehr <strong>als</strong> die allgemeinen<br />

Umrisse erkennen kann“, sagte Anderson. „Im Ganzen wie im<br />

Einzelnen ist dieser Hochaltar einer der schönsten, die ich gesehen<br />

habe, denn die schönen Säulen und die geschnitzten Gestalten der<br />

303 Andreas Osiander wurde 1498 in Gunzenhausen geboren und verstarb 1552 in Königsberg.<br />

Er gehörte zu den bedeutensten Theologen seiner Zeit. Herzog Albrecht berief ihn 1549 nach<br />

Königsberg und übertrug ihm das Pfarramt an der Altstädtischen Kirche und die damit<br />

verbundene Universitätsprofessur. Osiander stieß aber auf Ablehnung der meisten Theologen<br />

in Königsberg, welche die von ihm vertretene Rechtfertigungslehre in polemischer Weise<br />

bekämpfen. Durch Osianders schroffes Auftreten wurde dieser Streit noch verschärft. Auch<br />

nach seinem Tod dauerten die Auseinandersetzungen über Osianders Lehrmeinungen an.<br />

304 die zwei mit Christus gekreuzigten Übeltäter<br />

192


Apostel sind, jedes in seiner Art, vortreffliche Kunstwerke. Doch<br />

wenn wir uns überall so lange aufhalten, kommen wir bis Mittag<br />

wohl kaum mit der Besichtigung der Kirche zu Ende“, sagte der<br />

Alte, sich umwendend, um weiterzugehen.<br />

„Seht Euch doch nur die Schranken des Altars<br />

an“, bat Heling.<br />

„Das Gitterwerk von Eisen, welches ganz neu ist, findet Ihr<br />

nirgendwo sonst in Preußen. Unser Herr Bürgermeister Lorenz<br />

Krebs hat es machen lassen. Die Stäbe sind in der Mitte kunstvoll<br />

zusammengebogen, dass sie die Figur eines Krebses bilden. Hier<br />

die beiden Beichtstühle sind ganz einfach“.<br />

Beide Männer gingen in das<br />

Mittelschiff der Kirche.<br />

„Unsere Kanzel, am zweiten Pfeiler, dagegen ist reich<br />

geschmückt mit Figuren und Gemälden“, fuhr Heling erklärend<br />

fort. „Der Langendorfer Schulz Gelhar und sein Sohn Martin haben<br />

sie Anno 1649 staffieren<br />

s von ihr Gottes Wort verkündigt“.<br />

st, der höret Gottes Wort. Selig<br />

drehen.<br />

einen Schlüssel von der Seitentür hier habe.<br />

n“, meinte<br />

teht schon an die 70 Jahre, seit<br />

Zierde und der Musik zur Bequemlichkeit. Matth.<br />

305 und vergolden lassen, da die Kanzel<br />

vorher 1609 von rohem Holz aufgestellt war. Am 11. August 1609,<br />

nach dem VIII. Sonntag post Trinitatis im Wochengottesdienst hat<br />

der Diakon Grube erstmal<br />

„Die Inschriften der Kanzel sind sehr gut gewählt“, sagte der<br />

alte Anderson: „Wer von Gott i<br />

sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Nehmet das Wort an<br />

mit Sanftmut“.<br />

Plötzlich wurde die Kirchtür mit lautem Schall zugeschlagen, und<br />

man hörte den Schlüssel um<br />

„Was ist denn das?“ unterbrach sich der Alte. „Ich glaube, wir<br />

sind eingeschlossen, Herr Kantor“.<br />

„Der Glöckner hat mir das zugedacht“, sagte Heling lächelnd,<br />

„weil ich seinen Jungen hart anlassen musste. Der Schleicher weiß<br />

aber nicht, dass ich m<br />

Wir können jeden Augenblick, wenn ihr wollt, die Kirche<br />

verlassen“.<br />

„Unsere <strong>Angerburg</strong>er Orgel ist größer und schöner <strong>als</strong> die in<br />

Eurer Kirche“, sagte Anderson. „Das mag wohl sei<br />

Heling, „denn dieses Orgelwerk s<br />

1618. Vor fünf Jahren hat der Bürgermeister und Organist Matth.<br />

Engelke die beiden Nebenchöre bauen lassen. Gott zu Ehren, der<br />

Kirche zur<br />

Engelke, wohlbedienteter Bürgermeister allhier, hat diese beyde<br />

305<br />

Das Staffieren eines Gemäldes<br />

bezieht sich nicht nur auf das Hervorheben von Menschen<br />

und<br />

Tieren, sondern auch<br />

auf architektonische und andere Gegenstände, welche der<br />

Landschaft ein gewisses höheres Interesse geben können.<br />

193


Chöre auf seine Unkosten bauen und malen lassen 1682. Er hat<br />

sich nicht lange daran erfreuen können, da er im vorigen Jahre<br />

verstorben ist. Hier neben ist das Wöterkeimer- (= das Bäcker-),<br />

das Bauer- und das Schmiede-Chor. Auf jener Seite ist das<br />

Fleischer- und Kürschner-Chor. Die Inschrift lautet: Anno 1620<br />

haben wir ehrbare Wercke der Fleischhauer und Kürschner dies<br />

Chor zu Ehren und der Kirche zur Zier erbawet“.<br />

„Das scheinen bei Euch in Schippenbeil die beiden<br />

Hauptgewerke zu sein“ sagte Anderson. „Bei uns in <strong>Angerburg</strong><br />

sind’s die Bäcker und Leinweber, die in der Kirche ihre eigenen<br />

gemalten und staffierten Chöre besitzen. Auch hat jedes der<br />

beiden Gewerke eine Lichterkrone 306 der Kirchen verehrt“.<br />

<strong>Angerburg</strong>er Kronleuchter mit Textgravur (Aufn. 2008)<br />

306 Ein Leuchter der 1610 gestifteten <strong>Angerburg</strong>er Schuhmacherzunft trägt folgende Gravur:<br />

Gottes Wort und Luthers Lehr, vergehet nun künftig nimmermehr. Gleich wehre es allen<br />

Ketzern leidt, So bleibt es doch in Ewigkeit. Ein ehrbar Werk des Schusterfron, Thut verehren<br />

diese Leuchterkron, Diesem Gotteshause zu Ehren, Auch allen die Gottes Wort gern hören.<br />

Und seint gewesen zu der Zeidt, des ehrbaren Werks Elterleut: Martinus Scholewa der erste<br />

ist, Henricus Nölke sein Compan zu der Frist, Urban Blum und Wilhelm Bierfreind, diese<br />

beide zugeordnete Beisitzer seindt. Gegeben eintausend sechshundert und zehn Jahr furwar,<br />

Am vierzehnten Tage des Monats IV_SY. Eben Gott verleihe uns allen nach diesen das ewige<br />

Leben. (s. AHB 135 S.122).<br />

194


„Das Chor hat ihnen hier Mühe und Streit genug gekostet“,<br />

sagte Heling.<br />

„Wie kam denn das?“ fragte sein Begleiter.<br />

„Ja, wie es so kommt“, erwiderte Heling. „Fast vor hundert<br />

Jahren Anno 1589 kauften die Fleischer von der Kirche für 10 Mark<br />

einen Stand und erbauten auf diesem ein Chor. Das wurde 1620<br />

mit Hilfe der Kürschner erweitert und der Kirche noch 30 Mark<br />

gezahlt. Das wäre nun gut gewesen, aber nicht lange danach<br />

wollte das Schmiedegewerk über diesem Chor ein neues<br />

bauen.<br />

Das wollten jene sich nicht gefallen lassen. Nun kam es zu bösen<br />

Worten und zu einem langen Streit. Es bildeten sich zwei Parteien<br />

unter den Gewerken, denn einige gaben den Schmieden, andere<br />

den Fleischern und Kürschnern Recht. Nach vielem Gezänk kam<br />

die Sache vor den Rat, aber da konnte der Bürgermeister Lorenz<br />

Deutschkau auch keine Einigkeit erzielen, weil auch im Rat die<br />

Stimmen für die Parteien geteilt waren. Schließlich musste der<br />

Herr Amthauptmann zu Rastenburg, Joh. Georg v. der Gröben, die<br />

Sache in die Hand nehmen und entschied zu Gunsten des<br />

Fleischergewerkes. Vom Chor gehört die Seite nach dem Altar zu<br />

den Fleischern, die andere zur Turmseite den<br />

Kürschnern“.<br />

„Wem gehört denn das Chor hier mit den 6 Bildern aus der<br />

Leidensgeschichte des Heilandes?“ fragte der Alte.<br />

„Ein ehrbar Werk der Schuster hat es Anno 1663 bauen und<br />

malen lassen“, antwortete Heling. „Die Bilder sind aber nicht so<br />

wertvoll wie die hier an diesem Chor, dem Junker-Chor, mit den<br />

14 Bildern aus dem alten Testament“.<br />

„Sind denn viele Familien von Adel zu Eurer Kirche<br />

eingewidmet?“ fragte Anderson.<br />

„O ja, die Freiherren v. Eulenburg, die Herren v. d. Albe, die v.<br />

Brumse, v. Lesgewang, v. Podewils.<br />

unserem Chor sind die Bilder der 12 Apostel<br />

e der Ratsstand mit einer Tür aus der<br />

atholischen Zeit und ihm gegenüber auf der anderen Seite der<br />

Gerichtsstand. Dort der Stand für das Böttchergewerk“<br />

307 Doch seht hier dem Junker-<br />

Chor gegenüber, das ist die Stelle meines Wirkens. Hier von dem<br />

Schüler-Chor aus leite ich mit den Schülern den Gesang der<br />

Gemeinde. An<br />

gemalt. Hier ist aber an Stelle des Judas, Johannes der Täufer.<br />

Unter jedem Bild steht ein Satz des Glaubensbekenntnisses.<br />

Hier unten ist auf einer Seit<br />

k<br />

307<br />

Landbesitzende Adelsfamilien aus dem Umfeld von Schippenbeil.<br />

195


„Lasst nur, Herr Kantor. Die Bänke wollen wir schon nicht so<br />

enau besehen, doch was ist das für ein Helm, der dort hängt?“<br />

agte Anderson.<br />

„Das ist das Epitaphium des Herrn Abraham v. Podewils“,<br />

rwiderte Heling. „Da stecken auch noch unter demselben die 4<br />

Tra ch<br />

kann mich noch sehr gut an nis besinnen, denn ich war<br />

schon ein großer Junge und kam in jenem Herbst auf die Schule<br />

hippenbeiler Kirche sich die<br />

hmieden in Schippenbeil gewesen.<br />

rmann 308 g<br />

fr<br />

e<br />

uerfahnen, die bei seinem Begräbnis getragen wurden. I<br />

das Begräb<br />

nach Königsberg. Der Leichenzug kam von Rückgarben. Es wurde<br />

mit allen Glocken geläutet. Der Pfarrherr Krüger, der Kaplan<br />

Blankenstein, der Rektor Hoppius und der Kantor Großmann<br />

gingen der Leiche mit der ganzen Schule bis vor das Tor<br />

entgegen“.<br />

Während der alte Anderson in der Sc<br />

Kunstwerke von dem Kantor erklären ließ, war Thomas in seiner<br />

Pferdeangelegenheit in der Stadt umhergegangen und kam ganz<br />

aufgeregt zu seinem Gastgeber Douglas zurück.<br />

„Es ist sehr ärgerlich“, sagte er nach dem Morgengruß zu<br />

diesem. „Ich bin bei allen Sc<br />

Keiner will mein Pferd beschlagen. Zuletzt wiesen sie mich an<br />

ihren Älte .<br />

„Nun, was sagte der denn?“ fragte Douglas.<br />

„Ach, der Ältermann meinte“, antwortete Thomas, „der Meister<br />

Schultze würde wohl im Recht sein. Es würde wohl so in der Rolle<br />

der Schmiede<br />

stehen. Ich habe nun, was Ihr, Herr, schon erlauben<br />

müsst, Euren Jannek ausgeschickt, den Langendorfer Bauern<br />

Gelhar aufzusuchen. Mein Brauner steht neben der Schmiede des<br />

Schultzen angebunden“.<br />

„Wer weiß, wann mein Janneck den Bauern findet“, sagte<br />

Douglas. „Am besten ist es, wir gehen in das Rathaus und bitten<br />

den Herrn Stadtkämmerer, den ich vor einer Viertelstunde habe<br />

dorthin gehen sehen, uns die Abschrift von der Rolle der Schmiede<br />

vorzulegen. Daraus muss sich dann doch ersehen lassen, ob der<br />

Meister Schultze im Recht ist, den Beschlag des Pferdes zu<br />

verweigern“.<br />

Douglas und Thomas gingen nun zusammen über den Markt<br />

dem zweistöckigen Rathaus zu.<br />

„Hier zu ebener Erde“, sagte Douglas, „ist in unserem Rathaus<br />

die öffentliche Stadtwaage. Daneben sind acht Fleischbänke 309 .<br />

308<br />

Vorsteher der Zunft.<br />

309<br />

Bankförmige Verkaufstische<br />

der Metzger- Fleischhauerstände.<br />

196


Doch wir müssen hier diese Treppe von außen in das obere<br />

Geschoss hinaufsteigen“.<br />

An der Haustür empfing sie der Stadtdiener mit tiefer Referenz<br />

und riss die Tür weit auf.<br />

„Guten Morgen, Podlech, wo finden wir den Herrn<br />

Stadtkämmerer?“ fragte Douglas, mit Thomas in das geräumige<br />

Vorhaus eintretend.<br />

„Der Herr Stadtkämmerer ist eben in die Kassenstube getreten.<br />

Soll ich ihn vielleicht rufen?“<br />

„Ich werde ihn selbst<br />

aufsuchen“, sagte Douglas. „Verweilt hier,<br />

Herr Thomas, ich werde sogleich wiederkommen“.<br />

Damit ging er durch eine Tür.<br />

„Was ist das da für ein hölzernes<br />

Gerüst?“ fragte Thomas den<br />

Stadtdiener, auf ein hölzernes Bauwerk am Ende des Vorhauses<br />

zeigend.<br />

„Das ist der Trompeterstuhl für die Musikanten“, antwortete der<br />

Ratsdiener mit wichtiger Miene. „Hier werden die Hochzeiten<br />

gefeiert, und die Musikanten spielen dazu auf. Ihr werdet, Herr, so<br />

leicht in keiner anderen Stadt solch einen schönen Vorsaal mit<br />

sechs großen Fenstern in einem Rathaus finden. Hier an der Decke<br />

hängt ein nagelfestes Klingeglöckchen, und die Schnur davon<br />

hängt über dem Ratstisch“.<br />

Er fuhr nun noch längere Zeit fort, die Vorzüge des Vorsaales<br />

aufzureihen, was Thomas ziemlich ungeduldig anhörte. Doch bald<br />

erschien Douglas mit einem behäbigen Männchen, dem er seinen<br />

Gast vorstellte. Nach gegenseitiger Begrüßung bat der<br />

Stadtkämmerer die beiden Herren, in die großräumige Ratsstube<br />

einzutreten, deren Fußboden mit gebrannten Fliesen ausgelegt<br />

war. In der Ecke stand ein großer Ofen auf sechs gedrechselten<br />

Füßen, mit bemalten Kacheln, der eine angenehme Wärme<br />

ausstrahlte.<br />

Der Stadtkämmerer bat die Herren, sich in den Sesseln am<br />

Ratstisch niederzulassen. Er werde sogleich das gesuchte<br />

Aktenstück herbeibringen.<br />

„Ihr Schippenbeiler“, sagte Thomas zu Douglas, „habt wirklich<br />

ein großes und schönes Ratszimmer“.<br />

„Es ist 28 Schuh lang’ und 18 breit“, sagte Douglas. „Was<br />

bewahrt denn der Rat dort für Schätze in dem eingemauerten<br />

Schrank mit der eisernen Tür?“ fragte Thomas.<br />

„Da sollen sich“, antwortete Douglas, „wie ich mir habe sagen<br />

lassen, alte Pergamente, Privilegien, Testamente und andere<br />

197


wichtige Papiere befinden. Auch ist darin das Stadt-Siegel<br />

verwahrt. Ich habe die Tür nur einmal offen gesehen“.<br />

Der Stadtkämmerer, Herr Martin Krause, kam mit einem<br />

Aktenstück zurück, das er auf den Tisch legte und darin zu<br />

blättern begann.<br />

„Hier sind die Abschriften von den Rollen der sämtlichen<br />

Gewerke der Stadt. Wollen doch einmal sehen, was denn in der<br />

Rolle der Schmiede steht. Rolle der Wollenweber 1390 – erneuert<br />

1470, der Fleischhauer 1469 – confirmirt vor 20 Jahren, Rolle der<br />

Bäcker 1595, der Radmacher 1597, der Tischler 1615 – geht uns<br />

nichts an. Aha, da ist die Rolle der Schmiede vom 12. Januar<br />

1650. Wir müssen schon die 60 Paragraphen durchsehen. Wer<br />

weiß, in welchem es steckt. Nach dem Eingang § 1. Da steht, was<br />

jeder soll schmieden können. § 2 – 6: vom Meisterwerden. § 49:<br />

Auch soll niemand von den Brüdern keinerlei Zeug, das im Feuer<br />

angehoben ist, zuschmieden oder einem anderen zu vollenden zu<br />

machen bei Strafe von ¼ Bier und 1 Pfund Wachs. § 50: Auch soll<br />

niemand dem anderen seinen Schmiede-Gast abspenstig machen,<br />

er habe ihn denn wohl bezahlet und ist ohne Schuld von ihm<br />

geschieden, bei Strafe von einer halben Tonne Bier. § 51: Auch<br />

wenn ein Pferd vor eines Meisters Tür ist, gewerket an den Hufen,<br />

und einer das eines anderen brächte, das soll er nicht beschlagen<br />

ohne Wissen und Willen dessen, der es gewerket hat, bei Strafe<br />

von einem Viertel Bier und 1 Pfund Wachs.<br />

Kaum hatte der Stadtkämmerer diesen § gelesen, <strong>als</strong> er die<br />

Schnur über dem Ratstisch ergriff und stark zu ziehen begann. Der<br />

schrille Ton einer Glocke schallte durch das Gebäude.<br />

„I der dumme Kerl“, rief er, „Podlech“, wendete er sich an den<br />

eintretenden Ratsdiener. „Geht gleich zu dem Schmied Schultze<br />

und sagt ihm, ich ließe ihm von Rats wegen befehlen, dass er<br />

sogleich den Braunen dieses Herrn beschlagen soll“.<br />

„Herr“, entgegnete Podlech, „eben wollt’ ich melden, der Bauer<br />

Gelhar hat sich eingefunden, sein Pferd ist beschlagen, dann auch<br />

der Braune dieses Herrn. Der Jannek führte ihn eben vorbei auf<br />

des Herrn Douglas Hof. Das Pferd lahmte gar nicht, ging nur etwas<br />

steif“.<br />

„Es tut mir leid“, sagte Thomas aufstehend, „Euch unnütz<br />

bemüht zu haben, Herr Stadtkämmerer“.<br />

„Wenn Eure Zeit es erlaubt“, wendete sich Douglas an den<br />

Stadtkämmerer, „so tretet doch ein wenig bei mir ein. Die Rolle<br />

der Schmiede war auch gar zu trocken“.<br />

198


„Sehr gütig von Euch“, sagte Herr Krause, sich verneigend. „Ich<br />

wollte mir nur einige Papiere vom Rathause holen, die ich zur<br />

Fertigung der Kämmerer-Rechnung brauche. Aber Arbeit ist kein<br />

Hase, die läuft nicht weg. Ich begleite Euch, Ihr Herren“.<br />

Er nahm das Aktenstück mit den Gewerksrollen und verschwand<br />

durch eine Tür, kehrte aber bald mit Hut und Stock und ein Bündel<br />

Papiere unter dem Arm, zurück und trat mit den beiden anderen in<br />

den Vorsaal. Hier stand der Stadtdiener Podlech mit abgezogenem<br />

Hut, streckte die linke Hand aus und bat um eine kleine<br />

Ergötzlichkeit.<br />

„Ihr hättet dem Lungerer nichts geben sollen“, sagte der<br />

Stadtkämmerer zu Thomas, während die 3 Männer die<br />

Außentreppe hinabstiegen.<br />

Zeichnung von Schippenbeil<br />

199


22. Auf der Reise nach Lyck: Eine Schlittenfahrt durch<br />

Masuren<br />

Wohlbehalten waren Vater und Sohn in der Heimat<br />

angekommen. Die leeren Warenräume wurden mit den<br />

mitgebrachten und von Schippenbeil abgeholten Waren gefüllt.<br />

Auch der letzte Wochenmarkt vor dem Weihnachtsfest<br />

(Sonnabend, den 20. Dezember), der besuchteste des ganzen<br />

Jahres, wurde glücklich<br />

überstanden.<br />

„Nun,<br />

mein Sohn“, sagte der alte Vater, <strong>als</strong> Thomas ihm nach<br />

dem Schluss des Marktes die gefüllte Kasse brachte. „Ich denke,<br />

es wäre Zeit, dass du dich nach einem guten Mann umsehen<br />

möchtest, der für dich <strong>als</strong> Freiwerber nach Lyck reist. Oder hast du<br />

dich etwa anders besonnen?“<br />

Glücklich, mit strahlendem Gesicht küsste Thomas die Hand des<br />

Vaters.<br />

„Gern hätte ich“, fuhr dieser fort, „deine<br />

Zukünftige vorher noch<br />

gesehen, doch für mich Alten ist das Reisen nichts mehr,<br />

besonders zur Winterszeit. Doch wen meinst du <strong>als</strong> Freiwerber zu<br />

schicken?“<br />

„Ich denke, lieber Vater“, sagte Thomas, „der Schwager Nebe<br />

wird mir den Gefallen tun. Ich glaube auch, dass er <strong>als</strong><br />

Amtsbruder des Diakon Schwindovius von allen meinen Bekannten<br />

am passendsten dazu ist.<br />

„Du kannst ja noch heute mit ihm reden“, sagte der Vater.<br />

„Doch überlegt Euch alles nicht in Gegenwart seiner Frau. Wenn<br />

sie auch meine liebe Tochter ist, so bleibt sie doch ein Weib, und<br />

ich möchte nicht, dass vor der Zeit die ganze Stadt mit deiner<br />

Freierei vollgeschrien wird. Da fällt mir ein, dass in diesen Tagen<br />

die Fischerei auf einigen Seen des Lyckschen Amts frisch<br />

verpachtet wird. Du kannst ja einmal nachfragen, ob die<br />

Arrende 310 nicht zu teuer ist. Das kann der offizielle Zweck Eurer<br />

Reise vor den Leuten sein. Sagt der Schwager zu, so könnt Ihr<br />

den Schlitten nehmen, den ich aus dem Nachlass des<br />

311<br />

verstorbenen Amtshauptmanns v. Wallenroth kaufte.<br />

Du musst<br />

ihn aber vorher in die Schmiede schicken<br />

310<br />

Arrende [lat.] = Pacht.<br />

311<br />

Zwischen 1659 und 1666 war Sigismund Friedrich v. Wallenroth Amtshauptmann von<br />

<strong>Angerburg</strong>.<br />

200


Gleich nach diesem Zwiegespräch begab sich Thomas zu seinem<br />

Schwager. Er fand ihn an seiner Predigt sitzen, während Anna in<br />

der Küche beschäftigt war.<br />

„Verweile einen Augenblick, lieber Thomas“, sagte Nebe, „ich<br />

will nur die Anna rufen“.<br />

„Nein, lieber Jacob“, sagte Thomas. „Ich habe dich um etwas zu<br />

bitten, was sie erst später erfahren soll. Möchtest du nicht mein<br />

Freiwerber sein?“<br />

Der Diakon Nebe hatte in seinen Papieren gekramt. Bei den<br />

letzten Worten seines Schwagers kehrte er sich schnell um, sah<br />

ihm in die Augen und sagte:<br />

„Ist’s mit dir so weit? Meine Anna meinte diese und jene, die sie<br />

für dich bestimmte. Wer ist denn deine Erkorene? Gewiss ist es<br />

des Bürgermeisters Tochter.<br />

„Gib dir weiter keine Mühe mit dem Raten“, unterbrach Thomas.<br />

„Es ist Esther, die Tochter des Diakon Schwindovius aus Lyck. Nun<br />

frage ich dich, lieber Jacob: Willst du um diese für mich werben<br />

und wann können wir fahren?“<br />

„Die Werbung will ich dir gern ausrichten“, erwiderte Nebe. „Mit<br />

dem Fahren wird’s aber so schnell nicht gehen. Wart’ einmal,<br />

morgen ist Sonntag, der 4. Advent. Nächsten Donnerstag haben<br />

wir dann den 1., Freitag den 2. und Sonnabend den 3.<br />

Weihnachtstag. Der 28. ist dann wieder ein Sonntag. Aber Montag<br />

darauf, den 29. früh können wir abfahren. Ich werde den Pfarrer<br />

Helwing bitten, dass er für mich die polnische Predigt übernimmt.<br />

Der Rektor Tranz kann ja am Neujahrstage die Frühmette und die<br />

Vesper halten,<br />

und bis Sonntag, den 4. Januar, sind wir ja wieder<br />

ganz gut zurück. Ich habe schon längst meinen Freund, den<br />

Pfarrer<br />

Albrecht Cibulcovius besuchen wollen. Das passt ja dann<br />

prächtig, denn Neuhoff liegt noch diesseits von Lyck. Ich glaube,<br />

dass wir kaum 1 Meile herumfahren“.<br />

„Erzähle aber der Anna nichts von meiner Freierei“,<br />

sagte<br />

Thomas,<br />

„ehe wir zurück sind. Ich fahre die Fischerei in den<br />

Seen<br />

des Amts Lyck pachten und du besuchst den Pfarrer Cibulcovius,<br />

dann dürften die Leute sich hier nicht soviel wundern. Doch du<br />

hast ja noch viel mit den Predigten zu den Feiertagen zu tun. Lebe<br />

wohl, ich will dich nicht weiter stören.<br />

Das schöne Weihnachtsfest war vorüber. In der Frühe des zur<br />

Abfahrt bestimmten Tages hatte Thomas, mit den<br />

Segenswünschen des Vaters, von Eltern und Geschwistern<br />

Abschied genommen. Er fuhr dann zur Wohnung des Schwagers,<br />

201


um diesen abzuholen. Nebe erschien auch bald, in dicken Pelzen<br />

vermummt, in Begleitung seiner jungen Frau vor der Tür.<br />

„Bring mir den Jacob wohlbehalten wieder“, sagte Anna zu<br />

Thomas, der dem Schwager einsteigen half, „und du, Jacob“, fuhr<br />

sie fort, „bleibe nicht zu lange. Ich werd’ mich sehr nach dir<br />

bangen. Deine reinen Schnupftücher stecken in der Pelztasche“.<br />

Der Schlitten setzte sich in Bewegung und fuhr klingelnd den<br />

Hügel hinunter. Jasch stand hinten, mit einer blauen neuen<br />

Pelzmütze mit großer Troddel auf dem Kopf und knallte aus<br />

Leibeskräften mit der Peitsche. Es war ein kalter Wintermorgen. Es<br />

war noch dunkel und die Sterne funkelten. Als die Reisenden den<br />

Mauersee erreichten, zeigte sich links über der Säule von Kehlen<br />

die erste Helle des anbrechenden Morgens am Himmel. Bald stieg<br />

auch die Sonne über die Hügel und beleuchtete mit rötlichem Licht<br />

die weite schneebedeckte Fläche des Sees, die Wälder und<br />

Gesträuche des fernen Ufers.<br />

Die „Kehler Mauer“ (Aufn. 2008)<br />

202


„Was ist das da für ein wunderliches altes Gemäuer, welches<br />

dort aus dem Schilf und den Weiden hervorragt?“, fragte Thomas,<br />

<strong>als</strong> sie eine Strecke gefahren waren und sich dem Mauersee<br />

näherten.<br />

„Das ist ja das verwünschte Schloss!“ antwortete Jasch.<br />

„Was plapperst du da vom verwünschten Schloss?“, fragte der<br />

Kaplan strafend den Knecht. „Ich werde dir’s sagen, lieber<br />

Schwager. Es sind die Rudera 312 des alten Schlosses 313 <strong>Angerburg</strong>,<br />

so Anno 1312 314 am Fluss Angerapp nicht weit vom See, wie du<br />

siehst, angelegt ist. Es soll in alter Zeit ein Fischmeister darauf<br />

gewohnt haben. Anno 1365 ist dies Schloss von Kynstut 315 erobert<br />

und verbrannt worden. Als später das Schloss wieder erbaut<br />

werden sollte, fanden die Kreuzherren die alte Stelle doch wohl zu<br />

316<br />

morastig, und der Ordens-Marschall Werner v. Tettingen<br />

ließ<br />

das<br />

Haus an der Angerapp, wie es dam<strong>als</strong> genannt wurde, Anno<br />

1398 317 auf der Stelle, wo es <strong>jetzt</strong> noch steht, erbauen.<br />

312<br />

Dass die Rudera (= Ruinen) des alten <strong>Angerburg</strong>er Schlosses (Wildhauses) noch Ende des<br />

17. Jahrhunderts sichtbar gewesen sein sollen, kann nur <strong>als</strong> eine vage Vermutung von E.<br />

Anderson betrachtet werden.<br />

313<br />

In der Epitome gestorum Prussiae, deren Abfassung wohl im Jahre 1338 abgeschlossen<br />

war, wird die <strong>Angerburg</strong> erstmalig erwähnt. Der Verfasser dieser Geschichtsquelle des<br />

Ordenslandes bezeichnet sich selber <strong>als</strong> samländischen Domherren. Es handelt sich hierbei<br />

nach Krollmann um den Domherren Konrad (= Canonicus Sambiensis), der später Pfarrer der<br />

Altstadt Königsberg und 1339 verstorben war. In der o.g.Chronik erscheint folgender Eintrag:<br />

"Angirburg edificatur 1335“. Es handelte sich hierbei um ein Wildhaus, einem Blockhaus mit<br />

Palisadenzaun und einem Wachturm. Es lag auf einer Insel zwischen zwei Flussarmen, von<br />

denen der westliche<br />

(Worape) später zugeschüttet wurde. Der Name der Burg stammt von der<br />

Angerapp (=Aalfluss), dem östlichen Flussarm. (Ein Zusammenhang mit der prußischen Burg<br />

Angetete ist zweifelhaft. Bei den im Mauersee gefundenen Pfahlreihen handelte es sich um<br />

Überreste einer Brücke des ehem. Kirchwegs von Kehlen nach Engelstein).<br />

314<br />

In anderen Quellen wird 1335 <strong>als</strong> Baujahr des Hauses genannt (s. FN 313).<br />

315<br />

Kynstut, litauischer Großfürst, bricht 1365 in das Deutschordensland ein, vernichtet die<br />

Ordensburg (das Wildhaus) an der Angerapp und führt 8 Mann Besatzung in die<br />

Gefangenschaft.<br />

316<br />

Er wurde um 1340 geboren und starb 1412. Nach seinem Eintritt in den Deutschen Orden<br />

war er zunächst Komtur in Rheden und seit 1390 Oberster Trappier. Zum Obersten<br />

Odensmarschall wurde er 1392 ernannt und verwaltete dieses Amt 12 Jahre hindurch. Danach<br />

wurde ihm das Amt des Spittlers übertragen. Werner v. Tettingen gehörte zu den wenigen<br />

hohen Ordensbeamten, welche die Schlacht von Tannenberg überlebten.<br />

317<br />

Im Jahre 1398 wurde an der Stelle des früheren Wildhauses vom Deutschen Ritterorden<br />

ein Ordenshaus, die neue <strong>Angerburg</strong>, aus Stein und Ziegeln gebaut. Es diente <strong>als</strong> Stützpunkt<br />

für die Pfleger<br />

und wurde zur Erschließung der Wildnis angelegt. Johann (Hans) von Posilge<br />

203


Zeichnung vom Schloss <strong>Angerburg</strong> (1886)<br />

c inz oder Schwanz 320 Den Namen hat es von dem Flusse Angerapp, der früher<br />

Ungurupp<br />

. Andere Orte sind nicht<br />

auszumitteln, z.B. Zogen, An der Goldapper, An der Polommer,<br />

318 hieß. Er heißt der Aalfluß, denn Ungura heißt litauisch<br />

ein Aal und uppe ein Fluss, woraus dann später wohl die<br />

Deutschen, um es zu verfeinern, Angerapp gemacht haben. Bis<br />

zur Reformation hat ein Pfleger auf dem Schloss <strong>Angerburg</strong><br />

gewohnt. Nachdem Preußen ein weltlich Herzogtum geworden, ist<br />

in <strong>Angerburg</strong> ein Hauptamt angelegt.<br />

Es muss aber vor 150 Jahren, zur Zeit des zweiten 319<br />

Amtshauptmanns Wolf v. Seiffertsdorf, hier noch sehr<br />

menschenleer gewesen sein, denn es waren Anno 1539 im ganzen<br />

weitläufigen Hauptamt nur 20 Dörfer, von denen die meisten nicht<br />

einmal viele Bewohner hatten. Diese waren aber alles Deutsche,<br />

während <strong>jetzt</strong> überall die Polen eine so sehr bedeutende Mehrzahl<br />

bilden. Meiner Meinung nach sind die Evangelischen, welche in<br />

Polen zum wiederholten Male heftig verfolgt wurden, im vorigen<br />

Jahrhundert in diese Gegenden verzogen. Manche von den<br />

Ortschaften, die vor 150 Jahren deutsche Namen hatten, werden<br />

<strong>jetzt</strong> polnisch benannt. So hieß z.B. unser jetziges Ogonken<br />

dam<strong>als</strong> S hw<br />

erwähnt in seiner Ordenschronik die neu erbaute Burg mit dem Satz: " Item in desin ziten<br />

buwete der Marschalk eyn huss off der Angerapp ... "<br />

318<br />

Angerapp, nördlicher Abfluss<br />

des masurischen Seenbeckens, durchfliesst die Städte<br />

<strong>Angerburg</strong> und Angerapp (vor 1938 Darkehmen), und entwässert über Pissa und Pregel bei<br />

Königsberg in das Frische Haff.<br />

319<br />

Nach Christoph Schenk zu Tautenburg (1520-1525) und Hironimus von Roch (1525-1530)<br />

war Wolf von Seyffersdorf (1533-1534) eigentlich der dritte Amtshauptmann in <strong>Angerburg</strong>.<br />

320<br />

Die Bezeichnungen Schwanz bzw. Schwänzchen sind offenbar dam<strong>als</strong> gebräuchlich<br />

gewesen. Beides leitet sich von dem poln. Wort ogon bzw. ogonek ab. Bei dem entspr.<br />

Ortsnamen hat man wohl die geografische Lage von Ogonken (Schwenten) im Auge gehabt.<br />

204


Johanns Gut, Gellingk, Schlossberg und andere. Von manchen<br />

Orten weiß man die Benennung. Neuendorf ist z.B. das jetzige,<br />

1571 zur Stadt erhobene, <strong>Angerburg</strong>. Stringel ist Gr. Strengeln,<br />

Sieben heißt <strong>jetzt</strong> Siewen und Soldahnen im Kruglankenschen<br />

Kirchspiel, sowie Reußen und Kehlen im <strong>Angerburg</strong>schen<br />

Kirchspiel. An der Jahrke ist unser Gurnen. Unterm<br />

Schulzen<br />

Martin ist das jetzige Sperling, Gronden das noch <strong>jetzt</strong> so heißt im<br />

Buddernschen Kirchspiel, Polommen<br />

ck ist Adlig Launinken im Kirchspiel<br />

ren, 5<br />

rthalb<br />

321 im Kirchspiel<br />

Schwentainen, das Dorf bey dem grünen Fließ, jetzige<br />

Grünhöfchen. Olosni<br />

Dombrowken. 322<br />

In Neuendorf oder Gerathwohl befand sich aber schon dam<strong>als</strong><br />

die Mühle mit einem Gang. Auf dem Schloss <strong>Angerburg</strong> und der<br />

Schlossfreiheit befanden sich außer der Familie des<br />

Amtshauptmanns auch nur wenige Menschen vor 150 Jah<br />

Knechte, 4 Mägde, 7 Gärtner, 1 Schuster, 2 Hirten.<br />

„Du sprichst ja von den Verhältnissen vor ande<br />

Jahrhunderten so, <strong>als</strong> ob du dam<strong>als</strong> gelebt hättest, lieber Jacob.<br />

Woher weißt du denn das alles so bestimmt?“ fragte Thomas<br />

lächelnd.<br />

„Das will ich dir sagen“, antwortete Nebe. „Als ich in Königsberg<br />

Student war, disputierte 323 der berühmte Magister Christoph<br />

Hartknoch 324 (1674 / 1675) im Auditorio maximo 325 . Er ist leider in<br />

321<br />

Ort im Kirchspiel Schwentainen, 16 km südwestl. von Oletzko/Marggrabowa<br />

322<br />

Die Quelle dieser Ortsnamenangaben ist uns nicht bekannt.<br />

Im Jahre 1540 wurden im Amtsbezirk <strong>Angerburg</strong> insgesamt 427 Familien / Einzelpersonen in<br />

folgenden Orten gezählt: Gut Damerau (Domerau), Goienn (Goye / Guja), Doberschlag<br />

(Brosowen / Hartenstein), Brymsdorf (Prinowen / Primsdorf), Deumellaucken (Jakunowen /<br />

Angertal), Thirgarten (Thiergarten), Kellen (Kehlen), Reußenn (Reußen), Haus <strong>Angerburg</strong><br />

(Schloss <strong>Angerburg</strong>), Engelstein, Rosenngarten (Rosengarten), Neudorf (<strong>Angerburg</strong> – Dorf),<br />

Schwynnz (Ogonken / Schwenten), Stringell (Strengeln), Geling (Pietzarken / Bergensee),<br />

Sybenn (Siewen), Soldannen (Soldahnen), Goldapen (Janellen), Serminen (Surminnen),<br />

Zakauschen (Gross Sackautschen), Grandt (Grondischken + Gronden), Sogona (Sperling),<br />

Scketten (Skötschen), Caldapen (zw. Sakautschen und Kulsen?), Schlosberg (Schlossberg /<br />

Grodzisko / Heidenberg), Jarcke (Schönjariken / Gurnen?), Roßosse (Jürgenshof /<br />

Jurgutschen). [Ostpr. Fol. 911a, Band 1]<br />

323<br />

Referieren / sachlich erörtern<br />

324<br />

Christoph Hartknoch (* 1644 in Jablonken / Kr. Ortelsburg, Ostpreußen; † 1687 in Thorn),<br />

preuß. Historiker und Kartograf. Hartknoch, Sohn von Stephan Hartknoch aus Lyck, zog im<br />

Jahre 1650 zusammen mit seiner Familie nach Passenheim. Dort erlebte er die Schrecken der<br />

Tatarenangriffe. Die Hartknochs konnten sich nach Königsberg retten. Dort fing er 1662 an,<br />

Theologie u. a. Fächer an der Albertina zu studieren. Nach dem Tod seiner Eltern<br />

wurde er<br />

Privatlehrer in Kaunas und dann Rektor an der evangelischen Schule in Vilnius.<br />

Zurück in<br />

205


diesem Jahr zu Thorn verstorben. Wir jungen polnischen Studiosi<br />

waren ganz begeistert von unserem Landsmann und haben seine<br />

Dissertationen, seine Kirchengeschichte und den von ihm edierten<br />

Petrum v. Duisburg 326 fleißig gelesen und uns auch sonst auf die<br />

Antiquitäten gelegt. Meine Bekanntschaft mit den Zuständen im<br />

Amt <strong>Angerburg</strong> stammt übrigens aus einer Kirchenrechnung der<br />

Kirche <strong>Angerburg</strong> vom Jahre 1539 327 , die ich unter anderen<br />

Rechnungen und alten Papieren auf der Kirchenlucht 328 fand, <strong>als</strong><br />

im vorigen Jahre das Dach repariert wurde“.<br />

„Ich glaube aber gehört zu haben“, meinte Thomas, „dass die<br />

Kirche der Stadt <strong>Angerburg</strong> erst Anfang dieses Jahrhunderts unter<br />

den Amtshauptleuten v. Dohna und v. Kreytzen erbauet sei, wie ja<br />

auch noch deren Wappenschilde über dem Haupteingang im Turm<br />

eingemauert sind“. 329<br />

„Ganz richtig“, berichtete Nebe, „das jetzige Kirchengebäude ist<br />

Anno 1605 angefangen zu bauen und 1611 fertig geworden. Aber<br />

schon viel früher (vielleicht schon in katholischer Zeit) hat beim<br />

Schloss <strong>Angerburg</strong> eine hölzerne Kirche oder Kapelle (wie sie<br />

in<br />

einer<br />

Kirchenrechnung vom Jahre 1552 genannt wird) gestanden.<br />

Diese alte Kirche ist vor 80 Jahren Anno 1608 abgebrannt. Fast<br />

die ganze Stadt, auch das 1588 erbaute Rathaus gegenüber den<br />

Fleischbänken, das einen Turm mit einem Uhrwerk hatte, ist im<br />

Feuer aufgegangen. Das ganze Land hat dam<strong>als</strong> zum<br />

Wiederaufbau der Stadt contribuieren 330 müssen“.<br />

Königsberg, verfasste er 1679 ein Werk über Preuß. Geschichte „Alt- und Neues Preußen“,<br />

sowie auch über Preuß. Kirchengeschichte „Preußische Kirchen-Historia“. Ethnographisches<br />

Material erhielt er vor allem von Matthäus Prätorius. Durch seine Arbeit im litauischen<br />

Kaunas und Vilnius interessierte er sich ebenfalls für deren Geschichte und beschrieb<br />

ausführlich dss litauisch-polnischen Bündnis.<br />

325<br />

Großer Hörsaal<br />

326<br />

Er stammte vom Niederrhein und war Priester des Deutschen<br />

Ordens. Um 1330 ist er<br />

verstorben. Von ihm wurde das „Chronicon terrae Prussiae“ verfasst und 1326 dem<br />

Hochmeister Werner von Orseln gewidmet. Es enthält die Geschichte des Ordens in Preußen.<br />

Die überlieferten Handschriften der Chronik sowie die Druckausgabe Hartknochs aus dem<br />

Jahre 1679 gelten <strong>als</strong> wenig zuverlässig.<br />

327<br />

Ob dem Autor tatsächlich<br />

eine Kirchenrechnung aus diesem Jahre vorlag, ist heute nicht<br />

mehr festzustellen.<br />

328<br />

Lucht = Dachboden<br />

329<br />

S. Bild S. 103<br />

330<br />

Contribution: Jede Abgabe, die (außer den Kammereinkünften) von den Untertanen zu den<br />

Bedürfnissen eines Landes gegeben wird. Hier: beisteuern, beitragen.<br />

206


„Das Schloss in der Stadt <strong>Angerburg</strong> sieht mir aber gar nicht so<br />

aus“, sagte Thomas, „wie die anderen alten Ordensschlösser, von<br />

sere gnädige Landesherrschaft zu<br />

iegesmund 331 denen ich an der Weichsel und im polnischen Preußen eine Menge<br />

gesehen habe“.<br />

„Das wird wohl daher kommen“, meinte Nebe, „dass in dem<br />

Schloss <strong>Angerburg</strong> un<br />

wiederholten Malen Hof gehalten hat. Da wird das Schloss wohl<br />

ausgebaut und anders eingerichtet sein. Bald nach dem Brand<br />

Anno 1608 hat der Herr Kurfürst Johann S<br />

mit dem<br />

Herzog von Kurland<br />

er haben sie dam<strong>als</strong> große<br />

den 83jährigen Matthias Roperk fragen, wenn der von<br />

332 und dessen Gemahlin sich längere Zeit im<br />

Schloss <strong>Angerburg</strong> aufgehalten. Hi<br />

Jagden veranstaltet. Es muss dem Kurfürsten die Jagd hier herum<br />

wohl gefallen haben, denn er hat Anno 1612 mit seiner Gemahlin<br />

¼ Jahr lang bis gegen Oktober im <strong>Angerburg</strong>er Schloss residiert.<br />

Auch sein Sohn, der Kurfürst Georg Wilhelm 333 ist gleich im ersten<br />

Jahr seiner Regierung auf dem <strong>Angerburg</strong>er Schloss eine Zeit lang<br />

gewesen. Von da ging er nach Rhein, kam aber bald wieder zurück<br />

und blieb bis zum November. Nach sieben Jahren kam dann der<br />

Kurfürst wieder nach <strong>Angerburg</strong>. Wenn du dich interessierst, dann<br />

musst du<br />

der Herrlichkeit der kurfürstlichen Hofhaltung zu erzählen anfängt,<br />

dann kann er kein Ende finden“.<br />

Hin und her erschienen auf dem See in den Buchten die Fischer,<br />

die ihr aufgestelltes Wintergarn untersuchten. Nach einigen<br />

Stunden der raschen Fahrt winkte rechts der Kirchturm, das<br />

Schloss und das Städtchen<br />

Lötzen von seinem Hügel am See. Die<br />

Fläche des Eises war von einer lärmenden Schar Knaben belebt,<br />

331<br />

Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg regierte von 1608 – 1619. Er war seit 1594<br />

mit Anna von Preußen und Jülich – Kleve – Berg, einer Tochter des unter Vormundschaft<br />

stehenden Herzogs Albrecht Friedrich von Preußen (1553 – 1618) verheiratet. Sigismund<br />

erlangte 1609 die vormundschaftliche Regierung im Herzogtum Preußen und 1611 die<br />

Anerkennung seines Erbrechtes sowie die Belehnung mit Preußen, aber nur durch<br />

entscheidende Zugeständnisse an den Oberlehnsherrn, den polnischen König Sigismund III.<br />

(1587 – 1632) sowie an die preußischen Stände. Mit dem Antritt der jülischen Erbschaft seiner<br />

Gemahlin Anna im Rheinland gelang eine Westausdehnung des brandenburg-preußischen<br />

Territoriums. Dieses steht im Zusammenhang mit dem Übertritt Johann Sigismunds zum<br />

kalvinistischen Teil<br />

der jülisch-Klevischen Einwohnerschaft. Dieser Konfessionswechsel<br />

erregte<br />

in Brandenburg, aber noch mehr im streng lutherischen Preußen großen Anstoß.<br />

332<br />

Vermutlich handelte es sich um den Herzog Wilhelm von Kurland, der von 1595 – 1616<br />

regierte.<br />

333<br />

Er regierte von 1619 – 1640 und wurde im Königsberger Dom begraben. Verheiratet war<br />

er seit 1616 mit Elisabeth Charlotte<br />

von der Pfalz.<br />

207


die ihre Künste auf den Schorrbahnen 334 trieben oder sich auf<br />

kleinen Schlitten vom Ufer hinabgleiten ließen.<br />

Beim Näherkommen bemerkten die Reisenden, dass vom<br />

Kirchturm nur geschwärzte Ruinen standen, und <strong>als</strong> sie in die<br />

Stadt kamen, sahen sie, dass viele Häuser ausgebrannt in<br />

Trümmern lagen, während nur wenige auf der Brandstelle neu<br />

gebaut und andere notdürftig zur Winterwohnung ausgeflickt<br />

waren.<br />

„Wann ist denn hier das große Feuer gewesen, Jasch?“ fragte<br />

Thomas, „ich besinne mich gar nicht, davon gehört zu haben“.<br />

„Es ist etwas über ein Jahr her“, antwortete an Jaschs Stelle der<br />

Diakon. „Mein Amtsbruder, der Diakon Boretius kam im<br />

vergangenen Winter zu mir, um für seine arme Gemeinde zu<br />

sammeln.<br />

See. Fahre ein wenig mehr<br />

ahren“, sagte Thomas.<br />

der<br />

335<br />

„Jetzt kommen wir an den Dargainen<br />

rechts, Jasch, dort gerade vor uns in weiter Ferne liegt das Ufer<br />

und die Bucht von Poganten 336 , wir müssen in den Kissainsee<br />

hineinf<br />

„Aber wie kennst du diese Gegend so genau?“, fragte Nebe<br />

verwundert. „Bist du denn hier schon oft gereist?“<br />

„Vor 20 Jahren ungefähr bin ich einmal <strong>als</strong> Junge hier über den<br />

See gefahren, darauf kann ich mich nur noch dunkel besinnen.<br />

Der Vater aber, der die Seen so genau kennt, hat mir den Weg<br />

genau beschrieben“.<br />

Das hohe Ufer erschien immer deutlicher. Im Bogen fuhr<br />

Schlitten um eine Landzunge und dann in den Kissainsee, dessen<br />

beide Ufer etwa eine halbe Meile von einander entfernt, sich bald<br />

334<br />

Gleitbahnen auf dem Eis<br />

335<br />

Am 2. November 1686 wurde Lötzen durch eine große Feuersbrunst heimgesucht, bei<br />

welcher 73 Gebäude abgebrannt sind und auch die Kirche und der Kirchturm ein Raub der<br />

Flammen wurden. …Nach der o. g. großen Feuersbrunst reichte die Gemeinde am 15. Juli<br />

1687 bei der Regierung eine Bittschrift ein, in der um eine allgemeine Kollekte in allen<br />

Kirchen des Landes zur Stillung ihrer Not gebeten wurde. …Schon unter dem 3. September<br />

selbigen Jahres hatte die Stadt eine neue Bittschrift abgesandt. "Die Stadt sei durch die<br />

Feuersbrunst in so große Schulden geraten, dass sie niem<strong>als</strong> herauskommen wird“. …<br />

(Noch zwei weitere Bittschriften wurden abgesandt. Man bat um 6 Jahre Erlass der Zinsen<br />

welche sich auf 374 Mark beliefen. Am 10.April 1690 verfügte der Minister Dankelmann:)<br />

"Zur Bezeugung unserer landesväterlichen Gnade gegen die abgebrannte Stadt Lötzen haben<br />

wir derselben 6 Freijahre verstattet, auch den Zins von ihren 10 Waldhuben in unserem Amt<br />

<strong>Angerburg</strong>, so sich jährlich auf 30 Mark erstrecket, erlassen“. [Lit.: Chronik der Gemeinde<br />

Lötzen, S.29-30, 1912 Superint. Ernst Trincker]<br />

336<br />

Vorwerk zwischen Mauer-, Skars- und Trittsee, 6 km nördl. von Lötzen.<br />

208


näher, bald ferner zeigten. Er fuhr an mehreren Inseln vorüber<br />

seine Bahn nach Süden, bis der See in einer Bucht endete.<br />

„Folge nur dem angefahrenen Weg, Jasch“, sagte Thomas. „Die<br />

Landenge ist nicht breit, dann kommen wir wieder auf Eis“.<br />

Nach kurzer<br />

Zeit zeigte sich die unabsehbare Fläche des<br />

Löwentinsees, und der Schlitten fuhr, auf dem See angekommen,<br />

in scharfer Wendung nach links der Stadt Lötzen zu. Links lag ein<br />

großes Gebäude, das mit seinen vier Flügeln einen Hof umschloss.<br />

Mitten auf dem Schlosshof befand sich ein neueres Haus, nach der<br />

Bauart der damaligen Zeit mit hohen ausgeschweiften Giebeln,<br />

steilem Dach und hohen Schornsteinen.<br />

Das Ordensschloss von Lötzen (Federzeichnung von Willi Griemberg)<br />

„Das ist gewiss das Schloss Lötzen“, sagte Nebe, „das Anno<br />

1285 vom Orden angelegt ist, wie Hartknoch schreibt“.<br />

Die Reisenden erblickten nun vor sich das Städtchen, welches<br />

sich mit seinen Häusern am Abhang des hohen Ufers gegen den<br />

See erbaut, hell beleuchtet von der Wintersonne sehr freundlich<br />

ausnahm. Der Turm der Kirche hatte kein Dach und war von<br />

Rauch geschwärzt, das Kirchendach notdürftig hergestellt. Auch<br />

einige nicht weit von der Kirche entfernte Häuser waren<br />

abgebrannt und der Himmel sah durch die Fensterhöhlen.<br />

Vor dem größten Hause des Marktes hielt der Schlitten.<br />

209


„Bin ganz steif geworden vom Sitzen“, sagte Nebe, indem ihm<br />

Thomas beim Aussteigen behilflich war. „Ich bin auch recht<br />

hungrig geworden“.<br />

„Nun komme nur hinein, lieber Schwager“ sagte Thomas. „Wir<br />

wollen uns schon ausruhen und stärken“.<br />

Von der knicksenden Wirtin an der Tür der Krugstube<br />

empfangen, wurden die Reisenden durch diese hindurch<br />

in das<br />

Wohnstübchen geleitet, wo die Frau schnell den Tisch mit der<br />

Schürze abwischte.<br />

„Was kann Sie uns zu Mittag geben?“ fragte Thomas.<br />

„Ach, schönsten Fisch, ganz frisch. Heute des Morgens auf dem<br />

Mauersee gefangen“, antwortete die Frau. „Ihr müsst wissen, die<br />

Fische aus dem Mauersee schmecken besser <strong>als</strong><br />

die aus dem<br />

Löwentinsee“.<br />

„Dann brate Sie uns die Fische und bringe für uns inzwischen<br />

jedem eine Maß Bier. Sie kann dem Knecht auch eins geben. Wie<br />

lange wird’s wohl mit dem Mittag noch dauern?“ fragte Thomas,<br />

nach seiner Uhr sehend.<br />

„In ’ner knappen halben Stunde ist’s fertig“, sagte die Wirtin,<br />

indem sie sich umwandte, um das Bier zu holen. Bald erschien sie<br />

wieder mit den schäumenden Zinnkrügen.<br />

„Wann ist denn hier das Feuer gewesen?“ fragte Thomas,<br />

während der Diakon einen Zug tat.<br />

„Ach, vergangenes Jahr, acht Tage vor Martini<br />

öchte wohl den Diakonum Boretium besuchen, mit dem<br />

enen Winter bei mir, um nach dem Brand für die arme<br />

llekte bewilligt, weil die Kirche stehen<br />

337 “, antwortete<br />

sie. „73 Häuser verbrannten und der Kirchturm brannte aus; unser<br />

Haus war in größter Gefahr und wenn der liebe Gott nicht gegeben<br />

hätte, dass der Wind sich gedreht hätte, würden wir alles verloren<br />

haben. Wir haben so schon Schaden genug, denn weil die halbe<br />

Stadt beinahe abgebrannt und so sehr vielen Leuten alles<br />

verbrannt war, hatten wir bei vielen von unseren Schuldnern das<br />

Nachsehen. Doch ich stehe und plappere“. Damit eilte sie in die<br />

Küche.<br />

„Ich m<br />

ich noch von Universitätszeiten gut bekannt bin. Er war auch im<br />

vergang<br />

Gemeinde zu sammeln. In der Oberratsstube hatten sie nicht eine<br />

allgemeine Kirchenko<br />

geblieben wäre. Ich muss den Boretius, meinen alten Christoph<br />

heute besuchen“.<br />

337 Martini: 11. November<br />

210


„Ich denke, lieber Schwager“, meinte Thomas, „du wolltest doch<br />

hauptsächlich den Pfarrer Cibulcovius in Neuhoff besuchen und<br />

dann mit mir nach Lyck fahren. Daher verspare doch lieber deinen<br />

Besuch<br />

bei dem Herrn Diakon, wenn wir zurückkommen. Wenn<br />

uns dann die Zeit zu knapp werden sollte, so fahre ich mit dir nach<br />

Neujahr von <strong>Angerburg</strong> hinüber“.<br />

„Nun, wie du meinst“, sagte Nebe,<br />

„aber das Schloss und die<br />

Stadt möchte ich mir bei dem schönen Wetter besehen, wenn wir<br />

Mittag gegessen haben. Ich bin schon recht hungrig“.<br />

Der Wirt, Mälzenbräuer und Ratsverwandter Göring kam aus der<br />

Ratssitzung.<br />

Nachdem Menschen und Pferde sich ausgeruht und gestärkt<br />

hatten, ging’s weiter. Beschneite Felder, waldbewachsene Hügel<br />

und Berge zogen an den Reisenden vorüber. Die Sonne neigte sich<br />

und die schneebedeckte Erde hüllte sich im Dunkel. Doch bald<br />

beleuchtete der Mond dieselbe wieder fast mit Tageshelle.<br />

Allmählich wurde die Bahn immer geringer und hörte endlich im<br />

Wald ganz auf.<br />

„Na, du hast uns schön in di e Fichten geführt, Jasch“, sagte<br />

Thomas. „Steige nur ab und gehe auf unsrer Spur zurück. Ich<br />

werde<br />

dir mit dem Schlitten folgen“. Jasch brummte und stieg ab,<br />

während<br />

Thomas umwendete und langsam und aufmerksam dem<br />

durch<br />

den tiefen Schnee vorausschreitenden Knecht folgte. Nach<br />

einiger<br />

Zeit zeigte sich eine von mehreren Schlitten gebahnte<br />

Spur.<br />

Jasch stieg wieder auf und die Pferde folgten längere Zeit<br />

den<br />

Windungen dieses neuen Weges.<br />

Plötzlich führte dieser steil wie von einem Dach hinab zum Ufer<br />

eines<br />

Sees, an dessen Ufer man im Mondlicht einige Hütten liegen<br />

sah.<br />

„Mein lieber Schwager, hier müssen wir aussteigen“, sagte<br />

Thomas zu dem Diakon, der ein wenig eingenickt war, da er früh<br />

aufgestanden und von der ungewohnten Luft etwas benommen<br />

war. Das Aussteigen schien diesem gar nicht zu gefallen, doch<br />

bequemte er sich langsam, den steilen Berg hinabzusteigen,<br />

während Thomas und Jasch den Schlitten mühsam den<br />

h<strong>als</strong>brechenden Weg hinunter brachten.<br />

Endlich war man auf ebenem Boden angelangt. Einige armselige<br />

Hütten zeigten sich, daneben große Massen unordentlich<br />

aufgestapeltes Brennholz. Zwischen den blätterlosen beschneiten<br />

Weiden, die am Ufer des Sees standen, befanden sich mehrere<br />

halb an das Land gezogene, schief eingefrorene vollgeschneite<br />

211


Kähne. Eine Menge zottiger Hunde empfing die unverhofft<br />

Ankommenden mit furchtbarem Gebell. Das schien aber die<br />

Bewohner der Häuser, aus deren jedem eine dicke Rauchsäule<br />

aufstieg, nicht im Geringsten zu kümmern.<br />

Während Jasch mit der Peitsche auf die Köter einhieb und die<br />

Bahn frei machte, traten Thomas und der Diakon in das nächste<br />

Haus. Ein hell brennender Zibber erleuchtete das Gemach, eine<br />

schwarz geräucherte sehr niedrige Stube, welche kaum diesen<br />

Namen verdiente, mit schiefen feuchten Wänden, einer halb<br />

eingesunkenen, durch einen rohen Pfahl unterstützten Decke,<br />

einem großen ungeschickten zersprungenen Ofen. Ferkel, Hühner<br />

und fast nackte Kinder befanden sich auf dem aufgeweichten<br />

Fußboden. In der Ecke am Ofen hielten einige Männer ihr Mahl,<br />

das aus Fischen bestand.<br />

Eine warme, feuchte, stinkende Luft schlug den Eintretenden<br />

entgegen. Der Diakon hielt sich die Nase zu und blieb in der Tür<br />

stehen:<br />

„Komm nur hinein“, sagte Thomas deutsch, „ich kenne solche<br />

Orte von meinen<br />

Reisen in Polen“.<br />

Mit diesen Worten wendete er sich zu einem alten Mann mit<br />

langen weißen Haaren, welcher der Hausvater zu sein schien.<br />

Thomas bat ihn in fließendem polnisch zu gestatten,<br />

dass er und<br />

seine Begleiter sich bei ihm bis zur Weiterfahrt nach Neuhoff, das<br />

nicht weit sein könne, aufzuwärmen.<br />

Der alte Pole erhob sich von der niedrigen Ofenbank, hieß<br />

Thomas und seinen Begleiter willkommen und lud sie ein,<br />

an ihrer<br />

Mahlzeit teilzunehmen. Neuhoff sei übrigens mehr <strong>als</strong> 2 Meilen<br />

entfernt, das würden sie schwerlich heute noch erreichen. Ein<br />

altes Weib holte zur Verherrlichung des Mahles eine hölzerne<br />

338<br />

schmutzige Schüssel voll kalten Bartsch , den sie aus der<br />

Tranktonne schöpfte. Jasch trat herein und brachte die gefüllte<br />

Wegkostlischke sowie die zugeschrobenen Zinnflaschen mit<br />

Schnaps. Thomas nahm ihm eine derselben ab, goss den<br />

Zinnbecher<br />

voll und reichte ihn dem Alten, indem er ihm zutrank.<br />

Dann machte der Becher die Runde, während Thomas dem Diakon<br />

aus der Lischke etwas zu essen reichte. Dieser nahm es zwar,<br />

doch schmeckte es ihm nicht.<br />

„Was ist<br />

das für ein Abendessen und für eine Gesellschaft?“,<br />

fragte er halblaut auf deutsch. „Wir könnten <strong>jetzt</strong> so schön in<br />

Lötzen sein und bei dem Amtsbruder<br />

Georg Boretius sitzen! Aber<br />

338 Ein Rote-Beete-Mus, nach ostpreußischem Rezept.<br />

212


solch ein Freier hat keine Zeit, da musste dann gleich<br />

weitergefahren werden. Nun sind wir in einen lieblichen Hafen<br />

eingelaufen“.<br />

Thomas sprach mit dem Alten, der ihm zum anderen Tag einen<br />

Führer versprach, der die Reisenden sicher nach dem Flecken<br />

Arys<br />

. Ich habe ihnen Tannenreiser<br />

Diakon fasste brummend in alle Taschen und brachte<br />

t rotem Band<br />

tecken“, sagte Nebe.<br />

n<br />

Kirchenlehrer, wie auch etliche Predigten gleichen Inhalts gesetzt<br />

339 bringen sollte, von wo aus sie den Weg nach Neuhoff nicht<br />

verfehlen könnten.<br />

„Wie sind die Pferde untergebracht, Jasch?“ fragte Thomas.<br />

„Die stehen in einem Schuppen“, erwiderte dieser, „aber das<br />

Volk hat keine Hand voll Stroh<br />

unterstreuen müssen“.<br />

„Weißt du was, Jasch“, sagte Thomas, „bringe uns auch ein Paar<br />

Arme voll von der neumodischen Streu in die Stube hier und<br />

schaffe alles vom Schlitten herein“.<br />

„Ist schon alles hier“, sagte Jasch mit pfiffigem Gesicht.<br />

Bald war in einer Ecke an der feuchten Erde ein elastischer<br />

wohlriechender Tannenhaufen aufgeschichtet. Der Futtersack<br />

diente <strong>als</strong> Kopfkissen, die Decken <strong>als</strong> Laken und die Pelze <strong>als</strong><br />

Decken. Der<br />

endlich aus dem tiefsten Grund der Pelztasche ein mi<br />

gebundenes Pack Taschentücher zum Vorschein.<br />

„Was suchst du denn so emsig?“ fragte Thomas.<br />

„Ja, die Anna hat bei allem Einpacken doch vergessen, mir mein<br />

Gebetbüchlein, in dem hinten weiße Blätter für meine Notizen<br />

sind, einzus<br />

„Vielleicht kann ich dir aus der Not helfen“, sagte Thomas,<br />

indem er ihm ein kleines Büchlein überreichte, das kaum eine<br />

Handbreit lang war und in dem sich auch unbeschriebene Blätter<br />

befanden. Nebe schlug das Titelblatt auf und las: „Göttliche<br />

Liebes-Flamme: Das sind christliche Andachten, Gebet und<br />

Seufzer, über das königliche Braut-Lied Salomonis, darinnen ei<br />

gottseliges Herz fürnehmlich zu eifriger Betrachtung der<br />

unverschuldeten Liebe Christi und seiner schuldigen Gegenliebe<br />

wird angemahnt. Dazu auch am Ende etliche Gebete der H.<br />

worden mit künstlichen Kupferstücken und anmutigen Liedern,<br />

welche auf bekannte und absonderliche Melodien zu singen,<br />

339 Stadt zwischen Arys- und Spirdingsee, 27 km südl. von Lötzen, 1507 erstm<strong>als</strong> urkundlich<br />

erwähnt, ab dem späten 19. Jahrhundert Bahn- und Straßenknotenpunkt, bedeutender<br />

Truppenübungsplatz.<br />

213


aufgesetzt durch Johann Michael Dilherr 340 Amsterdam, gedruckt<br />

und verlegt durch Joachim Nosche und Nicolaus Jüth, von Nosche,<br />

Buchhändlern in der Harlemmer Straßen hochdeutschen Bibel<br />

1672“.<br />

„Das ist ja ein vielversprechender Titel, wo hast du das Büchlein<br />

her?“<br />

„Es ist ein Geschenk, das ich vorigen Herbst in Elbing erhielt“,<br />

antwortete Thomas.<br />

Der Diakon blätterte im Büchlein, las dann ein Abendlied und<br />

Abendgebet,<br />

gab das Buch zurück, und bald waren er und Thomas<br />

von tiefem Schlaf umfangen. Die Hausbewohner aber waren noch<br />

lange beschäftigt, die Angelschnüre zur Fischerei des nächsten<br />

Tages zuzurichten.<br />

340 Johann Michael Dilherr (* 14. Oktober 1604 in Themar; † 8. April 1669 in Nürnberg) war<br />

ein protestantischer Theologe und Philologe in Jena und Nürnberg.<br />

214


23. Fischer auf den Masurischen Seen<br />

Um 5 Uhr morgens weckte Thomas seinen Jasch, um die Pferde<br />

zu versorgen, damit sie bald fortkämen.<br />

„Vor Tage<br />

lohnt’s nicht auszufahren“, sagte der alte Fischer, der<br />

den gegebenen Auftrag gehört hatte, „es ist zu finster“.<br />

Bald erhoben sich alle. Die beiden Söhne des Alten<br />

gingen<br />

hinaus, Thomas folgte ihnen. Er sah beide am Ufer des Sees, wo<br />

sie 1 bis 2 Schritte vom Schilf alle 10 Schritte kleine Löcher<br />

(Wuhnen) in’s Eis hieben. In jede Wuhne wurde eine lebendige<br />

Plötze, der ein Angelhaken mit einer Kette unter den Schuppen<br />

und der Haut durchgesteckt war, an einem Faden 1-2 Klafter<br />

orauf die Schnur gewickelt<br />

)<br />

chen, ruckte mit demselben, damit der<br />

341<br />

tief in’s Wasser gelassen, so dass sie nicht bis auf den Grund<br />

gelangte, sondern im Wasser sich frei bewegen konnte. Darauf<br />

wurde eine hölzerne Puppe (Knäul), w<br />

war, aufs Eis dicht an das Loch gesetzt. In die Schnur, an der ein<br />

kleiner Messingring hing, wurde ein Stöckchen (ein Finger dick<br />

gesteckt und quer über die Wuhne gelegt, und so hing das<br />

Schnürchen mit dem Ring an diesem Stöckchen im Wasser. Durch<br />

den Ring war die Schnur gezogen, von der das Ende an der Puppe<br />

befestigt war, während am anderen Ende der Köder im Wasser<br />

hing.<br />

Nachdem die jungen Leute eine lange Reihe Wuhnen gefertigt<br />

und ihre Angeln versenkt hatten, stellte sich jeder von ihnen in die<br />

Mitte seiner Puppen etwas auf dem Eis zurück, um alle gut<br />

übersehen zu können. Es war inzwischen ganz hell geworden.<br />

Wenn eine der Puppen sich rührte, lief der Fischer schnell auf<br />

dieselbe zu, ergriff das Hölz<br />

gefangene Fisch sich verhaken möchte und zog ihn dann aus dem<br />

Wasser.<br />

Thomas sah aufmerksam zu. Der alte Pole gesellte sich zu ihm.<br />

„Ach, das ist ja eine sehr mühsame Fischerei“, sagte Thomas zu<br />

dem Alten. „Braucht Ihr denn keine Netze?“<br />

„Wir sind zu arm, Herr“, erwiderte dieser, „um ein Wintergarn<br />

anzuschaffen. Doch auch beim Angeln verdienen ich und meine<br />

Jungen mehr, <strong>als</strong> wenn wir beim Fischereipächter arbeiten<br />

möchten. Im Sommer fischen wir mit kleinem Gezeug“.<br />

341<br />

Ein Klafter ist die Länge, die ein Mann, wenn er beide Arme ausstreckt, mit der Spitze der<br />

Mittelfinger beider Hände erreichen kann.<br />

215


Während dieses Gesprächs waren sie, indem der Alte<br />

eingehender von seinem Fischfang, gesegneten Zügen usw.<br />

berichtete, an das Ende der Wuhnen gekommen. Thomas kehrte<br />

sich um:<br />

„Was ist das für ein Türmchen, das dort jenseits der Bucht über<br />

die Weiden herüberragt?“, fragte er den Alten.<br />

„Das ist der Turm der Kirche von Eckersberg 342 “, war die<br />

Antwort.<br />

„Vom Kirchdorf Eckersberg?“ fragte Thomas verwundert. „Das<br />

kann kaum möglich sein. Eckersberg liegt ja am Spirdingsee und<br />

im Dorf, namens Wissowatten 343 , durch das wir zuletzt kamen. Wo<br />

ich nach dem Weg nach Neuhoff fragte, sagte man uns, wir sollten<br />

nur immer dem Weg folgen, dann würden wir in einigen Stunden<br />

in Neuhoff sein“.<br />

„Ganz recht“, sagte der Alte, „aber gleich hinter dem Dorf<br />

Wissowatten führt der befahrene Weg nach Arys geradeaus,<br />

während der wenig benutzte nach Neuhoff links abbiegt. Ihr seid<br />

bis eine Meile von hier auf der Straße nach Arys gefahren und<br />

dann der Spur unserer Holzschlitten gefolgt, die Euch an diese<br />

Bucht des Spirdingsees<br />

führte“.<br />

Thomas fand den Diakon Nebe schon beim Frühstück.<br />

„Weißt du, Schwager, wohin wir geraten sind?“ fragte er. „An<br />

den Spirdingsee. Eckersberg ist kaum ½ Meile von hier entfernt“.<br />

„So, so“, sagte der Diakon kauend, „<strong>als</strong>o Eckersberg, wo Anno<br />

344<br />

1361 Kynstut gefangen genommen wurde. Das habe ich mir<br />

längst einmal ansehen wollen, auch kenne ich den Pfarrer<br />

Cibrovius. Ich wohnte <strong>als</strong> Student mit seinem jüngeren Bruder<br />

zusammen, bei dem ich ihn niem<strong>als</strong> gesehen habe. Wir müssen<br />

hinfahren“.<br />

„Aber unsere Fahrt nach Lyck?“ warf Thomas ein.<br />

„Festina lente“, sagte lächelnd Nebe, „Eile mit Weile. Wären wir<br />

gestern hübsch in Lötzen geblieben, so führen wir heute nicht<br />

342<br />

Nach Goldbeck 1785: Ecker(t)sberg = Kgl.Kirchdorf, 16 Feuerstellen Landrätlicher Kreis<br />

Sehesten; Justizkreis Lyck; Amtsbezirk Johan(ni)sburg;<br />

343<br />

Ort im Kirchspiel Milken, 7 km S von Milken, ungefähr halbwegs an der Straße zwischen<br />

Lötzen und Arys an der Nordspitze des Ublick-Sees.<br />

344<br />

Eckersberg wurde 1361 von Fürst Kynstut mit seinen Litauern belagert, erobert und<br />

zerstört. In den anschließenden Verfolgungskämpfen gelang es dem Ritter von Kranichsfeld,<br />

Kynstut gefangen zu nehmen. Der Litauerfürst wurde in die Marienburg gebracht, konnte von<br />

dort jedoch schon bald mit Hilfe des Bruders Alf wieder fliehen. Mit ungebrochener Kraft<br />

nahm Kynstut den Kampf gegen den Orden erneut auf, wurde jedoch 1370 bei Rudau im<br />

Samland vernichtend geschlagen (s. auch FN 315).<br />

216


nach Eckersberg. Übrigens ist ja heute eben erst der zweite Tag<br />

unserer Reise angebrochen und wir haben <strong>als</strong>o noch volle 7 Tage<br />

vor uns“.<br />

Der Schlitten wurde bestiegen, die Pferde hatten gut ausgeruht.<br />

Schnell ging’s auf dem Eis durch die Bucht in einem weiten Bogen<br />

auf die unabsehbare Fläche des zugefrorenen Sees zu. Doch bald<br />

erschien hinter den letzten Büschen des beschneiten Ufers das<br />

Dorf Eckersberg. Von der Morgensonne beleuchtet stiegen aus den<br />

Feuerstellen gerade goldbesäumte Rauchsäulen in die klare Luft.<br />

Von Minute zu Minute kam man dem Ufer näher, die Formen der<br />

Häuser konnte man schon genau erkennen. In der Nähe des Ufers<br />

war auf dem Eis viel Leben. Der vielen aufeinanderfolgenden<br />

Feiertage wegen hatten die Fische einige Zeit Ruhe gehabt. Der<br />

gestrige Montag (nach 4 Feiertagen) war von den Fischern zum<br />

Ausruhen nach den Strapazen im Krug und zu verdrossenen<br />

Vorbereitungen zur heutigen Fischerei verwendet worden. Heute<br />

aber waren die Fischer<br />

wieder in ihrem Element. Einige<br />

handhabten die Eisäxte, andere trugen Netze und Stangen.<br />

Eisfischer auf den masurischen Seen<br />

Es war ein buntes bewegtes, fortwährend wechselndes Bild.<br />

Thomas fuhr auf eine Stelle des Ufers zu, auf der er in der Ferne<br />

oben einen Schlitten die Uferhöhe herabkommen, auf das Eis<br />

gleiten und bei den Fischern anhalten sah. Plötzlich liefen einige<br />

Fischerknechte<br />

seinem Schlitten entgegen, winkten mit den<br />

217


Händen, riefen in polnischer Sprache „Halt!“ und gingen an ihre<br />

Arbeit. Thomas hielt an, da er glaubte, es befände sich zwischen<br />

seinem Schlitten und dem Ufer eine offene oder schwache Stelle<br />

im Eis, vor der die Polen warnen wollten. Er stand auf, konnte<br />

aber nichts Verdächtiges erblicken. Er fuhr <strong>als</strong>o langsam und<br />

vorsichtig dem Ufer näher, war aber nicht weit gekommen, <strong>als</strong><br />

wieder ein Knecht entgegengelaufen kam. „Halt, halt“ schrie<br />

er<br />

und machte Miene, die Pferde anzuhalten.<br />

„Was ist dir denn“, rief Thomas,<br />

„dass du uns nicht fahren<br />

lassen willst? Wir fahren zum Herrn Pfarrer nach Eckersberg, mach<br />

Platz, oder ich fahre dich über!“<br />

Anstatt Antwort zu geben, legte der Knecht beide Hände<br />

trichterförmig an den Mund und stieß einen lauten Ruf aus.<br />

Sogleich eilte<br />

aus der Gruppe der Fischer einer derselben auf den<br />

Knecht und den Schlitten zu. Er hatte eine kräftige Figur und war<br />

mit einer Fischermütze und einem Schafpelz bekleidet.<br />

„Weshalb rufst du mich, Anton?“ fuhr er den Knecht an.<br />

„Herr, diese Leute wollen Euch besuchen“, antwortete dieser.<br />

„Ist’s die Möglichkeit“, rief der Kaplan Nebe aus, es ist ja<br />

wirklich der Amtsbruder Cibrovius!“<br />

Er bemühte sich, seine Füße von den umhüllenden Pelzen zu<br />

befreien und abzusteigen, <strong>als</strong> der Pfarrer sehr freundlich auf den<br />

Schlitten zutrat, höflich die Insassen desselben<br />

begrüßte. Er fragte<br />

die Herren, ob sie ihn in seinem Haus erwarten oder lieber den<br />

Fischzug bei dem schönen Wetter ansehen wollten.<br />

Beide zogen es vor, abzusteigen und zu bleiben. Cibrovius sagte<br />

zu Jasch:<br />

„Fahre mit dem Schlitten dort herum, wo der Tannenbaum im<br />

Eis steckt, und dann in’s Dorf. Den Pfarrhof wirst du wohl finden.<br />

Spanne aus und lass’ dir dort was für dich und die Pferde geben“.<br />

Jasch fuhr ab, und der Pfarrer ersuchte seine Gäste, ihm zu<br />

folgen.<br />

„Aber weshalb ließt Ihr uns nicht geradezu über das Eis fahren?“<br />

fragte Nebe, während sie den Fischern sich näherten.<br />

„Das bitte ich sehr zu entschuldigen“, sagte Cibrovius. „Ich hatte<br />

meinen Leuten gesagt, sie möchten die Schlitten, die mit Holz aus<br />

dem Wald kämen, um meine Grenzen herumschicken, damit sie<br />

mir nicht meine Merkzeichen zur heutigen Fischerei, an denen ich<br />

lange gerechnet und gemessen und zu deren Aufstellung ich den<br />

gestrigen ganzen Tag brauchte, verrücken oder vermischen<br />

möchten. Ich bitte nochm<strong>als</strong> um Entschuldigung wegen des<br />

unverständigen Eifers meiner Leute“.<br />

218


Inzwischen war man den Fischern immer näher gekommen. Der<br />

Pfarrer überwachte schon von fern jede Bewegung seiner Leute:<br />

„Seht, ich kenne den Boden auf dem See, der zu meinem<br />

Pfarrdienst gehört, ziemlich gut. Deshalb weiß ich auch, wo ich<br />

hoffen kann, einen guten Zug zu tun. Die Winterfischerei ist<br />

meistens einträglicher <strong>als</strong> die Fischerei in den anderen<br />

Jahreszeiten, denn einmal fängt man mehr und dann verderben<br />

die Fische nicht so leicht und sind besser zu verkaufen. Es ist aber<br />

eigentlich nur bei solch gelindem Wetter wie wir heute haben, gut<br />

zu fischen. Denn friert’s zu stark, kann man mit dem Netz nicht<br />

hantieren und das Eis ist nicht sicher, wenn sich zu viele Menschen<br />

darauf bewegen. Zuweilen wagen’s die Fischer mit Lebensgefahr<br />

auch auf schwachem<br />

Eis“.<br />

Unter diesen und ähnlichen Erläuterungen des Pfarrers waren<br />

sie an eine Stelle gekommen, wo nach der Vorzeichnung des<br />

Pfarrers auf dem Eis eine große breite Wuhne eingehauen wurde.<br />

Der Pfarrer rief zwei von den Arbeitern ab und ließ sie, während<br />

die anderen drei an der großen Wuhne weiter arbeiteten, auf<br />

beiden Seiten derselben nach dem Ufer zu kleinere Löcher auf<br />

genau bezeichneten Stellen in’s Eis hauen, im Umkreise von<br />

mehreren 100 Schritten. Diese Löcher waren etwa so weit von<br />

einander entfernt, <strong>als</strong> eine recht lange Stange lang ist.<br />

Skizze: Wuhnenanordnung im Eis (AHB 140 S. 109)<br />

219


Jetzt war die große Wuhne fertig, und das schwere große<br />

Wintergarn-Netz<br />

wurde vom Schlitten geholt und in’s Wasser<br />

gesenkt. Auf jeder Seite des Netzes (oder auf beiden Flügeln)<br />

war<br />

eine sehr lange Stange mit starken bastenen Stricken befestigt,<br />

die von einem Eisloch zum anderen unter dem Eis reichen müsste.<br />

Auf jeder Seite, wo die kleinen Löcher eingehauen waren, stellte<br />

sich ein Fischer mit einer hölzernen Gabel auf und führte mit<br />

derselben mühsam die Stange unter dem Eis von seinem Loch<br />

zum nächsten, an dem sie ein Kamerad mit seiner Gabel im<br />

Wasser aufsuchte und wieder weiterführte.<br />

Außerdem waren an<br />

beiden Seiten der Löcher noch andere Leute, welche die an den<br />

beiden Stangen befindlichen Leinen und mit denselben das<br />

schwere Netz unter dem Eis mit großer Anstrengung weiter zogen.<br />

Der Pfarrer war überall behilflich. Bald nahm er einem Fischer<br />

die Gabel aus der Hand, der lange umsonst nach der Stange<br />

gesucht hatte, bald schlug er mit der Eisaxt eine kleine Wuhne<br />

größer, bald feuerte er die Arbeiter an den Leinen an und zog auch<br />

ein Ende mit. Dann lief er wieder zu dem Schlitten, auf dem das<br />

zweigeteilte Garn lag, und achtete darauf, dass es ordentlich und<br />

gleichmäßig in’s Wasser gelassen wurde.<br />

Unterdessen war man<br />

allmählich dem Land immer näher<br />

gekommen. Die kleinen Löcher auf beiden Seiten näherten sich<br />

einander immer mehr und waren schließlich nur noch so weit von<br />

einander entfernt, dass die beiden letzten Löcher mit einer langen<br />

Stange erreicht werden konnte. In der Mitte dazwischen war<br />

inzwischen unter Leitung des Pfarrers eine große Wuhne in’s Eis<br />

eingehauen worden. Hier vereinigten sich beide Flügel und <strong>jetzt</strong><br />

wurde mit vereinten Kräften das Netz durch die große Wuhne<br />

hervor auf’s Eis gezogen. Der Pfarrer ermahnte die Leute, doch<br />

nur recht vorsichtig zu ziehen, damit das Netz nicht an den spitzen<br />

Eishöckern (Eishachten), die sich auf der unteren Fläche des Eises<br />

gebildet haben könnten, zerreißen möchte. Bald kam immer mehr<br />

von dem schweren Netz<br />

zum Vorschein. Es wimmelte von Fischen.<br />

„Ha, ha!“ rief der Pfarrer erfreut, „es sind ein gutes Teil Marenen<br />

darunter. Da schwimmen schon die abgeriebenen silbernen<br />

Schuppen oben auf!“<br />

Man hatte schon den größten Teil des Netzes aufs Eis gezogen,<br />

<strong>als</strong> das Wasser in der Wuhne sich heftig zu bewegen begann und<br />

das Netz mit Gewalt nach der einen und der anderen Seite im<br />

Wasser gezerrt wurde.<br />

„Haltet fest“, rief<br />

der Pfarrer. „Da muss ein Untier sich gefangen<br />

haben. Zieht ganz allmählich, ohne zu rucken, sonst zerreißt das<br />

220


Netz und geht uns noch durch. Friedrich!“ rief er seinem Sohn,<br />

einem 8jährigen Burschen zu, der bei den Pferden geblieben war.<br />

„Komm schnell her und hilf uns ziehen!“<br />

Der Knabe kam gelaufen und spannte sich an<br />

ein Seil. Da<br />

konnten auch die Gäste nicht müßige Zuschauer bleiben, sie<br />

fassten mit an und zogen aus<br />

Leibeskräften. Endlich kam das<br />

letzte Ende des Netzes aus dem Wasser und in ihm ein kolossaler<br />

Fisch, der sich mit gewaltigen Schlägen seines breiten Schwanzes<br />

aus den ihn umhüllenden Maschen zu befreien versuchte.<br />

„Ein Hecht, ein Hecht!“, jubelte<br />

der kleine Friedrich. „So groß,<br />

wie ich noch keinen gesehen habe!“<br />

„Schlage ihm auf den Kopf, Anton, damit er bedammelt<br />

dem Wasser“.<br />

wir<br />

und stärkt Euch“, sagte er zu den<br />

ann ich mich Euch erst widmen, meine lieben<br />

ungen aufs genaueste zu befolgen. Jeder drängt sich<br />

345 wird“,<br />

rief der Pfarrer. „Wir bekommen ihn sonst nicht aus<br />

Der Knecht führte einen Hieb nach dem Kopf des Fisches, dass<br />

das Wasser wild umherspritzte, und nun wurde der Hecht endlich<br />

auf’s Eis geschleppt und mit dem stumpfen Ende einer Eisaxt<br />

völlig erschlagen.<br />

„Fahr schnell nach Hause, Friedrich. Hole alle Tonnen die<br />

haben, und lass den fremden Knecht mit seinem Schlitten die<br />

Herren abholen kommen. Gott sei Dank für den reichen Segen“,<br />

sagte der Pfarrer. „Ruht aus<br />

Fischern. „Da nimm die Kruke, Anton, und teile aus. Das Essen<br />

liegt hinten im Schlitten“. Mit diesen Worten reichte er dem<br />

Knecht eine große Branntweinkruke.<br />

„Jetzt endlich k<br />

Gäste“, wendete sich der Pfarrer an die beiden <strong>Angerburg</strong>er, die<br />

den reichen Fischsegen im Netz bewunderten. „Wollt Ihr mir nicht<br />

in mein Haus folgen und einen kleinen Imbiss nehmen?“<br />

„Könnt Ihr aber hier so fortgehen und die Leute bei den Fischen<br />

allein lassen?“ fragte Thomas.<br />

„Vor einigen Jahren hätte ich’s nicht gewagt“, erwiderte der<br />

Pfarrherr. „Da hätte ich kaum die Hälfte später wiedergefunden“.<br />

„Wie habt Ihr es denn angefangen, die Leute so sehr ehrlich zu<br />

machen?“, fragte Thomas verwundert. „Das Mittel möchte ich gern<br />

kennen“.<br />

Der Pfarrer lächelte und sagte: „Es hat jeder von den Leuten<br />

seinen Anteil am Fang, deshalb geben sie sich die größte Mühe,<br />

meine Anordn<br />

dazu bei mir zu fischen, denn ich bin schon <strong>als</strong> glücklicher Fischer<br />

345<br />

Betäubt<br />

221


ekannt. Ebenso passt <strong>jetzt</strong> einer auf den anderen auf, damit ihm<br />

nicht sein Anteil der Beute gestohlen wird“.<br />

„Ich wundere mich, Herr Pfarrer“, sagte Thomas, „dass Ihr so<br />

vortrefflich die Fischerei kennt. So etwas lernt sich doch nicht auf<br />

lateinischen Schulen und Universitäten!“<br />

„Von Jugend auf habe ich mich mit Fischfang beschäftigt“, sagte<br />

der Pfarrer, „schon <strong>als</strong> mein Vater hier in unserem benachbarten<br />

Arys noch Diakon war. Jetzt wohne ich doch auch schon fast 12<br />

Jahre am Spirdingsee,<br />

wo ich die zum Dienst gehörige Fischerei,<br />

die meine Vorgänger meistens für wenig Geld verpachtet hatten,<br />

selbst betreibe. Mit dem Glück in der Fischerei ist’s übrigens so ein<br />

eigen Ding. Ich fange deshalb mehr <strong>als</strong> die anderen Fischer, trotz<br />

dem, dass sie allerlei Hexenwerk und Zauberkram anwenden, weil<br />

ich die Natur der Wasserbewohner beobachte. Dass heute so viele<br />

Marenen in unser Netz gingen, lag z.B. daran, dass ich schon seit<br />

längerer Zeit den armen Tieren Wuhnen in den zu befischenden<br />

Teil in’s Eis gehauen und offengehalten habe. Hier sind die<br />

Tierchen nun zusammengekommen, um Luft zu schöpfen. Die<br />

Fischer hingegen<br />

würden die Wuhnen so schnell wie möglich zu<br />

schließen suchen, damit der Teufel abgehalten werde, den Fischen<br />

zu schaden. Doch nun muss ich doch einmal messen, wie lang der<br />

Hecht denn eigentlich ist, den wir heute fingen. Seht, 6 Fuß und<br />

eine Handbreite ist der Kerl lang“.<br />

„Was macht Ihr aber mit den vielen Fischen, Ihr könnt sie doch<br />

unmöglich verzehren?“ fragte Thomas.<br />

„Die Marenen werden in Salztonnen ohne Boden geräuchert.<br />

Man macht das Rauchfeuer von Eichenblättern und Sägespänen,<br />

davon bekommen sie eine schöne goldgelbe Farbe. Die Marenen<br />

werden wir schon los, die meisten sollen nach Warschau gehen.<br />

Der große Hecht und andere seiner großen Kameraden werden<br />

eingepökelt. Die Fischhändler kommen sie bald abholen und<br />

bringen sie nach katholischen Ländern wie in’s Ermland und nach<br />

Polen. Dort müssen sie bis Fastnacht zur Stelle sein.<br />

Das übrige<br />

wird teils frisch verbraucht, teils geräuchert“.<br />

„Da müsst Ihr ja einen reichen Gewinn haben, Herr Pfarrer“,<br />

sagte Thomas.<br />

„Ach, es bleibt nicht ein großer reiner Gewinn übrig“, erwiderte<br />

dieser. „Nicht jeder Zug ist so reich wie der heutige, und die Netze<br />

kosten viel Geld. Ein neues großes Wintergarn, wie ich es hier<br />

brauche, kostet 800 bis 900 Gulden. Es wird bei aller Vorsicht bei<br />

jedem Zug mehr oder weniger zerrissen. Dies hier muss <strong>jetzt</strong><br />

gleich ausgebessert werden. Das kostet gleich vielleicht 20 bis 30<br />

222


Gulden. Dann kommt es auch sehr auf den Winter an. Friert’s zu<br />

stark, dann ist nichts zu machen. Unsere Sommerfischerei<br />

betreiben wir meistens nur zum eigenen Bedarf mit kleinem<br />

Gezeug“.<br />

Der Diakon Nebe, der ungeduldig auf dem Eis herumgetrampelt<br />

war, trat herzu und sagte:<br />

„Wenn’s Euch recht ist, Ihr Herren, so gehen wir unserem<br />

Schlitten, der dort hervorkommt, entgegen. Ich bin ganz müde<br />

vom Stehen,<br />

und die Füße sind mir kalt“.<br />

„Winter in Masuren“, Ölgemälde von G. H. Wendenhorst<br />

223


24. Beim Pfarrer Cibrovius in Eckersberg<br />

Während sich dies alles auf dem Spirdingsee begab, war Jasch<br />

mit seinem Schlitten in’s Dorf gefahren. Den Pfarrhof fand er bald,<br />

der Torweg desselben<br />

stand weit offen. Er fuhr <strong>als</strong>o bis zu einem<br />

halbverfallenen Stall, spannte die Pferde aus, führte sie durch die<br />

niedrige Tür und band sie an die Krippe, an der kurz zuvor des<br />

Pfarrers Pferde gestanden hatten.<br />

Dann sah er sich um, ob etwas zu füttern da sei. Da er nichts<br />

fand, stieg er auf den Schuppen und tappte nach einer Luke, denn<br />

der Schuppen war finster, und das schilfige Heu, das vorn lag,<br />

wollte er den Pferden nicht geben. Er stieß sich mehrm<strong>als</strong> den<br />

Kopf an den Dachsparren, kam aber doch schließlich an eine Luke.<br />

Eben wollte er diese zu öffnen versuchen, <strong>als</strong> er draußen unter<br />

sich Stimmen vernahm. Neugierig steckte Jasch die Nase an eine<br />

breite Spalte der Luke und sah hinunter. Am Schlitten stand ein<br />

kräftiger Mann zwischen 40 und 50 Jahren im weiten Pelz, eine<br />

Magd und zwei Mädchen von 10 und 12 Jahren, wie es schien, die<br />

Töchter des Pfarrers.<br />

„Ich sag’s<br />

Euch, Ihr Weibsleut, das versteht Ihr nicht“, hörte<br />

Jasch den Mann mit kräftiger Stimme in polnischer Sprache sagen.<br />

„Das ist kein gemeiner Schlitten. Vorn der Mohrenkopf und hinten<br />

die vergoldeten Schuppen. Da seht Ihrs, da sind ja an jeder Seite<br />

in den ovalen Flächen 2 geschnitzte Wappenschilde. Die sind aber<br />

überstrichen. Das eine, rechts, ist nicht mehr recht zu erkennen<br />

aber auf dem<br />

anderen ist die Schnalle ganz deutlich. Das ist das<br />

Wallenrodtsche Wappen. Ich hab’s oft genug auf der<br />

Staatskarosse gesehen, wenn der Herr Oberst und Amthauptmann<br />

Heinrich v. Wallenrodt von Olezko nach Königsberg bei uns in<br />

meiner Jugend durchfuhr. Also kein Herr hat auf dem Schlitten<br />

gesessen, sagt Ihr?“<br />

„Als wir einen Schlitten auf den Hof klingeln hörten“, erwiderte<br />

das ältere der Mädchen, „liefen wir, es der Mutter sagen. Ich hatte<br />

mir in eine Fensterraute ein Guckloch gehaucht. Da sah ich, dass<br />

hinten auf dem Schlitten ein Knecht stand, mit einer blauen<br />

Mütze. Er fuhr zu unserem Stall. Ein Herr war aber nicht mit“.<br />

„Wir fanden die Mutter nicht gleich. Sie war im Keller“, sagte die<br />

Jüngere.<br />

„Als wir herauskamen, sind die Pferde im Stall, aber kein<br />

Knecht ist da“.<br />

„Wo kann der aber stecken? Im Stall ist er nirgends“, sagte die<br />

Magd.<br />

224


Jasch hatte sich inzwischen vom Schuppen heruntergelassen. Er<br />

war durch die Stalltür hinter die Gruppe getreten.<br />

„Da ist ja der Knecht mit der blauen Mütze“, sagte das eine<br />

Mädchen. „Wo ist dein Herr?“<br />

„Beim Herrn Pfarrer auf dem Eis“, antwortete Jasch. „Doch sorgt<br />

dafür, wenn Ihr hier im Hause etwas vermögt, dass die Pferde<br />

etwas zu fressen bekommen und ich einen Trunk, wie es uns der<br />

Herr Pfarrer<br />

versprochen hat“.<br />

„Hast Recht“, sagte der Mann. „Komm in’s Haus, da werden wir<br />

für dich von den Feiertagen wohl etwas zu essen und zu trinken<br />

finden. Auch die Pferde sollen ihr Futter erhalten“.<br />

Mit diesen Worten wendete er sich, gefolgt von Jasch, dem Haus<br />

zu. Eben kam ein Schlitten durch den offenen Torweg auf den Hof<br />

gefahren und hielt vor der Tür des Pfarrhauses. Hinten saßen in<br />

demselben zwei schwarzgekleidete Männer und vorn regierte ein<br />

kräftiger Jüngling von 18 bis 20 Jahren<br />

das leichte Fuhrwerk.<br />

„Da ist ja schon unser Eckersberger Herr Diakon“, rief Jasch’s<br />

Begleiter und eilte zum Schlitten, um den Geistlichen beim<br />

Aussteigen behilflich zu sein.<br />

„Dies ist unser wackerer Kirchenvorsteher Jacob Jegodzienski<br />

aus Dombrowken, von dem ich eben sprach“, wendete sich der<br />

ältere der beiden Geistlichen an seinen Begleiter, nachdem<br />

sie sich<br />

begrüßt hatten.<br />

„Ich bitte sehr um Entschuldigung Herr Diakon, dass ich meinen<br />

Sohn Stephan mit dem Schlitten schickte, um Euch abzuholen“<br />

sagte Jegodzienski. „Umso mehr, da Ihr, wie ich sehe, Besuch<br />

habt. Der Herr Hausvogt in Arys muss jedoch unserem gnädigen<br />

Herrn Amthauptmann<br />

die Kirchenrechnung einreichen. Nun habe<br />

ich alles sorgfältig zusammengetragen, aber es fehlen mir noch<br />

manche Angaben und Belege für die Ausgabe. Vor den Feiertagen<br />

vertröstete mich unser Herr Pfarrer von einer Woche zur anderen<br />

und bestellte mich für heute her. Es würde nun alles fertig sein.<br />

Nun ist er aber auf dem See, und da wisst Ihr ja, dass man ihn<br />

beim Fischen nicht stören darf. Deshalb ließ ich Euch, Herr Diakon,<br />

her bitten. Vielleicht könnt Ihr mir die fehlenden Papiere<br />

aufsuchen“.<br />

Der Diakon Krzywiewski nickte und alle drei traten in das<br />

Pfarrhaus.<br />

„Mir scheint, ich werde den versprochenen Trunk wohl nicht<br />

bekommen“, sagte Jasch verdrießlich zu Stephan Jegodzienski,<br />

der eben seine Pferde bedeckt hatte und ihnen Heu vorwarf.<br />

„Meine Pferde haben auch noch nichts“.<br />

225


„Dann wollen wir zuerst in den Stall gehen“, sagte Stephan,<br />

„und für die Pferde sorgen. Heut ist hier auf dem Pfarrhof kein<br />

Knecht, auch kein Junge, weil sie alle fischen helfen müssen“.<br />

Bald hatte er die Pferde reichlich mit Futter versehen und führte<br />

Jasch in die Volksstube.<br />

„Warte hier, ich werde dir gleich etwas zu trinken und zu essen<br />

, doch niemand ließ sich sehen. Sie warteten auch nicht<br />

n jeder<br />

in Arys meine Kirchenrechnung<br />

meinen Trappen 347 bringen“.<br />

Mit diesen Worten verschwand er hinter einer Tür und kehrte<br />

bald mit einem Krug Bier, Brot und getrockneten Fischen zu Jasch<br />

zurück, der sich ganz breit an den Tisch setzte, sein Messer<br />

hervorzog und sich’s schmecken ließ.<br />

Inzwischen hatten die beiden Geistlichen und der Kirchenvater<br />

Jacob Jegodzienski sich in der Nebenstube um einen großen Tisch<br />

gesetzt, auf dem Bier, Brot und getrocknete Fische aufgetragen<br />

waren<br />

weiter auf einen von der Familie des Hausherrn, sonder<br />

langte zu.<br />

„Es ist mir recht ärgerlich“, sagte Jegodzienski, nachdem er dem<br />

fremden Diakon zugetrunken hatte, „dass ich nicht mein Wort<br />

halten, und dem Herrn Hausvogt<br />

vor Jahresschluss aushändigen kann. Als er vor den Feiertagen<br />

von Rhein<br />

gezeigt, und er hat selbst<br />

ptmann in Rhein abliefern muss. Denn die Amtsrechnung<br />

henvorsteher Przyalgowski des Schreibens und Lesens<br />

t:<br />

346 kam, hat er mich in Dombrowken angesprochen. Da<br />

hab’ ich ihm<br />

gesehen, dass ich’s ohne des Herrn Pfarrers Zettel nicht fertig<br />

machen kann. Aber er sagte mir auch, dass er seine Rechnung<br />

vom Halb-Amt Arys gleich nach Neujahr dem Herrn<br />

Amtshau<br />

des ganzen Amts Rhein wird den 4ten Februar in Königsberg<br />

abgehört. Es ist eine reine Strafe für mich, dass mein Kumpan,<br />

der Kirc<br />

unkundig ist. Nun habe ich die ganze Schererei“.<br />

Der Diakon begnügte sich, mit vollen Backen kauend, mehrm<strong>als</strong><br />

zu nicken. Jegodzienski fuhr for<br />

346 Rhein, Stadt 18 km südwestl. von Lötzen, am Rheiner See, verdankt ihren Ursprung der<br />

um 1377 gegründeten Ordensburg Eryno, erhielt 1726 Stadtrecht. Der Deutsche Ordensiegte<br />

hier 1456 über das Heer des Preußischen Bundes. 1657 wurde die Stadt durch Tataren<br />

eingeäschert.<br />

347 Eine klare Deutung dieses von E. Anderson verwendeten Begriffes ist uns in diesem<br />

Zusammenhang leider nicht geglückt. Vermutlich sind hier Vorgaben zur<br />

Rechnungsgestaltung gemeint, die für die Amts- und Kirchenverwaltung zu berücksichtigen<br />

waren, und die auch Belege über die Einnahmen und Ausgaben forderten.<br />

226


„Sonst ist’s bei uns, wie auch in anderen polnischen Ämtern, nie<br />

so eigen mit den Kirchenrechnungen zugegangen. Das wisst Ihr<br />

ja, Herr Diakon, Ihr seid ja nun auch an die 20 Jahre hier. Aber<br />

seit des neuen Herrn Amtshauptmanns Gnaden in Rhein, muss<br />

alles nach dem Insterburgschen Trappen gebucht, gemacht,<br />

berechnet und belegt werden, dass man schließlich<br />

nicht aus noch<br />

ein weiß“.<br />

„Nehmt einen herzhaften Schluck und<br />

lasst’s Euch weiter nicht<br />

anfechten“, sagte der Diakon Zielenski aus Arys, dem eifrig<br />

redenden Kirchenvorsteher die frisch gefüllte Kanne zuschiebend.<br />

„Trinkt und spült den Ärger herunter. Ich mach’s auch immer so“.<br />

Jegodzienski tat Bescheid, stand aber auf und sagte:<br />

„Wenn’s Euch gefällig<br />

wär’, Ihr Herrn, könnten wir in des<br />

Pfarrers Stübchen gehen. Der Wintertag ist kurz“.<br />

Krzywiewski erhob sich: „Wollt ihr nicht mitkommen, Herr<br />

Bruder Zielenski?“ fragte er.<br />

„Ich werde lieber hier bleiben“ antwortete dieser. „Ich kann<br />

Euch doch nichts helfen“.<br />

Des Pfarrers Stübchen war eine ziemlich enge dunkle Kammer,<br />

vollgestopft mit Angelstöcken, kleinen Käschern, Fischspeeren<br />

und<br />

anderem. Auf dem Tisch lag, neben verschiedenen Angelhaken,<br />

die Neurevidierte Hab- und Fischerei-Ordnung. In einem Winkel<br />

fanden sich nach längeren Forschungen mehrere Bündel Papiere<br />

und ein Haufen loser Papiere. Die Angeln, Schnüre, Drahtzangen<br />

usw. wurden bei Seite geschoben und die Papiere auf den Tisch<br />

gelegt. Eine dicke Staubwolke stieg auf.<br />

„Wir wollen zuerst die losen Papiere und Zettel durchsehen.<br />

Unter denen werden wir wohl das Gesuchte finden“, sagte der<br />

Diakon Krzywiewski, nachdem er sich von einem Hustenanfall,<br />

den<br />

ihm der in die Kehle gekommene Staub verursachte, erholt hatte.<br />

Beide machten sich nun an die Arbeit.<br />

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Die Pfarrfrau erschien<br />

aufgeregt in unordentlichem Kleid. „Aber was macht Ihr denn,<br />

Herr Diakon Krzywiewski?“, fragte sie nach kurzem Gruß. „Bringt<br />

mir den Zielenski in’s Haus und lasst ihn gar allein.<br />

Nun schafft ihn<br />

mir<br />

wieder fort!“<br />

Beide Männer eilten, gefolgt von der scheltenden Pfarrfrau, in<br />

die Stube. Zielenski hatte sich ihr Fortgehen zu Nutze gemacht,<br />

die gefüllten Kannen und Flaschen vollständig geleert und lag<br />

<strong>jetzt</strong>, mit glühendem Antlitz, schwer betrunken, hold lächelnd, auf<br />

dem Tisch.<br />

227


Während die Männer den Betrunkenen aufhoben und in eine<br />

entlegene<br />

Kammer trugen, ließ die Frau ihren Herzensergießungen<br />

freien<br />

Lauf:<br />

„Ich sitz’ im Keller und leg’ das Salzfleisch um, da die Salzlake<br />

abgelaufen<br />

war, da kommen meine Kinder und sagen mir, ein<br />

fremder Kutscher ist mit einem leeren Schlitten auf’n Hof gefahren<br />

und spannt aus. Ich sage tragt Bier herauf, gebt ihm was<br />

zu essen<br />

und<br />

lasst mich zufrieden. Ich blieb <strong>als</strong>o im Keller. Nun schickt vor<br />

¼ Stunde mein Mann unseren Schlitten, lässt die beiden Mägde<br />

und alle unseren leeren Tonnen holen. Wie ich aufladen ließ, sah<br />

ich den fremden Schlitten eilig vom Hof fahren. Und da sagen mir<br />

meine Kinder erst, dass vornehmer Besuch bei meinem Eheherrn<br />

ist und dass der im Augenblick da sein wird. Nun sind die Mägde<br />

auch noch fort. Wie seh’ ich aus? Wie sieht die Stube aus? Was<br />

geb’ ich ihnen zu essen? Ich Unglückliche! Was fang ich an?<br />

Während dieses Klagens war sie in den Hausflur gekommen, wo<br />

Stephan Jegodzienski ihr entgegentrat, in Begleitung ihrer<br />

Töchter.<br />

„Stephanchen, mein Goldsohn“, wendete die geängstigte Frau<br />

sich an diesen. „Lauf doch und besorge mir ein paar Arme voll<br />

trockenem Holz. Die Mägde haben mir in den Feiertagen alles<br />

verbrannt“.<br />

Stephan ging schnell nach dem Stall, um dort<br />

Stangen zu<br />

zerhauen.<br />

„Du, Regine“, sagte die Pfarrfrau zur älteren Tochter, „lauf und<br />

melke die schwarze Kuh, ich hab’ keinen Tropfen Milch im Hause“.<br />

Das Kind nahm das Eimerchen und eilte zum Stall.<br />

„Du, Annorte, nimm die Schüssel und bring mir schnell aus<br />

der<br />

Lade mit den Rosen das gemusterte Tischlaken. Es liegt linker<br />

Hand unter der Beilade. Feg’ die Stube aus und wisch’ den Tisch<br />

ab. Die Regine wird bald kommen. Dann deckt den Tisch. Nehmt<br />

die Zinnteller vom Tellerschragen<br />

en vornehmen Besuch ein Mahl zu bereiten.<br />

348 . Wischt aber vorher über, ehe<br />

ihr sie hinsetzt“.<br />

Damit lief die Frau in die Küche, um so schnell <strong>als</strong> möglich für<br />

den zu erwartend<br />

Der Pfarrer Cibrovius und seine Gäste ahnten nichts von der<br />

Angst und Sorge, die ihre erwartete<br />

Ankunft im Pfarrhaus<br />

verursachte. Alle Drei hatten es sich im Schlitten bequem<br />

348<br />

Der S c h ragen ist ein mit kreuzweise oder schräg stehenden, verschränkten Füßen<br />

bestehendes Gestell.<br />

228


gemacht. Der Pfarrer erteilte noch einige Befehle. Dann ging’s<br />

schnell dem Dorf zu.<br />

„Ich dachte, Euren Bruder Christoph bei Euch zu finden“, sagte<br />

Nebe, „der <strong>als</strong> junger Student in Königsberg mit mir zusammen<br />

wohnte“.<br />

„Ja, wisst Ihr denn nicht“, antwortete Cibrovius, „dass der <strong>jetzt</strong><br />

Diakon in Marggrabowa 349 geworden ist? Er wollte durchaus, dass<br />

ich im August nach Königsberg zu seiner Ordination kommen<br />

sollte. Ich fuhr aber lieber nach Olezko zur Introduktion. Aber<br />

einen großen Schmaus gab’s dabei nicht. Die Stadt<br />

wollte aus dem<br />

Stadtsäckel nichts dazugeben, und die Kirchenkasse<br />

auch nicht“.<br />

Er erzählte nun weitläufig von seiner eigenen Introduktion 1676<br />

und dem herrlichen Schmaus dabei.<br />

„Ihr wohnt hier an einem historischen Orte, Herr Bruder“, sagte<br />

Nebe. „In Eckersberg wurde Anno 1361 der Großfürst Kynstut<br />

gefangen, <strong>als</strong> er auf der Jagd war, und wurde nach Marienburg<br />

gebracht, wo er aber dann entfloh. Ist hier nicht aus der<br />

Ordenszeit noch ein Schloss in Eckersberg? Mir ist so, <strong>als</strong> wenn ich<br />

von einem solchen einmal gelesen oder gehört hätte“.<br />

„Ein Schloss wohl nicht“, erwiderte Cibrovius, „aber in meinem<br />

Garten befinden sich noch einige Rudera und ein Wall. Ihr könnt’s<br />

Euch ansehen. Es ist <strong>jetzt</strong> nur sehr beschneit. Ach, da steht auch<br />

schon mein Kirchenvorsteher Jegodzienski. Der kommt gewiss der<br />

Kirchenrechnung wegen. Auch mein Diakon ist dabei, was will<br />

denn der?“<br />

Der Schlitten hielt vor der Haustür, wo der Diakon Krzywiewski<br />

und Jegodzienski die Ankommenden empfingen. Den tiefsten<br />

Bückling erhielt aber Thomas, der für einen vornehmen Edelmann<br />

gehalten wurde.<br />

„Tretet ein, meine lieben Gäste“, sagte Cibrovius, seinem Diakon<br />

und dem Kirchenvorsteher<br />

die Hand reichend. „Wir wollen sehen,<br />

was es zu essen gibt. Recht hungrig bin ich geworden. Haltet Euch<br />

daher nicht zu lange auf!“<br />

Mit diesen Worten führte er die Männer in die Stube, wo die<br />

Kinder den Tisch gedeckt und mit verschiedenen kalten und von<br />

der Mutter in Eile bereiteten warmen Speisen versehen hatten.<br />

Auch fehlten nicht die dickbauchigen Kannen mit Hausbier, nebst<br />

349<br />

Marggrabowa, Stadt im nordöstlichen Masuren, 48 km östl. von Lötzen, an der Mündung<br />

des Flusses Lega in den Großen Oletzkoer See, an dessen westlichem Ufer. 1560 vom Herzog<br />

Albrecht von Brandenburg-Ansbach gegründet. 1709 erlag der größte Teil der Einwohner<br />

einer Pestepidemie (1100 Tote, 98 Überlebende).<br />

229


den farbigen hohen schmalen Gläsern, die nur für seltene Gäste<br />

hervorgebracht wurden.<br />

Bevor die Männer sich setzten, ging ein gegenseitiges<br />

Diskutieren voran, indem jeder danach strebte, untenan zu sitzen.<br />

Nun wurde Cibrovius schließlich ärgerlich und mit unwilligem<br />

Gemurmel warf er sich in den Lehnsessel am oberen Ende des<br />

Tisches, dass er krachte. Aus der Schüssel langte er ein mächtiges<br />

Stück Rauchfleisch, zog das Messer aus der Tasche und begann<br />

tüchtig zu essen. Die Übrigen hielten’s nun für geraten, seinem<br />

Beispiel zu folgen und dazwischen auch einen herzhaften Zug zu<br />

tun.<br />

Als der erste Hunger gestillt war, begann Jegodzienski:<br />

„Ich kam der Kirchenrechnung wegen, Herr Pfarrer. Ich habe<br />

versprochen, sie morgen dem Herrn Hausvogt abzuliefern. Der<br />

Herr Diakon und ich haben schon in Euren Papieren gesucht, aber<br />

nur einen Beleg finden können“.<br />

„Aber warum versprecht Ihr etwas, das Ihr nicht halten könnt?“,<br />

unterbrach ihn Cibrovius, mit vollem Mund kauend. „Das hat noch<br />

lange Zeit“.<br />

„Dann muss ich heut noch nach Arys zum Herrn Hausvogt<br />

fahren und ihm sagen, dass ich wegen der mangelnden Belege,<br />

um die ich Euch schon lange gemahnt, mein Wort nicht halten<br />

kann“.<br />

„Tut das, lieber Freund“, sagte Cibrovius, „und sagt dem<br />

Hausvogt, ich würde die Papiere für ihn aufsuchen, wenn ich Zeit<br />

habe“.<br />

„Also nach Neuhoff wollt Ihr fahren?“, wendete er sich an<br />

Thomas und seinen Schwager. „Da werdet Ihr wohl auch den<br />

Baron v. Heydeck besuchen“.<br />

Annemarie hatte mit Regine hinter der Tür gestanden und sich<br />

abwechselnd durch die Türritze die vornehmen Gäste angesehen,<br />

<strong>als</strong> sie nun vom Besuch des Barons v. Heydeck hörten, warteten<br />

sie die Antwort Nebe’s gar nicht<br />

ab. Während Nebe erwiderte,<br />

dass er nur seinen liebsten Universitätsfreund Cibulcovius<br />

besuchen wolle, rannten sie zur Mutter und meldeten, die<br />

vornehmen Herren führen zum Baron v. Heydeck.<br />

Die Mutter, eben mit ihrer Kocherei fertig geworden, hatte nun<br />

nichts Eiligeres zu tun, <strong>als</strong> sich in Glanz zu werfen, um den<br />

vornehmen Gästen<br />

ihren Knicks zu machen.<br />

„Wir müssen bald aufbrechen“, mahnte Thomas, „so gern wir<br />

auch in der angenehmen Gesellschaft blieben. Der Tag ist kurz<br />

und wir<br />

erreichen heute wieder nicht Neuhoff“.<br />

230


„Ach, Ihr könntet immer noch bleiben“, sagte Cibrovius. „Der<br />

Mond scheint bis in die Nacht hinein“.<br />

„Wir müssen schon sehr danken“, sagte Nebe, sich erhebend,<br />

„doch möchte ich mir gern, während angespannt wird, die<br />

Schanze in Eurem Garten ansehen“.<br />

Cibrovius ging mit ihm in den Pfarrgarten, während die übrigen<br />

dem Stall zugingen.<br />

„Da ihr in Arys zu tun habt, Herr Kirchenvorsteher“, sagte<br />

Thomas zu Jegodzienski, „so können wir zusammen fahren.<br />

Kommt auf unseren Schlitten, so genießen wir Eure Gesellschaft<br />

doch etwas länger“.<br />

Jegodzienski verbeugte sich sehr tief:<br />

„Ich nehme es sehr gern an, wenn Euer Gnaden mir die Ehre<br />

antun wollen, mich auf<br />

dero Schlitten zu nehmen“.<br />

Thomas hatte nur die ersten Worte der Zustimmung gehört, da<br />

er zu Jasch ging und ihm befahl, vorzufahren und dann den<br />

anderen Schlitten zu besteigen, da Herr Jegodzienski mit ihm<br />

fahren würde.<br />

Jegodzienski hatte inzwischen mit Hilfe seines Sohnes Stephan<br />

den schwer betrunkenen Zielenski auf seinen Schlitten geladen.<br />

Nebe war ziemlich unbefriedigt von der alten Schanze aus dem<br />

Garten gekommen. Es wurde ein ziemlich kurzer Abschied<br />

genommen, und die Schlitten setzten sich in Bewegung.<br />

Als eben die Gesellschaft das Hoftor passierte und Cibrovius<br />

ihnen von seiner Haustür aus nachsah, kam seine Frau 350 im<br />

vollsten Staat, hochrot im Gesicht von allem Sputen, um den<br />

vornehmen Gast zu begrüßen, atemlos angerannt. Sie war sehr<br />

ungehalten darüber, dass ihr Mann die Gäste hatte fortfahren<br />

lassen. Diese fuhren aber schon dem See zu.<br />

350<br />

Philipp Sanden (Sand) war um 1656 Amtsschreiber in Rhein, vermählt mit Barbara geb.<br />

Columbus (Colomb). Diese Barbara Sand geb. Colomb heiratete 1675 den Matthias<br />

Klingenberg. Die Stieftochter Klingenbergs Barbara Sandin heiratete 1676 den Pfarrer Georg<br />

Cibrovius<br />

in Eckersberg.<br />

231


25. Von Eckersberg über Arys nach Lyck: Ein Hengst für den<br />

Zaren und Teufelsspuk im Spirdingsee<br />

Jegodzienski lenkte die Pferde in einem Bogen auf dem Eis des<br />

Sees zum gegenüberliegenden, nicht sehr entfernten Ufer, um die<br />

vielen Wuhnen zu vermeiden. Dabei erzählte er, wie der<br />

Spirdingsee den Bewohnern des auf der nördlichen Seite<br />

desselben liegenden Kirchspiels Eckersberg zur Zeit des<br />

Tatareneinfalls ein Beschützer gewesen sei. Diese hätten Arys und<br />

alle Dörfer der Ostseite niedergebrannt. Bevor sie aber um den<br />

See herum Eckersberg und die dahinter liegenden Dörfer hätten<br />

erreichen können, wäre den Einwohnern genügend Zeit geblieben,<br />

sich selbst, ihre beste Habe, ihr Vieh und Pferde in Sicherheit zu<br />

bringen. Er wendete sich bei seiner lebhaften Schilderung<br />

ausschließlich an Thomas, den er wiederholt Euer Gnaden nannte.<br />

Endlich sagte dieser:<br />

„Aber, mein lieber Herr Jegodzienski, warum nennt ihr mich<br />

denn Euer Gnaden, ich bin ja gar kein Edelmann“.<br />

Jegodzienski sah ihn von der Seite pfiffig lächelnd an:<br />

„Wenn Ihr unbekannt reisen wollt, gnädiger Herr, dann müsst<br />

Ihr die Wappenschilder von Eurem Schlitten zu Hause lassen“,<br />

sagte er.<br />

„Welche Wappenschilder meint Ihr denn?“ fragte Thomas.<br />

„Nun, vorn an jeder Seite dieses Schlittens befinden sie sich“,<br />

sagte Jegodzienski. „Sie sind freilich überstrichen, aber das<br />

Wallenrodtsche habe ich ganz genau erkannt“.<br />

„Der Schlitten gehörte wirklich dem verstorbenen Herrn<br />

Amtshauptmann Martin v. Wallenrodt“, sagte Thomas. „Mein Vater<br />

kaufte ihn aus seinem Nachlass, ließ aber die Wappenschilder<br />

überstreichen“.<br />

Jegodzienski lachte:<br />

„Was habt Ihr aber der Frau Pfarrerin in<br />

Eckersberg für Angst eingejagt“, sagte er und erzählte nun die<br />

komische Situation der Pfarrfrau.<br />

„Ihr wohnt wohl schon lange in dieser Gegend?“ fragte Thomas.<br />

„Schon mein Urgroßvater lebte hier“, erwiderte Jegodzienski.<br />

„Seht, meine Vorfahren waren Bojaren 351 im Großherzogtum<br />

351<br />

Im alten Russland Angehörige des grundbesitzenden Geburtsadels und Ratgeber des<br />

Fürsten. Von Zar Peter dem Großen <strong>als</strong> Titel abgeschafft und in ihrer Funktion durch den<br />

Dienstadel ersetzt. Auch<br />

in Litauen und Rumänien gebräuchliche Bezeichnung für die<br />

herrschende Schicht der adligen Großgrundbesitzer.<br />

232


352<br />

Litauen, Jegaze genannt, und nahmen im vorigen Jahrhundert<br />

die Reformation an. Es dauerte aber nicht lange, so wurden alle<br />

Evangelischen hart bedrückt und blutig verfolgt. Mit vielen<br />

anderen fanden sie ihre Heimat in Preußen. Das Dorf Jegodzen ,<br />

354<br />

dicht beim Kirchdorf Rydzewen , haben sie erbaut. Mein einziger,<br />

jüngerer Bruder Stephan ist in Russland. Einmal nur haben wir<br />

Nachricht bekommen, dass er vor 13 Jahren in Moskau war“.<br />

„Wie kam denn Euer Bruder nach Moskau?“<br />

„Durch ein Pferd“, antwortete Jegodzienski.<br />

„Wie, durch ein Pferd?“, fragte Thomas verwundert. „Durch ein<br />

Pferd, wie ist denn das zugegangen?“<br />

„Ja, das ging eigentümlich zu“, erzählte Jegodzienski. „Anno<br />

1673, im Sommer, wurde in allen Ämtern bekannt gemacht: Wer<br />

ein schönes Pferd hat, der soll es an einem bestimmten Tag in’s<br />

Amt bringen, er würde es sehr teuer bezahlt bekommen. Nun<br />

hatte mein verstorbener Vater<br />

von einer Stute, die er von<br />

Stalupenen und aufgezogen. Ein<br />

oss nach Rhein. Da waren schon eine Menge<br />

355 brachte, ein Fohlen bekommen<br />

Pferd zum Küssen: Einen isabellfarbenen Hengst. Mein Bruder<br />

hatte ihn immer gefüttert, geputzt und zugeritten. Er folgte ihm<br />

und war gegen ihn lammfromm. Seht, das Geld war knapp, der<br />

Hengst war in unserer Wirtschaft übrig, kurz, ich und der Stephan<br />

ritten auf’s Schl<br />

Pferde auf dem Schlosshof. Des Herrn Amtshauptmann<br />

Oberjägermeister v. Halle kam auch bald und ließ die Pferde<br />

vorführen. Sowie er unseren Hengst zu sehen bekam, schickte er<br />

gleich die anderen Pferde nach Hause, besah und beklopfte ihn,<br />

ließ ihn in seinen Stall führen und ihm Hafer geben. Dann sagte<br />

er, ich müsse das Pferd nach Königsberg bringen, da würde ich<br />

Geld kriegen. Am anderen Morgen sagte der Oberjägermeister, er<br />

wird mit nach Königsberg reisen. Ich schickte den Stephan nach<br />

Hause. Der aber bat darum, ihn nicht von seinem Pferd zu<br />

trennen, dass ich ihm erlaubte mitzureisen. Er hatte immer die<br />

Augen voll Wasser und schlief bei dem Pferde.<br />

352<br />

Die Flurbezeichnung „Jegodden“ hängt mit einem preußischen Peronennamen zusammen:<br />

„Jagotke“ bezeichnet einen Schalauer, „Jagutis“ einen Litauer.<br />

353<br />

Nach der Beschreibung in der Nähe von Rydzewen (Rotwalde), kann es sich hier wohl nur<br />

um das Dorf (Groß-) Jagodnen handeln (nach 1938 Großkrösten).<br />

354<br />

Kirchdorf am Nordende des Saitensees, am Eingang in den Löwentinsee, 8km südl. von<br />

Lötzen.<br />

Handfeste verliehen 1571 unter Markgraf Albrecht Friedrich.<br />

355<br />

Kreisstadt<br />

im Regierungsbezirk<br />

Gumbinnen, ab 1938: Ebenrode, 130 km östl. von<br />

Königsberg,<br />

an der Hauptstraße<br />

nach Moskau. 1539 <strong>als</strong> „Stallupe“ erwähnt und zunächst<br />

Marktflecken. Stadtrecht ab 1722.<br />

233<br />

353


Unterwegs hörte ich von dem Reitknecht, dass unser<br />

allergnädigster Kurfürst einen Gesandten nach Moskau schicken<br />

würde, der dem Zar Geschenke bringen sollte. Eins von diesen<br />

sollte das Pferd sein.<br />

In Königsberg waren eine ganze Anzahl Pferde schon<br />

zusammen. Außer unserem Hengst und einem kirschbraunen<br />

Wallach wurde aber keins genommen. Als unser Drigant (der<br />

Hengst) an die Schützerei hinterm Schloss abgeführt wurde, sah<br />

er sich nach dem Stephan um. Der lief ihm nach, fiel ihm um den<br />

H<strong>als</strong> und weinte, wollte ihn auch nicht loslassen, obgleich die<br />

Knechte den Stephan schlugen und schimpften. Da kam einer von<br />

den Herren, ich denke der Stallmeister, dazu und sagte zu<br />

Stephan, wenn er wollte, dann könnte er seinen Hengst nach<br />

Moskau begleiten. Er würde guten Lohn bekommen. Stephan<br />

sagte gleich zu. Ich gab auch meine Einwilligung. Geld bekam ich<br />

aber nur drei Danziger Orter und auf das andere eine Anweisung,<br />

in Rhein zu zahlen. Es dauerte auch lang genug, bis ich die 3 Orter<br />

und die Anweisung bekam, denn der Herr Abgesandte kam erst<br />

Mitte August mit seinem Komitat<br />

wurde für<br />

te er schon<br />

356 nach Königsberg. Seinen<br />

Herrn Stallmeister Lentz traf ich im Stall bei meinem Bruder<br />

Stephan, wo er den Hengst gar sehr lobte und dem Stephan<br />

befahl, auf das beste für das Pferd zu sorgen. Es<br />

Dasselbe schon eine rotsamtne, mit Taft gefütterte, Decke<br />

gefertigt. Sie sollte mit goldenen und silbernen Borten und<br />

Fransen besetzt werden. Nun, dem Stephan brauch<br />

nicht zu sagen, dass er für den Hengst Sorge tragen solle, denn<br />

den liebte er wie sein Leben.<br />

Sobald ich mein Geld und die Anweisung hatte, nahm ich<br />

Abschied von Stephan und eilte heim, denn ich hatte schon viel<br />

versäumt. Die Mutter war sehr ungehalten, dass ich den Stephan<br />

hatte mitgehen lassen. Der Vater sagte aber: Wird ihm nichts<br />

schaden, wenn er etwas von der Welt sieht. Zu Weihnachten ist er<br />

wieder da“.<br />

„Kam denn Euer Bruder zurück und ging dann wieder nach<br />

Moskau?“ fragte Thomas.<br />

„Das kam doch anders, <strong>als</strong> wir gedacht hatten“, fuhr<br />

Jegodzienski in seiner Erzählung fort. „Wir warteten und warteten<br />

doch Stephan kam nicht. Es kam Neujahr, er war noch nicht da.<br />

Nun ließ die Mutter dem Vater keine Ruhe mehr. Wir luden den<br />

Wagen und fuhren nach Königsberg. In Rhein zahlte der Herr<br />

356<br />

Gespannschaft<br />

234


Oberjägermeister das Geld für das Pferd und sagte uns, dass der<br />

Herr Abgesandte, wie er vernommen hätte, nicht lange nach<br />

Neujahr mit seinem Comitat von Moskau nach Königsberg<br />

gekommen sei. Wir fuhren <strong>als</strong>o bei gutem Schlittweg nach<br />

Königsberg. Geld hatten wir bekommen und dachten, den Stephan<br />

ganz wohlgemut in Königsberg zu finden und in die Heimat<br />

mitzunehmen“.<br />

„Nun, fandet Ihr ihn denn nicht?“ fragte Thomas. „Mein erster<br />

Gang war in den herzoglichen Stall, die Schützerei. Da fand ich die<br />

6 Braunen des Herrn Abgesandten, die mit in Moskau gewesen<br />

waren. Sie waren tüchtig<br />

abgetrieben. Dort war auch der Kutscher<br />

des Herrn, den ich im Sommer getroffen hatte. Natürlich fragte ich<br />

den sogleich nach meinem Bruder Stephan. Da sagte er mir, der<br />

ist gar nicht mit zurückgekommen, sondern vom Zaren in seine<br />

Dienste genommen. Wie Ihr denken könnt, Herr, wollte ich doch<br />

nun so genau <strong>als</strong> möglich wissen, wie das gekommen ist, und bat<br />

den Herrn Kutscher, mir’s recht ausführlich zu erzählen. Der sagte<br />

aber, <strong>jetzt</strong> hätte er keine Zeit dazu, ich möchte nur nach dem<br />

Altstädtschen Gemeindegarten gehen, er würde nach einer Stunde<br />

nachkommen. Das geschah denn auch, und der Herr Kutscher<br />

brachte noch einen von den vier Lakaien des Herrn Abgesandten<br />

mit, der auch die Reise nach Moskau mitgemacht hatte. Ich<br />

traktierte natürlich die Herren mit dem schönen schwarzen<br />

Bier.<br />

Wir setzten uns an die Pielketafel<br />

bestanden hätten, sowie<br />

357 , und ich ließ mir nun<br />

erzählen:<br />

Es hatte bis zu Anfang Oktober gedauert, ehe die Präsente für<br />

den Zaren, die außer den beiden schönen Pferden meistens in<br />

kostbaren kunstvollen Bernsteinsachen<br />

die blauen gestickten Livreen 358 für die Dienerschaft, die Decken<br />

für die Pferde, die Kleider für die Herrschaften u.a. fertig<br />

geworden wären. Endlich hätten sich die 15 Personen auf den Weg<br />

gemacht, wären bei sehr schlechten Wegen über Cranz 359 , die<br />

Nehrung und Memel und bei Polangen 360 über die preußische<br />

357<br />

Festtafel<br />

358<br />

Uniformähnliche Bekleidung für das Dienstpersonal<br />

359<br />

Kirchdorf am W-Ende der Kurischen Nehrung, 27 km nördl. von Königsberg, bedeutendes<br />

Seebad.<br />

360<br />

Palanga, bis 1919 russische Stadt an der Ostsee, 20 km nördl. von Memel, über<br />

Jahrhunderte der einzige litauische Zugang zur Ostsee. Nimmersatt/Nemirseta direkt S von<br />

Palangen gehörte bis 1919 zur preußischen Provinz Ostpreußen und war der nördlichste Ort<br />

des Deutschen Reiches.<br />

235


Grenze gefahren. Dann 5 Meilen durch Polen nach Kurland 361 , wo<br />

sie unterwegs meistens in den Amtshäusern nächtigten, und wo<br />

der Herr Abgesandte in Mitau 362 , wo es ihnen sehr gut gefallen<br />

hat, eine Audienz bei dem Herzog, dem Schwiegersohn des<br />

gnädigsten Kurfürsten, gehabt. Gegen Ende Oktober wären sie<br />

nach Riga gelangt und schließlich, mit 5 Fuhrleuten aus Riga<br />

die Bagage und die Unterbedienten an die livländische Grenze<br />

gekommen, wo die freien Traktamente<br />

gut gegangen.<br />

e<br />

dem<br />

363 dann aufhörten. Die<br />

Wege wurden immer schlechter. Wenn unterwegs Räder<br />

zerbrachen, wurden die mitgenommenen aufgesteckt. Doch ist’s<br />

ihnen in dem schwedischen Livland 364 noch ziemlich<br />

Anfang November kamen sie über die russische Grenze, wo sie im<br />

ersten Dorf von dem Kommissarius (dem Pristaf, wie er genannt<br />

wurde), welchen der Zar entgegengeschickt hatte, nebst 4<br />

Strelitzen 365 mit vielen Komplimenten empfangen wurden. Es fing<br />

an zu frieren. Es hielt und brach nicht. Sechs starke Pferde<br />

bezwangen kaum den Rüstwagen mit den Präsenten, die 6 Pferd<br />

des Kutschers kaum die Kutsche des Abgesandten. Stephan ging<br />

immer zu Fuß und führte vorsichtig den Drigant über die besten<br />

Stellen des niederträchtigen Weges, damit er sich die Hufe nicht<br />

beschädigte. Der Weg ging über Nowgorod 366 . Die Verpflegung<br />

war schlecht. Die Lebensmittel wurden roh geliefert und von<br />

mitgenommenen Koch zubereitet. Endlich sind sie drei Wochen vor<br />

Weihnachten in einen Ort in die Nähe von Moskau gekommen. Von<br />

da wurden sie auf Befehl des Zaren feierlich eingeholt. Vorn ritten<br />

46 Strelitzen mit Musketen, dann 20 Bedienstete, darauf 4<br />

361<br />

Herzogtum westl. der Düna, zwischen Ostsee, Rigaischem Meerbusen und der Nordgrenze<br />

Litauens. Im frühen Mittelalter Siedlungsgebiet der Kuren, im 13.<br />

Jahrhundert vom<br />

Deutschen Orden erobert, christianisiert und mit Deutschen besiedelt. Als Bistum Kurland Teil<br />

des Ordensstaates, nach dessen Zusammenbruch bis 1795 Herzogtum unter polnischer<br />

Lehnshoheit.<br />

362<br />

Residenzstadt in Kurland. Bis 1919 Hauptstadt von Kurland, 1561 dem Herzogtum<br />

Kurland zugeschlagen. 1573 Stadtrechte, ab 1578 Hauptstadt des vereinigten Herzogtums<br />

Kurland und Semgallen, 44 km südwestl. von Riga.<br />

363<br />

Bewirtung, Schmaus (Gasterei)<br />

364<br />

Hist. Landschaft<br />

zwischen dem Rigaer Meerbusen und dem Peipussee. Seit dem 13.Jhdt.<br />

vom Deutschen Orden beherrscht, später geteilt und benachbarten Ländern (Polen, Schweden,<br />

Russland) zugeordnet.<br />

365<br />

Musketiere der russischen Palastgarde<br />

366<br />

Nowgorod ("Neustadt"), Stadt in Russland, 859 erstmalig urkundlich erwähnt, am Ufer<br />

des Ilmensees, liegt auf etwa 1/4 der Strecke von St. Petersburg nach Moskau. Lübecker<br />

Stadtrecht, im Mittelalter und bis zum 16. Jahrhundert bedeutende Handelsstadt.<br />

236<br />

für


Cavaliere zu Pferde von der Begleitung des Herrn Abgesandten.<br />

Hinter diesem ritten wieder 8 russische Cavaliere. Dann folgte der<br />

Schlitten des Pristaf, umgeben von vielen rotgekleideten<br />

Bediensteten und den 4 Lakaien 367 des Herrn Abgesandten in ihrer<br />

neuen blauen Livree. Hinter diesen kamen die beiden<br />

Geschenkpferde, dann der Rüstwagen mit den Präsenten für den<br />

Zar, die Kutsche des Herrn Abgesandten, und den Schluss<br />

machten 24 oder 26 Poddewodden 368 oder Fuhrleut, welche die<br />

Bagage 369 führten. Ich weiß nicht, ob ich die Reihenfolge ganz<br />

genau behalten habe“.<br />

„Ist auch gleichgültig“, bemerkte Thomas.<br />

„So wurden sie denn“, fuhr Jegodzienski fort, „in einen Hof<br />

neben des Zaren Schloss gebracht, wo der Herr Abgesandte eine<br />

Ehrenwache von Strelitzen bekam. Auch zwei Dolmetscher wurden<br />

geschickt. Der eine von diesen, namens Schwert, war aus<br />

Königsberg.<br />

Der Zar ließ ihnen aber nicht viel Zeit, sich von den<br />

Anstrengungen der Reise zu erholen. Nachdem sie nur eine Nacht<br />

geschlafen, kam die Botschaft, der Zar wolle den Herrn<br />

Abgesandten am Nachmittag empfangen. Dieser befahl seinen<br />

Begleitern sowie der Dienerschaft, die besten Kleider anzulegen.<br />

Gleich am Nachmittag kam der Pristaf mit 15 rot gekleideten<br />

Strelitzen, die die Geschenke tragen sollten, an. Nun zogen sie in’s<br />

Schloss. Voran einige Strelitzen zu Pferd, rot gekleidet. Dann<br />

folgte der isabellfarbene Drigant mit seiner Purpurdecke. Der<br />

Zaum war von rotem Teschmer mit Beschlägen<br />

von vergoldetem<br />

Silber. Den Hengst sollten 2 Russen führen. Dahinter der<br />

kirschbraune Wallach mit ähnlicher Decke, auch von 2 Russen<br />

gehalten. Hinter diesen stellten sich die rot gekleideten Russen<br />

auf, denen die Geschenke übergeben waren. Dann sollten die 4<br />

Cavaliere zu Pferde folgen und dahinter der Schlitten mit dem<br />

Pristaf, an dessen rechter Seite der Herr Abgesandte saß,<br />

umgeben von seinen vier Lakaien in blauen, 12 russischen Lakaien<br />

in roten Livreen und der anderen Dienerschaft. Als alles geordnet<br />

war, sollte der Zug sich in Bewegung setzen. Die Strelitzen ritten<br />

vor, und die beiden Russen, die den Drigant führten, rissen ihn am<br />

Zügel, um jenen zu folgen. Unser Hengst, der so lange ruhig<br />

gestanden hatte, verstand das Ding aber unrecht. Er stieg sogleich<br />

367<br />

Diener<br />

368<br />

Pferde mit Wagen<br />

369<br />

Heerestross, Gepäck<br />

237


und hob mit dem Gebiss die beiden Russen, die nicht loslassen<br />

wollten, in die Höhe. Der Braune erschreckte sich, schlug aus und<br />

es hat ganz gefährlich ausgesehen.<br />

Da stand der Herr Abgesandte im Schlitten auf und rief mit<br />

lauter Stimme, der Stephan sollte schnell zu seinem Pferd gehen.<br />

Der lief hin und beruhigte bald das Tier. Um den Zug nicht<br />

aufzuhalten, musste Stephan schnell den roten Rock des Russen<br />

über seinen blauen anziehen, und nun folgte ihm der Drigant wie<br />

ein Lamm über den Fluß Mosqua<br />

erren mit den<br />

esandte<br />

gen.<br />

hm die purpurne Decke abzunehmen. Da er nicht<br />

hatte<br />

dem Drigant zu bleiben, schlug durch.<br />

Der Abgesandte ließ den Stephan los, gab ihm noch Geld und so<br />

icht viel länger<br />

370 bis zum Schloss des Zaren.<br />

Vor dem Stall führte Stephan das Pferd in einen Stand neben den<br />

Braunen, zog den roten Rock aus und folgte den H<br />

anderen Dienern in den Audienzsaal, denn der Herr Abg<br />

hatte befohlen, es sollten alle seine Leute dabei sein.<br />

Der Zar, ein ziemlich beleibter Herr, hat auf dem Thron<br />

gesessen. Neben ihm haben die vornehmsten Russen gestanden.<br />

Der Zar hat das kurfürstliche Schreiben empfan<br />

Lang hat’s nicht gedauert. Als sie herunterkamen, haben sie am<br />

Stall ein großes Geschrei gehört. Die Kutscher, der Stephan und<br />

der Dolmetscher Schwert sind hingelaufen, fanden eine Menge<br />

schreiender Russen. Der Dolmetscher fragte, was da wäre. Sie<br />

erzählten ihm, ein Russe wäre zu dem Drigant in den Stand<br />

gegangen, um i<br />

gleich herumgehen wollte, hätte er ihn mit dem Forkenstiel<br />

geschlagen. Da hätte der Hengst den Russen mit den Zähnen<br />

gepackt und unter die Krippe geworfen. Da liege er noch. Niemand<br />

wage es, sich dem Pferd zu nähern.<br />

Stephan ging nun gleich zu seinem Pferd, zog den bleichen<br />

zitternden Russen unter der Krippe hervor, entkleidete den<br />

Drigant seiner Herrlichkeit und schüttete ihm Futter ein. Nun<br />

sich auch ein Stallmeister eingefunden, der besah den Drigant und<br />

ließ durch den Dolmetscher den Stephan fragen, ob er nicht in des<br />

Zaren Dienste treten wollte. Er sollte es nur mit dem Drigant allein<br />

zu tun haben. Der Stephan sagte, er müsse erst mit dem Herrn<br />

Abgesandten reden. Der Kutscher hat ihm sehr zugeredet, zu<br />

bleiben. Das hätte aber gar nicht geholfen, denn die Aussicht, bei<br />

trat mein Bruder denn in die Dienste des Zaren. N<br />

<strong>als</strong> 8 Tage war der Herr Abgesandte mit seinem Comitat noch in<br />

Moskau. Stephan konnte, so oft er wollte, seinen Drigant vor einen<br />

370 Moskwa<br />

238


kleinen Schlitten spannen und mit ihm ausfahren, um ihm<br />

Bewegung zu geben.<br />

Natürlich fuhr er täglich zu seinen Landsleuten, so lange sie<br />

noch in Moskau waren, begleitete sie auch auf ihren Ausfahrten.<br />

Er nahm auch den einen oder anderen Diener in seinen Schlitten<br />

und lernte dabei Moskau kennen. Sonntags fuhr er mit einigen<br />

Herren der Gesandtschaft zusammen nach der deutschen<br />

Sloboda 371 , 5 Werst 372 vom Schloss in Moskau, wo zwei lutherische<br />

und eine reformierte Kirche der Holländer sind. Dort, wo viele<br />

Deutsche wohnen, steht auch eine deutsche Papiermühle und<br />

Pulverfabrik“.<br />

„Das ist für mich ja ganz etwas neues“, sagte der Diakon Nebe,<br />

„dass tief in Russland sich 2 lutherische Kirchen befinden. Könnt<br />

Ihr mir, Herr, nicht etwas Näheres davon mitteilen?“<br />

„Darüber kann ich Euch, Herr Kaplan, nicht viel berichten“,<br />

sagte Jegodzienski. „Der Diener war einmal bei großer Kälte mit<br />

meinem Bruder hingefahren. Die lutherische Kirche ist ganz aus<br />

Holz und hat innen einen sehr großen runden Kachelofen gehabt,<br />

der wie ein Turm oben schmäler wird.<br />

Acht Tage vor Weihnachten hat sich der Herr Abgesandte mit<br />

seiner Begleitung wieder auf den Heimweg gemacht. Er ist mit 20<br />

Schlitten bis etwa ½ Stunde vor Moskau gefahren. Mein Bruder<br />

Stephan ist natürlich mit gewesen. Den hat der Herr Abgesandte<br />

dann beim Abschied noch beschenkt und ihn dem Dolmetscher<br />

Schwert noch besonders empfohlen. Von dem Kutscher und den<br />

Dienern hat Stephan sehr traurigen Abschied genommen und ist<br />

mit dem Herrn Schwert zusammen in einem Schlitten<br />

zurückgefahren.<br />

Das alles hat mir der Herr Kutscher erzählt.<br />

Seitdem wissen wir<br />

nichts von Stephan,<br />

was besonders meiner betagten Mutter sehr<br />

schmerzlich ist. Wer aber soll uns Nachricht von ihm geben?“<br />

„Vor 1 ½ Jahren“, sagte Thomas, „traf ich in Danzig auf dem<br />

Domnicks Markt mit mehreren russischen Kaufleuten zusammen,<br />

welche alle Jahre dorthin aus Moskau kommen, um<br />

371 Die Nemezkaja sloboda („Deutsche Vorstadt“), auch genannt Sloboda Kukui, war ein<br />

Ausländerquartier im Nordosten von Moskau und gehört heute zum Stadtteil Lefortowo.<br />

Ausländer galten dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> Nicht-Rechtgläubige, mit denen gläubige Orthodoxe nur unter<br />

strengen Sicherheitsmaßnahmen Kontakt haben durften. Der Begriff leitet sich von Nemzy ab<br />

(russisch немцы, die Deutschen; etymologisch verwandt mit die Stummen, russisch немые: so<br />

wurden alle Ausländer bezeichnet, die das Russische nicht beherrschen, <strong>als</strong>o quasi „stumm“<br />

waren).<br />

372 Längenmaß im zaristischen Russland. Eine Werst entsprach 1.066,8 Metern.<br />

239


Bernsteinwaren einzukaufen. Durch diese könntet Ihr am besten<br />

sichere Nachrichten von Eurem Bruder erhalten“.<br />

„Ich kann aber doch nicht nach Danzig reisen und würde die<br />

Kaufleute auch nicht auffinden“, meinte Jegodzienski bedenklich.<br />

„Nun, da kann ich Euch helfen“, sagte Thomas. „Ich stehe in<br />

fortwährender Geschäftsverbindung mit Danzig. Sagt mir nur, wie<br />

Euer Bruder heißt, sein Alter und um welche Zeit er ausgewandert<br />

ist. So will ich gern nach ihm Erkundigungen einziehen lassen“.<br />

„Ach, Ihr würdet mich und besonders meine Mutter unendlich<br />

erfreuen“, sagte Jegodzienski freudig erregt. „Mein Bruder heißt<br />

Stephan, wie mein ältester Sohn, der nach ihm getauft ist. Er ist<br />

<strong>jetzt</strong> 35 oder 36 Jahre alt und ging <strong>als</strong> 18jähriger Bursche Anno<br />

1673 nach Russland. Anno 1677 ist er in Moskau gewesen“.<br />

„Nun, ich werd’s mir merken“, sagte Thomas, i hm die Hand<br />

reichend. „Sobald ich Nachricht bekomme, werde ich’s Euch zu<br />

wissen lassen. Es wird aber noch ziemlich lange dauern. Der<br />

Domnicks Markt ist Anfang August, und dann fragt sich’s auch<br />

noch, ob die Moskauer Kaufleute etwas von Eurem Bruder wissen,<br />

oder erst noch zu Hause nachfragen müssen.<br />

Das ist da wohl schon Arys?“<br />

Nebe, der etwas eingenickt war, erhob den Kopf.<br />

„Sehr schön sieht’s nicht aus“, sagte er. „Elende Häuserchen,<br />

und es scheint auch ein kleines Nest zu sein, soweit man’s in der<br />

Dämmerung sehen kann“.<br />

„Es war“, sagte Jegodzienski, „von den Tataren vor 30 Jahren<br />

bis auf den Grund abgebrannt. Auch die meisten Einwohner waren<br />

gefangen, fortgeführt oder erschlagen. Drum kann’s sich nicht<br />

erholen!“<br />

Auf dem zweiten Schlitten, der in kurzer Entfernung dem ersten<br />

folgte, fuhr Stephan Jegodzienski mit Jasch. Hinter ihnen, im Stroh<br />

weich gebettet, lag in tiefem Schlafe der Diakon Zielenski aus<br />

Arys. Auf diesem Schlitten war die Unterhaltung, die in polnischer<br />

Sprache sehr lebhaft geführt wurde, von ganz anderer Art.<br />

„Sieh einmal dort rechts“, sagte Stephan zu Jasch, <strong>als</strong> sie, auf<br />

dem See angelangt, nach rechts gewendet hatten. „Dort der hohe<br />

bewaldete Berg, genannt Terklo, hinter dem liegt Dombrowken,<br />

wo wir wohnen. Das Dorf hier vor uns, nicht weit vom Ufer des<br />

Sees, das ist Tuchlinnen 373 . Wenn du gute Augen hast, kannst du<br />

da zwei mit Steinen belegte Hügel sehen, dicht am Ufer. Das sind<br />

373 Ort am Nordufer des Spirdingsees, Kirchspiel Eckersberg, 29 km S von Lötzen, 19 km N<br />

von Johannisburg.<br />

240


Gräber, wo die Heidenfürsten mit ihren Schätzen begraben sind.<br />

Die Leute sehen in dunklen Nächten oft die Flämmchen auf den<br />

Gräbern und meinen wohl, dass da Geld brennt. Aber keiner traute<br />

sich, den Schatz zu heben. Da kam im Jahr 1640, wie mir unser<br />

alter Hirt Przykopanski erzählte, ein rauchschnauziger<br />

Kerl, mit<br />

Namen<br />

Casper, nach Dombrowken. Der hatte bei den Schweden<br />

gedient und fürchtete sich vor keinem Teufel. Der merkte<br />

sich<br />

f und Wasser ’raus. Da soll unten ein großer<br />

er<br />

und Blott 374 genau wo auf dem Grab das Flämmchen brannte. Dann macht er<br />

sich auf, nimmt ’ne Hack’, Spaten und Brechstang’ und fängt an,<br />

die Steine auszubrechen. Er rollt sie fort und gräbt ein tiefes Loch.<br />

Da kommt er an ’ne eiserne Tür und denkt, nun wird er den<br />

Schatz gleich haben. Da hört er von innen eine Stimme, die ihn<br />

warnt, weiterzugraben.<br />

Der Kerl erschrak so, dass er gleich aus dem Loch<br />

heraussprang. Das war sein Glück, denn kaum war er draußen, <strong>als</strong><br />

das Loch mit großem Gepolter zufiel. Er kriegt dann später das<br />

Fieber und ist zuletzt ganz verdorrt. Der alte Hirt Przykopanski hat<br />

ihn noch gut gekannt. Der Schatz muss aber <strong>jetzt</strong> viel tiefer in die<br />

Erde gesunken sein, denn seitdem brennt da das Geld nicht mehr.<br />

Hast du einmal Geld brennen sehen?“<br />

„Na, werd’ ich nicht“, erwiderte Jasch wichtig, „wir haben ganz<br />

nah’ bei <strong>Angerburg</strong> ein verwünschtes Schloss. Ich bin noch<br />

gestern morgens mit meinem Herrn dicht vorbeigefahren. Das<br />

Schloss ist fast ganz versunken. Bloß etwas Mauerwerk steckt<br />

noch aus dem Sump<br />

Schatz liegen, sagen die Leut’. Das Geld brennt da sehr oft, ab<br />

bloß im Sommer, wenn’s recht finster ist. Alle Menschen in der<br />

Stadt haben’s brennen sehen“.<br />

„Hat denn keiner das Geld haben wollen?“ fragte Stephan.<br />

„Am Wollen hat’s nicht gefehlt“, antwortete Jasch, „aber, wenn<br />

einer der Flamme nachging, kam er in den Morast. Jeder ist bis<br />

<strong>jetzt</strong> noch immer ohne Geld, aber bis über beide Ohren voll Morast<br />

nach Hause gekommen. Wenn’s aber nach einem<br />

warmen Sommertag gegen Abend kalt wird, dann kommen die<br />

Geister und versammeln sich bei dem verwünschten Schloss. Das<br />

hab’ ich bei hellem Mondschein recht gut gesehen, wenn ich mit<br />

den andren Jungens in der Nacht die Pferde hütete. Da stiegen die<br />

weißen Geister auf und jagten sich um das alte Gemäuer und die<br />

Weiden, dann stiegen sie auch auf die Spitze der Mauer und<br />

stürzten sich hinunter. Es war ganz gruselig“.<br />

374 Blott = Straßenkot, vom Regen aufgeweichtes Erdreich, Schlamm.<br />

241


„Hier herum hab’ ich nicht gehört, dass weiße Geister spuken<br />

gehen, aber sieh’ mal dort ganz weit über’n See“, sagte Stephan,<br />

mit der Peitsche nach Südwesten zeigend.<br />

„Das scheinen mir einige Inseln zu sein“, meinte Jasch.<br />

„Richtig“, sagte Stephan. „Unser Spirdingsee<br />

über 3<br />

„meine<br />

n sie nichts. Bald<br />

rschien ihnen, <strong>als</strong> sie zum Abhauen des schönen Getreides<br />

, von der Teufelsinsel entfernten“.<br />

375 (Szniordewna)<br />

hat 4 Inseln oder Werder. Zwei sind nur klein und unbebaut und 2<br />

größer. Auf der größten steht ein Dorf mit 3 Bauern. Die haben 5<br />

Hufen Land, schöne Wiesen und einen Wald“.<br />

„Na, unser Mauersee hat gewiss auch schöne Inseln“, fiel ihm<br />

Jasch in die Rede. „Da ist das Prystanische Werder 376 , das<br />

Hufen groß ist. Da steht ein Krug darauf. Da gibt’s schönen<br />

Schnaps. Ich bin da manchmal eingekehrt, wenn wir über’s Eis<br />

nach Rastenburg fuhren. Nirgends gibt’s so guten Schnaps <strong>als</strong><br />

dort“.<br />

„Einen Krug haben wir wohl nicht auf einer der Inseln des<br />

Szniordewna“, sagte Stephan lächelnd, „aber die bösen Geister<br />

haben auf einer der größeren Inseln ihren Sitz. Diese wird deshalb<br />

auch Teufels-Werder (Czastowy-Ostrow) genannt, auch Cziòrva<br />

Gòra. Sie besteht aus einem steilen und hohen Berg. Es soll oben<br />

mehr <strong>als</strong> ½ Hube guten Landes sein, aber es liegt wüst“.<br />

„Warum beackern die Leut’ es aber nicht?“ fragte Jasch.<br />

„I, das geht man nicht so“, erwiderte Stephan,<br />

Großmutter erzählt, dass da vor langer Zeit die Bauern von der<br />

größten Insel gepflügt und gesät haben, das hat der Teufel sich<br />

ohne Störung gefallen lassen, aber geerntet habe<br />

e<br />

kamen, der Teufel <strong>als</strong> schwarzer Hund, bald <strong>als</strong> schwarzer Bulle<br />

oder <strong>als</strong> schwarzer Ziegenbock, und nachts haben sie ein so<br />

grässliches Gestöhn, Ächzen usw. gehört, auch ängstigten sie die<br />

Gespenster-Erscheinungen so, dass sie sich mit anbrechendem<br />

Tag so schnell sie konnten<br />

„Ach“, meinte Jasch, „das ist noch gar nichts, aber nicht weit<br />

von <strong>Angerburg</strong> am Mauersee, da haben wir ein Dorf Kehlen 377 ,<br />

hier hat eine Brachstub’ gestanden, aus der hat der Teufel 2 Kerls<br />

375 Der größte See der Masurischen Seenplatte, Fläche ca. 114 km², mit acht Inseln. Im<br />

südlichen Teil des Sees gibt es die beiden Inseln Langenwerder und Teufelswerder, außerdem<br />

die Halbinseln Spirdingswerder und Friedrichswerder, die über Dämme mit dem Ufer<br />

verbunden sind.<br />

376 Insel Upalten (s. FN 250)<br />

377 Fischerdorf am Schwenzaitsee, 4 km südlwestl. von <strong>Angerburg</strong>, 1478 mit Erlaubnis des<br />

Ordens und des Amtes <strong>Angerburg</strong> von Prußen gegründet.<br />

242


und 2 Weibsbilder bei lebendigem Leib’ geholt. Das ist auch ganz<br />

gewiss wahr, denn zum Andenken ist da, wo die (Pyrth)<br />

Brachstub’ stand, ein hoher Pfeiler<br />

einmal Ziegel<br />

auert, da steht die<br />

378 aufgemauert, den muss dies<br />

Dorf Kehl (Kehlen) unterhalten. Wenn<br />

’runtergefallen sind, dann stöhnt’s alle Nacht an demselben, bis<br />

der Maurer den Schaden zurecht gemacht hat. In den Pfeiler sind<br />

auf den 4 Seiten steinerne Tafeln eingem<br />

Geschichte drauf geschrieben deutsch, lateinisch, polnisch, auch<br />

litauisch. Vorigen Sommer war ich mit dem Schwiegersohn meines<br />

Herrn, der dort auf dem Schlitten vor uns fährt, nach Kehlen<br />

hingefahren. Da hat er seiner Frau und seiner Schwägerin alles<br />

von den Tafeln vorgelesen. Ich habe es gut behalten“. 379<br />

Die Kehler Mauer (Zeichnung E. Kalless 1886).<br />

378<br />

S. auch Bild auf S. 202<br />

379<br />

Aus der „Chronik der Stadt <strong>Angerburg</strong>“, 1921 von Johannes Zachau: "Schwer ist es zu<br />

bestimmen, welches die Veranlassung gewesen, dass diese Säule errichtet wurde, man trägt<br />

sich zwar mit einer fabelhaften Nachricht herum, die ich … gelesen habe. Nach dieser<br />

Nachricht<br />

sollen 2 Brüder auch 2 Schwestern aus dem Dorfe Kehl, ihre Andacht zu halten,<br />

nach dem Kirchdorfe Neuendorff (nachherigem <strong>Angerburg</strong>) gegangen sein. Auf ihrer<br />

Rückkehr ließen sie sich in lustige und unanständige Gespräche ein, so dass ihre<br />

Einbildungskraft erhitzt, sie sich von einer unordentlichen Leidenschaft Unzucht zu treiben,<br />

dahin reißen ließen, und in der Brachstube, die auf der Stelle. wo <strong>jetzt</strong> die Säule steht, sich<br />

befand, ihre unreinen Begierden stillten. Hierüber wurde nun der Himmel entrüstet, schwarze<br />

Gewölke umzogen ihn, und außerordentliche Blitze und Donner mussten diesen Frevel<br />

bestrafen. Alle 4 Personen verbrannt in der Brachstube und zum Andenken dieser<br />

abscheulichen Tat wurde die Säule errichtet. Ja so oft die Mauer einstürzt und verfällt, so oft<br />

wird die Dorfschaft durch ein klägliches Winseln und Heulen in den mitternächtlichen<br />

Stunden<br />

aufgefordert, die Säule zu erneuern und in<br />

den gehörigen Stand zu setzen“.<br />

Anmerkung: Zuletzt im Jahre 2007 wieder instandgesetzt.<br />

243


„Das vor uns ist das Dorf Gutten“, sagte Stephan, „und dort<br />

nicht weit vom letzten Haus des Dorfs ist ein Riese begraben.<br />

Kannst sein Grab deutlich sehen, es sieht von hier so aus wie ein<br />

in die Erde gebauter, mit Rasen bedeckter sehr großer Keller“.<br />

„Aha“, sagte Jasch, „das lange Ding da, es scheint an 20<br />

Schritte lang zu sein“.<br />

„Das Grab ist viel länger“, sagte Stephan, „wohl gegen 50<br />

Schritt, und an 30 Schuh hoch, ich bin oben gewesen. Da liegt ein<br />

Riese begraben, der<br />

ein mächtiger Zauberer war. Er hat die bösen<br />

Geister auf der Teufelsinsel festgebannt, dass sie anderwärts nicht<br />

weiter Schaden und Schabernack machen können. Aus Rache<br />

haben sie alle Steine, die auf der Teufelsinsel waren, große und<br />

kleine, auf das Grab ihres Feindes geschmissen. Die meisten<br />

großen sind auf die dem See entgegengesetzte Seite gefallen. An<br />

manchen ist noch der Abdruck der Teufelskrallen zu sehen“.<br />

„Na, die müssen gut schmeißen können“, sagte Jasch, mit<br />

Verwunderung über die riesigen Steine, die aus dem Schnee<br />

herausragten. „Bis zur Teufelsinsel kann von hier ganz gut eine<br />

halbe Meile sein. Aber bei uns hat sich noch was Wunderbareres<br />

begeben, da ist ein Jäger in Jakunowen<br />

uschen See. Als der eines Tages auf die Jagd geht,<br />

da<br />

enn ich bin in<br />

380 gewesen. Der wohnte<br />

am Rehsa<br />

verfolgt er ein wildes Schwein, das rennt immer gradeaus, und<br />

findet er in einem Tal mitten im Sumpf eine vollständige Kirche,<br />

ganz mit Bäumen auswendig und inwendig vollgewachsen. Da<br />

kamen seine Nachbarn vom Rehsauschen See, rodeten die Bäume<br />

aus und bauten sich um die Kirche an. Das ist unsere<br />

Engelsteinsche Kirche, und ich muss das wissen, d<br />

Engelstein zu Hause“. 381<br />

380 Jakunowen: gegr. 1438 <strong>als</strong> Daimlack (Daimelauken), nach 1929 in Angertal umbenannt<br />

381 Die Legende von den Jakunower Jägern, die die Reste der Engelsteiner Kirche fanden, ist<br />

umstritten, da es dam<strong>als</strong> noch keinen Ort namens Jakunowen gab. Der <strong>Angerburg</strong>er Superint.<br />

D. H. Braun schreibt 1886 in seinem Buch Alte und Neue Bilder aus Masuren: „Es war im<br />

Jahre 1406, <strong>als</strong> eine Schar rüstiger Männer mit Äxten bewaffnet an den Resauer See<br />

wanderten, um hier ein Stück des dichten Waldes auszuroden, sich Häuser zu bauen und eine<br />

neue Heimat zu gründen. Schon stand eine Zahl von Wohnhäusern und Schuppen aufgerichtet,<br />

<strong>als</strong> sie beim weiteren Vordringen in den Wald eine verfallene Kapelle fanden. … Die<br />

Kolonisten vom Resauer See waren über ihren Fund so hoch erfreut, dass sie ihre erste<br />

Ansiedlung verließen, die bereits errichteten Gebäude abbrachen und hier ihre Wohnungen<br />

rings um die entdeckte Kirche aufschlugen“.<br />

244


Die Engelsteiner Kirche (Zeichnung E. Kalless 1887).<br />

„Ich glaubte“, sagte Stephan, „du wärest aus <strong>Angerburg</strong>“.<br />

„Ja, <strong>jetzt</strong> bin ich in <strong>Angerburg</strong>“, erwiderte Jasch, „aber im<br />

Kirchdorf Engelstein, 1 Meile von <strong>Angerburg</strong> bin ich geboren. Mein<br />

Großvater war ein Bauer in Engelstein, den haben die Tataren (10<br />

oder 11 Jahre, ehe ich auf die Welt kam) an einem Brunnen den<br />

Kopf abgehauen, obgleich er ihnen alles gab und sich demütigte.<br />

Die meisten Einwohner von Engelstein sind dam<strong>als</strong><br />

zur Kirche und<br />

Widdem gelaufen. Den Vater meiner Mutter, den alten Willimzig,<br />

der lahm war und nicht so schnell fortkonnte, haben die Tataren<br />

auf der Widdemsschwelle<br />

in Stücken gehauen. Mein Vater ist mit<br />

der Mutter, die dazumal noch seine Braut war, zur Kirche gerannt.<br />

Die Tataren verfolgten sie und schossen meinem Vater durch den<br />

Rücken einen Pfeil in die Lunge, doch hat er die Kirche noch<br />

erreicht. Die Leute haben die Kirchentür von innen verriegelt<br />

und<br />

verrammelt. Die Tataren aber haben mit ihren Spießen die starke,<br />

eichene Tür durchlöchert und hätten die Menschen in der Kirche<br />

alle umgebracht, wenn nicht die Nachricht gekommen wäre, dass<br />

die Kurfürstlichen im Anzug wären. Das hat mir meine Mutter<br />

schon oft erzählt“.<br />

245


„Starb denn dein Vater an dem Pfeilschuss?“ fragte Stephan.<br />

„I, nein“, antwortete Jasch. „Er wurde notdürftig ausgeheilt,<br />

heiratete meine Mutter und bekam die großväterliche Wirtschaft.<br />

Aber so lang’ ich denken kann, war er immer krank. Er starb auch,<br />

<strong>als</strong> ich an die 14 Jahr’ alt war. Da setzte der Herr Amtsschreiber<br />

einen anderen Bauer ein, und die Mutter konnte mit mir gehen.<br />

Die Mutter ging mit mir nach <strong>Angerburg</strong>, da dachte sie, sich<br />

leichter zu nähren, weil sie immer krank war und nicht mehr<br />

schwere Feldarbeit verrichten konnte.<br />

Hier lebte sie aber auch nicht lang’. Ich war ein großer<br />

verlauseter, zerlumpter Jung’ und lungerte in der Stadt herum. Da<br />

nahm ich an einem Jahrmarkt von einem Wagen eine Pferdedecke,<br />

wickelte mich ein und schlief am Torweg, denn es war schändlich<br />

kalt. Nachher wollt’ ich sie wieder auf den Wagen legen. Der Kerl<br />

aber, dem sie<br />

gehörte, machte ein furchtbares Geschrei. Er sagte,<br />

ich wollt’ die Decke ihm stehlen, schlug mich sehr und brachte<br />

mich auf’s Rathaus. Da wurd’ ich in’s Hundeloch gesperrt.<br />

Am anderen Tag holten sie mich ’raus zum Verhör. Ich erzählte,<br />

wie es mir mein Lebtag gegangen war. Die Herren fragten mich<br />

noch allerhand und dann wurd’ ich wieder in’s Hundeloch gesteckt.<br />

Ich bekam auch nichts zu essen.<br />

Am Abend kam der alte Ratsverwandte Wilm. Der nahm mich<br />

mit in sein Haus und sagte, wenn ich ein ordentlicher, fleißiger<br />

Jung’ wollt werden, wollt er’s mit mir probieren und mich den<br />

Sommer über bei sich behalten. Ich versprach alles Gute. Da ließ<br />

er mich erst satt machen, dann scheren und baden. Ich bekam<br />

ganz neue Kleider, weiße Büchsen<br />

und ’ne blaugestreifte Jacke.<br />

Dann musste ich Pferde hüten, da ich sonst dam<strong>als</strong> noch nichts<br />

verstand. Nun dien’ ich schon länger <strong>als</strong> 5 Jahre bei ihm“.<br />

Er erzählte nun weiter von seinen<br />

Studien <strong>als</strong> Knecht und<br />

zugleich <strong>als</strong> Helfer der Kaufburschen im Speicher und Warenraum,<br />

bis sie schließlich in den Flecken Arys einfuhren.<br />

Der vorausfahrende Schlitten hielt an, der zweite desgleichen.<br />

„Stephan“, rief der alte Jegodzienski, „fahrt mit Eurem Schlitten<br />

zur Kaplanei. Ladet den Diakon dort ab und kommt uns bald nach.<br />

Wir fahren zum Herrn Hausvogt nach Skomatzko<br />

eder in Bewegung und fuhr zur in der<br />

382 über den<br />

Aryschen See“.<br />

Der Schlitten setzte sich wi<br />

Dämmerung weiß schimmernden Fläche des Sees hinunter.<br />

382<br />

(Thalau) Ort im Ksp. Klaussen, 15 km westl. von Lyck<br />

246


Stephan und Jasch fuhren den noch immer schlafenden Diakon<br />

nach seinem Haus, wo sie ihn mit Hilfe einer Magd und eines<br />

Knaben, die gar nicht verwundert zu sein schienen, ihren Herrn<br />

schwer betrunken heimgebracht zu sehen, sanft aufhoben und<br />

hineintrugen. Darauf folgten sie dem ersten Schlitten, der<br />

von<br />

Jegodzienski gefahren wurde, weil er den See und die Bahn auf<br />

diesem gut kannte.<br />

Als der Mond aufging, befanden sich die Reisenden nicht mehr<br />

weit von dem großen Dorf Skomatzko<br />

aus vor,<br />

seiner ganzen Familie in den<br />

ntwort, die Abwesenheit des Herrn<br />

te Jegodzienski. „Ich habe heute<br />

Gegend bekannt ist“, erwiderte Jegodzienski,<br />

it zu meinem Freund<br />

odzienski den Schlitten. Oft stieß dieser an<br />

l umgeworfen.<br />

dem Wald<br />

383 .<br />

Jegodzienski fuhr vor einem langgestreckten niedrigen H<br />

sprang ab und fragte nach dem Herrn Hausvogt.<br />

Der Herr Hausvogt wäre mit<br />

Weihnachtsfeiertagen zu seinem alten Vater gefahren und würde<br />

nach Neujahr erst zurückkommen, hieß es.<br />

Wo denn der Amtsschreiber wäre, fragte Jegodzienski. Dieser<br />

hätte sich, erhielt er zur A<br />

Hausvogts zu Nutze gemacht, hätte die Schreiberei verschlossen<br />

und wäre heut Nachmittag nach Lyck gefahren. Es wäre fraglich,<br />

ob er nicht auch erst den Tag nach Neujahr wiederkommen würde.<br />

„Was fang’ ich nun an?“, frag<br />

schon weite Wege und viel Ärgernis gehabt. Nun treffe ich nicht<br />

einmal den Herrn Hausvogt! Wenn wenigstens der Amtsschreiber<br />

da wäre, dann müsste er mir einen Brief an ihn schreiben. Solchen<br />

großen Brief selbst schreiben kann ich nicht. Hier ist auch kein<br />

Schreibmaterial aufzutreiben“.<br />

„Wie weit ist’s denn von hier nach Neuhoff 384 ?“ fragte Nebe.<br />

„Wer hier in der<br />

„fährt durch den Wald geradezu 1 Meile. Sonst muss man fast 2<br />

Meilen machen“.<br />

„Wisst Ihr was“, sagte Nebe, „kommt m<br />

Cibulcovius. Eine freundliche Aufnahme kann ich Euch<br />

versprechen, und dort können wir ja den Entschuldigungsbrief in<br />

aller Muße schreiben“.<br />

Jegodzienski nahm das Anerbieten gern an. Der Mond leuchtete<br />

hell zur Fahrt und bald kam man in den Wald. Durch ungebahnte<br />

Holzwege führte Jeg<br />

Baumwurzeln oder Steine, doch wurde er nur einma<br />

Herzlich froh waren die Reisenden, <strong>als</strong> sie endlich aus<br />

herauskommend, Neuhoff im Mondschein vor sich liegen sahen.<br />

383 Skomatzko, später Dippelsee, Dorf im Kreis Lyck.<br />

384 Kirchdorf an der Straße zwischen Lyck und Lötzen, 18 km west-nordwest von Lyck<br />

247


26. Zu Gast in der verfallenen Pfarrei von Neuhoff<br />

Acht oder zehn elende Häuschen lagen um eine baufällige Kirche<br />

herum. Ein Gebäude im Tal schien eine Mühle zu sein, und nicht<br />

weit davon zeigten sich die unbestimmten Umrisse eines größeren<br />

schlossähnlichen Gebäudes. Jegodzienski lenkte auf die größte der<br />

Hütten zu. Die Torflügel, die den Hofraum sonst geschlossen<br />

hatten, waren längst nicht mehr vorhanden. So fuhren die<br />

Schlitten <strong>als</strong>o ungehindert in den Hof und hielten vor der niedrigen<br />

Haustür. Alle stiegen ab und versuchten dieselbe zu öffnen. Sie<br />

war jedoch von innen verriegelt.<br />

„I, was sollen wir lange draußen stehn?“,<br />

fragte Nebe ärgerlich<br />

und schlug mit beiden Fäusten mächtig gegen einen Fensterladen.<br />

Ein mehrstimmiges Hundegebell ließ sich von innen vernehmen.<br />

Dazwischen hörte man eine Menschenstimme, die die Hunde<br />

beruhigen wollte.<br />

Endlich öffnete sich die Haustür und aus derselben stürzten drei<br />

Stubenhunde mit wütendem Gekläff auf die Ankommenden los. In<br />

der niedrigen Türöffnung erschien ein schmächtiger, schwarz<br />

gekleideter Mann, der vergebens versuchte, die Köter mit seiner<br />

Stimme zur Ruhe zu bringen. Jasch besann sich nicht lange. Er<br />

ergriff die Peitsche und bearbeitete die Hunde mit Peitschenhieben<br />

und Fußtritten, dass sie sich heulend und wehklagend verkrochen.<br />

„Cibulcovius, alter Junge“, rief Nebe, <strong>als</strong> etwas Ruhe geschafft<br />

war. „Was machst du uns<br />

für eine Hundekomödie?“<br />

„Ach, ach, du bist’s, Jacob!“ rief Cibulcovius hoch erfreut. „Ich<br />

hätte eher des Himmels Einfall erwartet, <strong>als</strong> dich heut Abend zu<br />

sehen“.<br />

Er eilte auf den mondhellen Hof und umarmte Nebe herzlich.<br />

„Ich habe viel Gesellschaft mitgebracht“, sagte Nebe. „Hier dies<br />

ist Thomas, ein Bruder meiner Frau. Er<br />

ist ein Kauf- und<br />

Handelsmann aus <strong>Angerburg</strong>. Und hier ist die Perle eines<br />

Kirchenvorstehers. Es ist Jacob Jegodzienski aus Dombrowken, im<br />

Kirchspiel Eckersberg, mit seinem Sohn Stephan“.<br />

Pfarrer Cibulcovius hieß die Gäste willkommen und reichte ihnen<br />

die Hand.<br />

„Aber kommt doch herein, meine lieben Freunde“, sagte er<br />

vorangehend, um die Stubentür zu öffnen. Alle traten in ein<br />

großes niedriges, aber trotz der darin herrschenden Wärme höchst<br />

ungemütlich<br />

aussehendes Zimmer. Die Decke und die Wände<br />

waren schwarz geräuchert. Ein ungeschickter<br />

schmieriger Ofen<br />

reichte fast bis in die Mitte der Stube. Der Fußboden bestand teils<br />

248


aus geschlagenem Lehm, teils aus Dielen. Er war aber überall<br />

löchrig und schadhaft. In der Nähe des Ofens stand ein großer<br />

Tisch mit einem Tintenfass und einigen Papieren. Dieser Tisch<br />

machte nebst einer Lehnbank, die an 3 Seiten der Stube an der<br />

Wand befestigt war, einer alten hölzernen Truhe und einigen<br />

wackeligen Stühlen das ganze Ameublement 385 aus, wenn man<br />

eine Tellerleiste mit wenigem Geschirr, die an der<br />

gegenüberliegenden Wand der Tür angeschlagen war, nicht dazu<br />

rechnen wollte.<br />

Auf dem Tisch brannte ein düftiges dünnes Licht in einem<br />

Drahtleuchter. Im Kamin war ein helles Feuer angezündet. Dieses<br />

beleuchtete mit rotem flackerndem Schein das öde Zimmer. Am<br />

Kamin stand ein langes schmales und ziemlich ältliches<br />

Frauenzimmer, das mit<br />

Hilfe einer Magd das Abendessen<br />

bereitete.<br />

„Albert“, sagte sie mit scharfer keifender Stimme, sich ein wenig<br />

zu dem Pfarrer umwendend. „Warum hast du meine Hündchen<br />

nicht herein gebracht? Sophie, geh gleich und hol’ sie ’rein“.<br />

Die Magd ging brummend hinaus. „Hier, Schwester Eudoxia“,<br />

sagte Cibulcovius, „stelle ich dir meinen Herzensfreund, den<br />

Diakon Nebe und seinen Schwager aus <strong>Angerburg</strong> vor, sowie den<br />

Kirchenvorsteher Jegodzienski aus Dombrowken“.<br />

Die Vorgestellten verbeugten sich. Die Dame aber sah sie von<br />

der Seite mürrisch an, machte einen missratenen Knicks. Sie hob<br />

den Topf vom<br />

Feuer und verschwand in eine neben der Stube<br />

liegende Kammer, indem sie die Tür schmetternd hinter sich<br />

zuwarf.<br />

„Tretet doch näher, meine lieben Gäste, und legt ab“, sagte der<br />

Pfarrer, da die drei Männer, verwundert über den Empfang, in<br />

ihren Pelzen an der Tür stehen geblieben waren. Nachdem sie sich<br />

um den Tisch gesetzt hatten, sagte Jegodzienski mahnend:<br />

„Der Brief, der Brief! Ich möchte gern morgen frühest fort“.<br />

„Herr Pfarrer“, wendete sich Thomas an Cibulcovius, „das erste,<br />

womit wir Eure Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, ist ein<br />

Bogen Papier. Wollt Ihr uns einen verehren?“<br />

Der Pfarrer holte einen Bogen. Thomas beschnitt ihn, faltete ihn<br />

zusammen, tauchte<br />

die Feder ein und sagte: „Nun, diktiert mir nur<br />

Herr Jegodzienski“.<br />

Dieser stand auf, legte die Hände auf den Rücken und ging<br />

nachdenkend in der Stube auf und ab. Cibulcovius folgte seiner 385 Mobiliar<br />

249


Schwester durch die Tür, und Nebe begann, in einem der auf dem<br />

Tisch liegenden Bücher zu blättern. Jegodzienski diktierte:<br />

„Wohlehrenfester, Hochachtbarer und Hochberühmter,<br />

insonderheit Hochgeehrter Herr Haus-Vogt, Hoher Gönner! Habt<br />

Ihr das, Herr Thomas? Nächst alles glücklichen Wohlergehens,<br />

Wünschung habe nicht umbhin können Euer Edl. Zu ersuchen,<br />

wegen des heute gehabten Termins zur Einbringung und Abhörung<br />

der Kirchenrechnung, so hätte es höchst billig sein sollen, dass<br />

selbem wäre gehorsamst nachgelebet worden“…<br />

Während Thomas schrieb, war’s in der Stube ganz still, nur das<br />

Knarren des Gänsekiels und das Knistern des von wässrigem Talg<br />

genährten Lichts waren zu hören. Plötzlich ertönte, nur wenig<br />

durch die Tür gedämpft, die schrille Stimme der Jungfer Eudoxia.<br />

„So, <strong>als</strong>o die fünf Kerls wollen alle hier die Nacht bleiben?<br />

Abendbrot soll ich ihnen geben? Nun kommt noch der Knecht, der<br />

meine Hundchens so geschlagen hat, dass die Venus ganz lahm<br />

geht, und ich soll ihm ’ne Laterne geben, auch Hafer für 4 Pferde?“<br />

„Aber liebste Schwester“, ließ sich die Stimme des Pfarrers, die<br />

zum Flüstern herab sank, etwas leiser vernehmen. „Schrei doch<br />

nicht so“.<br />

„Ach was“, fiel die liebenswürdige Jungfrau ihm in die Rede,<br />

„was gehen mich deine Freunde an, lass sie hören, was ich sag’,<br />

die Ausfresser! Eine<br />

Supp’ werd ich dir reinschicken und eine Streu<br />

kann Sophie machen, sonst kümmere ich mich um nichts“.<br />

„Ich bin ganz aus dem Text gekommen“, klagte Jegodzienski,<br />

fuhr jedoch nach einigen Gängen durch die Stube fort, zu<br />

diktieren.<br />

Er erzählte umständlich, welche Mühe er sich gegeben<br />

hätte, die nötigen Belege zu verschaffen, um sie am heutigen Tag<br />

abliefern zu können und schloss dann: „Bitte zum höchsten, nicht<br />

allein, dass Euer Edl. Mich entschuldiget haltet, sondern auch bey<br />

Sr. Hochwohlgeboren, unserem Hochgebietenden Herrn Haubt-<br />

Mann entschuldigen wolle“.<br />

Jetzt erschien der Pfarrer<br />

Cibulcovius und setzte mit lächelnd<br />

verlegenem Gesicht eine mächtige Kanne mit Hausbier auf den<br />

Tisch. Jegodzienski diktierte weiter:<br />

„Als gelanget an Euer Edl. Hiemit meine dienstfällige Bitte, sich<br />

höchst zu bemühen, Seine Gestrengen den Herrn Haubtmann bei<br />

gutter Gelegenheit zu sänftigen, damit Er dero Zorn gegen mich<br />

sinken lasse und mich in Gunsten aufzunehmen. Wenn ich, gibt’s<br />

Gott, aufs Amt kommen werde, will schon mit unterdienstlichem<br />

Gehorsam wissen anzutreffen, wobey nach dienstergebener<br />

Begrüßung M. H. und Empfehlung Christi Schutzes verbleibe<br />

250


insonderheit Datum Neuhoff, 30. Dezember 1687. M. H. allezeit<br />

dienstwilligst verbundener“.<br />

„Nun unterzeichnet noch“, sagte Thomas. Jegodzienski schob<br />

sich das Licht zu recht, stukte einige Federn auf und<br />

unterzeichnete mit fester Hand seinen Namen.<br />

„So, Gott Lob, dass ich’s los bin. Nun bin ich wieder ein<br />

Mensch“, sagte er, wischte sich die Stirn und tat einen langen Zug<br />

aus dem Krug. Thomas hatte inzwischen das Schreiben<br />

durchgesehen, in Briefform zusammengefaltet und sagte:<br />

„Nun noch die Aufschrift, damit wir’s weglegen können“.<br />

Jegodzienski diktierte: „Dem Wohl Ehrenwerten Hoch Achtbaren<br />

und Hochberühmten Herrn Johann Büchnern, S. Kurfürstl. Durchl.<br />

Zu Brandenburg wohlverordneten Arysschen Herrn Hausvogten,<br />

meinem gesonders Großgünstigen Hochgeehrten Herrn Und hohen<br />

Gönnern zu E. Einhändigung werde dieses in Skomatzko“.<br />

„Was schreibt dein Schwager denn so überaus emsig?“ fragte<br />

der Pfarrer seinen Freund Nebe.<br />

„Ach, der macht dem braven Kirchenvorsteher seine Eingabe<br />

an’s Amt, da er’s sich selbst nicht zutraut, fehlerfrei zu schreiben“,<br />

erwiderte Nebe und erzählte dann vom Zusammentreffen mit<br />

Jegodzienski in Eckersberg.<br />

Die Magd hatte inzwischen den Tisch mit einem schlichten<br />

Tischtuch bedeckt, brachte eine Schüssel mit einer grau<br />

aussehenden rauchenden Suppe sowie ein großes schwarzes Brot.<br />

Dann entfernte sie sich wieder.<br />

Thomas hatte sich von Jasch, der auf der Ofenbank saß und<br />

verwundert die großartigen Vorbereitungen zur Abendmahlzeit<br />

angesehen hatte, die Wegekost-Lischke reichen lassen und packte<br />

nun aus der weiten Höhlung die ansehnlichen Vorräte an Esswaren<br />

auf den Tisch. Der Hausherr hielt das Tischgebet und nun machten<br />

sich die Männer herzhaft über dieselben her. Zum Dankgebet<br />

erhoben sich alle.<br />

„Komm Jasch“, sagte Thomas, „ich muss doch sehen, wie du die<br />

Pferde untergebracht hast“.<br />

„Ich begleite Euch“, sagte Jegodzienski.<br />

„Herr, es ist nicht sehr gut“, sagte Jasch, <strong>als</strong> sie draußen waren.<br />

„Der Herr Pfarrer hat nur einen kleinen Jungen bei den Pferden. An<br />

einer Stelle ist im Stall ein Balken gebrochen und der halbe<br />

Schuppen hängt hinein. Wir bekamen auch keine Laterne und so<br />

mussten wir uns mit Fühlen helfen. Hafer gab’s keinen, aber gutes<br />

Heu ist genug da“.<br />

„Ist der Stall auch fest?“ fragte Jegodzienski.<br />

251


„Soweit ich gesehen habe, ja“, antwortete Stephan.<br />

„Dann kannst du mit Jasch hier im Stall bei Euren Pferden<br />

schlafen“, sagte sein Vater. „Füttere nur gut satt. Morgen müssen<br />

wir recht früh fort“.<br />

Damit wendete er sich mit Thomas, da im Stall in der Dunkelheit<br />

nichts zu sehen war, dem Haus zu. Indess hatten Stephan und<br />

Jasch bald ihre Vorbereitungen zum Schlafen gemacht. Die Stalltür<br />

wurde von innen verrammelt und verriegelt und bald schliefen sie<br />

ein.<br />

In der Stube hatte die Magd in einer Ecke Streu gemacht, auf<br />

das Stroh einige Kissen und Decken geworfen. Sie ging, <strong>als</strong><br />

Thomas und Jegodzienski eintraten, mit dem Tischtuch auf dem<br />

Arm und der noch fast gefüllten Suppenschüssel hinaus.<br />

Jegodzienski legte sich sogleich auf<br />

die Streu, da er früh fort<br />

müsste, wie er entschuldigend sagte. Thomas und die beiden<br />

Geistlichen nahmen am Tisch Platz.<br />

„Aber sag’ mal Albert“, begann Nebe, „ich dachte, es bei dir in<br />

Neuhoff so vorzufinden, wie bei einem Hofprediger oder<br />

wenigstens wie bei einem Erzpriester. Du scheinst mir aber ein<br />

Geizh<strong>als</strong> und großer Geldsammler geworden zu sein, so ärmlich<br />

sieht’s bei dir aus. Dein Dienst hier muss doch mächtig viel<br />

einbringen. Ich weiß noch, <strong>als</strong> ich dam<strong>als</strong> in der Löbenichtschen<br />

Langgasse<br />

arten. Da hat er auch<br />

mehr, ich kenne das“.<br />

„Ach, lieber Bruder Jacob“, sagte Cibulcovius seufzend, „was<br />

glaubst du von mir? Ich bin kein Geizh<strong>als</strong>. Es ist leider der leidige<br />

Mangel, den du bei mir siehst, und <strong>jetzt</strong>, gerade nach der Ernte,<br />

ist’s noch nicht einmal so schlimm wie im Frühjahr“.<br />

„Wie kann aber dein Baron dir etwas nehmen, was dir<br />

versprochen ist?“ fragte Nebe verwundert.<br />

„Ich habe ja alles was in der Einkommens-Nachweisung stand,<br />

ja noch mehr“, erwiderte Cibulcovius. „Die große Land-Dotation ist<br />

vorhanden. Ich könnte aber wenn ich will noch dreimal soviel<br />

386 beim Mälzenbräuer Stolzenberg wohnte, wie der<br />

Baron dich Anno 1683 <strong>als</strong> Pfarrer nach Neuhoff vocirt hatte. Da<br />

hast du mir die Einkommens-Nachweisung gezeigt. Es war riesig<br />

viel, was du hier hast, und ich denke, du musst noch weit mehr<br />

haben <strong>als</strong> was auf dem Papier steht. Der Bruder meiner Frau hat<br />

auch eine Patronats-Stelle 387 in Roseng<br />

386 Älteste Straße des Königsberger Stadtteils Löbenicht.<br />

387 Die Kirche in Neuhoff stand unter adligem Patronat wie die in Rosengarten. Vorschläge<br />

für die Besetzung der Pfarrstelle standen deshalb dem Patronatsherrn zu.<br />

252


eackern. Das Land trägt jedoch meist nur Blumen oder Strauch.<br />

Nahe am Haus beginne ich selber ein Stückchen Land zu<br />

kultivieren. Die verschriebene große und kleine Kalende 388 kann<br />

ich mir auch einfordern, und es könnte in den 4 Jahren die ich hier<br />

bin, schon eine ansehnliche Menge Roggen, Hafer, Gerste, Erbsen,<br />

Flachs, Eier usw. zusammengekommen sein. Die wenigen armen<br />

Scharwerksbauern sind jedoch froh, wenn ich ihnen im Frühjahr<br />

ein Stück Land gebe. Geld kommt somit fast gar nichts ein. So<br />

ist’s leider mit Allem“.<br />

„Wenn aber des Barons Bauern nichts haben“, bemerkte Nebe,<br />

„lenkt er da nicht ein und gibt dir, was dir zukommt? Bei meinem<br />

Schwager in Rosengarten hat es der Graf v. Lehndorff getan“.<br />

„Ja, wenn ich einen solchen Patron hätte, wie der Herr<br />

Oberburggraf ist“, sagte Cibulcovius. „Jetzt ist’s aber hier zum<br />

fortlaufen. Meine Schwester will in der Pracherei 389 auch nicht<br />

länger bei mir bleiben“.<br />

„Aber Mensch“, sagte Nebe. „Wie lebst du denn hier, ohne jeden<br />

Umgang, hast du denn keinen Rektor oder Schulmeister?“<br />

„Ich fand einen, <strong>als</strong> ich her zog“, erwiderte Cibulcovius. „Der<br />

wohnte, weil das Schulhaus eingestürzt war, mit dem Brenner<br />

zusammen. Sie besoffen sich gemeinschaftlich tagtäglich und<br />

nachtnächtlich. Des Rektors Weib und Kinder gingen betteln.<br />

Schule wurde hier nie gehalten. Schließlich wurde dem Herrn<br />

Baron die Sauferei zu arg und er jagte Brenner und Schulmeister<br />

weg. Dann hat der Baron noch verschiedene Schulmeister<br />

angenommen. Die liefen aber bald von selbst fort. Jetzt ist keiner<br />

mehr da“.<br />

„Aber unter den benachbarten Geistlichen, hast du denn da<br />

keine näheren Bekannten?“ fragte Nebe.<br />

„Meine guten Freunde von der Universität“, antwortete<br />

Cibulcovius, „sind alle weit von hier in anderen Gegenden<br />

angestellt. Der alte Mroncovius in Grabnick 390 ist mein nächster<br />

Nachbar. Er ist schon seit 30 Jahren dort. Ich dachte <strong>als</strong> Neuling in<br />

dieser Gegend und im Amt mir öfters von ihm Rat zu holen, <strong>als</strong> ich<br />

her zog. Der Mann, der wohl von jeher ein schwaches Gefäß<br />

gewesen sein mag, ist <strong>jetzt</strong> aber fast ganz unbrauchbar. Ich<br />

388<br />

Kalende: Monatliche Abgaben an Feldfrüchten und anderen Esswaren, die von den<br />

Einwohnern auf dem Lande dem Pfarrer und Organisten in der Herbstzeit zu entrichten sind.<br />

389<br />

Armseligkeit<br />

390<br />

Kirchdorf an der Straße zwischen Lyck und Lötzen, 12 km west-nordwestl. von Lyck<br />

253


wundere mich nur, dass er nicht schon längst einen Adjunkten 391<br />

erhalten hat. Aber, wie meistens beschränkte Leute,<br />

rechthaberisch und eigensinnig sind, der alte Mroncovius wittert<br />

überall Ketzerei und Kalvinismus<br />

reit, den ich doch<br />

ete Cibulcovius, „allein<br />

en soll“.<br />

haft einen oder den<br />

mal ein solch’ verwüstetes Grundstück<br />

392 . Gleich bei meinem ersten<br />

Besuch bei ihm in Grabnick kam ich mit ihm in St<br />

wahrlich nicht suchte oder provozierte“.<br />

„Na, liest der Alte denn gar nichts?“ fragte Nebe.<br />

„Seine Lektüre beschränkt sich“, antwort<br />

auf die Schriften des alten Klopffechters Kalvinus, aus denen er<br />

ganze Seiten auswendig kann und immer aufzuführen pflegt. Es<br />

war auch die Ursache des Streites mit ihm, dass ich nicht jedes<br />

Wort, das Kalvinus geschrieben, <strong>als</strong> Evangelium anerkennen<br />

wollte. Er sollte sich lieber bemühen, den Aberglauben<br />

auszurotten, denn ich glaube kaum, dass es in anderen Gegenden<br />

noch solch krassen Aberglauben gibt, <strong>als</strong> in der Grabnicker<br />

Gemeinde, obgleich auch leider in anderen Kirchspielen daran kein<br />

Mangel ist. Der Pfarrer erfährt in den allerwenigsten Fällen etwas<br />

davon, denn das Volk hat Angst vor ihm. Hier bin ich sehr<br />

hinterher und habe auch die Bauern, die zanteln 393 ließen, trotz<br />

ihrer Bitten, unnachsichtlich bestrafen lassen. Mit dem alten<br />

Mroncovius bin ich zuweilen an einem dritten Ort<br />

zusammengetroffen. Vom Erzpriester hörte ich bei der<br />

Kirchenvisitation hier im Sommer, dass er endlich einen Adjunkt<br />

bekomm<br />

„Hast du denn aber nicht unter den Besitzern oder Kölmern 394 in<br />

deiner Gemeinde oder in der Nachbarsc<br />

anderen, mit dem du freundschaftlich umgehen kannst?“, fragte<br />

Nebe.<br />

„Die meisten Güter sind wüst“, antwortete Cibulcovius, „und<br />

wenn auch einer ein<br />

391<br />

Ältere, kranke Pfarrer erhielten häufig einen Gehilfen beigeordnet, der <strong>als</strong> Adjunkt<br />

bezeichnet und auch meist Nachfolger wurde.<br />

392<br />

Zusammenfassende Bezeichnung für die reformatorischen Kirchen, die auf Johannes<br />

Calvin zurückgehen. Dieser wurde am 10. Juli 1509 in Noyon, Picardie geboren und verstarb<br />

am 27. Mai 1564 in Genf. Seine Anhänger werden <strong>als</strong> Kalvinisten oder Reformierte<br />

bezeichnet.<br />

393<br />

Zanteln = zaubern<br />

394<br />

Besitzer eines Freigutes, das urspr. nach kulmischem Recht vergeben wurde. Seit dem<br />

18.Jhdt. werden auch Besitzer von Freigütern z.B. preußischen Rechts unter die Kölmer<br />

gerechnet. Die Bezeichnung Kölmer geht auf das der Stadt Kulm 1233 vom Hochmeister<br />

Hermann v. Salza verliehene Recht zurück.<br />

254


übernimmt, kann er nicht lange darauf wirtschaften und zieht<br />

lieber in eine andere Gegend“.<br />

„Aber ist denn der Baron v. Heydeck zu vornehm, um mit ihm zu<br />

reden?“ fragte Nebe.<br />

„Ach, vornehm genug ist er schon“, antwortete Cibulcovius. „Er<br />

ist mit vielen fürstlichen und altgräflichen Häusern verschwägert<br />

und verwandt, wie er gar gern und oft erzählt. Sein Urgroßvater<br />

war der bekannte fürstliche Rat Friedrich v. Heydeck<br />

reußen zurückkehrte<br />

sen, und wie auch die Pfaffen wegen<br />

395 . Der kam<br />

mit dem Markgrafen Albrecht in’s Land und stand bei ihm in<br />

großen Gnaden. Er hatte auch große Verdienste um die Einführung<br />

der Reformation in Preußen und war dem Markgrafen mit großem<br />

Eifer zur Hand, <strong>als</strong> dieser in Deutschland tapfere und verständige<br />

Leute suchte, die geschickt und erfahren wären, das Heilige<br />

Gotteswort dem gemeinen Mann zu verkündigen. Als der<br />

Markgraf, dam<strong>als</strong> noch Hochmeister, nach P<br />

und der Comthur H. Reuß v. Plauen hart darauf hielt, das<br />

Evangelium predigen zu las<br />

allem nach Heilsberg 396 zum Bischof liefen und die Kirchengeräte<br />

mitnahmen, da ritt der Friedrich v. Heydeck mit 10 Freunden im<br />

Land herum, um nach dem Rechten zu sehen. Er nahm die Gelder<br />

und Kirchengeräte in Verwahrung, damit nicht Hoffarth 397 und<br />

Götzendienst damit getrieben werde. Die Klöster in Gerdauen,<br />

Wehlau, Tilsit, Heiligenbeil usw. suchte er auf und ließ an jedem<br />

Ort nur die drei ältesten Mönche bleiben. Das war nun alles ganz<br />

gut, aber durch den Heydeck kam auch der Prediger Amandus 398<br />

395 Der um 1490 in Franken geborene Friedrich Herr v. Heydeck trat zusammen mit dem<br />

Hochmeister und späteren Herzog Albrecht in den Deutschen Orden ein und kam um 1512<br />

nach Preußen. 1514 ist er Pfleger zu Johannisburg. Er stand Albrecht <strong>als</strong> Freund und Rat nahe<br />

und untertützte diesen bei der Säkularisierung des Ordensstaates und der Einführung der<br />

Reformation. 1525 verlieh ihm der nunmehrige Herzog Albrecht das Amt Johannisburg auf<br />

Lebenszeit und das Amt Lötzen, sobald es frei wurde, erblich. Friedrich v. Heydeck starb 1536<br />

in Königsberg. Er war lebenslang Anhänger der spiritualistisch-schwärmerischen Richtungen<br />

innerhalb des Protestantismus wie z.B. die des schlesischen Theologen Caspar Schwenkfeld.<br />

396 Sitz des Bischofs von Ermland<br />

397 Hoffarth, die Unart seine Urteile von eigenen Vorzügen an den Tag zu legen. Eine Folge<br />

des Hochmutes. In engerer Bedeutung ist es die Bemühung, das eigene Urteil von seinen<br />

Vorzügen durch Kleider an den Tag zu legen.<br />

398 Johannes Amandus, im Westfälischen geboren und schon früh zur Reformation<br />

übergetreten, kam auf Anregung Herzog Albrechts 1523 nach Königsberg und predigte hier<br />

vornehmlich in der altstädtischen Kirche. In reformatorischem Übereifer rief er zu Gewalttaten<br />

gegen die Katholiken und ihre kirchlichen Einrichtungen auf. Als er auch den Rat der Altstadt<br />

Königsberg wegen seiner Lauheit in religiösen Fragen angriff und auch mit gemäßigteren<br />

255


in’s Land, der zwar mit großem Eifer das Evangelium predigte,<br />

aber auch viel dazu beitrug, dass die Bilderstürmer 399 in<br />

Königsberg ihr Unwesen trieben. Amandus musste auch deswegen<br />

weichen. Der Markgraf Albrecht verlieh dem Heydeck die<br />

Amtshauptmannschaft Johannisburg, gab ihm auch das ganze<br />

Hauptamt Lötzen erblich, so dass er hier in diesem Winkel wie ein<br />

Fürst herrschte. Er legte nun hier in der Oletzkoischen Wildnis eine<br />

deutsche Kolonie an, ließ durch die Scharwerksbauern den Wald<br />

roden, legte die Mühle an, erbaute ein Schloss, wollte eine Kirche<br />

hier bauen und ließ sich vom Markgrafen das Ganze unter dem<br />

Namen Neuhoff <strong>als</strong> eine Erbhauptmannschaft verleihen“.<br />

„Verzeiht, Herr Pfarrer“, unterbrach ihn Thomas. „Was hat es<br />

denn eigentlich für eine Bewandnis mit den Erb-<br />

400<br />

Hauptmannschaften?<br />

In Polnisch Preußen , wo ich bis <strong>jetzt</strong><br />

gewesen bin, kennt man sie nicht“.<br />

„Das will ich dir wohl sagen“, erwiderte an Cibulcovius Stelle der<br />

Diakon Nebe. „Die adligen Erb-Haupt-Ämter waren zuvor<br />

landesherrliche Haupt-Ämter, Distrikte und kleinere Kreise, in die<br />

das ganze Land geteilt war und teilweise heute noch geteilt ist.<br />

Dort hat der Amtshauptmann mit Hinzuziehung eines Justiciarii die<br />

Gerichtsbarkeit exerziert. Einige solcher Hauptämter wurden von<br />

der ehemaligen Landesherrschaft an verdiente adlige Familien mit<br />

verschiedenen Vorrechten, gewissen landesherrlichen Einkünften<br />

und Lehngefällen sowie der völligen Gerichtsbarkeit über den<br />

ganzen Distrikt erb- und eigentümlich verschenkt. Wir haben hier<br />

in Preußen das Erbhauptamt Gerdauen und Nordenburg, das der<br />

Ritter Georg v. Schlieben 401 für die dem Orden geleistete Hilfe<br />

Vertretern der neuen Lehre in Widerspruch geriet, musste er wohl Ende 1524 Königsberg<br />

verlassen. Er hielt sich danach in Stettin und in Goslar auf und verstarb 1530 in Goslar.<br />

399<br />

Der ref. Bildersturm war eine Begleiterscheinung der Reformation im 16. Jahrhundert. Auf<br />

Weisung ref. Theologen und der zum neuen Glauben übergetretenen Obrigkeit wurden<br />

Gemälde, Skulpturen, Kirchenfenster und andere Bildwerke mit Darstellungen Christi und der<br />

Heiligen zerstört oder beschädigt. Der Bildersturm betraf Städte und Dörfer in ganz Europa.<br />

400<br />

Bezeichnung für den Teil des Ordensstaates, der nach dem 2. Thorner Frieden von 1466<br />

an Polen fiel: Westpreußen, Kulm und Ermland.<br />

401<br />

Er gilt <strong>als</strong> Stammvater der ostpreußischen Linie der weitverzweigten Adelsfamilie<br />

Schlieben Als einer der wenigen Söldnerführer trat er bereits vor der drohenden kriegerischen<br />

Auseinandersetzung mit dem aufsässigen Preußischen Bund auf die Seite des Deutschen<br />

Ordens. Seine Soldforderungen an den Orden wurden nach 1466 durch umfangreiche<br />

Güterverleihungen abgegolten. Zusammen mit seinem Bruder Christoph erhielt er <strong>als</strong><br />

Abfindung Stadt und Schloß Gerdauen und andere Besitzungen. Georg v. Schlieben verstarb<br />

um 1477.<br />

256


1469 für sich und seine Nachkommen bekam, dann Gilgenburg,<br />

Schönberg, Deutsch Eylau und Neuhoff.<br />

Der Heydecker wurde“, fuhr Cibulcovius fort, „Anno 1529 vom<br />

Markgrafen Albrecht 402 nach Deutschland geschickt, um unser<br />

Preußen mit Predigern zu versorgen, an welchen großer Mangel<br />

war. Da lernte er in Breslau die Prediger der Wiedertäufer 403<br />

Fabian Eckel und Peter Zenker 404 kennen. Diese nahmen ihn<br />

gänzlich ein, und er brachte sie samt ihren Anhängern mit nach<br />

Preußen. Hier in Neuhoff und im Johannisburgschen Amt, das dem<br />

v. Heydeck vom Markgrafen verliehen war, setzte er die<br />

Kolonisten an. Der Bischof Speratus 405 wollte sie aber <strong>als</strong><br />

Anabaptisten 406 nicht im Land dulden und Luther selbst soll in<br />

einem Brief dem Herzog geraten haben, sie nicht hier zu belassen.<br />

402 Nach dem Erwerb der Markgrafschaft Brandenburg durch die fränkische Linie der<br />

Hohenzollern im Jahre 1415 ging der Titel Markgrafschaft auch auf die Fürstentümer<br />

Ansbach-Bayreuth über. Herzog Albrecht von Preußen führte deshalb auch den Titel Markgraf<br />

von Brandenburg-Ansbach.<br />

403 In der gewaltigen religiösen Gärung, die durch das Auftreten Martin Luthers<br />

hervorgerufen worden war, trat seit etwa 1520 eine “schwärmerische,“durch Berufung auf<br />

übernatürliche Offenbarung gekennzeichnete Richtung hervor, die viele Varianten aufwies,<br />

und die man zusammenfassend <strong>als</strong> Täufertum bezeichnet. Ihr erster großer Agitator in<br />

Deutschland war Thomas Müntzer. Weil die Anhänger dieser Richtung die Erwachsenentaufe<br />

propagierten, wurden sie von den Gegnern Wiedertäufer genannt. Ihnen allen eigentümlich<br />

war u.a. ein starkes Misstrauen gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit und ihre Gesetze,<br />

die Berufung auf das „innere Licht“, d.h. eigene prophetische Erleuchtung, sowie der<br />

Anspruch, Gemeinden von tatsächlich „Heiligen“ zu bilden.<br />

404 Diese beiden Geistlichen waren Anhänger der Lehren Kaspar Schwenkfelds (1489 –<br />

1561), Kanzler des Herzogs von Liegnitz, einem Schwager Herzog Albrechts von Preußen.<br />

405 Paul Speratus wurde 1484 geboren in Rötlen bei Ellwangen geboren und verstarb 1551 in<br />

Marienwerder. Zum katholischen Priester ausgebildet und in geistlichen Ämtern u.a. in<br />

Salzburg und Würzburg tätig, predigte er seit 1520 evangelisch und hat in demselben Jahr<br />

auch geheiratet. Nach Aufenthalten in Ungarn und Mähren trat Speratus mit Herzog Albrecht<br />

1523 in Verbindung, und dieser berief ihn 1524 <strong>als</strong> Schloßprediger nach Königsberg. Speratus<br />

wirkte bei der Durchführung der ersten Kirchenvisitation in Preußen mit und war auch an der<br />

Herstellung des ersten preußischen Kirchengesangbuches beteiligt. Nach dem Tod des<br />

Bischofs von Pomesanien, Erhard v. Queis, trat Speratus 1530 dessen Nachfolge an. Zur<br />

Bestreitung seines Lebensunterhalts wurde ihm das Amt Marienwerder verschrieben. An der<br />

Neuorganisation der preußischen Landeskirche hat Speratus einen wesentlichen Anteil. Sein<br />

theologischer Kampf war der Fernhaltung spiritualistischerer Schwärmereien der Wiedertäufer<br />

und anderer Richtungen gewidmet. Diesem Anliegen dienten die Religionsgepräche (Synoden)<br />

in Rastenburg im Juni und Dez. 1531. In den Jahren 1541/43 nahm Speratus an der zusammen<br />

mit dem Landesherrn durchgeführten Visitation teil. 1548 regelte er die Eingliederung der<br />

vertriebenen Böhmischen Brüder und ihre Ansiedlung in verschiedenen oberländischen<br />

Ortschaften.<br />

406 Wiedertäufer s.o. (Erwachsenentaufe in Flüssen)<br />

257


Obwohl <strong>als</strong>o diesen Wiedertäufern das Land verboten wurde,<br />

schützte sie doch der Heydecker und setzte es bei dem Herzog<br />

durch, dass heut’ vor 156 Jahren ein Kolloquium 407 mit ihnen in<br />

Rastenburg in des Herzogs Gegenwart gehalten wurde“.<br />

„Mir ist, <strong>als</strong> ob ich etwas davon in des Magister Hartknochs<br />

Preußische Kirchenhistorie gelesen habe“, sagte Nebe, „aber<br />

weshalb sagst du gerade heut vor 156 Jahren?“<br />

„Nun, weil am 30. Dezember 1531 im Pfarrhof zu Rastenburg<br />

das Kolloquium stattfand“, erwiderte Cibulcovius.<br />

„Was wurde denn daraus?“ fragte Nebe.<br />

„Das weiß ich dir nicht zu sagen, was bei dem Kolloquium recht<br />

herauskam“, antwortete Cibulcovius. „Wahrscheinlich blieb jede<br />

Partei bei ihrer Meinung. Den Wiedertäufern wurde befohlen, das<br />

Land zu räumen. Sie hatten sich aber schon viele Anhänger unter<br />

dem Volk verschafft und sogar einige Prediger auf ihre Seite<br />

gebracht. Daher berief der Bischof Speratus Anno 1533 alle Pfarrer<br />

der<br />

polnischen Ämter zu einer Synode nach Rastenburg, um zu<br />

erforschen,<br />

wie sie in Ansehung der Wiedertäufer gesinnt wären.<br />

Er<br />

fand, dass einige bereits von ihnen eingenommen waren und<br />

diese, da sie sich nicht zurechtweisen lassen wollten,<br />

absetzte.<br />

Aber de r Herr v. Heydeck setzte sie wieder in das Predigtamt ein,<br />

indem er sie an die Kirchen beförderte, deren Lehnsherr er war.<br />

Es<br />

handelte sich unter anderen um den Pfarrer Bernhardus,<br />

der<br />

wegen der wiedertäuferischen Lehre in Johannisburg abgesetzt<br />

war. Den ernannte er 1533 zum Pfarrer in Milken,<br />

Lötzenschen<br />

Amts“.<br />

„Aber ich fragte dich nach deinem Patron“, sagte Nebe,<br />

„und du<br />

erzählst uns nur von seinem Urgroßvater“.<br />

„Da geht es mir gerade wie meinem Baron“, sagte Cibulcovius<br />

lächelnd. „Wenn der von seinem Ahnherrn zu erzählen<br />

anfängt,<br />

findet er kein Ende. Doch habt nur Geduld, ich habe noch ein<br />

wenig mehr<br />

zu sagen.<br />

Der Bischof Speratus beschwerte sich natürlich<br />

über das<br />

eigenmächtige Verfahren des Freiherrn v. Heydeck. Es kam zu<br />

unerquicklichen Erörterungen. Wer weiß, was noch daraus<br />

geworden wäre, wenn Heydeck Anfang des Jahres 1536 nicht<br />

gestorben wäre. Nun hatten die Anabaptisten ihren Beschützer<br />

verloren, denn die Witwe Hedwig Freifrau v. Heydeck hatte genug<br />

zu tun, um das Hauptamt Lötzen während der Minderjährigkeit<br />

ihrer Söhne zu behalten. Sie muss aber ein tüchtiges Weib<br />

407 S. FN 405<br />

258


gewesen sein, denn sie hat das Amt 7 Jahre lang wie ein<br />

Amtshauptmann verwaltet, und auch verschiedene Erlasse<br />

und<br />

Kaufbriefe<br />

erteilt“.<br />

„Die Wiedertäufer mussten aus dem Lande, hier im Erbamte<br />

Neuhoff wurden dadurch die Dörfer sehr menschenleer, in Randten<br />

z.B. blieb nur ein Bauer. Das Amt Lötzen ging nach dem Tode<br />

der<br />

Witwe der Familie v. Heydeck verloren und so kam sie allmählich<br />

herunter.<br />

Hinzu kamen noch die Raubzüge<br />

6 di it der Zeit<br />

wieder nn auch<br />

etwas men die<br />

Schwed<br />

Sch taren,<br />

die alle s nur die<br />

Ringma blieben.<br />

Sämtlic<br />

lso übel<br />

gehaus<br />

„Ich chlimmer<br />

fortgek er Schlacht<br />

Olezko<br />

und Jo außer der<br />

Kirche etötet, die<br />

meisten n, kamen sie<br />

nichts mehr zu<br />

morden nnen war. In<br />

Pissanit<br />

408 der Polen und Anno<br />

162 e der Schweden. Doch wäre die Familie wohl m<br />

emporgekommen, denn der Acker ist ganz gut, we<br />

bergig. Da kam aber das Jahr 1656: Zuerst ka<br />

en und Brandenburger her und zehrten fast alles auf. Nach<br />

der lacht bei Prostken 409 kamen dann die Polen und Ta<br />

s so gründlich verheerten und verbrannten, das<br />

uern des Schlosses und der Kirche stehen<br />

he Holzhäuser wurden abgebrannt“.<br />

„A auch in dieser Gegend haben die Tataren so<br />

t?“, fragte Thomas.<br />

glaube kaum, dass eine andere Gegend s<br />

ommen ist“, sagte Cibulcovius. „Gleich nach d<br />

im Oktober überschwemmten die Barbaren die Ämter Lyck,<br />

hannisburg. Von Grabnick, wo das ganze Dorf<br />

eingeäschert wurde, mehrere Einwohner g<br />

aber in die Dienstbarkeit getrieben wurde<br />

hierher nach Neuhoff. Sie zogen erst weiter, <strong>als</strong><br />

, zu rauben, zu fangen und zu verbre<br />

zen 410 fielen sie am Sonntag, den 15. Oktober ein, <strong>als</strong> die<br />

408<br />

Diese Raubzüge standen im Zusammenhang mit den schon länger andauernden<br />

kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Schweden und vermehrten sich nach<br />

der 1626 erfolgten Landung des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf in Pillau und der Besetzung<br />

großer Teile<br />

der südlichen Ostseeküste durch die Schweden.<br />

409<br />

Im 2. schwedisch-polnischen Krieg 1656 - 1660 versuchte der Große Kurfürst<br />

sich durch<br />

wechselnde Allianzen von der polnischen Lehensabhängigkeit zu befreien. Er verbündete<br />

sich<br />

zunächst mit den Schweden und beide Länder schlugen die Polen in einer Schlacht<br />

vor<br />

Warschau (28. – 30.Juli 1656). In dieser dreitägigen Schlacht brillierte<br />

vor allem der<br />

brandenburgische Generalfeldzeugmeister Otto Christoph von Sparr aus Prenden bei Berlin,<br />

dessen Hauptangriff die Polen in die Flucht schlug. König Johann Kasimir von Polen<br />

versammelte jedoch schnell wieder seine geschlagenen Truppen und verbündete sich mit<br />

tatarischen Streitkräften unter Führung des polnisch-litauischen Gener<strong>als</strong> Vincenty<br />

Gonsiews ki. Dem 20.000 Mann starken Heer konnten die Schweden und Preußen nur 10.000<br />

Infanteristen und 2.000 Reiter des preußischen Adels entgegenstellen.<br />

Sie verloren mit der<br />

Schlacht bei<br />

Prostken am 8. Oktober 1656 auch 7.000 Kämpfer.<br />

410<br />

Kirchdorf 9 km östl. von Lyck.<br />

259


Gemein de eben in der Kirche und der Prediger auf der Kanzel war.<br />

54 Personen wurden niedergesäbelt, 2 ersäuft, 329 in die<br />

Sklaverei geschleppt und das Dorf mit der Kirche in Asche gelegt.<br />

In Lyssöwen<br />

<strong>als</strong> sie . Er wurde<br />

aber du ädigt nach<br />

Flammen<br />

verzehr<br />

Marggr die Asche<br />

gelegt. rchs Feuer<br />

rrer in<br />

Czichen nische<br />

Tracht Tataren zu<br />

entwisc , was brennen<br />

.<br />

Die S befestigt, die<br />

konnten en Dörfer mussten<br />

büßen. Sonntag,<br />

st anderen<br />

Einwoh r Kanzel<br />

stand, f<br />

In Ku t<br />

e, ch die Kirche<br />

und der<br />

„Ach, kann<br />

mich a d<br />

nt<br />

wurden, llgemeinen<br />

Flucht ranke und alte<br />

Leute in ls in den<br />

ng gelesen<br />

habe, i Dörfer<br />

und 37 hr 11000, das<br />

411 geriet der Pfarrer Kozik in die Hände der Tataren,<br />

an demselben Sonntag dort eingefallen waren<br />

rch einige bekannte Polen befreit und unbesch<br />

Lyssöwen zurückgebracht. Das Dorf aber wurde von den<br />

t und die meisten Einwohner wurden fortgeführt. Die Stadt<br />

abowa wurde nebst Kirche und Rathaus ganz in<br />

Das Kirchdorf Wieliczken 412 mit seiner Kirche du<br />

verheert. Der damalige Diakon Rode, der noch <strong>als</strong> Pfa<br />

413<br />

lebt, hatte das Glück, sich geschwind in eine pol<br />

zu verkleiden und so mitten durch die<br />

hen. In Widminnen wurde alles verbrannt<br />

wollte<br />

tadt Johannisburg war den Tataren zu gut<br />

sie nicht einnehmen, aber die arm<br />

Den Flecken Bialla überfielen sie an einem<br />

brannten den ganzen Ort ab und schleppten neb<br />

nern auch den damaligen Diakon, der eben auf de<br />

ort.<br />

milsko 414 blieb die Kirche stehen, <strong>als</strong> das Dorf verbrann<br />

wurd in Drygallen 415 aber gingen nebst dem Dorf au<br />

Glockenturm in Feuer auf“.<br />

es war dam<strong>als</strong> ein großer Jammer“, sagte Nebe. „Ich<br />

us meiner Kindheit noch besinnen, wie die Eltern un<br />

Kinder, Ehegatten, Verwandte und Freunde von einander getren<br />

und wie dann erzählt wurde, dass bei der a<br />

manche Säuglinge, unerzogene Kinder, k<br />

den Wäldern umgekommen sind. Es sollen dama<br />

Jahren 1656 und 1657, wie ich in einer Zusammenstellu<br />

n Preußen 13 Städte, an die 250 Flecken, Höfe und<br />

Kirchen eingeäschert worden sein. Ungefä<br />

411<br />

Ort im Kirchspiel Borszymmen, urspr. Kirchdorf (gegr. 1474) 22 km ost-südost von Lyck<br />

am Nordufer des Raygrodkasees, nach Brand 1817 wurde die Kirche nach<br />

Borszymmen<br />

verlegt.<br />

412<br />

Wielitzken (Wallenrode), Kirchort 6 km südöstl. von Marggrabowa an der Straße<br />

nach<br />

Suwalki.<br />

413<br />

Kirchort an der Ostseite des Borkener Forsts, 14 km west-nordwestl. von Marggrabowa.<br />

414<br />

Kirchort,<br />

14 km südöstl. von Johannisburg.<br />

415<br />

Kirchort, 21 km ost-nordöstl. von Johannisburg, halbwegs an der Straße Johannisburg-<br />

Lyck.<br />

260


Kriegsvolk mitgerechnet über 20000, Menschen sollen erschlagen,<br />

etwa 3 und viele<br />

Tausen<br />

„Da m olnisches Lied<br />

itteilen: Oyczyzne teskliwa, zaleway sie, tzami. Der verstorbene<br />

seine Rettung fand. Kurz vor dem Sumpf, <strong>als</strong> er sieht,<br />

locken und gefangen zu nehmen,<br />

ko keine Feinde mehr wären, fand er sich zu Hause<br />

wahrscheinlich die Absicht hatten die Kirche zuvor zu plündern und<br />

in dieselbe traten, sahen sie das Bild des Erasmus 417 4000 Einwohner in die Tartarei weggeführt<br />

de durch Pest und Hunger umgekommen sein“.<br />

uss ich Euch doch“, sagte Cibulcovius, „ein p<br />

m<br />

Pfarrer Thomas Molitor hat es in Rosynsko<br />

, auf<br />

Leinwand gebracht und an die Wand geheftet, und mehrere<br />

Schildereien, welche in 2 Fensterscheiben auf dem Glas sich<br />

befinden. Dies veranlasste sie, das Feuer an dem Kirchengebäude<br />

auszulöschen. Die Schildereien auf den Scheiben in dem nächsten<br />

Fenster rechts am Altar sind, wie mir Meinicke mitteilte, noch<br />

416 komponiert und<br />

gedichtet. Aus dessen Hinterlassenschaft erhielt ich eine Abschrift<br />

durch seinen Nachfolger Meinike. Der Pfarrer Molitor war nämlich“,<br />

erzählte Cibulcovius, in der Schublade des Tisches unter seinen<br />

Papieren suchend, „Anno 1656 Rektor in Rosynsko. Bei dem<br />

Überfall der Tataren flüchtete er sich bis nach den Sümpfen,<br />

welche sich bei dem Dorf Wargalen im Kirchspiel Drygallen<br />

befinden. Die Tataren haben ihn bis zu dem Sumpf verfolgt, wo er<br />

schließlich<br />

dass er verfolgt wird und weiter nicht reiten kann, warf er sich<br />

vom Pferd und versuchte zu Fuß auf den nächst gelegenen Werder<br />

zu kommen, um sich dort im dichten Gebüsch zu verstecken. Sein<br />

Pferd überließ er den Tataren und war nur darauf bedacht, wie er<br />

in der Einöde überleben könne. Als nichts mehr von dem Geschrei<br />

zu hören war, welches die Tataren in den Wäldern machten, um<br />

die dahin Geflüchteten zu sich zu<br />

kam er wieder hervor. Im Verlauf dieser 4 Tage lebte er nur von<br />

Wurzeln und Kräutern. Er zog dann unterwegs im Drygallenschen<br />

Kirchspiel Nachricht ein, wie es in Rosynsko stehe. Als er erfuhr,<br />

dass in Rosyns<br />

ein.<br />

Während seiner Abwesenheit hat sich folgendes in Rosynsko<br />

zugetragen: Die Feinde hatten beschlossen die Kirche anzuzünden<br />

und zu verbrennen. Sie sollen auch schon in einer Ecke rechts<br />

nach Westen Feuer angelegt haben. Da einige von ihnen<br />

416 Ort im Ksp. Klaussen (siehe dort), 12 km westl. von Lyck.<br />

417 Gemeint ist hier offenbar Erasmus von Antiochia, der während der Christenverfolgungen<br />

unter Kaiser Diokletian (284–305) den Märtyrertod starb und <strong>als</strong> Heiliger verehrt wird. Er gilt<br />

<strong>als</strong> Nothelfer u.a. bei Feuergefahren.<br />

261


vorhanden. Das Bild des Erasmus ist aber nicht mehr da, sondern<br />

ganz verfault und auseinandergefallen. Der Rosynskosche Pfarrer<br />

Stankowius ist nicht so glücklich gewesen wie Molitor, denn<br />

nachdem er mit seiner Ehegattin in die Dienstbarkeit<br />

entführt<br />

worden ist, hat keiner von beiden das Vaterland jem<strong>als</strong> wieder<br />

gesehen. Hierauf wurde Molitor an seiner Stelle in Rosynsko 1656<br />

Pfarrer.<br />

Doch da habe ich das Lied gefunden. Ich habe eine deutsche<br />

Übersetzung gefertigt. Nimm’ einmal das polnische Original,<br />

Jacob, zum Vergleich. Du musst an die Übersetzung nur nicht zu<br />

große Ansprüche stellen, da diese nicht genau bei dem<br />

Wortverstand bleibt, sondern auch die Melodie des polnischen<br />

Liedes beibehalten werden sollte. Daher hat sie sich in der<br />

418 419<br />

Abwechselung der Jamben und Trochäen , den Abschnitten<br />

und Reimen richten müssen“.<br />

Mit diesen Worten reichte er dem Diakon Nebe einige Blätter<br />

und las dann seine Übersetzung:<br />

1. Betrübtes Vaterland! Netz deine Wangen;<br />

Denkt, Preußen, was mit euch dam<strong>als</strong> vorgegangen,<br />

Als man sechzehnhundert sechs und fünfzig zählte,<br />

Und ein ergrimmter Feind euch empfindlich quälte.<br />

2. So wie ein Adlerschwarm kam in schnellen Heeren<br />

Ein rauhes Heidenvolk, alles zu verzehren.<br />

Unvermutet<br />

sprengten wilder Barbaren Horden<br />

Auf raschen Pferden an, um hier frei zu morden.<br />

3. Die angeschürte Glut schlug in hellen Flammen<br />

Gleich über Haus und Dorf, Kirch’ und Stadt zusammen.<br />

Vieh, Gerät und Silber ward hiebei erbeutet,<br />

Und durch das ganze Land Furcht und Not verbreitet.<br />

4. Die spät’ste Nachwelt wird’s mit Erstaunen<br />

lesen,<br />

Wie groß der Tatarn Wut dazumal gewesen.<br />

Durch das härt’ste Elend, so man nie erhöret,<br />

418<br />

Als Jambus (Plural: Jamben) bezeichnet man einen Versfuß, in welchem auf eine „leichte“<br />

(kurze) eine „schwere“ (lange) Silbe folgt.<br />

Im Deutschen wie in anderen modernen Sprachen zeigt der Jambus das Schema: unbetont -<br />

betont.<br />

419<br />

Der Trochäus oder Trochaeus (Plural: Trochäen) bezeichnet einen Versfuß, in dem auf eine<br />

schwere (lange oder betonte) Silbe eine leichte (kurze oder unbetonte) folgt.<br />

262


Ward unser Ruhestand unverhofft gestöret.<br />

5. Den Enkel traf nunmehr, was in fernen Zeiten<br />

Die Väter nicht erlebt: Tausend Grausamkeiten<br />

Kränkten hier die Unschuld; und bei solchen Plagen<br />

Beklemmten die Brust Ohnmacht und Verzagen.<br />

6. Des Tatars strenge<br />

Faust trieb bestrickte Schaaren,<br />

Die seinem schnellen Pfeil nicht entronnen waren;<br />

Und wer konnt’ entrinnen? Was der Wald verstecket,<br />

Was Busch und Strauch verbarg, ward von ihm entdecket.<br />

7. Sein scharfer Säbel hieb alles<br />

ohn’ Erbarmen,<br />

Der Wütrich riss das Kind aus der Mutter Armen,<br />

Die mit nassen Augen kläglich<br />

nach ihm blickte,<br />

Und diese Seufzer nur zu den Wolken schickte.<br />

8. Ward wohl der Bösewicht durch ihr Flehn gerühret?<br />

Der unbarmherzig sie an sein Pferd geschnüret,<br />

Und im schnellen Traben mit sich fortgenommen,<br />

Obgleich das Kind dabei hülflos umgekommen.<br />

9. Des Säuglings Winseln ist durch die Luft gedrungen,<br />

Das Kält’ und Hunger ihm schmerzhaft abgezwungen,<br />

Musste nicht so mancher ohne Pfleg’ erblassen?<br />

Nachdem<br />

die Mutter ihn unversorgt verlassen.<br />

10. Ein jeder suchte nur ganz betäubt von Schrecken,<br />

Den Ort zur Sicherheit, um sich zu verstecken,<br />

Da des Tatars Blutdurst bloß auf dieses zielte,<br />

Wie er sein Mütlein <strong>jetzt</strong> an Christen kühlte.<br />

11. Auf Feldern irrten armer Waisen Haufen,<br />

Bestürzt sah man sie durcheinanderlaufen,<br />

Und gleich den jungen Vögeln, wenn sie sich zerstreuen,<br />

Mit ängstlich banger Stimm’ nach den Eltern schreien.<br />

12. O Vater,<br />

riefen sie, laß dich von uns finden,<br />

Geliebte Mutter, ach! Kannst du so verschwinden,<br />

Bis sie matt vom Weinen, matt von Frost und Darben,<br />

Und alles Trosts beraubt, auf den Feldern starben.<br />

13. Die Eltern aber selbst lagen schon in Banden,<br />

Zur Freiheit war für sie gar kein Weg vorhanden.<br />

Niemand durfte hoffen, sie von Strick und Ketten<br />

Der harten Dienstbarkeit jem<strong>als</strong> zu retten.<br />

14. Der Kinder Jammerstand mehrte zwar ihr Quälen,<br />

Doch mussten<br />

sie aus Furcht ihren Schmerz verhehlen.<br />

Nur im Herzen ließ sich Gram und Wehmut spüren,<br />

Wie Blumen, die verdorrt Farb’ und Schmuck verlieren.<br />

15. Verlassen saßen sie unter den Barbaren,<br />

263


16.<br />

Wo sie der Trübs<strong>als</strong>flut bloßgestellet waren.<br />

Hier hat selbst die Keuschheit von den wilden Sitten<br />

Des gottsvergeßnen Volks oft Gewalt gelitten.<br />

Es ward das graue Haupt manchem abgeschlagen,<br />

Der tiefsten Wunden<br />

Schmerz mussten andre tragen.<br />

Keiner blieb verschont; wie verlassne Herden<br />

Ein unverwehrter Raub schlauer Wölfe werden.<br />

17. Wie in dem Höllenpfuhl hat an Händ’ und Füßen<br />

Das arme Christenvolk<br />

Bande schleppen müssen.<br />

18.<br />

Ehegatten mussten sich gezwungen scheiden,<br />

Und so getrennt, forthin allen Umgang meiden.<br />

Sie sahn einander an, ohn’ ein Wort zu sprechen,<br />

Die Seufzer mussten still aus dem Herzen brechen.<br />

Quälte sie der Hunger<br />

auf der weiten Reise,<br />

So war ein stinkend Aas ihre beste Speise.<br />

19. Verstricket wurden sie, wie das Vieh getrieben,<br />

So wollte man die Rach’ an Christen üben!<br />

Unter bittern Zähren fielen ihre Blicke<br />

Auf Freund und Vaterland noch zuletzt zurücke.<br />

20. Wieviele haben nicht in den schnellen Flüssen<br />

Vom Strudel hingerafft, kläglich sterben müssen.<br />

Da das Übersetzen oftm<strong>als</strong> nicht gelungen,<br />

Ist häufig Greis und Kind, Mann und Weib verschlungen.<br />

21. Kein Moses führte <strong>jetzt</strong> Israels Geschlechte;<br />

Ein strenger Barbar trieb die leibeigenen Knechte,<br />

Wenn geteilte Wellen dort wie Mauern stunden,<br />

Hat mancher hier sein Grab in der Flut gefunden.<br />

22. Sie wurden hingeschleppt in ein Land der Heiden,<br />

Um Gram und Ungemach überhäuft zu leiden.<br />

Als sie angelanget, hat man unverweilet,<br />

Den mitgebrachten Raub hier vergnügt verteilet.<br />

23. Und so ist Gottes Zorn strafend ausgebrochen,<br />

Wie ehm<strong>als</strong> Moses schon diesen Fluch gesprochen.<br />

Wegen der verübten schweren Missetaten<br />

Sollst du den Feinden einst in die Hand geraten.<br />

29. Lasst Preußen, dieses Euch unvergesslich bleiben,<br />

Hört auf, eu’r böses Tun weiterhin zu treiben.<br />

Euern Wandel müsse reiner Glaube schmücken,<br />

So sollen auch nicht mehr solche Strafen drücken.<br />

40. Du wolltest selbst, o Gott! Unser Herz regieren,<br />

Dass wir mit Heiligkeit stets den Wandel zieren.<br />

Wirst du mit den Engeln zum Gericht erscheinen,<br />

264


So stell’ uns neben sie in die Zahl der deinen.<br />

41. Da wird dir unser Mund neue Lieder singen,<br />

Da soll der Dankbarkeit froher Ton erklingen,<br />

Mit den Engeln<br />

wollen wir dein Lob erheben,<br />

Erhöre dies, o HERR! Lass uns mit dir leben!<br />

„Du hast das Lied sehr gut übersetzt“, sagte Nebe, <strong>als</strong> er die<br />

polnische Handschrift zurückgab. „Ich habe keinen Fehler<br />

gefunden, wie sie sich doch manchmal in unserem neuesten<br />

420<br />

polnischen<br />

Gesangbuch , wie z.B. das Anno 1684 in der<br />

Reußnerschen<br />

e alten Kirchenlieder aus dem Thornschen Gesangbuch<br />

t hat, würde ich gerne<br />

einigen Liedern kann ich dir’s mit Gewissheit sagen“,<br />

ilseschen Erzpriester<br />

sche Sprache so innehaben, um die Lieder so gut zu<br />

e Sprache von Kindesbeinen an gelernt hat. Vor 40<br />

421 Buchdruckerei in Königsberg herausgekommene,<br />

finden. Di<br />

des Aronimi von 1646 sind zum größten Teil darin. Wer aber die<br />

darin enthaltenen Lieder erneut übersetz<br />

wissen“.<br />

„Von<br />

antwortete Cibulcovius lächelnd. „In unserem Gesangbuch, wie es<br />

noch heute meistens gebraucht wird, das Anno 1671 bei Paschen<br />

Mense in Königsberg gedruckt ist, sind zwar die meisten Lieder<br />

auch aus dem Thorner Gesangbuch, doch ist eine Anzahl<br />

derselben von dem 1672 verstorbenen T<br />

Johann Malina neu übersetzt“.<br />

„Aber ich denke doch“, sagte Nebe verwundert, „in Tilse wird<br />

doch nur deutsch und littauisch gesprochen. Wie kann der Malina<br />

denn die polni<br />

übersetzen?“<br />

„Der Malina ist ja nicht ein Tilsener Kind“, antwortete<br />

Cibulcovius, „sondern er stammt aus Kreuzburg in Schlesien, wo<br />

er die polnisch<br />

Jahren ist er Diakon in Riesenburg, dann Pfarrer in Christburg und<br />

in Freistadt geworden, wo er überall polnisch predigen musste.<br />

420<br />

Das im folgenden zitierte polnische und auch das litauische geistliche Schrifttum ist im<br />

18.Jhdt. vielfach neu aufgelegt und meist in Königsberg herausgegeben worden.<br />

421<br />

Die Familie Reußner spielt in der Druckereigeschichte Königsbergs eine bedeutende Rolle.<br />

Johann Reußner kam 1638 von Rostock nach Königsberg, um die Druckerei des verstorbenen<br />

Lorenz Segebade zu übernehmen.<br />

Da er sich aber mit der Witwe Segebades nicht über den<br />

Kaufpreis einigen konnte, eröffnete er eine eigene Druckerei, für<br />

die er 1640 ein Privileg<br />

erhielt. Dieses sicherte ihm und seinen Erben den Druck aller „amtlichen“ Veröffentlichungen<br />

zu. Die Erben Segebades, die Witwe, welchen den Buchbinder Paschen Mense geheiratet<br />

hatte, sowie ihr Sohn Josua Segebade wurden auf den Druck gelehrter Veröffentlichungen und<br />

Reden beschränkt. Die Reußnersche Druckerei blieb noch lange in Familienbesitz. Auf Johann<br />

Reußner folgten sein Sohn Friedrich, verstorben 1678, und sein Enkel Johann Friedrich.<br />

265


Später ging er nach Wilda in Polen und wurde 1658 Erzpriester in<br />

Tilse“.<br />

„Warum ließ der Malina aber nicht die Lieder ungeändert, wie sie<br />

im Thorner Gesangbuch stehen?“ fragte Nebe.<br />

„Das hat seinen guten Grund“, erwiderte Cibulcovius, „seit der<br />

Mitte dieses Jahrhunderts wurde die lutherische und andererseits<br />

die reformierte Richtung der Kirchenlieder mit großer Strenge<br />

aufrecht gehalten. Da mussten denn natürlich einzelne Lieder aus<br />

dem Thorner Kantional<br />

polnische<br />

us an einen alten Kasten,<br />

Bekanntschaft ist alt genug“ , sagte Cibulcovius, „<strong>als</strong><br />

422 von 1646 entweder ganz ausgelassen<br />

oder neu übersetzt werden. Das neueste Gesangbuch von 1684 ist<br />

in dieser Weise an der polnischen Kirche 423 in Königsberg von dem<br />

Pfarrer Skrotzky verändert und verbessert worden. Du wirst dich<br />

doch wohl an ihn erinnern. Er war ein großer alter Mann, der sehr<br />

gebückt ging“. Nebe nickte.<br />

„Da er aber im Anfang des Jahres 1682 starb, hat sein<br />

Nachfolger Maletius die Sache zu Ende geführt und das Gesangbuch<br />

drucken lassen. Dem Maletius habe ich auf sein<br />

Verlangen mehrere Lieder aus dem deutschen in’s<br />

übersetzt, darum kann ich dir auch von diesen mit Gewissheit<br />

sagen, wer sie übersetzte“.<br />

Mit diesen Worten ging Cibulcovi<br />

öffnete ihn und nahm ein Gesangbuch heraus, mit dem er sich,<br />

mit einer halb verschämten und halb stolzen Miene eines Autors,<br />

dem Tisch näherte.<br />

„Aber, wie bist du denn mit dem Maletius bekannt geworden?“,<br />

fragte Nebe. „Der wird dich doch nicht hier in Neuhoff aufgesucht<br />

haben“.<br />

„Unsere<br />

Martin Maletius 424 Konrektor in Lyck war Anno 1662, war ich dort<br />

in der Schule und hatte ihn von allen meinen Lehrern am liebsten;<br />

<strong>als</strong> er nun Anno 1682 von Claussen 425 nach Königsberg versetzt<br />

worden war, ging ich zu ihm, und da kam es, dass ich ihm beim<br />

polnischen Gesangbuch behilflich war“.<br />

422<br />

Kantional [von lateinisch cantio »Gesang«] das, eine Sammlung meist vierstimmiger<br />

Bearbeitungen von geistlichen Liedern und Chorälen im einfachen, akkordisch-homophonen<br />

Satz (Kantion<strong>als</strong>atz) mit melodieführender Oberstimme.<br />

423<br />

Gemeint ist hier die Steindammer Kirche, welche den 1526 wegen ihres evang. Glaubens<br />

nach Preußen eingewanderten Polen und Litauern zugewiesen wurde. Letztere erhielten 1603<br />

die Elisabetkirche.<br />

424<br />

Martin Maletius (*1634 in Bialla, †1711 in Königsberg) Theologe<br />

425<br />

Klaussen, Kirchort halbwegs an der Straße Arys-Lyck, 12 km östl. von Lyck.<br />

266


Cibulcovius hatte das Gesangbuch auf den Tisch gelegt und<br />

schnitt nun von dem Bündel Lichte, das neben dem Kamin hing,<br />

ein frisches Licht ab, um es an Stelle des verlöschenden in den<br />

Drahtleuchter zu stellen.<br />

Thomas hatte inzwischen seine Uhr aufgezogen, legte sie auf<br />

den Tisch und sagte:<br />

„Gute Nacht, ihr Herrn, ich werde mich niederlegen, wenn Ihr<br />

nichts dagegen habt. Es ist halb 11“.<br />

Er reichte den beiden Geistlichen die Hand und legte sich neben<br />

den schnarchenden Jegodzienski.<br />

„Du hast wohl noch zu übermorgen an deiner Predigt zu<br />

arbeiten, Albert?“ fragte Nebe.<br />

„Alles fertig“, antwortete Cibulcovius, indem er sich an das Licht<br />

nahe heransetzte und das Gesangbuch ergriff.<br />

Thomas hörte noch im Halbschlummer die polnischen Worte, die<br />

ihm bald verschwommen und undeutlich wurden, bis er einschlief.<br />

Nach einiger Zeit erwachte Thomas, <strong>als</strong> sein Schlafgenosse sich<br />

erhob. Er stand gleichfalls auf und trat<br />

an den Tisch. Die beiden<br />

Freunde hatten einen Haufen von verschiedenen<br />

polnischen<br />

Gesangbüchern vor sich und verglichen eifrig die Lesearten<br />

derselben.<br />

„Es ist 3 Uhr“, sagte Thomas, „willst du dich auch niederlegen,<br />

lieber Schwager?“<br />

„Fällt mir nicht ein!“, sagte Nebe. “Wer weiß, wann ich wieder<br />

mit meinem Freunde zusammenkomme.<br />

Hab’ gar nicht gewusst,<br />

was er für einen Schatz an Wissen besitzt“.<br />

Mit diesen Worten wendete er sich wieder zu seinem Kantional.<br />

Thomas folgte dem Jegodzienski auf den Hof. Dieser hatte schon<br />

die Stalltür geöffnet, aus der auch bald<br />

Stephan mit Jasch<br />

erschien.<br />

„Spanne sogleich an, mein Sohn“, sagte Jegodzienski,<br />

„der Mond<br />

wird bald untergehen und wir müssen seinen letzten Schein<br />

benutzen, um aus dem Wald heraus zu kommen“.<br />

„Jasch, sei behilflich“, sagte Thomas, damit es schneller geht“.<br />

Jegodzienski wendete sich um. „Es ist sehr gütig von Euch, Herr,<br />

dass Ihr meinetwegen das warme Lager verlasst. Ihr habt mir<br />

gestern Abend einen großen Gefallen getan, dass Ihr mir den Brief<br />

geschrieben habt. Ich wünschte, Euch auch wieder gefällig sein zu<br />

können“, sagte er.<br />

„Eures Bruders wegen werde ich Erkundigung einziehen“, sagte<br />

Thomas, sie waren in’s Haus zurückgekehrt. „Seht, hier habe ich<br />

mir Eure Angaben über Euren Bruder Stephan in mein Journal<br />

267


aufgeschrieben“. Mit diesen Worten zog er sein, in grünes<br />

Schweinsleder gebundenes, Büchlein heraus und las dem<br />

Kirchenvorsteher die Notizen vor.<br />

„Ich dank’ Euch Herr, viel tausendmal. Gott vergelte es Euch.<br />

Doch nun lebt wohl“.<br />

Er wendete sich an den Hausherrn und an Nebe, um von ihnen<br />

Abschied zu nehmen. Stephan erschien<br />

auf der Schwelle, um die<br />

Pelze zu holen. Er küsste den Anwesenden, der Reihe nach, die<br />

Hand und begab sich hinaus.<br />

„Tut mir leid“, sagte Cibulcovius, „dass ich Euch, Herr<br />

Jegodzienski, ohne Frühstück fahren lassen muss“.<br />

Thomas hatte die Zinnflasche geöffnet: „Nehmt wenigstens noch<br />

einen Schluck auf die Reise gegen die böse Luft“. Jegodzienski<br />

trank, dankte und fuhr ab.<br />

Thomas fröstelte, er legte sich wieder nieder und hörte wieder<br />

deutsche und polnische Verse, die Namen von Liederübersetzern,<br />

und endlich war’s ihm im<br />

Halbschlummer, <strong>als</strong> höre er einen fernen<br />

Choralgesang, der sich mit den Traumbildern vereinigte.<br />

Als Thomas erwachte, musste er sich erst eine Zeitlang<br />

besinnen, wo er sich befand. Er setzte<br />

sich auf. Der anbrechende<br />

Wintermorgen blickte durch eine zerbrochene Fensterlade und<br />

erhellte nur schwach das wüste Zimmer. Diakon Nebe hatte sich in<br />

seinen Pelz gehüllt und schlummerte, auf der Ofenbank sitzend<br />

neben dem Kamin.<br />

Thomas erhob sich, ging leise hinaus und begab sich nach dem<br />

Stall, in dessen<br />

Tür er seinen Jasch stehen sah, der lallend seinem<br />

Herrn einen guten Morgen wünschte. Thomas dankte und sagte<br />

„Nun, Jasch, die Sonne wird<br />

bald aufgehen und du wirst hungrig<br />

sein. Du bist ja schon am Morgen besoffen!“<br />

„Ach Herr“, antwortete Jasch, „so viel Speck hab’ ich noch in<br />

meinem Leben nicht auf einmal zu essen bekommen wie heute<br />

früh. Schnaps gabs auch genug!“ lallte Jasch.<br />

„Hat die Jungfer Eudoxia dir <strong>als</strong>o…“<br />

„Ach, die wird geben“, fiel Jasch ihm unhöflich in die Rede.<br />

„Nein, die Sophie kam heute früh in den Stall, die 3 Kühe melken.<br />

Da kamen aber auch gleich<br />

2 Weiber, die holten sich die Milch von<br />

ihr und brachten ihr Schnaps. Für die alte Jungfer ließen sie von<br />

der Morgenmilch nur ein kleines Töpfchen übrig. Die Sophie gab<br />

mir auch von ihrem Schnaps, dann ging sie mit mir in’s Haus. Sie<br />

zog aus der Füllwand neben dem Schornstein eine Bohle wie einen<br />

Pfropfen heraus, und zog durch das Loch eine Seite Speck. Wir<br />

268


eide und der kleine Jung haben daran so lange gegessen, bis wir<br />

nicht mehr konnten. Ich bin ganz satt“.<br />

Na, das ist eine nette Wirtschaft, dachte Thomas und wendete<br />

sich zum Gehen.<br />

„Jetzt geh’ und schlafe deinen Rausch aus“, sagte er zu Jasch.<br />

Die Sonne war inzwischen aufgegangen und beleuchtete mit<br />

rosigem Licht die Gegend. Alles erschien bei Tageslicht noch<br />

elender und verfallener <strong>als</strong> im Mondlicht. Das Herrenhaus mit<br />

seinem hohen holländischen Dach<br />

sah auch ziemlich ausladend<br />

aus.<br />

Thomas ging wieder dem Haus zu. Jasch stand noch in der<br />

Stalltür:<br />

„Warum werden nicht<br />

im Pfarrhaus die Fensterläden<br />

aufgemacht?“ fragte er im Vorbeigehen.<br />

„Die Sophie sagte: Lass’ sie nur schlafen, dann passt niemand<br />

auf“.<br />

Jasch hätte sich gern noch in seiner durch den Branntwein<br />

verursachten Redseligkeit weiter unterhalten, doch Thomas<br />

schickte ihn nochm<strong>als</strong> schlafen und trat wieder in das Haus. Alles<br />

war still. Er wusste nichts Besseres zu tun, <strong>als</strong> sich wieder auf sein<br />

Lager zu legen, wo er auch bald einschlief.<br />

Plötzlich wurde er durch eine laute Stimme geweckt:<br />

„Eudoxia, du liegst noch? Die Uhr ist halb 10. Mache, dass du<br />

aus deinem Lager kommst, damit unsere<br />

Gäste etwas Warmes<br />

bekommen!“<br />

„Was“, ließ sich die schrille Stimme der Jungfer Eudoxia<br />

vernehmen, „sind die Kerls noch nicht weg? Ich dachte, die sind<br />

schon in der Nacht, <strong>als</strong> du deine polnischen Lieder plärrtest,<br />

abgefahren!“<br />

„Das war nur der Kirchenvorsteher Jegodzienski mit seinem<br />

Sohn. Mein Freund Nebe und sein Schwager sind noch hier. Nun<br />

beeile dich, dass sie<br />

Frühstück bekommen. Ich hab’ mich gestern<br />

Abend schämen müssen, dass wir sie so schlecht aufnahmen!“<br />

„Na, du hast ja auch bis <strong>jetzt</strong> gelegen“, keifte sie entgegen.<br />

„Das ist etwas anderes“, sagte Cibulcovius. „Ich habe bis 7 Uhr<br />

morgens mit meinem Freund Nebe zusammen gesessen und ging<br />

erst zur Ruhe, <strong>als</strong> ich die Sophie den Ofen heizen hörte. Nun<br />

beeile dich doch!“<br />

„Was soll ich ihnen geben? Ich hab’ nichts“.<br />

„Das ist doch nicht möglich“, erwiderte ihr Bruder. „3 Wochen<br />

vor Weihnachten haben<br />

wir doch zwei große Mastschweine<br />

geschlachtet. Die können wir doch noch nicht aufgegessen haben!<br />

269


Von unseren drei Kühen musst du doch die Milch haben, und<br />

vorgestern hat auch der Verwalter ein Reh geschickt. Nun mach’<br />

weiter keine Dummheiten und sorge dafür, dass wir was zu essen<br />

bekommen“.<br />

„Was verstehst du davon?“, ließ sich die liebenswürdige Jungfer<br />

vernehmen. „Das Reh ist weg und von den Schweinen sind noch<br />

einige Knochen. Da steht das kleine Töpfchen<br />

mit der Morgenmilch<br />

und<br />

Brot ist auch noch etwas da. Das kannst du ihnen geben“.<br />

„Aber unsere Vorräte können doch nicht alle gestohlen sein. Ich<br />

habe doch den Michel, den du im Verdacht hattest, dass er dich<br />

immer bestohlen hat, gleich nach Martini fortgejagt. Ich habe dir<br />

die Kammer hier nebenan gegeben und du hast nur noch die treue<br />

stille Sophie, die du dir von Insterburg mitgebracht hast und<br />

immer so lobst. Wo kann denn alles geblieben sein?“<br />

„Weiß Gott“, sagte Eudoxia, „die Kammer hier muss verhext<br />

sein. Das Fensterchen ist nicht größer <strong>als</strong> meine Hand. Es kommt<br />

niemand hinein <strong>als</strong> ich und die Sophie. Dennoch fehlt mir immer<br />

was. Ich bleib’ nicht länger in deinem verhexten Haus“.<br />

„Aber red’ doch nicht so unchristlich“, sagte ihr Bruder. „Besorge<br />

uns lieber Frühstück, so gut du kannst. Ich will inzwischen mit<br />

meinen Gästen ein wenig ausgehen“.<br />

Der Diakon Nebe war ebenso wie Thomas von dem lauten<br />

Zwiegespräch der Geschwister erwacht. Er reckte sich aus und<br />

hörte verwundert zu.<br />

„Komm hinaus auf den Hof, lieber Schwager“, sagte Thomas die<br />

Stube verlassend, nachdem er ihm guten Morgen gewünscht<br />

hatte. „Es möchte unserem Wirten peinlich sein, wenn er uns hier<br />

fände“.<br />

Nebe folgte: „Wie es mir scheint“, sagte er, „fehlt<br />

meinem guten<br />

Cibulcovius<br />

weiter nichts <strong>als</strong> eine tüchtige Frau, die nach dem<br />

Rechten<br />

sieht. Er ist für die Wirtschaft nicht zu brauchen, aber<br />

welche<br />

schönen Studien hat er gemacht! Mir war das meiste neu,<br />

was<br />

er mir von den polnischen Liedern erzählte“.<br />

„Er mag dabei jedoch tüchtig hungern müssen“, sagte Thomas.<br />

Cibulcovius trat aus dem Haus, noch etwas aufgeregt von der<br />

Unterhaltung<br />

mit seiner Schwester. Er begrüßte die Gäste<br />

freundlich<br />

und führte sie zu der Kirche, um diese ihnen zu zeigen.<br />

Ein<br />

Kirchenschlüssel war nicht nötig, denn die Eingangstür war nur<br />

durch<br />

einen angestemmten Pfahl verschlossen. Das Gotteshaus<br />

sah<br />

sehr ärmlich aus. Die zerschlagenen Fensterscheiben waren<br />

notdürftig<br />

verstopft. Nach dem stillen Gebet führte der Pfarrer<br />

270


sei s<br />

Altartuch wa<br />

„Der Altar steht noch so seit dem Einfall der Tataren“, sagte<br />

ewesen.<br />

us zurück.<br />

Heydeck ganz aus eigenen Mitteln erbaut“. 428<br />

ne Gäste vor den Altar. Dieser sah sehr kläglich aus. Da<br />

r zerrissen.<br />

Cibulcovius. „Ich habe meinen Herrn Patron, den Herrn Baron,<br />

schon oft darum gebeten, einen neuen Altar zu stiften. Er hat es<br />

mir auch fest versprochen, wenn er die Erbschaft bekommt, auf<br />

die er Anspruch hat. Er ist <strong>jetzt</strong> in dieser Angelegenheit mit der<br />

ganzen Familie verreist. Wenn er das Geld nur bald bekäme“.<br />

„Hier ist“, fuhr Cibulcovius fort, indem er auf die Fußsteine der<br />

Kirche zeigte, „mein Antecessor<br />

„Ich denke, lieber Schwager, wir machen uns bald auf den Weg<br />

nach Lyck“, sagte Thomas.<br />

„Ihr werdet doch noch nicht aufbrechen wollen“, sagte<br />

Cibulcovius.<br />

„Bis Lyck habt Ihr ja nur 2 Meilen, die schönste Bahn und<br />

abends Mondschein. Ihr habt ja auch noch nichts gegessen“.<br />

Mit diesen Worten führte er seine Gäste in die Stube, wo Sophie<br />

eben dabei war, die Streu zu entfernen.<br />

„Lass liegen“, sagte Cibulcovius, „und mach, dass wir etwas zu<br />

essen bekommen“. Mürrisch ging die Magd hinaus.<br />

426 Friedrich Mietzkowius<br />

begraben, der eigentlich Sack hieß. Der hätte auch lieber Diakon<br />

in Schwentainen bleiben sollen. Er ist etwa 5 Jahre hier g<br />

Mein Praeantecessor 427 Meyer war 10 Jahre lang hier bis 1671. Er<br />

war vorher Diakon in Liebstadt gewesen und ging dann später<br />

wieder <strong>als</strong> Diakon nach Liebstadt zurück auf seine frühere Stelle“.<br />

Da in der Kirche außer dem Stand des Freiherrn mit seinem<br />

schlecht gemalten Wappen nur wenig zu sehen war, so gingen die<br />

Herren wieder in’s Pfarrha<br />

„Eure Kirche sieht recht alt aus“, sagte Thomas.<br />

„Sie steht auch schon über 130 Jahre und ist von Herrn Wolf v.<br />

426 Vorgänger<br />

427 Vor- Vorgänger<br />

428 Randbemerkung im Manuskript: Nach der landesherrl. Urkunde v. 19.Oct. 1550 hatte<br />

Baron Wolfgang v. Heydeck, Besitzer der Güter Neuhöfchen und Cremitten „auf seinen<br />

Selckenschen Gütern (<strong>jetzt</strong> Neuhoff) Gott dem Allmächtigen zu Ehren und zu Erweiterung<br />

seines lieben Worts eine Kirche und Pfarrei von dem Seinen erbauet“. Vorher gehörte das<br />

Dorf Selcke zum Kirchspiel Jucha, was 4.Febr. 1513 in einem Streit zw. den Pfarrern zu Jucha<br />

u. Eckersberg ausdrücklich anerkannt wurde. Mon. Hist. Warm. III S.390 Anm. 21 u. S.406<br />

Anm.97.<br />

271


„Sagt doch einmal, Herr Pfarrherr, wo sollen wir in Lyck<br />

einkehren?“, fragte Thomas, „Ihr kommt ja wohl öfters dorthin“.<br />

„Ich kehre gewöhnlich, wenn ich dort hinfahre, was etwa 3 oder<br />

4 mal jährlich geschieht, im Kaplans-Haus ein, wo gute Stallungen<br />

sind“, antwortete Cibulcovius.<br />

„Hält denn der alte Schwindovius in seiner Kaplanei ein<br />

Gasthaus?“ fragte Nebe verwundert.<br />

„Nicht doch“, antwortete Cibulcovius lächelnd. „Das Brauhaus, in<br />

dem ich einkehre, gehört dem Schwindovius, er hat es verpachtet.<br />

Von den Leuten wird’s aber Kaplans-Haus genannt. Doch ich muss<br />

sehen, ob wir nichts zu essen bekommen“.<br />

Cibulcovius verschwand mit diesen Worten durch die Tür und<br />

bald vernahmen die Gäste wieder die Stimme der Jungfer Eudoxia.<br />

„Mit unserer Naturale Verpflegung kann’s noch lange dauern“,<br />

sagte Thomas. „Nimm hier, lieber Schwager, wenigstens einen<br />

Bissen aus der Wegkostlischke und tue einen Trunk. In Lyck füllen<br />

wir sie wieder frisch“.<br />

Damit reichte er dem Diakon die Lischke. Dieser griff zu und<br />

sagte kauend:<br />

„Es tut mir wirklich leid um meinen guten Albert. Er muss<br />

heiraten, sonst geht er zu Grunde“.<br />

„Ich denke“, sagte Thomas, „wir machen uns bald auf den Weg“.<br />

„Was das immer für ein Treiben und Eilen ist für solch einen, der<br />

Bräutigam werden will. Ich bin mit dir gefahren, um meinen Albert<br />

zu besuchen. Wir sind noch gar nicht auf alles das gekommen,<br />

was wir zu besprechen haben. Ich werde mich <strong>jetzt</strong> satt essen und<br />

bleiben“.<br />

Mit diesen Worten wendete sich Nebe wieder der Lischke zu,<br />

Thomas leistete ihm Hilfe.<br />

Nach einer guten halben Stunde erschien zwar Cibulcovius<br />

wieder, doch von einer Mahlzeit war nichts zu sehen.<br />

Die beiden Geistlichen setzten sich wieder an ihre Bücher und<br />

waren bald in ein eifriges Gespräch vertieft. Thomas wusste nichts<br />

Besseres zu tun, <strong>als</strong> sich auf das Lager zu strecken und schlief<br />

allmählich, von den murmelnden Menschenstimmen<br />

eingeschläfert, ein.<br />

Gegen Sonnenuntergang wurde er von Cibulcovius geweckt, der<br />

ihn sehr höflich zu Tisch einlud. Die wässrige Biersuppe und die<br />

dünnen Schnittchen Speck nebst dem Schwarzbrot schienen dem<br />

Diakon Nebe nicht sehr zu munden, während sich Cibulcovius die<br />

272


Gerichte schmecken ließ. Er hatte nun auch weiter nichts dagegen,<br />

dass Thomas dem Jasch anzuspannen befahl.<br />

„Ihr könnt Euch gar nicht verirren“, sagte Cibulcovius. „Ein<br />

befahrener Weg führt nach Grabnick. Von da aus kommt Ihr auf<br />

die große Straße nach Lyck“.<br />

Jungfer Eudoxia ließ sich mit ihren Hunden nicht mehr sehen.<br />

Jasch fuhr vor und holte die Pelze hervor. Die Männer umarmten<br />

sich<br />

zum Abschied. Die Reisenden bestiegen den Schlitten und<br />

reichten dem Pfarrer die Hände.<br />

„Nun beherzige, was ich dir gesagt habe“,<br />

rief Nebe, indem der<br />

Schlitten<br />

sich in Bewegung setzte.<br />

„Was hast du denn deinem Freunde so dringend an’s Herz<br />

gelegt?“ fragte Thomas.<br />

„Dass er heiraten muss“, erwiderte Nebe.<br />

„Nun, hat er’s dir versprochen?“ fragte Thomas.<br />

„Er hat, wie alle Junggesellen, wenn sie zu vorgerückten Jahren<br />

kommen, allerlei Bedenken. Er meint, es würde ihn keine nehmen<br />

und weiß nicht, wo er anfragen soll. Seine meiste Sorge ist aber,<br />

dass er von seiner Schwester beinahe 300 Mark genommen hat,<br />

<strong>als</strong> er hier einzog, um sich das notdürftigste Inventarium<br />

anzuschaffen und überhaupt den ersten Sommer über hier leben<br />

zu können. Er hätte auch schon seine Schwester entlassen, die ihn<br />

sehr quält, aber das Geld! Wenn er nicht eine Frau mit etwas Geld<br />

bekommt, so kann er nicht heiraten“.<br />

„Jasch“, wendete sich Thomas an seinen Knecht, „hast du<br />

wenigstens Mittag bekommen?“<br />

“Ja Herr! Viel Speck“, antwortete dieser, „ich hab’ auch noch ein<br />

gut’ Stück davon und ein halbes Brot auf die Reise<br />

mitbekommen“.<br />

„Was wird aber der Michel dazu sagen“, fragte Thomas, indem<br />

er den Jasch scharf ansah, „dass dir die Sophie allen Speck gibt<br />

und ihm nichts?“<br />

„Herr“, sagte Jasch erschrocken, „wisst Ihr denn, dass der<br />

Michel im Dorf ist und die Sophie ihm alles gibt?“<br />

„Dummerjahn“, sagte Thomas, „wenn ich’s nicht wüsste, so<br />

würde ich dich doch nicht fragen. Wie kommt es überhaupt, dass<br />

die Sophie dir so gewogen ist, dass sie sogar den Michel vergisst?“<br />

„I, das ist ja nicht der Fall“, sagte Jasch, „die Sophie hat sich<br />

bloß so sehr gefreut, <strong>als</strong> ich gestern Abend die Hunde so geprügelt<br />

habe, aber Herr, die Dogg’ soll es nicht wissen, dass der Michel<br />

noch immer da ist“.<br />

273


„Was ist das denn für eine Dogge?“, fragte Nebe. „Ach, alle Leut<br />

nennen des Pfarrers Schwester die alte Dogg’“, erwiderte Jasch.<br />

„Eine schöne Benennung für Eudoxia“, sagte Thomas, „doch<br />

Jasch, wo ist denn der Rehbock geblieben?“<br />

„Wisst Ihr auch von dem, Herr?“ rief Jasch verwundert. „Den<br />

Rehbock haben die Hunde der Dogg’ aufgefressen und nur den<br />

Kopf und die Füße übrig gelassen“.<br />

Die Kirche von Neuhoff (Aufn. ca. 1940)<br />

274


27. Lyck in Sicht: Thomas Andersons und Diakon Nebes<br />

Mutmaßungen über die alten Preußen<br />

„Es ist mir <strong>jetzt</strong> so recht aufgefallen“, sagte Thomas in<br />

deutscher Sprache zu seinem Schwager, „<strong>als</strong> Jasch mit uns<br />

sprach, welch ein kauderwelsches Polnisch bei <strong>Angerburg</strong> und<br />

Lötzen gesprochen wird. Ich wurde, <strong>als</strong> ich nach Elbing kam, in<br />

der ersten Zeit oft wegen meines aus <strong>Angerburg</strong> mitgebrachten<br />

Polnisch: Polnischverderber genannt und verhöhnt. Kannst du mir<br />

vielleicht sagen, wie es kommt, dass vorzugsweise in den beiden<br />

Ämtern <strong>Angerburg</strong> und Lötzen solch eine von allen anderen<br />

abweichende Mundart des Polnischen gesprochen wird?“<br />

„Hm“, erwiderte Nebe, „in Büchern hab’ ich darüber nichts<br />

gefunden, denn in des Magister Hartknochs 429 Alt- und Neuem<br />

Preußen, in seinen dem Duisburg 430 angehängten Dissertationen,<br />

in den Büchern von Waissel 431 , Schütz 432 , Henneberger 433 , die ich<br />

alle habe, steht nichts davon. Ich will dir aber meine Gedanken<br />

darüber sagen:<br />

Der Deutsche Orden eroberte im 13. Jahrhundert das Land sehr<br />

langsam, setzte sich an der Weichsel fest und schlug dann die<br />

429<br />

S. FN 324<br />

430<br />

S. FN 326<br />

431<br />

Der Komponist und Autor Matthäus Waissel (* um 1540, † 1607), der neben geistlichen<br />

und weltlichen Liedern auch Tänze sowie eine Gedichtssammlung hinterlassen hat, war auch<br />

Verfasser des Werkes "Chronica alter Preusscher, Eifflendischer und Curlendischer<br />

Historien“. Diese "Chronica" wurde 1599 bei Georg Osterberger in Königsberg gedruckt, der<br />

auch Hennebergs "Landtafel" verlegt hat. Waissels "Chronica" ist keine eigenständige<br />

Leistung, sondern eine geschickte Kompilation der jüngeren Hochmeister-Chronik, Grunau,<br />

Daubmann u.a. Bis etwa 1573 war Waissel Schulmeister<br />

in Schippenbeil, von 1574-1587<br />

Pfarrer<br />

in Langheim, Kr. Rastenburg. Wegen eines Streites mit seinem Patronatsherrn v.<br />

Truchsess musste er seine Pfarrstelle aufgeben. In seiner "Chronik" schreibt er allerdings, dass<br />

er die Pfarrstelle "<strong>als</strong> alter Mann...wegen Haupts Schwachheit" aufgegeben habe.<br />

432<br />

Kaspar Schütz (* um 1540 in Eisleben, † 16. September 1594 in Danzig) war ein<br />

Historiker. Als Professor der Poesie an der Universität Königsberg (1562 bis 1565)<br />

entwickelte er Interesse an der Geschichte von Preußen. Er wurde Stadtschreiber von Danzig<br />

und sammelte alte Schriften. Sein Hauptwerk wurde 1592 in Zerbst veröffentlicht: Die<br />

„Historia Rerum Prussicarum oder wahrhafte Beschreibung der Lande PReußen in 10<br />

Büchern vom Anfange bis auf das Jahr 1525“.<br />

433<br />

Kaspar Hennenberger (* 1529, † 1600) war Kartograf. Er studierte Theologie in<br />

Königsberg, Preußen. Er arbeitete <strong>als</strong> Priester in Domnau und Georgenau, dann in Mühlhausen<br />

und zuletzt in Königsberg. Im Jahre 1555 veröffentlichte er eine Landkarte von Livland und<br />

1576 eine Karte von Preußen.<br />

275


Prutener 434 Anno 1234 in der Schlacht an der Sirgune 435 , neben<br />

ihrem heiligen Wald. Die Prutener wichen nun zurück, aber nicht<br />

weit. Sie setzten sich hinter der Passarge fest. Da sie auch diese<br />

Position verloren, gingen sie über den Pregel. Es ist in allen<br />

Geschichtsbüchern, die mir zu Gesicht gekommen sind, nicht<br />

erzählt, dass die Prutener mehrere Weiber hatten, was doch<br />

deutlich aus einer Urkunde von 1249 hervorgeht, welche der<br />

Magister Hartknoch <strong>als</strong> Beilage zu seinem edierten Duisburg hat<br />

abdrucken lassen. Die erste Ruhestätte der Prutener, ein<br />

Romowe 436 , war bei Heiligenbeil. Die Weiber mit den vielen<br />

Kindern und den geretteten Schätzen wurden nach Osten<br />

vorausgeschickt. Im Norden des Pregels dachten die Prutener nun,<br />

Ruhe zu haben. Hier richteten die Priester ein Romowe ein,<br />

befestigten auch den Galtgarben 437 , erwehrten sich auch ziemlich<br />

der Christen, bis Ottokar v. Böhmen 438 kam. Da mussten sie<br />

wieder weiter nach Osten. Die Weiber der Prutener wurden von<br />

den Wild-Hütern, denen sie wohl manchmal viel Plage gemacht<br />

haben mögen, recht despektierlich 439 behandelt. Bei der Mündung<br />

der Angerapp 440 in den Pregel scheinen die Haufen sich getrennt<br />

434<br />

Die Bezeichnung Prut ener wird <strong>als</strong> Synonym für Pruzzen / Prußen verwendet und<br />

entspricht einem älteren Sprachgebrauch.<br />

435<br />

Die Sorge (ein Zufluss des Drausensees) hieß zur Ordenszeit Sirgune, Serige, Sirge. Im<br />

Prußischen bedeutete dieser Name "Fluss der Hengste“. Nicht weit von Blumenau entfernt<br />

fand 1234 zur Winterzeit auf gefrorenem Boden die Schlacht an der Sirgune statt. Das<br />

Ordensheer unter Führung von Landmeister Hermann Balk, unterstützt von den<br />

Pommerellenherzögen Swantopolk und Sambor sowie von polnischen und schlesischen<br />

Rittern, traf auf eine große Schar von prußischen Kriegern, u. a. Pomesaniern. Es war die<br />

einzige Feldschlacht der gesamten Eroberungszeit und der Orden konnte hier seine<br />

militärische Überlegenheit voll ausspielen. Die Prußen wurden vernichtend geschlagen und<br />

verloren 5000 ihrer Leute.<br />

436<br />

Romowe (litauisch Romuva, mittelalterl. Romehnen, Kreis Fischhausen) war ein<br />

Kultmittelpunkt der Prußen. Er befand sich vermutlich in Nadrauen, im historischen Samland.<br />

Die Silbe rom / ram bedeutet in den baltischen Sprachen ruhig, still, heilig.<br />

437<br />

Galtgarben, der höchste Punkt des Samlandes in Ostpreußen, ca. 20 km nordwestlich von<br />

Königsberg, 110 m hoch.<br />

438<br />

Ottokar Přemysl (* um 1232; † 26. August 1278 in Dürnkrut, Niederösterreich) war <strong>als</strong><br />

Ottokar II. König von Böhmen (ab 1253). Die Friedensphase nach den Machtkämpfen gegen<br />

Ungarn nutzte Ottokar II., um den Deutschen Orden bei zwei Kreuzzügen im Baltikum gegen<br />

die Prußen zu unterstützen. Im Winter 1254 zog er nach Samland, um den Aufstand der Samen<br />

zu unterdrücken. Nach dem Sieg trug er dazu bei, die Bevölkerung um Königsberg zu<br />

christianisieren. 1255 hat der Deutsche Orden auf Veranlassung Ottokar II. eine Burg namens<br />

Conigsberg errichtet. Die umliegende Stadt wurde später <strong>als</strong> Königsberg bekannt.<br />

439<br />

Respektlos / abschätzig / verächtlich<br />

440<br />

Bei Insterburg<br />

276


zu haben. Ein Teil zog der Pissa und Rominte nach, ein anderer<br />

ging nordöstlich im Instertal weiter, und eine Partie ging nach<br />

Süden die Angerapp aufwärts bis an die Seen. Die Ordensherren<br />

ließen ihnen aber an allen 3 Stellen nicht lange Ruhe, drangen erst<br />

den Pregel aufwärts nach Nadrauen 441 , eroberten dann Ahrlunen<br />

an der Memel und griffen zuletzt Sudauen 442 an, wo die Richter<br />

mit ihrem Volk waren.<br />

Die Prussen-Länder<br />

k ihnen in dem mit Seen, Bergen,<br />

Schluchten, Wäldern<br />

o 443 Da das Vol<br />

und Sümpfen reich besetzten Territori nicht leicht im Zaum zu<br />

halten war, wurden die Menschen aufgegriffen und nach Samland<br />

gebracht, wo die Ecke an der See noch heute der Sudawsche<br />

441<br />

Gau der Pruzzen im späteren Ostpreußen, 1273-78 vom deutschen Orden erobert, lag<br />

zwischen Deime, Kurischem Haff und Seesker Höhen. - Nach der "Großen Pest" Anfang des<br />

18. Jahrhunderts wurde das Land mit Einwanderern aus Deutschland, der Schweiz und aus<br />

Salzburg wiederbesiedelt.<br />

442<br />

umfasste das Gebiet<br />

um Suwalki und den angrenzenden Teil Ostpreussens im östl. der<br />

Masurischen Seem. Der prussische Stamm der Sudauer wurde erst 1283 vom Deutschen<br />

Orden unterworfen.<br />

443<br />

Gebiet / Gelände<br />

277


Winkel 444 heißt. Alle Leute ließen sich aber in dem Territorio nicht<br />

fangen, die blieben an den Seen im jetzigen <strong>Angerburg</strong>schen und<br />

ir etwas erkläre“, erwiderte Nebe<br />

m Czortowy Ostrow 446 Lötzenschen wohnen und sprachen ihre altpreußische Sprache“.<br />

„Nun, du wirst doch wohl nicht behaupten wollen, dass das<br />

Polnische bei <strong>Angerburg</strong> und Lötzen altpreußisch sei“, sagte<br />

Thomas, „ich denke, diese Sprache ist ausgestorben“.<br />

„Höre doch zu Ende, wenn ich d<br />

ärgerlich. „Also, wie ich dir sagte, die Reste der Prutener blieben<br />

an den Seen, den Wäldern und Schluchten wohnen, waren auch<br />

wohl ebenso wie ihre Verwandten im Sudauschen Winkel des<br />

Samlands heimliche Heiden, denn diese haben noch, wie ich in<br />

einem alten Manuskript auf der Schloss-Bibliothek einmal gelesen<br />

habe, vor 160 Jahren einen schwarzen Bullen<br />

, im Spirding erzählt. Da soll<br />

445 an der See den<br />

Göttern geopfert und…“.<br />

„Ach Herr“, fiel ihm Jasch in die Rede, „was ich Euch fragen<br />

wollte, da hat mir der Stephan, mit dem ich gestern zusammen<br />

fuhr und nachts zusammen schlief, allerlei wunderliches Zeug von<br />

der Insel, de<br />

der Teufel den Leuten <strong>als</strong> schwarzer Bull’, auch <strong>als</strong> schwarzer<br />

Ziegenbock, auch <strong>als</strong> schwarzer Hund erschienen sein, <strong>als</strong> sie ihr<br />

Getreide auf der Insel abhauen wollten“.<br />

„Erzähle mir doch ausführlich, was der Stephan dir über die<br />

Insel und den Spuk mitgeteilt hat“, sagte Nebe.<br />

Jasch berichtete nun ausführlich, und der Diakon Nebe hörte<br />

sehr aufmerksam zu.<br />

„Das ist mir ganz interessant zu hören“, sagte er zu Thomas, <strong>als</strong><br />

Jasch geendet hatte. „Die alte Großmutter Stephans muss wohl<br />

schon über 70 Jahre sein und es mögen die Prutener wohl bis<br />

gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hier auf der Insel heimlich<br />

ihre Bockheiligung gefeiert haben. Genauso wie die Prutener es<br />

auf einer Insel des Sees gemacht haben, von denen Henneberger<br />

erzählt. Ich habe dort in der Gegend nachgefragt, aber nichts zu<br />

hören bekommen. Die Leute fürchteten gewiss, ich würde es dem<br />

444 Nordwestecke des Samlandes<br />

445 Angespielt wird hier auf das Bockheiligen, eine heidnisch-preußische Kulthandlung, die<br />

im Samland noch in der 1. Hälfte des 19. Jhdts. festgestellt wurde, obwohl sie in kirchlichen<br />

Verlautbarungen immer wieder verdammt worden war.<br />

446 Teufelsinsel, Teufelswerder, Insel in der Südecke des Spirdingsees, mit der seit Alters<br />

Sagen und Spukgeschichten verbunden wurden, z.B. durch Pisanski (1749).<br />

278


Erzpriester Pesarovius in Saalfeld 447 erzählen, der ihnen dann<br />

zweifellos H<strong>als</strong>eisen angelegt und harte Strafen auferlegt hätte“.<br />

„Wie kamst du aber dort nach Saalfeld?“ fragte Thomas.<br />

„Das war ganz einfach“, erwiderte Nebe. „Als mein Vetter, der<br />

auch Jacob Nebe heißt, Anno 1682 <strong>als</strong> Diakon nach Saalfeld kam<br />

und dort das Pfarramt in Weinsdorf, das am Ende des Ewing-Sees<br />

liegt, versehen musste, zog ich wenig später zu ihm, um ihm bei<br />

seinen beschwerlichen Ämtern behilflich zu sein. Ich blieb auch<br />

dort, bis dein Bruder Georg Pfarrer in Rosengarten wurde. Da<br />

erhielt ich dann die Rektorstelle in <strong>Angerburg</strong>. Als im Sommer<br />

1685 meiner Mutter Bruder, der Diakon Jacob Schultz, in<br />

<strong>Angerburg</strong> krank wurde, da vertrat ich ihn, so gut ich konnte, bis<br />

er starb. Er hatte sich schon erholt und wollte am 1. Juli, dem 2.<br />

Sonntag nach Trinitatis, zum ersten Male wieder predigen. Da<br />

fanden wir ihn auf seiner Studierstube um halb 8 des Morgens tot.<br />

Er hat exemplarisch und unsträflich gelebt. Sein Tod wurde von<br />

allen Menschen sehr beklagt und bedauert. Da bewarb ich mich<br />

bei der Stadt um die Stelle<br />

meines Oheims und bekam sie auch<br />

gleich, so dass ich schon am Tage Bartholomäi (24. August) in<br />

Königsberg ordiniert und 4 Wochen darauf in <strong>Angerburg</strong> <strong>als</strong> Diakon<br />

introduziert wurde“.<br />

„Ich hatte ganz vergessen, dass der alte Diakon Schultz der<br />

Bruder deiner Mutter war, ich kam ja schon <strong>als</strong> Junge aus<br />

<strong>Angerburg</strong> fort“, bemerkte Thomas.<br />

„Meine Mutter hatte zwei Brüder“, sagte Nebe, „der ältere<br />

Theophilus Schultz, war Pfarrer in Kattenau. Bei dem habe ich<br />

immer <strong>als</strong> Student den Sommer zugebracht. Bei ihm hatte ich es<br />

auch ganz gut, aber zu faulenzen gab’s nichts. Der Alte nahm<br />

mich ordentlich vor. Er hatte, von wem auch immer, ein<br />

Manuskript des Pfarrers Sappuhn 448 aus Gr. Rudupenen 449 oder<br />

Enzuhnen bekommen. Es handelte sich um eine litauische<br />

Grammatik, die in lateinischer Sprache geschrieben war. Diese<br />

wollte er mit einigen Zusätzen und einer lateinischen Vorrede<br />

herausgeben. Dabei habe ich ihm viel helfen müssen. Einmal<br />

schickte er mich auch nach Gr. Rudupenen. Ich sollte dort<br />

nachsuchen, ob in den Schriften der Kirche nicht noch etwas<br />

447<br />

Stadt in Ostpreußen im Kreis Mohrungen, am Nordoststrand des Ewingsees, 27 km nördl.<br />

von Deutsch-Eylau.<br />

448<br />

Gemeint ist hier wohl Michael Sappuhn. Dieser übersetzte um 1570 vornehmlich Predigten<br />

in die litauische Sprache.<br />

449<br />

ENZUHNEN Rodebach, Kirchdorf im Kr. Stallupöhnen.<br />

279


litauisch Geschriebenes von Sappuhn zu finden wäre. Den alten<br />

Pfarrer Christoph Sappuhn fand ich dort <strong>als</strong> lebensgroßes Bildnis in<br />

der Kirche vor. Ein alter Mann mit langem schneeweißem Bart,<br />

von weiteren litauischen Schriften aber keine Spur. Der Pfarrer<br />

Petri meinte, sein Vorgänger Steinfeld, der Sappuhns Adjunkt und<br />

späterer Successor 450 geworden sei, müsste sie vernichtet haben“.<br />

Auf der letzten Meile von Grabnick nach Lyck wurde Nebe<br />

allmählich immer einsilbiger und nickte schließlich ein. Thomas<br />

schaute im hellen Mondschein sehnsüchtig in die Ferne, wenn<br />

wieder die Höhe eines Berges erreicht war, ob denn die Stadt sich<br />

immer noch nicht zeigen wollte.<br />

Hartknoch - Stich von Lyck, 1684.<br />

Dann erblickte er die weite Fläche eines Sees, und sie erreichten<br />

schließlich das Tor der Stadt. Dieses war schon geschlossen.<br />

Thomas sprang vom Schlitten. Auf sein Pochen wurde nach<br />

längerem ungeduldigem Warten auf der Innenseite ein Lichtschein<br />

sichtbar und eine Stimme vernehmbar, die mürrisch in polnischer<br />

450 Nachfolger<br />

280


Sprache fragte, wer noch so spät Einlass begehre. Thomas reichte<br />

durch den Spalt der Torflügel eine Silbermünze, und schnell war<br />

der mürrische Patron in einen sehr devoten 451 Diener verwandelt,<br />

der dem „gnädigen Herrn“ die Torflügel öffnete. Mit der Laterne in<br />

der einen, der Pelzmütze in der anderen Hand, erkundigte er sich<br />

nach den Befehlen des gnädigen Herrn. Thomas fragte, wem er<br />

seinen und seines Begleiters Pass aufzuzeigen hätte. Mit einer<br />

tiefen Verbeugung erklärte der Bürger<br />

dieses für unnötig, da er<br />

wohl fürchtete, dass die anderen Gesellen der Wache wohl Anteil<br />

an seinem Trinkgeld beanspruchen würden.<br />

Der Schlitten war inzwischen durch das Tor der Stadt gefahren:<br />

„Nun könnt Ihr mir wohl noch sagen, guter Freund“, wendete<br />

sich Thomas an den Spießträger, „wo des Kaplans Haus ist, wo wir<br />

einkehren wollen“.<br />

„Das will ich gar gerne“, sagte dieser. „Ich möchte gleich mit<br />

Euch mitkommen, kann aber die Wache nicht verlassen. Seht dort<br />

die Straße der Stadt herunter. Gleich an dem Weg, der mit der<br />

Straße kreuzt, seht Ihr einen Stall und daneben den Giebel des<br />

Hauses. Ihr seht da Rauch aus dem Schornstein steigen. Dort<br />

wohnt der Herr Kaplan“.<br />

„Aber da wollen wir nicht einkehren“, sagte Thomas, „sondern in<br />

dem Brauhaus des Kaplans, das ja ein öffentlicher Gasthof sein<br />

soll“.<br />

„Ja, dann müsst Ihr noch ein Stück weiter die Straße fahren, bis<br />

zu dem weißen Eckhaus“. Thomas stieg wieder in den Schlitten,<br />

nahm die Leine und fuhr langsam an dem Haus vorüber, das das<br />

Ziel seiner Sehnsucht umschloss. Bald war auch das weiße<br />

Eckhaus, das Kaplans-Haus erreicht.<br />

451 Unterwürfig<br />

281


28. Eine Silvesternacht in Lyck und fauler Zauber am<br />

Jahreswechsel<br />

Noch war im Haus Licht zu sehen.<br />

„Wach auf!“, rief Thomas dem Schwager Nebe zu, der so fest<br />

eingeschlafen war, dass er von dem Aufenthalt am Tore nichts<br />

gemerkt hatte.<br />

Es kostete einige Mühe, den Schlaftrunkenen in die Krugstube<br />

zu bringen. Die Wirtin war noch auf:<br />

„Es ist doch aber eben erst 9 Uhr“.<br />

„Nun, besorge Sie uns eine Kammer und 2 ordentliche Betten“,<br />

sagte Thomas.<br />

„Ja, Herr“, erwiderte die Wirtin. „Die Kammer will ich gleich<br />

aufräumen. Ich kann den Herren aber nur ein Bett geben“.<br />

„Mache Sie so schnell Sie kann“, ordnete Thomas an. Nebe war<br />

auf eine der Wandbänke gesunken und schlief wieder fest ein.<br />

Thomas ging zu dem Schlitten, brachte ihn mit Jaschs Hilfe<br />

durch den dunkeln engen Torweg auf den Hof und sah im Stall<br />

nach, dass die Pferde gut untergebracht und gefüttert wurden.<br />

Dann erst ging er mit Jasch, beladen mit Decken, Mänteln und<br />

Pelzen, zurück in die Krugstube.<br />

Eben kam die Wirtin mit einem Licht hinein und führte Thomas<br />

in eine schmale Vorratskammer, die nur eine Tür zum Torweg und<br />

ein Fensterchen zum Hof hatte. Hier war ein schmales,<br />

gebrechliches Bett aufgestellt. Der übrige Raum war mit allerlei<br />

Wirtschaftsvorräten vollgestopft, die nur unordentlich bei Seite<br />

geräumt waren. Ein unangenehmer modriger Geruch herrschte in<br />

der Kammer. Nachdem Nebe mit seinen Kleidern zu Bett gebracht<br />

war, entließ Thomas seinen Jasch, hängte<br />

Radmantel und Hut an<br />

einen Pflock und machte sich von Decken und Pelzen ein Lager an<br />

der Erde zurecht, da das kurze schmale Bett kaum für Nebe allein<br />

ausreichte.<br />

Bald war Thomas in den Zustand zwischen Wachen und Schlafen<br />

verfallen. Tiefe Stille herrschte im Haus. Schon das Bewusstsein,<br />

mit Esther zusammen in demselben Ort zu sein, war für Thomas<br />

sehr süß. Es erschienen in seiner Vorstellung die Erlebnisse<br />

wieder, <strong>als</strong> er auf der Reise vor wenigen Wochen mit Esther<br />

zusammen gewesen war. Nach einer Nacht und einigen<br />

Tagesstunden hoffte er, am Ziel seiner Wünsche zu sein.<br />

Als die Gedanken sich mit den Traumbildern zu vermengen<br />

begannen, hörte Thomas plötzlich einen starken Schall, kurz<br />

abgebrochen, vom Hofe her. Es war wie ein Knall oder das<br />

282


Brechen von Holz. Er richtete sich in seinem Lager auf und<br />

horchte, ob das Geräusch sich wiederholen würde. Da aber alles<br />

still blieb, stand er auf und ging zum Fenster. Durch die trüben<br />

Scheiben war nichts zu sehen, darum ging er auf den Hof, um<br />

nachzusehen, ob im Stall vielleicht ein Schade geschehen sei.<br />

Taghell war der Hof vom Vollmond erleuchtet. Es war eine milde,<br />

stille Winternacht. Im Stall hatten die Pferde ihr Futter verzehrt<br />

und lagen auf der Streu,<br />

während Jasch im Heuwinkel schnarchte.<br />

Nachdem Thomas die Halfterketten untersucht und alles in<br />

Ordnung gefunden hatte, kehrte er in den Torweg zurück, den die<br />

Wirtsleute zur Straßenseite nicht einmal geschlossen hatten, und<br />

dann in die Kammer. Er war nun ganz munter geworden, legte<br />

sich zwar nieder, konnte aber nicht schlafen. Schwager Nebe<br />

schnarchte in seinem unbequemen Bett. Da beschloss Thomas, bei<br />

dem wunderschönen<br />

Mondschein sich das Geburtsstädtchen seiner<br />

Esther zu beschauen. Er stand <strong>als</strong>o auf, bedeckte mit dem<br />

polnischen Pelz den Schwager, nahm Radmantel und Hut und ging<br />

sacht durch den geöffneten Torweg auf die Straße. Nachdem er<br />

sich in der Nähe ein wenig umgesehen hatte, richtete er seine<br />

Schritte nach dem Häuschen, das sein Liebstes auf Erden<br />

umschloss. Bald sah er es vor sich, das kleine Giebelhäuschen mit<br />

wenigen Fenstern und einer Haustür zur Straße,<br />

daneben den<br />

Torweg und den dazu gehörigen Stall, der ebenfalls mit dem<br />

Giebel zur Straße stand.<br />

Wo mag die Holde ruhen, was mögen für Träume ihre Seele<br />

umgaukeln? Sie weiß es nicht,<br />

wie nahe ihr der Mann ist, der ihren<br />

Besitz für das Höchste hält, was ihm je im Leben widerfahren<br />

kann. Ob sie wohl auch seiner gedacht hat, gerade <strong>jetzt</strong> am Ende<br />

des Jahres, das schon bald von dem neuen Jahr 1688 abgelöst<br />

wird? Mein Gott, was wird das neue Jahr mir bringen, dachte<br />

Thomas weiter. Was kann, was muss ich für die einzig Geliebte<br />

tun? Herr des Himmels!<br />

Eben begann das hell klingende Schlagwerk einer Uhr im Haus<br />

die Mitternachtsstunde des neuen Jahres zu schlagen.<br />

Thomas<br />

entblößte sein Haupt und betete inbrünstig für die Geliebte, für ihr<br />

Wohl, ihr Vaterhaus, für die Seinigen, für seinen alten Vater, dem<br />

Gott vom Rande des Grabes wieder zur Gesundheit verholfen,<br />

damit er sich des Glückes seiner Kinder erfreue. Mit froher<br />

Zuversicht legte Thomas sein Schicksal in die Hände des Herrn:<br />

283


…der da Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der<br />

wird auch Wege finden, wo mein Fuß gehen kann. 452 Amen.<br />

Freudig erhoben bedeckte Thomas wieder sein Haupt, warf noch<br />

einen langen Blick auf das Haus, das wie eine schlechte Fassung<br />

einen Edelstein umschloss, und ging wieder zurück durch die stille<br />

lange Straße, in der kein lebendes Wesen zu sehen war. Er<br />

wendete seine Schritte in das Nachtquartier und öffnete die<br />

Kammer. Es widerte ihn jedoch die dumpfe Luft an, und er zog es<br />

vor, da er doch nicht schlafen könne, bei dem prachtvollen Wetter<br />

noch etwas umherzuwandeln. Thomas ging bei der Kirche vorbei,<br />

durch ein enges Gässchen<br />

auf die weite Fläche des Sees, überließ<br />

sich seinen Gedanken und malte sich die Zukunft recht golden<br />

aus.<br />

n<br />

egen<br />

auf die Erde<br />

chte<br />

ein kleines Fensterchen mit einem Vorhang, hinter<br />

auf Nägeln. Zwei große aufgehängte Bündel<br />

eilige 3 Könige 453 Am selben Abend, dem 31. Dezember 1687, befand sich in dem<br />

niedrigen Hinterstübchen der Lycker Kaplanei ein junges Mädchen.<br />

Sie mochte etwa 16 bis 17 Jahre alt sein. Sie war kleiner <strong>als</strong><br />

Esther, von vollen Formen, rosigen Wangen und hatte ei<br />

freundliches rundes Kindergesicht. Eifrig war sie mit dem Ausf<br />

des Stübchens beschäftigt. Sie hatte die Lampe<br />

gesetzt, fegte sorgsam den Kehricht zusammen und sammelte ihn<br />

auf einer Schaufel. Dann holte sie gehackte Tannen und legte die<br />

Büschel zierlich an den Wänden auf die Dielen. Zuweilen hor<br />

sie, ihre Arbeit unterbrechend, in’s Haus hinein, <strong>als</strong> ob sie eine<br />

Störung befürchtete.<br />

Der große weit vorspringende Ofen war gut erwärmt. Vor der<br />

Ofenbank stand ein Tisch, auf den das Mädchen, nach beendeter<br />

Arbeit, die Lampe stellte, die das Stübchen nun hell erleuchtete.<br />

Man sah nun<br />

dem einige Blumentöpfe standen, ein breites Bett, an den Wänden<br />

Zinnteller und Tonschüsseln sauber auf Leisten, Kannen und<br />

Töpfchen<br />

gesponnenes Garn und ein anderes von Wolle, zeugten von dem<br />

Fleiß der Bewohnerrinnen, wenn auch die Spinnräder der Zwölften<br />

wegen bis zum Tag nach H<br />

auf den Bodenraum<br />

verbannt waren.<br />

Leichte Tritte, die sich näherten, ließen sich vernehmen, und<br />

bald öffnete Esther die Stubentür und erschien in derselben, in der<br />

linken Hand ein Licht und auf dem linken Arm Kleider<br />

und Wäsche<br />

452<br />

Aus dem Kirchenlied: Befiehl du deine Wege von Paul Gerhardt.<br />

453<br />

Dreikönigstag: 6. Januar.<br />

284


tragend. Wunderschön hob sich die schlanke geschmeidige<br />

Gestalt, vom Licht beleuchtet, von dem dunklen Hintergrund der<br />

Türöffnung ab.<br />

„Bist du noch nicht schlafen gegangen, mein liebes<br />

Schwesterchen?“, fragte sie freundlich. „Die Uhr hat ja schon vor<br />

einer Weile 11 geschlagen“.<br />

„Ach, die alte Uhr geht gewiss vor“, erwiderte Marie, „so spät<br />

kann es noch nicht sein“.<br />

„Das glaubst du ja selbst nicht“, antwortete Esther, indem sie<br />

ihr Licht auslöschte und die mitgebrachten Kleider sorgfältig an die<br />

Knagge<br />

. Doch nun komm, wir wollen zu Bett<br />

er die Wirtschaft übernehmen. Du weißt<br />

454 hängte. „Du weißt ja, wie viel der Vater darauf hält. Es<br />

ist ja eine von seinen harmlosen Eigenheiten, dass die Uhr richtig<br />

geht. Wie er sich freut, wenn der Herr Erzpriester den polnischen<br />

Schulmeister Schickedanz herschickt, um nach der Zeit zu fragen,<br />

oder gar der selige Herr Amtshauptmann den alten Paskarbait.<br />

Heute Morgen hat er ja noch, nachdem er den Kalender zu den<br />

alten Jahrgängen unten in den Bücherschragen legte, genau bei<br />

Sonnenaufgang um 8 Uhr 28 Minuten die Uhr verglichen“.<br />

„Was hast du aber so lange noch drüben beim Vater und<br />

Bernhard gemacht?“ fragte Marie.<br />

„Nach dem Abendsegen gab’s doch noch so mancherlei zu<br />

erledigen“, erwiderte Esther, die sich am Tisch niedersetzte und<br />

ihr langes Haar aufflechtete. „Da waren die Kleider des Vaters zur<br />

Frühpredigt zurechtzulegen, dann der Bernhard zu Bett zu<br />

bringen. Dann fiel dem Vater ein, dass an Silvester der neue<br />

Kalender 1688 noch zurechtgemacht werden müsse. Da musste<br />

ich denn den abgelaufenen Kalender auf allen Monaten<br />

durchstreichen, die Buß- und Bettage, Aposteltage usw. auf den<br />

neuen Kalender beischreiben und schließlich hinten eine Schnur<br />

durchziehen, um ihn aufzuhängen. Vaters Fuß musste auch noch<br />

gewickelt werden. Es ist nur gut, dass der Prorektor Orlovius ihm<br />

morgen die Vesper abnimmt, das lange Stehen wird dem alten<br />

Vater doch noch schmerzen<br />

gehen. Ich muss morgen früh heraus. Ich hab’ dem Bernhard<br />

versprochen, ihn morgen zur Frühpredigt mitzunehmen. In der<br />

Speisekammer wollte ich auch noch alles für dich zurechtmachen,<br />

denn du musst morgen hi<br />

ja, dass ich eher dazu nicht Zeit hatte“.<br />

454<br />

Die Knagge ist eine hölzerne Konsole im Fachwerk, die zur Aussteifung und zur<br />

Abtragung von Lasten zwischen den Ständern und den auskragenden Deckenbalken eingezapft<br />

wird. Hier ist ein Holzhaken zum Aufhängen, z.B. von Kleidern, gemeint.<br />

285


„Ja, das weiß ich, dass du dir keine Zeit nahmst“, erwiderte<br />

Marie. „Warum musst du aber auch das wunderschöne Tuch,<br />

welches am Christmorgen mit dem Kästchen <strong>als</strong> Geschenk vom<br />

Himmel in unser<br />

Haus kam, gleich der Kirche schenken und an<br />

den Tagen nach dem Fest bis heute gegen Abend noch immer<br />

daran sticken? Warum hast du dich<br />

mit der Stickerei nur so sehr<br />

gesputet? Du hast dir ja keinen Augenblick Ruhe gegönnt. Das<br />

hättest du doch später an den längeren Tagen bequemer sticken<br />

können, wenn es schon einmal weggegeben werden soll“.<br />

„Das verstehst du nicht“, sagte Esther. „Es hat mir seit unserer<br />

Rückkehr von Königsberg immer auf der Seele gelegen, dass ich<br />

dem lieben Gott für die gnädige Bewahrung unterwegs nicht<br />

anders <strong>als</strong> mit Worten danken konnte. Nun bekam ich unvermutet<br />

ein Geschenk, das ich auf den Altar niederlegen konnte. Getragen<br />

hätte ich das Tuch doch<br />

nie, denn der Mann, von dem es kam, war<br />

weder mein Vater noch mein Bruder, noch sonst ein Verwandter.<br />

Ich betrachtete es <strong>als</strong> eine Schuld, die abgetragen werden musste<br />

und du weißt ja, die Schulden muss man immer im alten Jahr<br />

begleichen. Doch nun komm schlafen“.<br />

„Ich hätte mir die Gedanken nicht gemacht, wenn das schöne<br />

Tuch meins gewesen wäre. Ich hätte es gewiss nicht weggegeben.<br />

Aber Estherchen“, bat Marie schmeichelnd, „bleib’ noch ein wenig<br />

auf. Ich hab’ mich so darauf gefreut, mit dir zusammen am<br />

Silvesterabend Schlorrchen<br />

deren Seite des Hauses, die Muhme ist mit<br />

wir in diesem Jahr heiraten werden“.<br />

die Perkunsche, dir<br />

455 zu schmeißen, bitte, bitte, bleibe<br />

doch noch auf“. Sie kniete vor Esthers Stuhl nieder und umfasste<br />

die Schwester.<br />

„Aber Kind“, sagte Esther, „weißt du denn nicht, dass der Vater<br />

gesagt hat, wir sollten uns mit solchem Teufelskram nicht<br />

einlassen?“<br />

„Das ist ja aber doch gar nicht so etwas Schändliches“, sagte<br />

Marie. „Ich finde doch daran gar nicht etwas Böses. Der Vater<br />

schläft ja auf der an<br />

Joseph zu ihrer Schwester nach Ostrokollen 456 gefahren. Was<br />

schadet es uns, wenn wir uns das Vergnügen machen? Wir wollen<br />

ja auch nicht proben, ob<br />

„Da hat unsere alte verstorbene Kinderfrau,<br />

allerlei dummes Zeug erzählt, das spukt nun in deinem Kopf<br />

455<br />

Pantoffeln<br />

456<br />

Ostrokollen/Scharfenrade (Zinsdorf und Kirchspiel), 1538 gegründet, 12 km süd-südöstl.<br />

von Lyck am Fluss Lyck.<br />

286


herum, aber du warst ja kaum 10 Jahre alt, <strong>als</strong> die Alte starb, hast<br />

du denn das alles behalten?“ fragte Esther.<br />

„Ach, ich weiß es noch wie heute“, sagte Marie, „wie die<br />

Perkunsche mir von den Salzhäufchen, dem Kohlchen<br />

schwemmen, Schlorchen schmeißen und Zinngießen 457 erzählte,<br />

es war hier in der Hinterstube auf der Ofenbank. Da erzählte sie<br />

mir auch, dass sie schon zu Neujahr gewusst hat, dass sie in dem<br />

neuen Jahr der Perkun heiraten würde“.<br />

„Das dürfte doch wohl nicht sehr wunderlich gewesen sein“,<br />

sagte Esther lächelnd, „der Perkun wird es ihr wohl selbst gesagt<br />

haben“.<br />

„Ach nein“, erwiderte Marie eifrig, „sie hat den Perkun dam<strong>als</strong><br />

am Neujahr noch gar nicht gekannt. Sie hat zu jener Zeit im<br />

Pobethenschen 458 gedient und da haben die anderen Mägde ihr<br />

gesagt, wenn ein Mädchen in der Neujahrsnacht, Schlag 12 Uhr,<br />

nach dem Kreuzweg sieht, so erblickt sie, wenn sie überhaupt in<br />

dem Jahr heiratet, die Gestalt ihres zukünftigen Mannes dort<br />

stehen. Die Perkunsche hat sich dam<strong>als</strong> in die Nähe des<br />

Kreuzwegs begeben und die Gestalt des Perkun gesehen, der sie<br />

dann auch tatsächlich noch im Herbst geheiratet hat“.<br />

„Die Gestalt, welche die Perkunsche dam<strong>als</strong> auf dem Kreuzweg<br />

um Mitternacht gesehen hat, wird wohl der Perkun selbst gewesen<br />

sein“, meinte Esther.<br />

„Du willst mir immer nicht glauben“, schmollte Marie. „Die<br />

Perkunsche hat mir auch erzählt, dass sie in den Gänsestall in der<br />

Silvesternacht gegangen ist und im Finstern den Ganter gegriffen<br />

hat. Sie hat auch in derselben Nacht aus dem Strohdach eine<br />

Hand voll Halme herausgezogen. 10 Stück waren das genau. Die<br />

sind alle voll gewesen und nach 10 Monaten hat sie dann Hochzeit<br />

gehabt“.<br />

„Du bist ja so abergläubig, wie die alte Perkunsche selbst“,<br />

sagte Esther. „Du hast auch nicht alle nötigen Vorbereitungen<br />

dafür getroffen. Wir wollen schlafen gehen“.<br />

„Aber Estherchen“, bat Marie, „verdirb mir doch nicht den Spaß.<br />

Sieh’, ich habe ja alles schon zurecht gemacht“. Mit diesen Worten<br />

nahm sie die Schaufel mit dem Kehricht unter dem Bett hervor.<br />

Auf ihm lag ein zinnerner, blank geputzter Löffel.<br />

„Sieh’, nun lege ich das Ohr auf den Löffel“, sagte Marie, „und<br />

wenn ich etwas klopfen oder hämmern höre, dann bekomme ich<br />

457<br />

Alles mysteriöse Spielchen, die zu Silvester in Ostpreußen üblich gewesen sind.<br />

458<br />

Pobethen im Samland war ein großes Kirchdorf mit Gut.<br />

287


im Jahre 1688 einen Bräutigam. Das ist ganz gewiss wahr, die<br />

Perkunsche hat es gesagt“.<br />

Marie fasste an den Stiel des Löffels und beugte das kleine<br />

schöngeformte Ohr über die umgekehrte Laffe 459 . Ihr Gesicht<br />

verklärte sich.<br />

„Ich höre, ich höre“, rief sie und klatschte in die Hände.<br />

„I, das bildest du dir ein“, sagte Esther.<br />

„Nein, nein“, erwiderte Marie, „versuche es nur“.<br />

Esther ließ sich bewegen und hörte wirklich zu ihrer<br />

Verwunderung unter dem Löffel<br />

ein leises Knistern.<br />

„Aber nun wollen wir Kohlchen schwemmen“. Schnell hatte sie<br />

unterm Bett eine große Backschüssel mit reinem Wasser<br />

hervorgeholt, brachte mit der linken Hand schnell das Wasser in<br />

kreisende Bewegung und warf mit der rechten zwei ausgeglühte<br />

Kohlen hinein.<br />

„Das bist du und das ist der Herr Thomas“.<br />

„Aber liebes Kind“,<br />

fiel Esther ein. „Ich habe dir doch ein für<br />

allemal gesagt, Du möchtest mir den Namen nicht nennen“.<br />

„Sieh, sieh!“ rief Marie, mit dem nassen Finger auf die<br />

Kohlestücke zeigend. „Sie sind noch nicht einmal herum und<br />

haben sich schon, sie haben sich! Nun wollen wir<br />

zählen, wie viel<br />

mal sie gemeinsam herumschwimmen: 1, 2, 3, 4 ... 16, 17, 18“.<br />

Plötzlich stieß das kleinere Kohlenstück an den Rand der<br />

Backschüssel, trennte sich vom größeren und versank<br />

„Das ist ein ganz natürliches Ereignis“, sagte Esther, „das kleine<br />

Kohlenstück ist eher voll Wasser gezogen <strong>als</strong> das große, drum<br />

ging’s zu Grunde“.<br />

„Nun wollen wir die Lichterchen schwimmen lassen“, sagte Marie<br />

und brachte zwei Kähnchen von festem Papier. In jedes Kähnchen<br />

war ein Lichtchen von der Länge eines Kinderfingers fest<br />

eingeklebt. Sie zündete dieselben an und setzte sie behutsam auf<br />

das bewegte Wasser. Es dauerte nicht lange, so holte das größere<br />

der Papierkähnchen das kleinere ein und sie schwammen<br />

gemeinsam weiter. Die Flammen neigten sich gegen einander.<br />

„Herrlich, herrlich“, rief Marie, und klatschte in die Hände.<br />

„Nun versuche die Künste für dich“, sagte Esther.<br />

„Nein“, antwortete Marie, „das musst du tun“. Esther tat ihr den<br />

Gefallen und siehe, sowohl die Kohlen <strong>als</strong> auch die<br />

Lichterschiffchen vereinigten sich zum Entzücken von Marie.<br />

459 Löffel-Aushöhlung<br />

288


„Nun müssen wir noch Schlorrchen schmeißen“ sagte Marie,<br />

setzte sich mit dem Rücken zur Stubentür an die Erde, umfasste<br />

mit beiden Händen die Unterschenkel und schleuderte über den<br />

Kopf den Pantoffel des linken Fußes gegen die Tür. Dann sprang<br />

sie schnell auf, ergriff die Lampe und beleuchtete die Lage des<br />

Pantoffels.<br />

„Haha! Da liegt der Schlorr, mit der Spitze dicht an der<br />

Stubentür“, jubelte Marie. „Nun musst du es auch versuchen,<br />

Esther!“<br />

„Ich habe eigentlich schon genug von den Orakeln“, sagte<br />

Esther und setzte sich an die Erde. Ein Wurf und der Pantoffel lag<br />

mit der Spitze an der Tür.<br />

„Schade, dass wir nicht Zinn gießen können“, meinte Marie.<br />

„Du denkst wohl noch daran“, sagte Esther, „wie dich einmal die<br />

selige Mutter vom Zinngießen mit Hurrah aus der Küche jagte. Die<br />

alte Perkunsche bekam dam<strong>als</strong> auch was ab“.<br />

„Weißt du aber was?“, sagte Marie, „wir wollen auf den Hof<br />

gehen. Du gehst an das neugedeckte Stalldach und ziehst eine<br />

Hand voll Strohhalme heraus und ich - ich geh’ in den Gänsestall“.<br />

„Nun, wenn du willst“, erwiderte Esther, „so geh’ nur allein“.<br />

„Aber Estherchen“, schmeichelte Marie, indem sie den Vorhang<br />

des Fensters öffnete, „sieh doch hinaus, es ist ja ganz schönes<br />

Wetter. Der Mond scheint so hell wie am Tag. In einigen Minuten<br />

sind wir ja wieder zurück. Lass’ dich doch erbitten und komm mit“.<br />

„Nun, so komm, du Quälgeist“, sagte Esther. „Nimm dir aber<br />

das Spreetuch<br />

gedeckte Strohdach des Stalles leicht erreichen konnte. Sie fasste<br />

mit der Hand in das Stroh und zog. Dabei sah sie unwillkürlich<br />

über den Torweg hinüber an dem Giebel des Stalles vorbei auf die<br />

460 um, damit du dich nicht erkältest“.<br />

Marie hatte schon zwei große Tücher ergriffen, warf das eine um<br />

der Schwester Schultern, nahm das andere selber um, öffnete<br />

leise die Stubentür, ging durch den schmalen hinteren Hausflur<br />

und öffnete geräuschlos die Haustür. Das Licht des Vollmondes fiel<br />

herein. Beide Schwestern gingen zusammen bis zum Stall und<br />

dann, während Marie sich rechts nach dem Gänsestall wendete,<br />

ging Esther auf dem schmalen Hof zwischen Haus und Stall bis zu<br />

dem zur Straße führenden Torweg. An diesem waren an der<br />

Längswand des Stalles die vom Reparaturbau des Herbstes übrig<br />

gebliebenen Bretter etwa 2 Fuß hoch aufgestapelt. Esther ging bis<br />

zum Torweg und stieg dann auf die Bretter, von denen sie das neu<br />

460 Spreetuch = Schultertuch; von spreen, sprühen, sanft regnen. (s. auch FN 502)<br />

289


Straße, die von einem Weg, der zum See führte, gekreuzt wurde.<br />

In diesem Augenblick fing die laut schlagende Uhr in der Stube<br />

des Vaters die zwölfte Stunde an zu schlagen. Da sah sie gerade<br />

auf der Kreuzung der beiden Straßen eine Gestalt stehen. Sie<br />

erschrak, fasste sich aber und blickte genauer hin. Es war keine<br />

Täuschung möglich: Da stand leibhaftig der Mann, an den sie seit<br />

Wochen immer hatte denken müssen. Da stand er mit entblößtem<br />

Haupt, gerade so, wie sie ihn vor einigen Wochen bei dem<br />

Morgensegen in Rastenburg gesehen hatte. Ihr Herz stand still.<br />

Wieder sah sie hin. Die betende Gestalt stand kaum 20 Schritte<br />

von ihr entfernt, unbeweglich. Sollte Thomas gestorben sein und<br />

sein Geist ihr erscheinen?<br />

Esther fuhr mit der Hand nach dem Herzen, eilte halb<br />

ohnmächtig nach dem Haus zurück und sank in einen Stuhl. Gleich<br />

darauf kam Marie triumphierend mit einer Gänsefeder in der Hand<br />

hinein.<br />

„Sieh, ich habe dem Ganter… aber Esther, wie siehst du denn<br />

aus? Du bist ja kreidebleich! Was fehlt dir, so sprich doch! Du<br />

zitterst, komm, wir wollen nun zu Bett gehen“.<br />

Esther ließ sich von der Schwester entkleiden, konnte ihr aber<br />

keine Antwort geben.<br />

„Soll ich nicht die Kathrine wecken und dir etwas Warmes<br />

kochen?“<br />

„Ach nein“, brachte Esther endlich mühsam hervor, „komm nur<br />

zu Bett, es wird vorübergehen“.<br />

Beide Schwestern teilten ihr Lager. Während Marie bald<br />

einschlief, konnte Esther doch ihre quälenden Gedanken nicht<br />

loswerden. Sie erinnerte sich an ein Gespräch ihres Vaters mit<br />

seinem Freund, dem Pfarrer Jacob Mroncovius aus Grabnicken,<br />

über Erscheinungen Verstorbener, die geliebten Personen ihren<br />

Tod melden. Es war für sie gewiss. Thomas war gestorben und ihr<br />

erschienen, um von ihr, die er im Leben geliebt, wie er es durch<br />

die Sendung des Tuches noch vor einigen Tagen gezeigt hat, nun<br />

Abschied zu nehmen.<br />

Thomas hatte keine Ahnung, welche Schmerzen er durch seine<br />

Erscheinung der geliebten Esther bereitet hatte. Er ging in frohen<br />

Gedanken durch das schlafende, mondbeleuchtete<br />

Städtchen. Ihm<br />

graute vor der elenden Herberge. Darum richtete er seine Schritte<br />

zur weiten mondbeglänzten Fläche des Sees, aus dem auf der<br />

Insel das alte Schloss Lyck mit seinen ausgezackten Giebeln,<br />

Toren, Strebepfeilern und den beiden langen Brücken erschien. Da<br />

290


eine leichte Schneeschicht auf dem Eis lag, so wanderte Thomas<br />

immer weiter und hing seinen Gedanken nach, bis er sich<br />

schließlich besinnend nach der Uhr sah. Es war zwei geworden,<br />

und Thomas wendete seine Schritte wieder der Stadt zu, die er<br />

durch ein kleines Gässchen, das vom See zur Hauptstraße führt,<br />

nicht weit vom Tor entfernt betrat.<br />

Vor sich sah er ein altes gebücktes Männchen mit einer Laterne<br />

gehen, das ein Bündel behutsam unter dem Arm trug. Bald war<br />

Thomas hinter ihm.<br />

„Prosit Neujahr!“ rief Thomas ihm zu. „Ihr braucht doch bei dem<br />

wunderschönen Mondenschein keine Laterne, alter Vater, um<br />

Euren Weg zu finden“.<br />

Erschreckt wendete sich das Männchen um.<br />

„Ach Herr“, sagte es und zog seine Pelzmütze, „wie habt Ihr<br />

mich erschreckt, ich glaubte schon, es wäre einer von den Vettern<br />

des neuen gnädigen Herrn Amtshauptmanns die, leider Gottes,<br />

allerlei nächtlichen Unfug treiben. Ich danke Euch schön für den<br />

Neujahrswunsch. Meine Laterne brauche ich in der Kirche. Ich bin<br />

der polnische Schulmeister Schickedanz und habe auch den<br />

Glöcknerdienst. Nun muss ich in die Kirche, um zur Frühmette die<br />

Lichte aufzustecken“.<br />

„Aber fängt denn bei Euch in Lyck die Frühmette schon vor 3<br />

Uhr an?“ fragte Thomas, neben dem Glöckner hergehend.<br />

„Ach nein, Herr“, erwiderte<br />

dieser. „Die Frühmette beginnt, wie<br />

in anderen Städten, um 5 aber vor 20 Jahr’ wäre ich am<br />

Neujahrstag beinahe um meinen Dienst gekommen. Ich hatte da,<br />

wie ich und mein verstorbener Vater es sonst immer gemacht<br />

hatten, um 4 Uhr die Lichte aufgesteckt und war dann noch ein<br />

wenig weggegangen,<br />

um mich aufzuwärmen. Ich hatte aber die<br />

Kirche offen gelassen. Kommt da das polnische junge Volk, steckt<br />

sich die Lichte an und treibt allerlei Unfug. Das bekam aber der<br />

Herr Erzpriester Magister Thilo zu hören. Gleich nach der<br />

Frühmette musste ich zu ihm kommen. Er wollte mich auf der<br />

Stelle wegjagen. Ja, ja, der verstand es, Einen klein zu kriegen.<br />

Der verstorbene Konrektor Basel und die anderen Lehrer der<br />

lateinischen Schule hätten Euch was davon erzählen können. Ich<br />

hatte es nur dem Kaplan Schwindovius zu verdanken, dass ich<br />

schließlich wieder in Gnaden angenommen wurde. Seit jener Zeit<br />

gehe ich Neujahr schon immer gleich nach 2 in die Kirche, um<br />

alles vorzubereiten, schließe auch hübsch die Kirche wieder zu und<br />

öffne erst kurz vor 5 dem Kirchenknecht, damit er läuten kann.<br />

Heute habe ich noch etwas Besonderes. Hier dies Altartuch von<br />

291


der Jungfer Esther kommt heut zum ersten Mal auf den Altar. Es<br />

wurde erst gestern gegen Abend fertig. Ein schönes seidenes Tuch<br />

ist’s. Als ich es gestern abends abholte, gab es mir die Jungfer<br />

Esther. In den Ecken sind in Silber gestickte Blüten, auch das<br />

Datum vom gestrigen Tag und lateinische Buchstaben, A und G, S<br />

und E, S und T. Ich fragte die Jungfer, was das zu bedeuten<br />

habe“.<br />

„Das ist ein lateinischer Spruch“, sagte sie. Nun sagte sie mir<br />

schnell einige lateinische Worte. „Das versteht Ihr ja,<br />

Schulmeister, Ihr wart ja auf der lateinischen Schule“.<br />

„Natürlich“, sagte ich und dachte, zu Hause wirst du die paar<br />

Buchstaben schon zusammenbekommen. Ja, Prost Mondschein,<br />

mein Fritzchen, ich mochte es lesen, wie ich wollte, ich bekam es<br />

nicht heraus. Ich suche meinen alten George Ratichius - richtig, da<br />

finde ich est - aber nicht esta, ago, aber nicht ags - wenn die<br />

Jungfer nur nicht<br />

so schnell gesprochen und ich besser aufgepasst<br />

hätte. Vielleicht möchtet Ihr, Herr, mir den lateinischen Spruch<br />

erklären, denn einen von den Herren Schulkollegen will ich nicht<br />

fragen. Die machen sich so schon über meine Gelehrsamkeit<br />

lustig, besonders<br />

der neue Konrektor Romanus, und ich bin doch<br />

wirklich auf der lateinischen Schule gewesen“.<br />

„Mit meiner Latinität ist’s nicht weit her“, sagte Thomas.<br />

„Vielleicht kann ich Euch aber doch die lateinische Inschrift<br />

entziffern, wenn ich sie sehe. Hier auf der Straße bei Mond- und<br />

Laternenschein wird’s aber wohl nicht gehen“.<br />

„Herr, wenn Ihr die Gewogenheit<br />

haben wollt, kommt mit in die<br />

Kirche. Es sind ja nur einige Schritte. Da könnt Ihr dann in aller<br />

Bequemlichkeit die Inschrift studieren, während ich die Lichte<br />

aufstecke“, bat der Küster.<br />

Beide gingen nun über den Kirchhof der Kirche zu, während der<br />

sinkende Mond ihre Schatten lang über die Gräber warf.<br />

„Unsere Kirche ist nicht sehr prachtvoll“, sagte der Schulmeister,<br />

die Kirchentür aufschließend. „Sie ist Anno 1656 von den Polen bis<br />

auf den Grund abgebrannt. Nur die Ringmauern<br />

blieben stehen.<br />

Da ist auch die kostbare Bibliothek mit verbrannt, die sich auf der<br />

Kirche befand“.<br />

Thomas trat in das Gotteshaus, entblößte sein Haupt und betete<br />

still. Nur ein kleiner Teil des Kirchenschiffs wurde vom Schein der<br />

Laterne schwach beleuchtet. Also<br />

hier ist Esther getauft und von<br />

Kindheit an aus- und eingegangen, dachte er.<br />

Der Küster ging mit ihm weiter, „Seht Herr“, sagte er, seine<br />

Laterne emporhebend, „da ist das vergitterte Chor des<br />

292


gebietenden Herrn Amtshauptmanns. Hier, rechts vom Altar, der<br />

Stand des Herrn Erzpriesters. Dort, auf der anderen Seite, der<br />

Stand des Herrn Diakon - gegenüber der Ratsstand. Hier vor dem<br />

Altar unter dem großen Leichenstein, der noch aus katholischer<br />

Zeit herstammen mag, denn Ihr müsst wissen Herr, die Kirche ist<br />

noch aus dem Papsttum her und soll der heiligen Maria und<br />

Katharine<br />

geweiht gewesen sein, ist das Gewölbe für die<br />

Erzpriester. Ich kann mich noch ganz gut besinnen, wie Anno<br />

1637, es war im Herbst, der Erzpriester M. Petri begraben wurde.<br />

Ich war dazumal schon ein großer Schüler und führte dem Kantor<br />

461<br />

Martinus Rex die erste Stimme, wenn<br />

wir figuraliter sangen,<br />

denn Ihr müsst wissen, Herr, ich hab’ die lateinische Schule<br />

besucht. Da weiß ich noch, wie wir Schüler alle mit den Lehrern<br />

der Provinzi<strong>als</strong>chule, dem Rektor Michael, dem Prorektor Deyke,<br />

dem Kantor Rex und dem Collega aus des Erzpriesters Hause<br />

paarweise, die Kleinsten vorne, zur Kirche zogen.<br />

Sämtliche<br />

Kapläne<br />

s wir die Frau<br />

f, wischte die Finger an den Lederhosen ab, nahm aus<br />

„Nun seht Herr, ob Ihr den lateinischen Spruch<br />

herausbekommt“, sagte Schickedanz und entfernte sich aus der<br />

Sakristei mit seinem Lichterkasten.<br />

462 des Lyckschen Sprengels haben ihren Erzpriester zu<br />

Grabe getragen. Solch’ feines Begräbnis ist seitdem nicht mehr<br />

vorgekommen. Hier neben dem großen Leichenstein unter dem<br />

kleineren mit den 2 eisernen Ringen ist das Gewölbe der Diakone.<br />

Der Stein ist zuletzt gehoben vor 4 Jahren, al<br />

unseres Diakons Schwindovius begruben. Sie war eine kreuzbrave<br />

Frau. Der Diakon, mit den Kinderchen, dem Georg, der Esther, der<br />

Marie und dem Bernhard standen um das Grab. Die ganze Kirche<br />

war voller Menschen und alle weinten“.<br />

Sie gingen in die Sakristei. Thomas setzte sich in den<br />

hochlehnigen Stuhl der Geistlichen. Der Küster steckte ein<br />

Talglicht au<br />

der Leinwandhülle das Tuch und entfaltete es auf dem Tisch.<br />

Thomas erkannte sogleich das Tuch, welches er vor wenigen<br />

Wochen durch den alten Bell aus Königsberg nach Lyck gesendet<br />

hatte.<br />

461 Im Chor eine „figurierte“ Stimme singen (s. auch FN 291)<br />

462 In evangelischen Kirchen wurde die Bezeichnung Kaplan ursprünglich für den zweiten<br />

ordinierten Geistlichen einer Kirche verwendet. Schon im 17.Jhdt. nannte man einen Kaplan<br />

aber auch Diakon (lat.:diaconus). Durch Verfügung des Oberkonsistoriums in Berlin vom<br />

18.4.1817 wurde dieser Titel in Prediger geändert. Bei Eduard Anderson überwiegt die<br />

Bezeichnung Diakon.<br />

293


Thomas sah nach den Ecken des Tuches. Da standen sie vor<br />

seinen Augen, in Silber gestickt und mit silbernen Ranken<br />

umgeben. In den 4 Ecken sah er die Anfangsbuchstaben der<br />

Namen E. S. (Esther Schwindovius),<br />

T. A. (Thomas Anderson), G.<br />

S. (Georg Schwindovius). In der vierten, seinem eigenen Namen<br />

gegenüberstehenden Ecke stand nicht das Datum des gestrigen<br />

Tages, wie der Küster durch zwei Ranken hinter der X irregeführt<br />

gelesen, sondern Mittwoch, der 31. Oktober, der Tag des Überfalls<br />

auf der Reise von Königsberg. Es war kein Zweifel, Esther hatte<br />

das Tuch, das Thomas ihr gesendet hatte, dem Gotteshaus<br />

geschenkt. Thomas betrachtete die mühsame Stickerei, und es<br />

kam ihm so vor, <strong>als</strong> ob die Ecke, in der<br />

sein eigener Name stand,<br />

ein wenig feucht wäre. Sollten die Tränen Esthers darauf gefallen<br />

sein, oder vielleicht nur eine Schneeflocke, die zerschmolzen war?<br />

Jedenfalls hatte Esther seiner gedacht, <strong>als</strong> sie den Namen<br />

einstickte, dachte Thomas. Er konnte sich nicht enthalten, seine<br />

Lippen auf den Namenszug Esthers zu drücken - auf die Stelle, an<br />

der ihre fleißigen Hände gewesen waren. Wie beschämt dich<br />

dieses Mädchen, dachte Thomas, während du den gnädigen<br />

Beistand Gottes fast vergessen<br />

hast, hat sie in den wenigen<br />

kurzen Tagen seit Weihnachten fleißig gearbeitet, um dem Herrn<br />

für die Errettung ein Dankopfer zu bringen, und dazu auch noch in<br />

deinem Namen. Doch, was sage ich dem höchstgelehrten<br />

polnischen Schulmeister? Esther will es nicht haben, dass<br />

er das<br />

richtige weiß, sonst hätte sie es ihm ja selbst gesagt. Versuchen<br />

will ich wenigstens, ob ich einen einigermaßen glaubhaften Sinn<br />

aus den Buchstaben herausbringen<br />

kann. Wenn ich mein Latein<br />

nur nicht schon so sehr vergessen hätte.<br />

„Nun, verehrter Herr, habt Ihr etwas herausgebracht?“ fragte<br />

der in die Sakristei zurückkehrende Küster.<br />

Thomas betrachtete<br />

<strong>jetzt</strong> bei dem hell brennenden Licht die<br />

kleine Figur des Küsters genauer. Er sah den unförmigen Kopf, das<br />

aufgedunsene Gesicht mit der roten Nase und die kurzen<br />

gekrümmten Beine.<br />

„Ich glaube“, antwortete Thomas, „wenn es nicht<br />

Abbreviaturen<br />

die Initialen der<br />

lateinischen Worte sein. Ihr müsst <strong>als</strong>o nicht estags lesen, Herr<br />

Schulmeister, sondern es muss, meiner Meinung nach, heißen:<br />

463 sind, was ich nicht wissen kann, da ich den<br />

lateinischen Spruch nicht gehört habe, es werden<br />

463 Abbreviatur (lat. abbreviatur): „Abkürzung, „abgekürzte Schreibweise“<br />

294


effero stragulum tegendum altarem gloriosi sancti. War das der<br />

lateinische Spruch, den die Jungfer Euch gestern Abend sagte?“<br />

„Ja, ja, das war es, das war es! Das versteh ich auch, Ihr<br />

sprecht fein langsam und nicht so geschwind, wie die Jungfer<br />

Esther, aber Herr, wie habt Ihr das ohne Bücher so schnell<br />

herausgebracht? Doch ich habe noch ganz vergessen, den Herrn<br />

zu fragen, wer er ist. Ihr seid gewiss einer von den hohen Herren,<br />

die zuweilen herkommen,<br />

um die Mängel, die sich bei unserer<br />

Provinzi<strong>als</strong>chule finden, abzustellen und selbige in bessere<br />

Ordnung zu bringen. Ich besinne mich noch Anno 1638, <strong>als</strong> ich<br />

noch auf der lateinischen Schule war, wurde auch<br />

so eine Schul-<br />

Visitation gehalten, welcher D. Cölestin Mislenta und M. Michael<br />

Fischer beiwohnten.<br />

„Aber sagt einmal, Herr Schulmeister“, fragte Thomas, ihn<br />

unterbrechend, „was ist<br />

denn das eigentlich für eine Jungfer<br />

Esther, von der Ihr mir das Tuch gezeigt habt, und die so gut<br />

Lateinisch spricht?<br />

Ihr müsst sie doch kennen“.<br />

„Das habe ich dem Herrn ganz vergessen zu sagen“, antwortete<br />

Schickedanz. „Ich dachte, die müsste jeder kennen. Die Jungfer<br />

Esther ist die älteste Tochter unseres Herrn Diakon Schwindovius.<br />

Ich kenne sie von frühester Kindheit an, denn ich muss ja<br />

sonntags und feiertags, auch noch oftm<strong>als</strong> in der Woche bei dem<br />

Herrn Erzpriester und bei dem Herrn Diakon aufwarten. Lateinisch<br />

hat sie gelernt, wenn sie ihrem Bruder Georg, der <strong>jetzt</strong> Studiosus<br />

ist, die Grammatik und die Vokabeln einlernte, denn er war ein<br />

wenig hartlehrig. Ich hab’ es oft gehört, wenn ich zu dem Herrn<br />

Diakon kam. Doch <strong>jetzt</strong> will ich das Tuch auf den Altar legen. Das<br />

zinnerne Pult, auf das es kommt, habe ich blank geputzt“.<br />

Dabei wischte er die talgigen Finger an den Hosen ab. Thomas<br />

legte das Tuch zusammen und reichte es ihm, nahm das Licht,<br />

und beide gingen in die Kirche. Hier zündete der Schulmeister die<br />

6 Altarlichte an und breitete das Dankopfer,<br />

Esthers Tuch, über<br />

das zinnerne Pult. Zufällig kamen die beiden Ecken mit den Namen<br />

E.S. und T. A. vorne auf den Altar!<br />

Bei dem hellen Kerzenlicht sah Thomas, dass das Kruzifix auf<br />

der Mitte des Altars ein sehr schlechtes Kunstwerk war. Es war<br />

der<br />

Körper des Heilandes, der von einer sehr ungeschickten Hand<br />

plump aus Holz geschnitzt war. Er gelobte, am Tag seiner<br />

Vermählung mit Esther ein würdigeres Altarkreuz der Kirche zu<br />

schenken.<br />

295


Möge es eine gute Vorbedeutung sein, dachte Thomas, dass wir<br />

beide hier vor diesem Altar bald vereinigt sein möchten, wie es<br />

unsere Namen <strong>jetzt</strong> sind.<br />

Der Küster löschte die Wachslichte, sammelte sorgfältig das<br />

abgeträufelte Wachs, das er in die Tasche steckte, und ging in die<br />

Sakristei, von Thomas<br />

gefolgt, zurück.<br />

„Wie ist’s denn heute mit dem Gottesdienst, Herr Schulmeister?“<br />

fragte Thomas.<br />

„Der Herr Diakon hält um 5 Uhr die polnische Frühmette“,<br />

antwortete dieser. „Da kommen aus der Stadt keine Vornehmen<br />

zur Kirche. Nur die alte Muhme des Herrn Diakon und die Jungfer<br />

Esther kommen.<br />

Die Alte fuhr aber gestern morgens mit dem<br />

Joseph nach Ostrokollen zu ihrer Schwester, die Schwiegermutter<br />

des Diakon Paul Olszewski (Olschewius), die kommt <strong>als</strong>o nicht.<br />

Aber polnisches Volk aus der Stadt und vom Lande kommt genug,<br />

denn sie halten den Neujahrstag besonders heilig. Bei der<br />

Frühmette muss<br />

ich singen, das hat der Herr Erzpriester Magister<br />

Thilo entschieden, dass mir das zukommt und nicht dem Kantor.<br />

Die deutsche Rechtspredigt hält dann der Herr Erzpriester<br />

Breuer<br />

ch der Herr Diakon halten, die<br />

riester<br />

ickt der Herr Kanzler<br />

zu Hause. Aber das hat er<br />

ehorchen. Aber der Herr ist vielleicht mit<br />

erstenmal, er scheint eben nicht bei Euch in Gunst zu<br />

464 , der vor 3 Jahren herkam, dann die polnische Predigt der<br />

Herr Diakon. Die Vesper sollte au<br />

hat ihm aber heute der Prorektor Orlovius abgenommen“.<br />

„Wir dachten dam<strong>als</strong>, unser Herr Diakon würde Erzp<br />

werden, aber der ist nicht der Mann von dem Holz, aus dem man<br />

Erzpriester schnitzt. Der kann nicht Katzenpuckeln und<br />

gehorsamer Diener der Herren sein. Da sch<br />

uns den Breuer her. Der war Prediger in Wilda gewesen, muss da<br />

aber wohl nicht haben bleiben können. Der mag wohl in<br />

Königsberg seine Gönner gehabt haben. Ich bin noch mit ihm hier<br />

auf der lateinischen Schule zusammengewesen, denn er ist hier<br />

aus der Nachbarschaft in Olezko<br />

vergessen, dass er mit mir zusammen den Cironit sang. Na, er ist<br />

der Herr, ich muss ihm g<br />

dem Erzpriester verwandt?“ unterbrach sich Schickedanz<br />

erschreckt.<br />

„Beruhigt Euch!“, erwiderte Thomas. „Ich höre seinen Namen<br />

<strong>jetzt</strong> zum<br />

stehen; doch wart Ihr ja auch mit dem Erzpriester Thilo nicht<br />

zufrieden“.<br />

464 Der Erzpriester Matthäus Breuer in Lyck starb 1697 in Lyck.<br />

296


„Na, das war doch ein anderer Mann“, meinte Schickedanz. „Er<br />

war doch hier Rektor gewesen und Magister geworden. Er schmiss<br />

auch die alten Weiber heraus, wenn sie ihm allerlei unsinniges<br />

Zeug erzählen wollten. Dieser aber fragt sie noch recht aus“.<br />

„Da habt Ihr ja, Herr Schulmeister, heute den ganzen Tag<br />

Dienst“, sagte Thomas.<br />

„Ja, Gott sei es geklagt!“, erwiderte Schickedanz. „Man muss<br />

sich plagen für das Stückchen Brot. Das schöne Tuch von der<br />

Jungfer Esther aber werd’ ich nicht hier in der Sakristei in den<br />

Kasten legen. Es stockt hier sehr, da wirds bald beschmiert, voll<br />

Staub und Flecken. Das nehme ich mit nach Hause und verwahre<br />

es in der Lade“.<br />

„Nun, wollt Ihr nicht zuschließen?“ fragte Thomas, <strong>als</strong> beide<br />

durch die Sakristeitür auf den Kirchhof traten.<br />

„Herr, Ihr müsst wissen“, sagte Schickedanz, „ich habe den<br />

Schlüssel abgedreht, die Tür ist unverschlossen, aber das weiß<br />

keiner. Wenn man sie von außen aufmachen will, geht sie nicht<br />

auf, aber seht, wenn ich hinein will, hebe ich sie hoch, das ist für<br />

mich ein feines Schloss“.<br />

„Nun ich danke schön, dass Ihr mir alles gezeigt habt, Herr<br />

Schulmeister“, sagte Thomas auf dem Kirchhof. „Damit Ihr aber<br />

nicht soviel Mühe habt, in die Sakristei<br />

zu kommen, so lasst ein<br />

neues Schloss machen“. Mit diesen Worten reichte er dem Küster<br />

eine Silbermünze und entzog sich dem wortreichen Dank<br />

desselben, indem<br />

er der Straße zuschritt.<br />

Der Mond war inzwischen untergegangen, und nach einiger Zeit<br />

bemerkte Thomas, dass er zur f<strong>als</strong>chen Seite gegangen sei, und,<br />

statt nach dem weißen Eckhause an das Tor kam. Er kehrte <strong>als</strong>o<br />

um und ging wieder der Kirche zu.<br />

In der Nähe derselben angekommen, hörte er die näselnde<br />

Stimme des polnischen Schulmeisters in polnischer Sprache:<br />

„Rindvieh, verfluchtes! Was hältst du mich auf der Straße auf?<br />

Ich hab’ dich doch auf den Hof vom Kaplans-Haus bestellt, kannst<br />

du dort nicht auf mich in dem Torwege warten?“<br />

„Ach, Herr Schulmeister“, hörte Thomas eine tiefe Stimme,<br />

ebenfalls in polnischer Sprache bitten, „da seid Ihr ja immer so<br />

von den Leuten belagert. Da bekomme ich armer Kerl dort wieder<br />

297


kein Neujahrswachs 465 , wie im vorigen Jahr. Ich war auch schon<br />

an Eurem Hause, aber da war alles dunkel und…“<br />

„Habe ich Euch, Ihr Hornvieh, nicht ein für allemal verboten,<br />

ein langes Verhör vor<br />

„Aber Herr Schulmeister“, bat der polnische Mann, „seid doch so<br />

ut und verkauft mir das Wachs. Ich gebe Euch ein Pölchen 466 wegen Wachs zu mir in’s Haus zu kommen, wo die Nachbarn<br />

aufpassen? Soll ich wieder wie vor 2 Jahren<br />

dem Herrn Erzpriester Euretwegen, ihr Ochsen, ausstehen und<br />

wieder Strafe bezahlen müssen oder gar weggejagt werden, wie er<br />

mir angedroht hat? Geh zum Henker!“, sagte Schickedanz<br />

ärgerlich.<br />

g<br />

für<br />

ein<br />

kleines Stückchen. Ich werde Euch auch im Frühjahr ein Ferkel<br />

bringen,<br />

wenn die Schweine ausgetrieben werden. Nehmt auch<br />

einen<br />

Schluck aus meiner Flasche, ich weiß ja, dass Euer Wachs<br />

mit<br />

Eurem Sprüchlein am besten ist“.<br />

„So, woher wisst Ihr denn das?“ fragte der Schulmeister etwas<br />

besänftigt<br />

und trank.<br />

„Ach, Herr Schulmeister“, antwortete der andere, „weil ich von<br />

Euch<br />

voriges Jahr kein Wachs mehr bekam, da gab mir mein<br />

Schwager<br />

ein Stückchen von seinem, das hatte er vom<br />

katholischen Glöckner aus Grajewo r<br />

ni<br />

„Na, denn komm hinter e Schickedanz.<br />

„Aber, dass du dich nicht unterstehst, einem Anderen zu sagen,<br />

ei große Körbe mit Backwerk trug, die Tür<br />

467 in Polen. Das hat aber ga<br />

chts geholfen“.<br />

die Kirche“, sagt<br />

dass ich dir hier Neujahrswachs gab!“<br />

Die Schritte entfernten sich. Thomas ging seinem Nachtlager zu.<br />

Als er in den Torweg trat, öffnete eben die Wirtin einem<br />

Bäckerburschen, der zw<br />

der Schenkstube. Thomas trat mit ihm zugleich in die Krugstube.<br />

465<br />

Vor allem auf dem Lande und in vom Verkehr nur schwach erschlossenen Gebieten hatten<br />

sich mit dem kirchlichen Brauchtum abergläubische Vorstellungen vermischt. So wurden dem<br />

Taufwasser magische Kräfte zugeschrieben. Kirchenwachs, Kirchenwein und geweihtes Brot<br />

wurden dem Küster heimlich abgekauft und <strong>als</strong> Arznei verwendet. Die Kirchenoberen, im<br />

geschilderten Fall der Erzpriester, versuchten, solche Bräuche auszumerzen und verhängten<br />

Kirchenstrafen dagegen.<br />

466<br />

Pölchen: Bezeichnung der Nachahmungen der polnischen Halbgroschen von Sigismund I.<br />

Durch Ludwig I. von Böhmen und Ungarn, die zwischen 1517 und 1526 in großen Mengen<br />

nach Polen und Preußen eingeschleust wurden.<br />

467<br />

Grajewo (Polen), Stadt am Fluss Lyck/Ełk, 20 km süd-südöstl. von Lyck, direkt ausserhalb<br />

der ostpreussischen Grenze. Erste urkundliche Erwähnung 1426, 1540 Stadtrecht von<br />

Sigismund I.<br />

298


„Seid Ihr schon auf, Herr?“, fragte die Wirtin verwundert. „Wir<br />

müssen freilich so früh aufstehen, denn es werden bald die Polen<br />

vom Land zur Frühmette kommen. So ein Herr kann aber doch<br />

schlafen so lange er will“.<br />

„Gebe Sie mir einen halben vom besten Wein und ein Licht. Von<br />

dem frischen Brot möchte ich auch haben“, sagte Thomas, von der<br />

nächtlichen Wanderung etwas hungrig geworden.<br />

„Ach, da könnt Ihr Euch aussuchen, soviel Ihr wollt“.<br />

Nachdem die Wirtin aus dem Keller den Wein brachte, nahm<br />

Thomas das Licht, den Wein, ein Glas und das gekaufte Brot und<br />

ging in die Kammer.<br />

Nebe hatte es inzwischen fertig gebracht, das Fußende des<br />

invaliden Bettgestells zu zerbrechen. Das vollgestopfte schwere<br />

Deckbett war dabei auf die Erde gefallen, doch schlief der Diakon<br />

immer weiter.<br />

Thomas nahm das Deckbett, legte es auf die an der Erde<br />

ausgebreiteten Decken <strong>als</strong> Unterlage und weckte mit einiger Mühe<br />

seinen Schwager, der allmählich ermunterte.<br />

„Das ist hier ja eine schändlich schlechte Liegerei“, sagte Nebe<br />

gähnend, indem er sich auf den Bettrand setzte. „Hungrig bin ich<br />

auch. Ich habe mich ganz verlegen. Mich friert“.<br />

„Nimm nur zuerst einen Schluck Wein, lieber Schwager“, sagte<br />

Thomas, „und iss von dem frischen Gebäck. Dann legst du dich<br />

hier an die Erde, wo ich dir ein besseres Lager gemacht habe. Da<br />

wirst du besser schlafen“.<br />

„Na hör’ mal“, sagte Nebe kauend. „Einmal bin ich mit dir auf<br />

die Freierei gefahren. Das tue ich aber mit keinem Menschen<br />

mehr! Das Kreuz tut mir weh, und die Füße sind mir<br />

ganz<br />

abgestorben“.<br />

„Nun, es wird schon besser werden“, tröstete Thomas. „Etwas<br />

Warmes bekommen wir so früh hier noch nicht. Jetzt geh nur<br />

wieder schlafen. Die Uhr ist noch nicht halb 4“.<br />

„Wo wirst du aber bleiben?“ fragte Nebe. „Ich werde mir ein<br />

Lager hier auf der Bank am Fenster zurechtmachen“, antwortete<br />

Thomas. „Ich bin an solche Lagerstätten von meinen Reisen in<br />

Polen schon gewöhnt“.<br />

Nebe streckte sich behaglich auf seinem Lager aus und war bald<br />

eingeschlafen.<br />

Thomas richtete das Seinige, so gut es ging, auf der Bank ein<br />

und löschte das Licht. Er konnte aber trotz der Dunkelheit nicht<br />

einschlafen. Er hörte nach einiger Zeit Tritte in dem Torweg, dann<br />

wieder einzelne Worte in polnischer Sprache. Es fiel ihm ein, dass<br />

299


der Stall unverschlossen, Jasch wahrscheinlich noch im Heunickel<br />

in tiefem Schlafe läge und die polnische Grenze nahe sei. Er<br />

richtete sich auf und da er durch die erblindeten kleinen<br />

Fensterscheiben auf dem dunkeln Hofe nur unbestimmt einige<br />

Gestalten sich bewegen sah, die nicht weit von seinem Schlitten<br />

standen, so zog er ein Bündel Lumpen heraus, mit denen eine<br />

fehlende Fensterscheibe ersetzt war, um besser sehen zu können.<br />

„Er wird wohl gleich kommen“, hörte Thomas eine Stimme in<br />

polnischer Sprache sagen. In der neben der Kammer liegenden<br />

Küche wurde es lebendig. Durch das Fenster der Küche fiel<br />

ein<br />

Lichtschein auf den Hof.<br />

Nun, wenn die Leute hier schon auf sind, dachte Thomas, so<br />

würden die Polen wohl die Pferde nicht stehlen. Eben wollte er<br />

wieder die Lumpen in das zerbrochene Fenster stecken, <strong>als</strong> er<br />

viele Tritte durch<br />

den Torweg auf den Hof kommen hörte.<br />

„Ihr infames Bandenzeug“, hörte Thomas die Stimme des<br />

polnischen Schulmeisters, etwas gedämpft. „Warum kommt Ihr<br />

mir auf der Straße entgegen? Könnt Ihr nicht warten, bis ich auf<br />

den Hof komme? Ihr.“..<br />

Er wollte sich über den Hof in die Nähe des Stallgebäudes<br />

begeben, doch da kamen ihm die Leute von Thomas Schlitten her<br />

entgegen.<br />

„Herr Schulmeister“, hörte Thomas einen derselben sagen,<br />

„kommt nicht an den Stall, da liegt ein fremder Knecht, der<br />

kann<br />

aufwachen!“<br />

„Das muss auch das Donnerwetter“, sagte Schickedanz, „heut’<br />

morgen geht mir auch alles<br />

verkehrt. Na, kommt und stellt euch<br />

an das Haus. Lass aber gleich Ciecierski im Torweg aufpassen,<br />

dass wir nicht überrascht werden. Und du, Starkowski, geh an die<br />

Stalltür und komm es mir gleich sagen, wenn der fremde Knecht<br />

aufwacht“.<br />

„Ja, aber Herr Schulmeister“, sagte einer der Leute, „gebt mir<br />

nur zuerst mein Neujahrswachs und sagt mir, wie ich’s machen<br />

soll, dann werd’ ich schon aufpassen“.<br />

„Na, denn komm her, du Schnoddernase“, sagte Schickedanz<br />

ungeduldig.<br />

Sein Gesicht war vom Feuerschein aus der Küche rot beleuchtet.<br />

Um ihn herum standen die Polen. Er griff in die Tasche<br />

der<br />

Pelzhosen, zog einen kleinen Gegenstand und einen Papierstreifen<br />

hervor und sagte:<br />

„Zuerst Geld!“<br />

Der Pole nestelte an seinem Leibgurt, zog ein winziges<br />

Lederbeutelchen und reichte den Inhalt dem Schulmeister.<br />

300


„Es ist auch verflucht wenig“, sagte dieser, nachdem er die<br />

wenigen Kupfermünzen gezählt hatte. „Na, weil du es bist,<br />

Starkowski, so will ich es dir schon geben“.<br />

Er flüsterte dem aufmerksam horchenden Polen etwas in’s Ohr.<br />

„Hast verstanden?“ „Ja, Herr Schulmeister“,<br />

antwortete dieser.<br />

„Das Papier musst du auffressen, vergiss das nicht. Nun geh<br />

marsch auf deinen Posten und lass ja keine Weiber auf den Hof,<br />

die können ihr Maul nicht halten“.<br />

„Nun mir, nun mir!“, riefen die Polen flüsternd, sich an<br />

Schickedanz drängend.<br />

„Ihr seid ja wirklich wie das Vieh“, schimpfte dieser. „Ihr tretet<br />

mir die Zehen ab. Geht zurück, zuerst kommt der Ciecierski, dass<br />

er an die Stalltür gehen kann. Euch anderen werde ich schon<br />

rufen“.<br />

Der genannte trat mit dem Schulmeister ganz in die Nähe des<br />

Fensters.<br />

„Nun, was fehlt dir eigentlich?“ fragte dieser.<br />

„Mir fehlt nichts“, antwortete Ciecierski, „aber meine blaue Kuh<br />

gibt keine Milch und hat doch vor 3 Tagen gekalbt“.<br />

„Na, wenn’s weiter nichts ist“, sagte der Schulmeister wichtig,<br />

„dann hast du weiter nichts zu tun <strong>als</strong> einen Teller zu nehmen. In<br />

den legst du dies Papier<br />

mit den Buchstaben nach oben, und füllst<br />

den Teller mit Schmalz. Wenn es nicht mehr warm ist, nimmst auf<br />

die 4 Finger der linken Hand bei Sonnenaufgang eine<br />

Portion<br />

Schmalz und streichst der Kuh das Euter von oben nach unten<br />

9mal. Gerade mittags gehst wieder und machst<br />

es ebenso. Dann<br />

muss deine Frau melken. Die Milch, wenn’s noch so wenig ist,<br />

gießt du auf den Mist, den die Kuh zuletzt gemistet hat. Bei<br />

Sonnenuntergang machst wieder so und zwar alle Tage bis Heilige<br />

3 Könige. Dann musst du bei Sonnenaufgang der Kuh oben in das<br />

linke Horn ein Loch bohren. Dann nimmst du dies schmale Papier<br />

aus dem Teller, rollst es zusammen, dass die Buchstaben nach<br />

außen kommen, steckst es in das Bohrloch und verklebst es mit<br />

diesem Wachs. Geld brauchst mir heute nicht zu geben, aber von<br />

Jurginen<br />

ann ich dir <strong>jetzt</strong> schon sagen. Nun gehe schnell<br />

468 an bringst du mir immer Wochenmarkt - montags ein<br />

halb Pfund Butter bis zu Johanni 469 . Hast verstanden?“<br />

„Ach, Herr Schulmeister, das will ich gern tun“, sagte Ciecierski.<br />

„Wenn du mir nichts bringst, dann hört’s mit der Milch gleich<br />

wieder auf, das k<br />

468<br />

Wohl Jörgen(Georg) gemeint:23 . April<br />

469<br />

24. Juni<br />

301


an die Arbeit. Gebt mir nun zuerst einen Schluck, mir ist der H<strong>als</strong><br />

ganz trocken vom vielen Reden“.<br />

Eine ganze Anzahl Flaschen wurden ihm gereicht. Jeder der<br />

Spendenden lobte die Güte seines Getränks. Dann ging der Handel<br />

weiter.<br />

Thomas hatte genug gehört. Er steckte den Lumpenpfropfen<br />

leise in das zerschlagene Fenster und legte sich wieder nieder.<br />

Wie wär’s, dachte er, wenn ich die Frühmette besuchen würde?<br />

Esther würde gewiss auch in der Kirche sein, wenn ich auch wohl<br />

mit ihr nicht würde reden können, könnte ich doch wenigstens ihr<br />

holdes Angesicht sehen. Doch mit dem dunkeln<br />

Radmantel und<br />

dem dunkeln Hut kann ich doch nicht in die hell erleuchtete Kirche<br />

gehen. Da würde ich doch unter den Polen, die ihre unbezogenen<br />

Pelze oder hellgrauen Wandröcke 470 tragen, zu sehr auffallen und<br />

alle Augen auf mich ziehen.<br />

Er besann sich auf den polnischen Pelz, auf dem er lag und den<br />

er <strong>als</strong> Reserve-Pelzdecke mitgenommen hatte. Die Pelzmütze des<br />

Schwagers Nebe hatte eine entsprechende Ähnlichkeit mit einer<br />

Polenmütze. Während Thomas noch so seine Pläne machte, hörte<br />

er eilende Schritte über den Torweg auf den Hof kommen, und<br />

jemanden in polnischer Sprache rufen:<br />

„Herr Schulmeister, der Kirchenknecht geht schon mit seiner<br />

Laterne zur Kirche. Es ist die höchste Zeit!“<br />

„Das weiß ich auch der Deiwel!“, sagte Schickedanz, „Gehe,<br />

Lalowski, stecke mir meine Laterne an, ich werde gleich kommen“.<br />

Mit diesen Worten steckte er eine Hand voll Papiere in die<br />

Hosentasche und entfernte sich brummend.<br />

470 Wandrock: Rock aus grobem Wollenstoff (Want = Tuch)<br />

302


29. Weitere Erlebnisse und Einsichten während des Lyck-<br />

Aufenthalts und die vergebliche Brautwerbung um Esther<br />

Schwindovius.<br />

Thomas hatte bald seinen langen polnischen Pelz angezogen, die<br />

Mütze des Schwagers vom Nagel genommen und sie aufgesetzt.<br />

So trat er in den Torweg und ging mit den Polen durch die dunkle<br />

Straße der Kirche zu.<br />

Von allen Seiten kamen Männer und Weiber. Es standen auf der<br />

Straße viele Schlitten, deren Insassen dem Gotteshaus zueilten.<br />

Vor Thomas gingen einige Männer, in polnischer Sprache sich<br />

unterhaltend, deren Stimmen ihm bekannt vorkamen.<br />

„Du“, hörte Thomas den einen<br />

sagen, „der Schulmeister kann<br />

wirklich mehr, <strong>als</strong> Brot essen. Bei mir hat sein Neujahrswachs<br />

noch immer geholfen“.<br />

„Das macht“, sagte der andere, „weil er die Sprüche hat und<br />

dann werd’ ich dir auch sagen, von wem er sie hat. Heute ganz<br />

früh sah ich, wie er hinter der Sakristei im Winkel an der Kirche<br />

mit einem Schwarzen zusammen auf dem Kirchhof stand.<br />

Ich sah,<br />

wie der ihm etwas in die Hand gab, und wenn ich auch nicht<br />

Deutsch verstehe, hörte ich doch,<br />

wie der Schulmeister mehrm<strong>als</strong><br />

„danke“ sagte. Der wird ihm die Sprüche gebracht haben.<br />

Der<br />

Schulmeister hatte ja noch die ganze Tasche voll. Dann war der<br />

Schwarze verschwunden<br />

und der Schulmeister allein. Das geht<br />

nicht mit rechten Dingen zu aber, es schadet nichts. Bevor ich sein<br />

Wachs gebrauche, bete ich immer ein Vater Unser. Das hat mir<br />

noch mein seliger Großvater gesagt, dass ich es so machen soll“.<br />

Das Gedränge der Menschen wurde größer, je näher<br />

Thomas der<br />

Kirche kam. Die Fenster der Kirche erhellten sich allmählich immer<br />

mehr, doch blieb die Kirche verschlossen. Thomas wollte gern den<br />

Platz hinter dem Altar erlangen, wo er im Schatten desselben<br />

bleiben konnte und Esther etwa 20 Schritte entfernt in der Bank<br />

des Diakon ihm gegenüber sitzen würde. Er wollte, endlich an die<br />

Kirchtür gelangt, sich in die vordere Reihe drängen, doch da<br />

standen die Menschen eingekeilt<br />

nebeneinander. Schon wollte er<br />

den Weg durch die, wie er wusste, unverschlossene Sakristei<br />

nehmen. Er konnte aber nicht zurück,<br />

da andere Menschen<br />

nachdrängten. Da ertönten die Glocken, und der Schulmeister<br />

öffnete die Kirche. Alles drängte hinein. Die Altarkerzen<br />

beleuchteten das auf dem Altar liegende Tuch. Die Polen knieten<br />

nieder und drängten sich dann vorwärts, um das neue Tuch auf<br />

dem Altar zu bewundern. Dadurch bekam Thomas Raum und<br />

303


konnte hinter dem Altar an der einen Seite, bei ihnen vorbei,<br />

bequem zu dem gewünschten Platz gelangen. Jeder und Jede von<br />

den Kirchenbesuchern hatte ein oder mehrere Lichte mitgebracht.<br />

Diese wurden angezündet und <strong>als</strong> die Glocken schwiegen, strahlte<br />

die Kirche in hellem Glanz. Der Schulmeister sagte das Lied an: Te<br />

Deum laudamus<br />

ngen. Dann sprach er die zweite<br />

usw.<br />

ben von etwa 10 Jahren neben sich. Sie sah<br />

Gesangbuch. Nur einmal hob sie<br />

en Vater. Es kam Thomas vor, <strong>als</strong> ob er sie nie<br />

kon der Verstorbenen des vergangenen<br />

gen. Dann betrat der Diakon wieder den Altar<br />

ehen. Der Schulmeister beeilte<br />

nnten, außer wenigen<br />

ichtete die wunderschönen Augen, die<br />

Thomas im Wachen und Traum vor sich sah, auf seinen<br />

eingestickten Namen. Es war kein Zweifel, Thomas sah es genau.<br />

471 und begann sogleich, mit seiner näselnden<br />

Stimme die erste Strophe zu si<br />

Strophe vor, die von der Gemeinde gesungen wurde<br />

Da kam Esther durch den Hauptgang der Kirche auf den Altar zu<br />

geschritten, einen Kna<br />

weder nach rechts noch nach links, trat in den Stand des Diakons,<br />

kniete nieder und betete. Dann setzte sie sich nieder und sang mit<br />

dem Bruder, der ein buntes, gedrehtes Licht angezündet und<br />

aufgesteckt hatte, aus demselben<br />

die Augen, und es erschien Thomas so, <strong>als</strong> ob sie es auf seinem<br />

eingestickten Namen in der Ecke des Tuches ruhen ließ.<br />

Das Lied näherte sich seinem Ende. Der Diakon Schwindovius<br />

betrat den Altar. Die Gemeinde erhob sich. Esther blickte<br />

ehrfurchtsvoll auf d<br />

so schön gesehen hätte. Nur bleich, sehr bleich sah das holde<br />

Angesicht aus. Ihre Augen schienen in feuchtem Glanz zu<br />

schimmern, <strong>als</strong> der Dia<br />

Jahres in seinem Gebet gedachte.<br />

Darauf verließ der Diakon den Altar. Wieder wurde ein<br />

Neujahrslied vom Schulmeister angesagt, strophenweise<br />

vorgesagt und gesun<br />

und sprach den Segen über die Gemeinde, die ihn kniend empfing.<br />

Nach einigen Ausgangsversen war die Mette beendigt. Kniend<br />

sprachen die Anwesenden ein stilles Gebet und eilten, nachdem<br />

sie ihre Lichte ausgeblasen hatten, die Kirche zu verlassen.<br />

Thomas blieb hinter dem Altar st<br />

sich, auf den Chören und an den Pfeilern die Lichte auszulöschen<br />

und die Enden einzustecken. Bald bra<br />

Lichten, die vom Schulmeister auch noch gelöscht wurden, nur die<br />

6 Altarkerzen.<br />

Esther hatte lange in ihrer Bank gekniet. Jetzt stand sie auf,<br />

ging auf den Altar zu und kniete auf den Stufen desselben nieder.<br />

Sie erhob das Haupt und r<br />

471 Dich Gott loben wir.<br />

304


Sie betete inbrünstig, betete für ihn. Er stand wie verzaubert nur<br />

wenige Schritte von ihr im tiefen Schatten, während ihr Haupt wie<br />

mit einem Glorienschein von der strahlenden Helle beleuchtet war.<br />

Da kam Bernhard durch den Hauptgang herzugelaufen:<br />

„Esther! Esther!“ rief der Knabe, „willst du denn allein in der<br />

finsteren Kirche bleiben?<br />

Der Schulmeister kommt schon, die<br />

Altarlichte auslöschen“.<br />

Wirklich näherte sich dieser mit dem oben geschlossenen<br />

Trichter, der auf der Spitze eines Stockes befestigt war. Esther<br />

erhob sich. Thomas dachte daran, sie anzureden, doch in<br />

Gegenwart des Schulmeisters und ihres Bruders wollte er es nicht<br />

tun. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Auch besann er<br />

sich auf<br />

seinen Anzug, über welchen Esther doch gewiss sehr verwundert<br />

gewesen wäre. Er blieb <strong>als</strong>o still hinter dem Altar stehen.<br />

„Jungfer Esther“, sagte der Schulmeister, „erlaubt, dass ich<br />

meine Laterne anzünde, dann leuchte ich Euch vor, dass Ihr und<br />

Bernhard gut<br />

nach Hause kommt. Das polnische Volk fährt <strong>jetzt</strong><br />

wie toll und blind nach Hause, und es ist ziemlich finster“.<br />

Er führte die Geschwister<br />

zur Haupttür hinaus, die er nicht<br />

verschloss.<br />

Nur wenige Stunden noch holdes Mägdelein, dachte Thomas, so<br />

bist du mein, so Gott will.<br />

Im Krug angekommen, entledigte sich Thomas zuerst seines<br />

Pelzes und ging dann in die Krugstube. Hier herrschte<br />

ein wirres<br />

Durcheinander von Menschen, welche nach der Frühmette vor der<br />

Heimkehr sich noch etwas stärken wollten.<br />

Endlich kam Thomas an die Wirtin heran:<br />

„Besorge Sie uns etwas Warmes zum Frühstück“ , sagte er, „und<br />

schicke Sie es uns in die Kammer“.<br />

„Sehr gerne, Herr“, erwiderte die Frau, „aber Ihr müsst schon<br />

gütigst ein Stündchen warten, bis die<br />

Leute weg sind, sie rüsten<br />

sich schon“.<br />

Thomas ging in die Kammer zurück, hüllte sich in seinen Pelz,<br />

legte sich auf die Bank und schlummerte bald ein. Als er erwachte,<br />

stand der Schwager vor seinem Lager, der Wintertag brach eben<br />

an.<br />

„Du kannst gut schlafen“, sagte Nebe, „auf der harten schmalen<br />

Bank, aber <strong>jetzt</strong> steh’ auf, unsere Biersuppe und schönes Weißbrot<br />

stehen schon auf dem Tisch“.<br />

Thomas erhob sich. Die Kammer sah bei Tage noch wüster aus<br />

<strong>als</strong> bei Licht.<br />

305


„Guten Morgen, lieber Schwager“, sagte Thomas, „wie hast du<br />

denn geschlafen?“<br />

„Zuletzt ganz prächtig“, antwortete Nebe, „aber nun komm,<br />

damit unser Frühstück nicht kalt wird“.<br />

Nachdem Thomas sich gewaschen, setzten sich beide an den<br />

Tisch und genossen die Kochkunst der Wirtin.<br />

„Wie werden wir aber heute uns den Tag einrichten?“ fragte<br />

Thomas „Ich habe ermittelt, dass der deutsche Gottesdienst um 9<br />

beginnt. Dann folgt gleich der<br />

polnische Hauptgottesdienst und<br />

zuletzt die Vesper. Der Diakon ist auch in der deutschen Kirche<br />

beschäftigt, wenn auch der Erzpriester Breuer predigt. Die<br />

polnische Kirche hält der Diakon allein und sollte auch die Vesper<br />

halten, die hat ihm aber heute der Konrektor abgenommen. Ich<br />

denke <strong>als</strong>o, lieber<br />

Schwager, wenn es dir so recht ist, du gehst in<br />

meiner Angelegenheit zum Diakon, wenn zur Vesper geläutet wird.<br />

Ich fahre in der Zeit auf das Schloss, um mich dort wegen der<br />

Verpachtung der Fischerei auf dem See des Amts Lyck zu<br />

erkundigen. Ich hoffe, in 1½ bis 2 Stunden wirst du mir Antwort<br />

geben können!“<br />

„Hm, hm, das lässt sich hören“, meinte Nebe. „ Ich muss aber<br />

die beiden Kanzelredner hören. Ich habe lange keine Predigt von<br />

einem Fremden gehört“.<br />

„Das kannst du ja, lieber Schwager“, sagte Thomas, zur Uhr<br />

sehend. „Wir haben bis zum Beginn<br />

der deutschen Kirche noch ½<br />

Stunden<br />

Zeit. Ich will nur noch unser Mittagessen bestellen und<br />

nach den Pferden sehen. Sobald du fertig bist, können wir zur<br />

Kirche gehen“.<br />

Thomas suchte die Wirtin auf, die er in der Krugstube fand. Er<br />

bestellte, während der Wirt mit einigen deutschen Leuten vom<br />

Land sprach, die zur Kirche gekommen waren, das Mittagessen für<br />

die Zeit nach der polnischen Kirche. Darauf ging er in den Stall<br />

und fand Jasch beim Putzen der Pferde.<br />

„Nun, wie gefällt’s dir hier?“ fragte Thomas.<br />

„Es möchte angehen“, antwortete Jasch, „aber was das hier für<br />

neugierige Leute sind: Ich war noch nicht einmal aufgestanden, da<br />

ist der Wirt schon im Stall, besieht sich die Pferde, die Geschirre,<br />

geht dann den Schlitten abrevidiren<br />

, und er geht mit seiner<br />

Laterne ab. Na, denk ich, das kann mir gefallen! Ich bin doch<br />

schon oft und weit gereist, aber das ist mir doch noch nicht<br />

472 und kommt dann wieder in<br />

den Stall. Ich tue so, <strong>als</strong> wenn ich schlafe<br />

472 Überprüfen<br />

306


vorgekommen. Ich ging <strong>als</strong>o auch nicht in die Krugstube nach<br />

einer Laterne, sondern schüttete den Pferden ihr Futter im finstern<br />

ein. Kaum ist es ein wenig Tag geworden, da kommt die Wirtsche<br />

und fängt mich an auszufragen, von wo ich bin, wer der vornehme<br />

! Da muss sie wohl gedacht haben, ich<br />

tsch an. Ich aber zeigte auf<br />

einen<br />

, die Pferde zu<br />

in Quantum<br />

ntlich ab.<br />

nd Jasch sich die Hände wusch, schritt Thomas dem Haus<br />

hien, von einer Kinderhand.<br />

„Sieh einmal, was ich für einen Fund gemacht habe“ sagte<br />

Thomas eintretend. „Ich kann aus dem Latein nicht klug werden.<br />

Versuche du es, du Gelehrter“.<br />

„Zeige einmal her!“, sagte Nebe. „Hm, das scheinen mir einige<br />

Sätze aus einem Chronicon 473 Herr ist, der solch einen feinen Diener hat. Sie hält Euch, Herr<br />

Thomas, für den Diener und den Herrn Diakon Nebe für den Herrn.<br />

Sie fragte weiter, wo wir hinfahren und was weiß ich alles. Ich<br />

denke: Frag du nur<br />

verstehe nicht Polnisch und fing Deu<br />

meine beiden Ohren und schüttelte den Kopf.<br />

„Was das für ein Herr sein muss“, sagte sie, „hat<br />

taubstummen Kutscher und lässt sich vom Diener in der Nacht den<br />

teuersten Wein holen“.<br />

Kopfschüttelnd ging sie ab. Ich aber fing an<br />

putzen. Nun aber tut mir’s leid, dass ich taubstumm sein muss,<br />

denn ich bin schändlich hungrig und fordern kann ich <strong>als</strong><br />

Taubstummer nichts“.<br />

„Nun, Jasch“, sagte Thomas lächelnd, „deine Rolle <strong>als</strong><br />

taubstummer Kutscher musst du nun schon weiter spielen, aber<br />

an Verpflegung soll es dir nicht fehlen. Du bekommst noch eine<br />

große Schüssel Warmbier, Weißbrot genug und e<br />

Wein. Putze nach dem Frühstück die Pferde noch einmal über,<br />

klopfe auch die Decken aus und reibe die Geschirre orde<br />

Wir fahren gleich nach dem Mittagessen aufs Schloss zu dem<br />

Herrn Amtshauptmann. Jetzt komme nur mit hinein“.<br />

Währe<br />

zu und, da er den Schwager am Kammerfenster stehen sah, ging<br />

er auf dieses zu. Da sah er dicht an der Wand des Hauses an der<br />

Stelle, wo vor einigen Stunden der polnische Schulmeister stand,<br />

mehrere schmale beschriebene Papiere an der Erde liegen. Er hob<br />

sie auf. Es waren lateinische Worte darauf geschrieben zwischen<br />

Doppellinien, wie es sc<br />

zu sein“.<br />

Inzwischen sah Thomas seinen Jasch über den Hof kommen,<br />

öffnete die Tür zur Einfahrt, nickte ihn herein und zeigte auf den<br />

Frühstückstisch.<br />

473 Chronikon: Geschichtliche Abhandlung mit zeitlicher Abfolge der Ereignisse<br />

307


„Na, kannst du nicht mit ihm reden?“ fragte Nebe.<br />

„Ach nein“, sagte Thomas. „Der arme Jasch ist heute in der<br />

Nacht taubstumm geworden“.<br />

Daraufhin erzählte er, was ihm Jasch berichtet hatte.<br />

„Nun aber ist’s höchste Zeit, dass wir zur Kirche gehen. Hier ist<br />

dein Mantel“.<br />

Thomas legte dem lächelnden Schwager,<br />

wie es einem Diener<br />

ziemt, den Mantel um. Dann schritten beide, der Diakon, wie es<br />

dem Herrn zukommt, etwas voran zur rechten Seite, an den sich<br />

tief verneigenden Wirtsleuten vorbei,<br />

der Kirche zu.<br />

Bei dem nüchternen Tageslicht sah das Städtchen, das auf<br />

Thomas bei Mondschein mit den beschneiten Dächern einen recht<br />

guten Eindruck gemacht hatte, ziemlich kläglich und unscheinbar<br />

aus.<br />

„Hartknoch hat recht“, sagte Nebe. „Es ist ein<br />

schlecht gebauter<br />

Ort. Er hat kleine niedrige Häuser, dazwischen Ställe, in einer<br />

einzigen Hauptstraße“.<br />

„Das größte Haus dort“, sagte Thomas, „ist das Rathaus und<br />

dort weiter liegt die Provinzi<strong>als</strong>chule“.<br />

„Woher weißt du denn das? Warst du schon früher hier?“<br />

„Das sagte mir mein Freund, der Küster“. Die Glocken riefen die<br />

deutsche Gemeinde zum Hauptgottesdienst, doch nur sehr<br />

vereinzelt kamen einige Leute zur Kirche.<br />

Der polnische Schulmeister stand am Haupteingang, die Tür war<br />

noch geschlossen. Der Kantor Adamcovius kam mit Büchern<br />

unterm Arm eilig auf diese zugeschritten und rief, da das Geläute<br />

eben aufhörte, dem Küster zu:<br />

„Schnell, Schickedanz, mach Er mir die Tür auf“.<br />

„Was denkt Ihr denn, Herr Kantor“, erwiderte dieser trotzig, „bin<br />

ich Euer Despot<br />

„Wenn Ihr so gut sein möchtet, Herr Schulmeister“, sagte<br />

Thomas, „uns einen Platz anzuweisen, an dem wir niemanden<br />

474 ?“<br />

Kantor Adamcovius legte seine Bücher an die Erde und öffnete<br />

sich die Tür, indem er dem Küster einen wütenden Blick zuwarf.<br />

Schickedanz verneigte sich tief vor Thomas und seinem Begleiter<br />

und fragte nach ihren Befehlen.<br />

verdrängen und gut hören können, so würden wir Euch sehr<br />

dankbar sein. Aber weshalb habt Ihr dem Herrn Kantor nicht die<br />

Tür aufgemacht?“<br />

474<br />

Hier: Untertan,<br />

Untergebener<br />

308


„Na, Herr“, erwiderte Schickedanz, „der Kantor denkt, er hat mir<br />

etwas zu befehlen, und ich kann doch, wie Ihr wisst, ebenso gut<br />

Kirche halten wie der“.<br />

Mit tiefer Reverenz 475 führte er darauf die beiden Fremden in<br />

das ziemlich leere Gotteshaus. Er brachte ihnen zwei ziemlich<br />

unsaubere Gesangbücher. Das Eingangslied wurde eben vom<br />

Kantor angestimmt.<br />

Nebe und Thomas wohnten andächtig dem Gottesdienst bei,<br />

doch konnte er es nicht verhindern, dass er allmählich schläfrig<br />

wurde. Als nach beendetem deutschen Gottesdienst der polnische<br />

begann, verließ er seinen Schwager, der diesem noch beiwohnen<br />

wollte, um ein wenig zu schlafen.<br />

In die Kammer eingetreten, fand Thomas seinen Jasch mit dem<br />

Zusammenlegen der Decken beschäftigt.<br />

„Herr“, sagte dieser, „wenn wir doch in einem anderen Haus<br />

eingekehrt wären! Ich mag gehen, wohin ich will, immer passen<br />

auf mich auf, die Kinder, die Magd oder die Wirtin. Ich wollte<br />

einige male schon zu schimpfen anfangen, bis ich mich besann,<br />

dass ich taubstumm bin“.<br />

„Weißt du was“, sagte Thomas, „geh’ in die polnische Kirche. Du<br />

bist ja kein Heide, und dort wird niemand auf dich aufpassen. Die<br />

Kirche wirst du schon finden“.<br />

Jasch war damit sehr einverstanden und ging fröhlich los.<br />

Thomas sah nach den Pferden und begab sich in die Krugstube mit<br />

der leeren Lischke.<br />

„Möchte Sie nicht so gut sein, Frau Wirtin“, sagte er, „uns etwas<br />

zur Wegzehrung einzukaufen?“, indem er der Wirtin die Lischke<br />

hinreichte. „Ich kann den Kutscher nicht schicken, kaufe Sie nur,<br />

was Ihr gut dünkt“.<br />

„Ich weiß nicht, weshalb Ihr den Kutscher nicht schicken könnt,<br />

Herr“, sagte die Wirtin, „doch möcht’ ich Euch fragen“.<br />

„Gut, gut“, sagte Thomas, „mache Sie es nur, wie Sie will“. Er<br />

ging in die Kammer, legte sich nieder und war bald eingeschlafen.<br />

Thomas erwachte, <strong>als</strong> Nebe eintrat. Hinter ihm kam eine Magd,<br />

die den Tisch deckte und eine mächtige Schüssel mit Fleisch<br />

hinstellte.<br />

„Lass uns die Frau Wirtin doch 1 Stof des besten Weines und 2<br />

Gläser schicken“.<br />

„Die<br />

Predigt des Diakons hat mir ganz wohlgefallen“, sagte Nebe<br />

während<br />

des Essens. „Er sprach<br />

ganz schlicht und erbaulich. Vom<br />

475 Ehrerbietung<br />

309


Erzpriester kann ich das nicht gerade sagen. In seiner Predigt war<br />

zuviel Gelehrsamkeit. Doch kann man von einer einzelnen<br />

oratorischen 476 Leistung nicht urteilen. Er hatte sich fleißig<br />

vorbereitet. Wie hat er dir denn gefallen?“<br />

„Nun, soweit ich ein Urteil habe“, antwortete Thomas, „hat er<br />

die Patres 477 zuviel zitiert, so dass mir manches unverständlich<br />

war. Doch nun, lieber Schwager, lass uns anstoßen auf das gute<br />

Gelingen deiner Sendung bei Vater und Tochter“.<br />

„Von ganzem Herzen“, sagte Nebe, nachdem er sein Glas<br />

geleert hatte. „Um den Alten ist’s mir nicht weiter bange, wenn du<br />

nur mit der Tochter im Reinen bist“.<br />

Jetzt kam auch Jasch in die Kammer.<br />

„Herr“, sagte er, „es ist mir ganz lieb, dass ich bei Euch nicht<br />

das Maul halten muss. Wisst Ihr ganz etwas Neues? Ich habe den<br />

Herrn Kaplan, den wir auf der Reise von Königsberg unterwegs<br />

trafen, hier heute gesehen. Er ist es ganz gewiss gewesen. Ich<br />

passte gut auf, <strong>als</strong> er vom Altar herunterging: Das linke Bein, das<br />

er sich dam<strong>als</strong> unterwegs beschädigt hatte, war noch etwas steif.<br />

Wie mag der hergekommen sein?“<br />

„Nun, er wird wohl hier wohnen“, erwiderte Thomas lächelnd.<br />

„Das kann aber nicht gut möglich sein“, meinte Jasch. „Der<br />

Joseph hat mir doch gesagt, er ist in Oelk 478 zu Hause und wir sind<br />

doch nach Lyck gefahren und sind auch <strong>jetzt</strong> in Lyck“.<br />

„Das ist ja ein und derselbe Ort“, sagte Thomas, „die Polen<br />

nennen ihn Oelk und die Deutschen Lyck. Doch <strong>jetzt</strong> kannst du<br />

essen und dann anspannen“.<br />

Jasch ließ sich nicht weiter auffordern und vertilgte mit gutem<br />

Appetit die Reste des Mahles. Nebe war inzwischen, während<br />

Thomas ihm half, mit seinen Manschetten<br />

in der H<strong>als</strong>krause fertig<br />

geworden. Dieser legte ihm den Mantel um und beide gingen auf<br />

die Straße.<br />

„Sieh’, dort unten nicht weit vom Tor wohnt der Diakon. Du<br />

findest ihn sicher zu Hause. Nun, Gott gebe seinen<br />

Segen zu<br />

deinem Gang. Ich fahre <strong>jetzt</strong> aufs Schloss. Lebe inzwischen wohl<br />

und lass mich nicht zu lange in Ungewissheit“.<br />

„Wenn’s an mir liegt“, sagte Nebe, „so werde ich für dich<br />

sprechen wie ich für mich selbst sprechen würde“.<br />

476<br />

Rednerischen<br />

477<br />

Väter<br />

478<br />

Lyck<br />

310


Damit trennten sie sich. Thomas befahl Jasch anzuspannen,<br />

bezahlte die Zeche, legte die Lischke mit den eingekauften<br />

Victualien 479 , ohne sie oder die Rechnung weiter zu prüfen, in den<br />

Schlitten und fuhr auf den See.<br />

Das Schloss, welches Thomas in der hellen prachtvollen<br />

Winternacht auf seiner Insel ganz imposant vorgekommen war,<br />

erschien <strong>jetzt</strong> im hellen Schein der Mittagssonne alt, verfallen und<br />

schlecht gebaut. Die langen Brücken erschienen auch schon recht<br />

reparaturbedürftig zu sein. Thomas ließ an dem Wassertor halten,<br />

ging durch die offene Pforte desselben, kam in einen aufwärts<br />

führenden Gang zwischen Scheunen und Ställen und betrat bald<br />

darauf den mit unregelmäßig gebauten Gebäuden umgebenen Hof.<br />

Aus einer gewölbten Tür, im Erdgeschoss eines dieser Gebäude,<br />

trat ein alter Mann mit einem hölzernen Fuß. Wie es schien,<br />

handelte es sich um einen Amtsdiener.<br />

„Guter Freund“, redete ihn Thomas an, „sagt mir doch, wo ich<br />

zu dem Herrn Amtshauptmann komme!“<br />

„Hm“, sagte der Alte, „Juh seid wohl de Herr, wo med däm<br />

Schläde bes an dat Woaterdoor gekomme es, wie kunn Juh sick<br />

understoane, an dat kurfürstliche Schloss ohne Erlaubnis<br />

rentokoame. Es dat eene Oart, vom Woaterdoor renntokoame?“<br />

„Nun, Alter“, sagte Thomas, „wenn ich mit des Herrn<br />

Amtshauptmanns Gnaden zu tun habe, so muss ich doch wohl<br />

aufs Schloss kommen, wo er wohnt. Doch nun sagt mir, wie ich zu<br />

ihm gelangen kann“.<br />

„Wat war ek Juh noch väl wiese“.<br />

Ein großer Junge mit einem Stallbesen, durch das laute Reden<br />

des Alten herbeigezogen, trat in die Tür des Pferdestalles.<br />

„Mit dem alten bärbeißigen Mann ist gar nicht gut zu reden“,<br />

wendete sich Thomas in polnischer Sprache an ihn, „Du wirst mir<br />

wohl freundlicher Auskunft geben, mein Junge“.<br />

„Der alte Torwart Paskarbait 480 ist nur ärgerlich, dass Ihr, Herr,<br />

nicht auf der Brücke zum Schloss gefahren seid. Er murrt, dass<br />

ihm sein Sperrgroschen entgangen ist“, sagte der Junge.<br />

479<br />

Lebensmittel<br />

480<br />

Die Sprache, in welcher der Autor Anderson den litauischen Torwächter Paskarbait<br />

erzählen lässt, liegt in einer Version vor, die den sprachlichen Gegebenheiten des 17.Jhdts. in<br />

Preußen nur sehr vage entsprochen haben dürfte und die aufgrund der schlechten Lesbarkeit<br />

der Vorlage gar nicht oder nur ansatzweise zu rekonstruieren gewesen wäre. Deshalb hat sich<br />

der Bearbeiter entschlossen, bei der Textwiedergabe eine plattdeutsche Version anzubieten,<br />

die zumindest<br />

für ostpr. Leser aus dem <strong>Angerburg</strong>ischen am ehesten verständlich sein dürfte.<br />

311


„Wer wird aber auf der langen Brücke mit dem Schlitten<br />

fahren?“, fragte Thomas. „Es ist ja auf derselben gar kein Schnee!<br />

Doch dem Alten soll deshalb sein Sperrgeld nicht entgehen.<br />

Kommt her, alter Stelzfuß, und nehmt das Torgeld“.<br />

Der Alte war sogleich an Thomas Seite, und sein Gesicht<br />

verklärte sich, <strong>als</strong> dieser ihm eine Silbermünze reichte.<br />

„Nun, Alter, sagte Thomas lächelnd, „vielleicht könnt Ihr mir<br />

<strong>jetzt</strong> die Auskunft geben, wo ich den Herrn Amtshauptmann<br />

finde“.<br />

„Ach, gnädjer Herr,“ sagte der Stelzfuß, immer noch den Hut in<br />

der Hand, „verzeiht meine Unheflichkeit, des Herrn<br />

Amtshauptmanns Gnaden es nich to Hus, sintemalen Seine<br />

Gnaden zum Fest nach Junkerken 481 zu seinem Bruder, dem<br />

Leutnant Christoph v. Troschke gefahren und bis dato noch nich<br />

zurückgekomme es.<br />

„Das hättet Ihr, alter Esel, mir aber doch gleich sagen können.<br />

Ist denn nicht der Amtsschreiber zu Hause?“<br />

„Herr Amtsschreiber Nietzki es met sine Fru mette Schläde en<br />

de dietsche Kerch noa Lyck gefoare, ward oaberscht bol<br />

torickkoame. De dietsch Kerch es lang ut. He es man bi däm Herr<br />

Birgermeister on de dietsche Roatsherre to Niejoahr Glöck<br />

wensche“, erwiderte der Torwächter.<br />

„Dann will ich auf den Herrn Amtsschreiber warten“, entschied<br />

Thomas. „Doch sagt einmal Alter, Ihr dient wohl schon lange hier<br />

<strong>als</strong> Torwart auf dem Schlosse?“<br />

„Noa mine Räknung were et oppe Harwst 32 Joahr, dat mi de<br />

seelje Herr Amtshauptmann Melcher v. Rippen hier annähm, wie<br />

min Foot wäder heel wer“, sagte der Torwächter. 482<br />

„Wo habt ihr aber Eueren Fuß verloren, seid Ihr vom Fuder<br />

gefallen oder übergefahren?“ fragte Thomas.<br />

„Wat denkt Juh sich!“ erwiderte jener. „Terschoate häbbe em mi<br />

de verfloakte Pollakke!“<br />

„Aber ihr scheint doch, nach Eurer Sprache zu urteilen, nicht aus<br />

dieser Gegend zu sein“, sagte Thomas.<br />

Zur besseren Verständlichkeit wird im Anhang 2 auf Seite 523ff. noch eine, in’s Hochdeutsche<br />

übertragene Version beigegeben.<br />

481 Dorf im Kr.Rastenburg.<br />

482 Bei seiner Schilderung der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen,<br />

Schweden und Brandenburg-Preußen folgt Anderson weitestgehend den Ausführungen, die<br />

George Christoph Pisanski in der 1764 veröffentlichten „Nachricht von dem im Jahre 1656<br />

geschehenen Einfalle der Tataren in Preußen“ hinterlassen hat.<br />

312


„Es woar, Herr“, entgegnete der Alte, „ek ben eijentlich<br />

geboarner Lettauer ut Skirrawa (Schirren) zweschen Welawa 483 on<br />

Tilze 484 . Häb <strong>als</strong> Jung schon e beske Dietsch gelehrt. Nu had ek<br />

moal een Hauptauer 485 (Sturmbras segge wi) geschoate, kreech<br />

dat de Oberjägermeister to here, wulle mi opphänge; rennd ek<br />

wech, leet mi bi Soldoate enschriewe. Keem de Schwed enne Land<br />

wurd wi noa Welawa geschäckd, 400 Mann wer wi doa. Wer ganz<br />

good Quarteer, doacht mi, ware de Schwed nich anne Stadt<br />

rannkenne koame, es Pregel voar on Semp. Na, duert bes poar<br />

Woch voar Wiehnachte, es Pregel on Wäse reine blank Is. Duert<br />

nich wat, es de Schwed doa, had de Stadt beschlangt, schäckd<br />

Trompetersch, wi sulle sich gefange gäwe. De Offziersch steckde<br />

de Kepp tosamme, räde hen, räde her. Wat wer dat End vom<br />

Leed, mussd ons gefange gäwe! Wurde under schwedsche<br />

Rejimenter gesteckt. De meiste von ons keeme under de<br />

Riederhelmsche Hoakenschitze<br />

Dietsch, oaberscht de oarm Lettauer mang ons, de<br />

verstunde nich. Doa geef väl rejel! Wer doa ons Wachmeister<br />

Pastenaci, ganz gooder Mann sonst, oaberscht Schempe on Floake<br />

kunn allet<br />

486 . Vonne Schwede kunne manche<br />

ganz good<br />

de! Wer em nich kennd, mussd denke, he frett<br />

lebendig. Wer een stolze Mann, bild sich doarob wat enn, dat he<br />

met däm Kanzler Ossekoop odder Ochsestern 487 verwand wer.<br />

Ward woll de 10 te Woater vom Kisseel 488 gewäse sin, wie wi<br />

Lettauer segge. Na, de Mann mussd sich sehr ärgere, dat de<br />

lettsche Lied nuscht begriepe – nu wer ek bie em <strong>als</strong> Tulkos<br />

(Dolmetscher) on lehrd de Lied. Duert nich wat, mussde wi<br />

Hoakeschitze jegen Kenigsbarg marscheere. Jing emmer vorwerts,<br />

de Schwed had nich Angst vor Kill, bis voar Kenigsbarg, doa leech<br />

wi voare Stadt. Duert nich wat, keeme rut ute Stadt geräde grote<br />

Pulk Reitersch - Wachmeister meent an 600. Ride op de befroarne<br />

Wäse met stompe Perd 489 . Hest nich gesehne, sterze hän, kreeche<br />

Fier - wulle sich noch wehre - joa, jing nich. Wurde dotgeschloage<br />

483<br />

Welawa = Wehlau<br />

484<br />

Tilze = Tilsit<br />

485<br />

Auerochse<br />

486<br />

Hakenschützen waren mit Hakenbüchsen ausgestattete Fußtruppen. Diese Art von<br />

Gewehren mit langem Rohr war seit der Mitte des 15.Jhdts in Gebrauch gekommen.<br />

487<br />

Oxenstierna = schwedisches Adelsgeschlecht. Bedeutendster Vertreter war Graf Axel<br />

Gustavson Oxenstierna (1583-1654), seit 1612 schwedischer Reichskanzler.<br />

488<br />

Sprichwörtlich: entfernter Verwandtschaftsgrad<br />

489<br />

Pferde mit unbeschlagenen<br />

Hufen<br />

313


odder gefange. Poar keeme wech. Een Dach - wat kemmt doa an -<br />

väle Reitersch on Foahne - häst nich gesehne - alle Offziersch to<br />

hadde Fedderpusch oppe Kepp - schenste Dekk.<br />

h verdroage on<br />

he tosamme noa Poaleland. Wer good, dat wi Hoakeschitze nich<br />

edder hinder Ostrokoln 492 Perd! Onse Oberoffziersch riede entsjegen. Andre Offziersch leete<br />

Mannschaft anträde. Kemmt Schwedenkenig<br />

, wer man an de Grenz wenig<br />

groawe helpe on karre. Ohle Wachmeister<br />

Bleef nich oppe grote Stroaß, wer mi to jefährlich.<br />

490 gefoare en eenem<br />

Schläde. Perd<br />

Keeme Trabante met rode Reck, oppem Puckel met Gold<br />

utgemuscht. Trompetersch trompetete, Drommlersch drommelte.<br />

Wi mussde „Vivat!“ schrieje. Andere Dach mussd wi noa<br />

Kenigsbarg marscheere op blank Is. Doachte, ward Stadt<br />

gestörmt, oaberscht wi krieje Ordel, sulle torick. Wer schlecht<br />

ligge bute enne Winter. Duert nich wat, wurd voargeläse,<br />

Schwedenkenig had met Grote Kurförscht 491 sic<br />

te<br />

brukde metgoane. Hadde ganz goode Quarteer em Ermland. Jege<br />

Harwst heet et: De Pollak well in Preußen renfalle. Kreech wi<br />

Ordel, jliek mussd wi anne Grenz marscheere, emmer druf - geef<br />

underwägs wenig Ruhdach – on nich moal hier en Lyck. Mussde<br />

jliek w<br />

Landmilize. Mussde Schanze moake am Fleet Lyck. Een Bur kreech<br />

Prejel, mussd<br />

Pasternaci seggt: „Dummes Zeug. Wall ist viel zu niedrig, wird<br />

nich was helfen“. Stund doa bi Proske 493 een gemuerter Feiler 494 .<br />

Leech wi Hoakeschitze under onserm General-Major Riederhelm.<br />

Froagt Oberscht Rosen, wer von de Hoakeschitze riede on Dietsch<br />

verstund. Meld ek mi. Geef mi Oberscht sin Foss tom Riede Sulld<br />

riede noa Lyck bi Oberscht Auer; (vertell ek däm Mann wejen däm<br />

Sturmbras) on froage, ob he Nachrecht had von General<br />

Waldeck. 495<br />

Keem ganz good hen, emmer am Woater. Keem ent Schloss hier.<br />

Wer besett von Auersch Lied; broachte mi to em, hier op däm grot<br />

490<br />

König von Schweden war von 1654–1660 Karl X. Gustav.<br />

491<br />

Friedrich Wilhelm, 1640-1688 Kurfürst von Brandenburg und Herzog von Preußen, auch<br />

„Großer Kurfürst“ genannt.<br />

492<br />

Ostrokollen = Kirchdorf im Kr. Lyck<br />

493<br />

Prostken = Dorf im Kr.Lyck, am Lyckfluss gelegen. Hier wurde im Oktober 1656 das<br />

schwedisch-preußische Heer von den Polen und Tataren besiegt.<br />

494<br />

Gemeint ist hier wohl die bei Klein Prostken 1545 errichtete Grenzsäule. Diese markierte<br />

seinerzeit die Grenze zwischen dem Herzogtum Preußen und Litauen.<br />

495<br />

Graf Georg Friedrich von Waldeck (1620-1692) war ein berühmter Feldherr und<br />

Staatsmann des 17. Jhdts. Er stand von 1652-1658 im Dienst des Großen Kurfürsten. Als<br />

Verfechter einer protestanisch-antikaiserlichen Politik favorisierte er das Bündnis zwischen<br />

Brandenburg-Preußen und Schweden.<br />

314


Stoaw. Froag he mi ut on seggt, General Waldeck ward bol koame<br />

on wi sulle nich Angst häbbe voar de Pollakevolk. De Oberscht<br />

Rosen schäckd een Ordonanz nach de andre ut, se sulle riede, wat<br />

de Perd loape kenne, dat de Graf v. Waldeck bol ankoame micht.<br />

De Pollake sulle nich mehr wiet von de Grenz senn. Hadde wi<br />

schwoare Deenst, emmer Patrullen. Na, doa keeme poar<br />

Rejimenter an. Toerscht de Rieder under däm General<br />

Wallenrodt<br />

ullensteen, on 3 Brune. Had ek<br />

em ok Attalrie an.<br />

bi Stadt Lyck. Floakt<br />

Drommel. Jegen<br />

496 . De Herzog von Weimar 497 leech em Derp Ostrokoln,<br />

de Oberscht Brunnet en Proske. Weet Gott - wurdst nich recht<br />

kloak, wer de rechte Kommandeer wer, keem bol eener, bol de<br />

andre. De Oberoffziersch redde an de Grenz heromm on strede<br />

sich under enander. Duert nich wat, keem Nachrecht ut Poale.<br />

Verstunde schwedsche Hoakeschitze nich sehr, met Perd<br />

omtogoane, wurd ek kommandeert tom Oberscht Rosen. Had 4<br />

scheene Perd: 1 scheen Fochs, W<br />

liichte Deenst. Were goode Perd, futtert ek good. Oberscht Rosen<br />

schänkd mi e Doaler. Had ok goode Äte. Ke<br />

Were 6 Doppelhoake 498 , seggt Offiziersch von Attalrie, had Rad<br />

terbroake von eenem Doppelhoake dicht<br />

General Waldeck, wurd jliek Ordonanz geschäckd: Sulle<br />

Doppelhoake bringe opst Schloss, sull Stellmoaker koame on<br />

Schmäd, oarbede Dach on Nacht on toarechtmoake. Andere Dach<br />

es Sinndag. Bloase Trompetersch all ganz freeh. Mussde wi<br />

anträde, heel Feldprediger Predigt, stund oppe<br />

Dach keem onse Reiterpatrullje angejoagt, wiok man Perd renne<br />

kunne. Offziersch jliek entjäge, troffe sich nich wiet von ons.<br />

Moake Meldung, es hindre Barch allet schwart von Pollake-allet<br />

Reitersch. Duert nich, mussd Trompetersch bloase. Stelle wi sich<br />

op, keem Landmiliz an Fleet-Attalrie nich wiet davon. Wi<br />

Hoakeschitze on Footvelker, en langer schmaler Striemel-<br />

Offziersch riede em Galopp Linie runner. „Paß op Jurray,“ seggt<br />

Wachmeister Pasternaci to mi. Räppt mi emmer mette<br />

496 von Wallenrodt: ursprünglich aus Franken stammende Adelsfamilie. Aus dieser<br />

bekleideten seit der Ordenszeit und vor allem im 17.und 18. Jhdt. mehrere Angehörige hohe<br />

Verwaltungsposten in Preußen. An der Schlacht von Prostken war Heinrich v.Wallenrodt <strong>als</strong><br />

Oberst der Kavallerie beteiligt.<br />

497 Welchen Angehörigen der Herzöge von Sachsen-Weimar und Landgrafen zu Thüringen<br />

Anderson hier meint, ist nicht klar ersichtlich. Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar, einer<br />

der bekannten Feldherrn des Dreißigjährigen Krieges, lebte von 1604-1639.<br />

498 Doppelhaken waren nach Art der Hakenbüchsen konstruierte Feuerwaffen mit langem<br />

Lauf, aus denen Bleikugeln von 100-200 g abgeschossen wurden. Diese Feuerwaffen dienten<br />

vornehmlich der Verteidigung fester Plätze und wurden auf Büchsenwagen transportiert.<br />

315


Voarnoame, on ek heet Jurris. „Taugt nix“ - werden Linie<br />

durchbrechen!“ Duert nich lang, keeme angeredde wie de Diewel<br />

äwere Barch de Tartare<br />

, oaber holp nuscht, riede<br />

Rosen sin Foss! Ganz schwitzig on wild, de Saddel undere Buk.<br />

499 . Oberscht kommandeert: „Gabel<br />

einstecken! Hakenbüchs auflegen! Lunte hoch!“ Häst nich<br />

gesehne, es dat Heidevolk am Fleet, schoot onse Landmiliz. Holp<br />

nuscht, ren ent Woater, schwomme rever, kemmt emmer mehr<br />

Volk rop oppe Schanz. Perdkes kleddre wie de Katze - sin all bove<br />

mang onse Landmiliz. Kommandeert Oberscht Rosen: „Paßt op<br />

Hoakeschitz! Lunt-Fier!“ Fulle ok welche<br />

onsre Landmiliz äwre Hupe. Had wi wedder de Hoakebecks<br />

geloade, kommandeert Oberscht: „Rottenfeuer!“ Jeder schoot so<br />

geschwind he kunn. Oaberscht scheet du man! Schootst eenem<br />

dot von de schwarte Diewels, sen an sine Stell 20 andre. Riede op<br />

ons los - on häst nich gesehne, schoot dat Rackertieg de Fiele wie<br />

Hoagel. Doa sullst Mensch geschwind loade! Eener kreech anne<br />

Kopp, eener enne Brost, eener enne Feet. On doa were de Diewels<br />

ok all doa. Wi wehrde sich, wat wi kunne, oaberscht dat jing nich<br />

lang. De Oberscht wer dot, de Hauptlied dot. Ek had eenem Fiel<br />

enne Oarm, on dat linke Been wer mi ganz terschoate.<br />

Wachmeister had e Fiel em Puckel, on de Kopp wer em gespoole.<br />

Leech wi nich wiet ut enander. Keeme emmer mehr von de<br />

verfloakte Tartare, greepe sich de Perd on de Mensche Nu keeme<br />

noch de Pollake met ähre Schnutsboards on stramme Decke. Es e<br />

Wunder, dat se mi nich dot getrampelt häbbe. So leech wi bes<br />

Noameddag. Wachmeister derkrug sich on huckd sich hän, nehm e<br />

Dook, wull sich omme Kopp binde. Seggt ek „Wachmeister, läwt<br />

he noch?“ Seggt he: „ Jurray, verfluchter Schweinshund, komm<br />

her und hilf mir auf!“ Krok ek hän, deed mi sehr weh. „Teh doch<br />

däm Fiel ut dinem Oarm“ seggt he, packt an on reet em rut. „Nu<br />

verbind mir den Kopf“, seggt he. „Deit mi sehr weh, oaberscht<br />

verbind em! “ Nu moakt he sich an mi, reet mi de beide Fiel ut<br />

däm Foot, oaberscht eener broak aff. „Wat moak wi nu?” seggt he,<br />

„goane kenn wi nich, on ligge bliewe ok nich. De niederträchtige<br />

verfloakte Karnalje ward woll bol doa senn on ons dotschloage on<br />

utteene. Probeer doch moal, Jurray, ob Du nich wat to Äte findst.”<br />

Ek krok bi de Dodije. Rechtig, doa fund ek Brod on Worscht - ok<br />

Wien - on broacht em ok. Wi ete. Wat seh wi doa, kemmt<br />

angerennt min Wullensteener, däm dotgeschloagenen Oberscht<br />

499<br />

Die Tataren dienten <strong>als</strong> Hilfsvölker im Heer des polnischen Königs Johann Kasimir (1648-<br />

1668).<br />

316


Motte em woll geherig romgesprengt häbbe. Oaberscht griep<br />

eener däm man! Duert nich wiet, es min Foss bi de dodige<br />

Hoakenschitze, emmer mete Schnutz anne Erd. Piegd ek eenmoal<br />

de Hahn - he kennt dat - funk he jliek met de Ohre an to späle.<br />

„Wullensteener“, reep ek: Haha, nu kemmt he an. Leet sich von<br />

mi griepe; stragelt em, kloppt em, he kennd mi. Futtert em Brod,<br />

moakt em däm Gort los, fund noch enne Saddeltasch e Tennflasch<br />

met Wien. „Nanu“, säd ek, „Wachmeister, nu kommt, nu kenn wi<br />

vleicht doch noch ohn Dotgeschlage wechkoame“. Rechtig, ek help<br />

däm Wachmeister rop. Wer schwoar Steck Oarbeit, wer e<br />

schwoarer Mann. Nu ek ok rop oppe Foss. On nu ried wi beide op<br />

dem Fosse, emmer sachtches noa de Ellere. Sehne wi, doa brennt<br />

dat grote Derp Proske ok Ostrokole. Säd ek „Wachmeister, wat<br />

meen Juh, wie riede däm Wech noa dat Schloss Lyck, wo ek<br />

Medwoch herreede“. „Reit’, wohin Du willst, Du Himmelshund“,<br />

säd he on stähnd. He had mi angepackt on heel sich anne<br />

Kammhoar. Nu leet ek däm Foss de Welle. He kennd ganz good<br />

däm Wech, wo ek geredde wer. Broacht ons rechtig bes voaret<br />

Doar anne Zugbrigg. Wer dat Schloss good besett. Reepe ons to,<br />

wulle scheete. Doa min Wachmeister runn vonnem Perd.<br />

Schreech, se sulle däm Brigg runloate. Wer eener am Door, wo mi<br />

had biem Herrn Oberscht Auer<br />

d. Mussd em vertelle. He rut, geschwind enne<br />

er. „O, ging em good“, antwortete Paskarbait,<br />

in<br />

500 gebroacht.<br />

De kennd mi on däm Foss, reep eenem Offzier. De befoal, Brigg<br />

runtoloate. Nu wurd wi gefroagt; wer vleicht Steckers dree, se<br />

hadde däm Fierschien gesehne. Vertelld ek. Wachmeister wer half<br />

dot, had väl Bloot verloare. Broachte se mi biem Oberscht Auer,<br />

leech noch em Be<br />

Kleeder“. Thomas hatte mit steigendem Interesse der Erzählung<br />

des Alten gehorcht. „Wo blieb denn der Herr Wachtmeister<br />

Pastenaci?“ fragte<br />

„wurd ganz utgeheelt, kreech biem Amtshauptmann en Rhe<br />

goode Deenst. Fried sich en em Derp Joviorken 501 , nich wiet von<br />

Rhein. Wer e gooder Krooch. Sturf man voar 4 Joar. Sin Sän, de<br />

David, wohnt noch doa enne Krooch. Doa es he Derpscholt, geit<br />

em good“.<br />

500 Johann Georg von Auer (1619-1659). Oberst eines Dragonerregiments, der während der<br />

Tatareneinfälle u.a. die Burg Lyck verteidigte. Amtshauptmann von Lyck seit 1651, von<br />

<strong>Angerburg</strong> seit 1658. Sein Epitaph befindet sich noch heute in der <strong>Angerburg</strong>er Stadtkirche.<br />

das Leben von J. G. v. Auer in der Zeit des 2.schwed.-poln. Krieges wird sehr anschaulich im<br />

Buch „Der Reichsgottesritter“ von Frieda Busch nachgezeichnet.<br />

501 Joviorken = Jorkowen<br />

317


Epitaph - Johann Georg v. Auer in der <strong>Angerburg</strong>er Kirche (Aufn. 2008)<br />

Inzwischen war Thomas mit dem redseligen Alten durch den<br />

Schlosshof gegangen. Hier zeigte der Torwart ihm die Gebäude,<br />

die Wohnung des Amtshauptmanns, des Amtsschreibers, die<br />

Brauerei, den Amtsspeicher, Scheunen und andere<br />

Wirtschaftsgebäude. So waren sie allmählich auf die alte Mauer<br />

318


gekommen, die nach der Stadtseite zu mit ihren teilweise noch<br />

wohlerhaltenen Zinnen und dem dahinter liegenden<br />

Verteidigungsgang<br />

aus der Ordenszeit stammte. Von hier aus<br />

hatte Thomas in der hellen Nachmittagssonne eine sehr weite<br />

Aussicht fast über den ganzen See und einen weiten Strich des<br />

Ufers, das mit seinen Dörfern, Höfen, Wäldern und Hügeln eine<br />

anmutige Winterlandschaft zeigte. Der Alte machte Thomas auf<br />

die einzelnen Dörfer, die zu sehen waren, aufmerksam, und<br />

nannte deren Namen, hatte aber eben keinen sehr aufmerksamen<br />

Zuhörer. Thomas sah zur Uhr und meinte:<br />

„Nun Alter, es wird nicht lohnen, dass ich länger auf den Herrn<br />

Amtsschreiber warte“.<br />

„Ach Herr“, sagte der Alte, „doa kemmt all de Schläde von<br />

onsem Amtsschriewer ut de Stadt on doa ward et nich lang dure,<br />

es he doa“.<br />

Thomas stieg über den Schutthaufen in den Schlosshof zurück.<br />

„Aber sagt einmal, Paskarbait oder Jurras oder wie Ihr sonst<br />

heißt, Euer Schloss ist ja wie ausgestorben, außer Euch und dem<br />

Pferdejungen habe ich keinen Menschen gesehen?“ sagte Thomas.<br />

„Dat moakt Herr“, erwiderte jener, „hied es Fierdach, doa es<br />

allet po<strong>als</strong>che Deenstvolk enne Stadt jegange. Kemmt erscht<br />

jegen Oavend wedder. Doa kemmt de Schläde“.<br />

Ein einfacher Schlitten, auf dem ein alter Mann und eine<br />

korpulente alte Dame saßen, kam zwischen den Ställen hervor,<br />

fuhr über den Hof und hielt vor einer<br />

niedrigen Spitzbogentür des<br />

Hauptgebäudes. Der alte Herr rief mit lauter Stimme über den<br />

Hof.<br />

„Wo steckt denn der alte Paskarbait, kann er mir nicht die Leine<br />

abnehmen?“<br />

Der alte Torwächter eilte so schnell er konnte hinzu, während<br />

der Stalljunge sich von der anderen Seite näherte. Thomas trat an<br />

den Schlitten, um der alten korpulenten Dame beim Aussteigen<br />

behilflich zu sein, was ihm von ihrer Seite einen graziösen Knicks<br />

eintrug. Der alte Herr hatte inzwischen<br />

die Leine dem<br />

Dienstpersonal gegeben. Thomas reichte ihm die Hand, um ihm<br />

aus dem Schlitten zu helfen, und zugleich seinen<br />

Neujahrswunsch<br />

anbrachte.<br />

„Dem Herren dankend und seinen Neujahrswunsch erwidernd,<br />

stelle ich mich <strong>als</strong> Lyckschen Amtsschreiber Nietzki vor und frage<br />

zugleich bescheidentlich nach dem Begehr des Herren“, sagte der<br />

319


Amtsschreiber, sich verneigend und seinen Hut bis zur Erde<br />

schwenkend.<br />

Thomas verneigte sich gleichfalls, schwenkte seinen Hut zur<br />

Erde und sagte:<br />

„Dem Herrn Amtsschreiber für seine Freundlichkeit dankend,<br />

bitte ich höflichst um Entschuldigung, dass ich demselben heute,<br />

am heiligen Feiertag, mit meiner Gegenwart belästige. Ich wollte<br />

mich nämlich bescheidentlich erkundigt haben, wie es mit der<br />

künftigen Verpachtung der Fischereien des Kurfürstlichen Amtes<br />

gehalten werden wird“.<br />

„Bitte den Herrn, in meine geringe Wohnung einzutreten, wo ich<br />

demselben nach Kräften Auskunft zu geben mich bemühen<br />

werde“, sagte der Amtsschreiber.<br />

Mit diesen Worten bat er Thomas durch die Haustür in einen<br />

niedrigen gewölbten, mit Ziegeln gepflasterten Hausflur. Er öffnete<br />

eine der beiden Türen im Hintergrund und bat Thomas, durch<br />

diese einzutreten, während er selbst durch die andere Tür<br />

verschwand. Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, in das<br />

Thomas eintrat. Die Decke wurde durch ein Sterngewölbe<br />

gebildet. In der Mauer befanden sich zwei tiefe Nischen, die zu<br />

beiden Seiten der kleinen Fenster <strong>als</strong> Sitzbänke angebracht waren.<br />

Das Gemach war ziemlich dunkel für die Eintretenden. Ein Kamin,<br />

in dem große Holzscheite aufrecht gestellt waren und flackernde<br />

Flammen spielend Lichter auf den Boden warfen, reichte von der<br />

Erde bis zur gewölbten Decke.<br />

Der alten Dame wurden von einer bejahrten Dienerin ihr<br />

Spreittuch<br />

meinem lieben Schwestersohn aus Kopenhagen, wo er <strong>als</strong><br />

glich-dänischer Offizier in das Leibregiment aufgenommen ist.<br />

hätte das denken können, <strong>als</strong> mir vor 30 Jahren der<br />

502 und Gesangbuch abgenommen.<br />

„Dank Dir, Annemarie“, sagte die alte Dame. „Unser David hat<br />

an den Herrn Bürgermeister geschrieben“.<br />

Auf einer der Fensterbänke ließ sich die alte Dame nieder.<br />

Thomas schritt auf die Dame zu und brachte, sich tief verneigend,<br />

seinen Neujahrsglückwunsch dar. Die alte Dame dankte und bat<br />

Thomas, ihr gegenüber in einer der Fensternischen Platz zu<br />

nehmen. Ihr Mann würde recht bald erscheinen.<br />

„Hab heut zu Neujahr durch den Herrn Bürgermeister schon eine<br />

sehr angenehme Nachricht erhalten“, sagte sie. „ Sie ist von<br />

Köni<br />

Gott, wer<br />

502 Spreittuch: In Ostpreußen ein großes viereckiges wollenes Tuch von grüner Farbe. Früher<br />

ein bequemer Überwurf für die Frauen auf einem Spaziergang. (s. auch „Spreetuch“ FN 460)<br />

320


Bauer Grigo und sein Sohn Michel das zweijährige Kind, fast ganz<br />

nackt, jämmerlich und elend, hier aufs Schloss brachten, dass aus<br />

ihm noch ein dänischer Reiteroffizier werden würde, und dass ich<br />

noch die Freud’ erleben sollte, dass er sich verheiratet“.<br />

„Wie kam denn das aber, verehrte Dame, wenn es nicht zu<br />

unbescheiden ist zu fragen, dass das Knäblein so jämmerlich<br />

zugerichtet wurde?“ fragte Thomas teilnehmend.<br />

„Ach, lieber Herr“, erwiderte die alte Dame, „Ihr wart dam<strong>als</strong><br />

wohl noch nicht auf der Welt und werdet wohl nicht viel von dem<br />

Elend gehört haben, wie es vor mehr <strong>als</strong> 30 Jahren in unserem<br />

Amt Lyck hier zuging. Die Polen und Tataren haben hier gar<br />

grausam gewütet“.<br />

„Wenn ich auch keine Erinnerung mehr haben kann“, sagte<br />

Thomas, „da ich dam<strong>als</strong> nur einige Monate alt war, so weiß ich<br />

doch aus den Erzählungen meines Vaters, wie grausam die<br />

unmenschlichen Feinde in jener Zeit gewütet haben. Nachdem<br />

meine Vaterstadt <strong>Angerburg</strong> verbrannt war, mussten meine Eltern<br />

mit uns Kindern flüchten. Meine Mutter starb auf der Flucht, doch<br />

bin, ich durch Gottes Gnade erhalten“.<br />

„Euch ist’s ja dann ganz ähnlich gegangen wie meinem lieben<br />

Schwestersohn David Baranowski“, sagte die Amtsschreiberin.<br />

„Seht, meine älteste Schwester war mit dem Pfarrer Baranowski<br />

verheiratet, und <strong>als</strong> er Anno 1651 nach Kalllinowen <strong>als</strong> Pfarrer<br />

kam, war ich in ihrem Haus. Ich hab’ auch dort geheiratet. Es ging<br />

uns auch ganz gut, bis im Herbst Anno 1656. Wir dachten nicht,<br />

dass die kurfürstlichen Völker und die Schweden an der Grenze<br />

hinter Ostrokoln verlieren könnten, und blieben in Kallinowen 503 .<br />

Als aber die Bataille 504 verloren war, die Schweden und<br />

Brandenburger auf der Flucht, und die Polen und Tataren hier alle<br />

Dörfer in Brand gesteckt, die Menschen erschlagen und Menschen<br />

und Vieh weggeführt hatten, konnten mein Schwager, seine Frau<br />

und seine Kinder nicht nach Lyck zu uns durchkommen. Sie<br />

wussten auch nicht, ob das Schloss noch stand, denn die ganze<br />

Stadt Lyck war so heruntergebrannt, dass kaum die Stelle zu<br />

erkennen war, wo die Stadt gestanden hatte. Als nun die Tataren<br />

mit ihren schnellen Pferden in’s Kirchspiel Kallinowen einbrachen,<br />

wo sie etwa 800 Menschen (13 Schock Leute) teils niedergehauen,<br />

teils in die Sklaverei weggeführt hatten, hat sich mein Schwager<br />

503<br />

Bis 1938 hieß dieses Dorf im Kr. Lyck Kallinowen, danach Dreimühlen.<br />

504<br />

Bataille = Schlacht<br />

321


mit den Seinigen nach Czichen 505 geflüchtet, in der Absicht, sich in<br />

den Wäldern zu verbergen. Weil sie aber alle sehr hungrig<br />

gewesen sind, gingen sie zu dem damaligen Pfarrer Rode in<br />

Czichen, der früher Diakonus in Kallinowen gewesen war, um<br />

etwas Speise zu sich zu nehmen. Während sie aber noch in aller<br />

Eile etwas aßen, hörten sie das Geschrei: Die Tataren sind schon<br />

im Dorf. Sie eilen, so schnell sie können, zum Wald. Bevor sie den<br />

aber noch erreichen, sind die Tataren mit ihren Pferden ihnen<br />

schon nah und schleppen den Mann, meine Schwester und die<br />

Kinder weg. Der kleinste Junge von 2 Jahren aber wurde nicht<br />

mitgenommen, den schleuderte ein Tatar an einen Baum und ließ<br />

ihn liegen. Den Leuten im Wald konnten die Tataren nicht leicht<br />

beikommen, sie ritten nach Czichen zurück und wollten die Kirche<br />

anstecken. Sie hatten auch schon die Bänke herausgeholt und<br />

übereinander geschichtet, dass sie besser brennen sollten. Da sah<br />

ein Tatar das Bild der Mutter Maria mit dem Jesuskind auf dem<br />

Arm und dachte, es sei eine katholische Kirche. Sie wollten die<br />

Polen nicht erzürnen, und so wurde die Kirche nicht verbrannt. Die<br />

Tataren hatten alles ausgeraubt und dann das große Dorf Czichen<br />

angesteckt und zogen ab mit ihren Gefangenen. Der Pfarrer Rode<br />

hatte die Geistesgegenwart gehabt, sich schnell in polnische<br />

Tracht zu kleiden und war mitten durch die Feinde entkommen.<br />

Als die Tataren abgezogen waren, um an anderen Stellen<br />

ihr<br />

blutiges Handwerk weiter zu treiben, kamen die Leute aus dem<br />

Wald heraus und fanden<br />

meinen armen Schwestersohn schreiend<br />

unter dem Baum liegen. Sie hoben das Kind auf und brachten es<br />

zum Herrn Pfarrer Rode. Der konnte es nicht behalten, weil er<br />

ganz ausgeplündert war. Er fand in der Sakristei noch ein Blatt<br />

Papier, schrieb mir, wie es den Meiningen gegangen war, und<br />

schickte mir das Kind meiner Schwester, da er erfahren hatte,<br />

dass das Schloss Lyck noch stand und wir noch lebten.<br />

Ich bekam einen schönen Schrecken, <strong>als</strong> der Bauer Grigo mir<br />

das Kindchen im Puckelkorb 506 anbrachte. Ach Gott, wie sah mein<br />

Patchen aus: Nichts <strong>als</strong> das Hemdchen hatten die Banditen ihm<br />

gelassen. Ich kannte es ganz gut, denn ich hatte es ihm selbst<br />

genäht. Als mir mein Mann den Zettel vom Diakon Rode vorlas, da<br />

sagte ich gleich:<br />

505<br />

Czychen, später Bolken, Kr. Treuburg.<br />

506<br />

Korb, der auf dem Rücken<br />

getragen wurde<br />

322


Nietzki, das ist unser Kind. Wir haben beide <strong>als</strong> Brautleut bei<br />

ihm Patchen gestanden. Wir behalten es, bis seine Eltern<br />

wiederkommen“.<br />

„Sind denn die Eltern wieder zurückgekehrt?“ fragte Thomas.<br />

„Ach nein, lieber Herr“, antwortete die alte Dame mit tränenden<br />

Augen, „die Familie ist gleich getrennt worden. Meine arme<br />

Schwester und die Töchter sind wahrscheinlich beim Übersetzen<br />

über die Ströme ertrunken. Von meinem Schwager, dem Pfarrer<br />

Baranowski, bekamen wir vor ungefähr 15 Jahren Nachricht. Da<br />

kam ein geborener Lycker, der Kornet Kozik, der in Konstantinopel<br />

gewesen (er nannte sich gern Kazickowski), der jüngste<br />

Sohn von<br />

dem alten Ratsverwandten Kozik aus Lyck, seine alte Mutter<br />

besuchen. Der erzählte, dass<br />

der Schwager Baranowius von den<br />

Tataren<br />

auf die Galeeren verkauft ist. Auch hat er von einem<br />

Landsmann aus Preußen, einem Kapitän, der in venetianischen<br />

Diensten gestanden, gehört, dass der Schwager auf der Insel<br />

Kreta verstorben sein soll und<br />

dass ihn dort griechische Christen<br />

begraben haben. Nun kamen aber, es können wohl an 8 oder 9<br />

Jahre her sein, zwei alte Pracher<br />

schen Kirchspiel in die Sklaverei geschleppt, hätten<br />

utet,<br />

tte, so gehörnt, das Vieh hüten müssen. Nach<br />

n will,<br />

nicht möglich sein“, meinte Thomas,<br />

hädel<br />

507 , die sagten, sie sind aus dem<br />

Kallinowen<br />

endlich weglaufen können und sich nach Preußen durchgebettelt.<br />

Natürlich fragten wir sie, ob sie dam<strong>als</strong> nichts von ihrem Herrn<br />

Pfarrer erfahren hätten. Da sagte der eine von den Prachern, er<br />

hätte gehört, dass die Tataren meinem Schwager in der Tartarei,<br />

weil er Baranowius hieß, was auf Deutsch ein Schafbock bede<br />

die Haut vom Kopf mit den Haaren heruntergeledert und ihm das<br />

Fell von einem frisch geschlachteten Schafbock mit den beiden<br />

Hörnern übergezogen haben sollen. Diese solle auch angewachsen<br />

sein, und er hä<br />

einigen Jahren soll Baranowius, wie der Pracher gehört habe<br />

von einem nach Konstantinopel reisenden Fürsten Radziwill 508 aus<br />

der Dienstbarkeit losgekauft worden sein. Die Hörner aber wären<br />

am Haupt fest angewachsen gewesen, und er wäre auch bald<br />

gestorben und in der Kasimiruskirche in Wilda 509 begraben“.<br />

„Das kann denn aber doch<br />

„dass eine Schafhaut auf einem blutigen Menschensc<br />

festwächst“.<br />

507<br />

Bettler<br />

508<br />

In Litauen und Polen sehr begütertes und einflussreiches Adelsgeschlecht.<br />

509<br />

Gemeint ist Wilna, die Hauptstadt Litauens.<br />

323


„Ich wollt’s auch nicht glauben“, sagte die Frau Amtsschreiberin,<br />

„fragte aber doch unsern Herrn Erzpriester Matthäus Breuer, der<br />

vor 10 Jahren Prediger in Wilda gewesen war, und vor 4 Jahren<br />

herkam, ob er in Wilda gehört hat, dass ein Mann mit Hörnern in<br />

der Kasimiruskirche begraben sei. So etwas würde doch in der<br />

Stadt bekannt werden. Er hatte aber nie davon gehört. Er sagte<br />

auch, unter den 16 Kirchen Wilda’s befände sich keine<br />

Kasimiruskirche, sondern in der prächtigen Schlosskirche wäre<br />

eine Kapelle des Heiligen Kasimir 510 , die einen großen Schatz<br />

verwahre. Allein der silberne Sarg des Heiligen soll 30 Zentner<br />

wiegen“.<br />

„Nun erlebt Ihr doch an Eurem Schwestersohn viel Freude“ ,<br />

sagte Thomas.<br />

„Ach, lieber Herr“, sagte die alte Dame, „das arme Kind blieb ja<br />

lahm, weil ihm die Hüfte ausgerenkt war. Wir dachten anfangs,<br />

das Kind ist nur so kraftlos, dass es immer<br />

liegen wollte. Als es<br />

sich aber etwas erholt hatte, da war es zu spät noch zu heilen“.<br />

„Da wundere ich mich aber gar sehr, dass der junge Herr trotz<br />

seiner Lahmheit Soldat geworden ist“,<br />

meinte Thomas.<br />

„Ja, weiß Gott, woher der Junge die Lust dazu, von frühester<br />

Kindheit an hat“, sagte die Frau. „Seines Vaters Voreltern und<br />

meine Voreltern sind doch alle aus dem geistlichen Stande<br />

gewesen, aber der Junge war immer, wenn er nur abkommen<br />

konnte, bei dem alten Paskarbait oder<br />

im Stalle. Reiten konnte er,<br />

<strong>als</strong> er noch eine kleine Krabbe war, die wildesten Pferde. Der Herr<br />

Amtshauptmann Melcher v. Rippen hatte auch an ihm einen<br />

Narren gefressen und ließ ihm alles durchgehen. Tüchtig ist der<br />

David aber gewesen, hat fleißig die lateinische Schule besucht.<br />

Mein Mann meinte, er könnte doch, wenn er auch lahm bliebe,<br />

ein<br />

tüchtiger Amtsschreiber werden. Er nahm ihn auch in die<br />

Schreiberei, aber weiß Gott, es ging nicht recht. Er musste<br />

manchmal verzweifeln,<br />

wenn Nietzki mit ihm unzufrieden war, das<br />

war schlimm. Eines Morgens ist mein Junge fort. Nun hat er auch<br />

nicht an uns geschrieben, sondern an unsern alten Freund, den<br />

Bürgermeister. Aber welche Freud’, dass er noch lebt und<br />

königlich dänischer Offizier ist“.<br />

510 In dieser Kapelle ist Fürst Kasimir (1458 – 1484) nach seiner Heiligsprechung im Jahre<br />

1602 beigesetzt worden. Er war der Enkelsohn von Jagiello Wladislaw II., des Großfürsten<br />

von Litauen (seit 1377) und Königs von Polen (1386 – 1434.)<br />

324


Der Amtsschreiber Nietzki war unbemerkt von seiner Frau, mit<br />

einem Aktenbündel eingetreten.<br />

„Da singt meine Alte wieder“, sagte er lächelnd zu Thomas, „ein<br />

Loblied auf ihren Pflegesohn Baranowius“.<br />

„Nun, Alter“, sagte die Frau, „soll ich mich denn<br />

nicht freuen,<br />

dass aus dem David doch noch etwas rechtes geworden ist, und<br />

dass deine Prophezeiungen nicht erfüllt sind? Du siehst ja doch,<br />

dass er an uns denkt und nur sich fürchtet, an dich zu schreiben,<br />

weil er deine Gesinnung nicht kennt“.<br />

„Ihr habt wahrlich, samt Eurer Frau, viel an dem jungen Herrn<br />

getan, Herr Amtsschreiber“, sagte Thomas.<br />

„Ach, später wär’s uns nicht so schwer gefallen“, meinte Nietzki,<br />

„da hatten wir’s schon eher dazu, aber dam<strong>als</strong>, ach Du mein Gott,<br />

da war das ganze Amt eine reine Wüstenei. Schon Anno 1655<br />

hatte eine Partei schwedischer Husaren von der Stadt Lyck eine<br />

ansehnliche<br />

Summe erpresst. Wieviel ist nicht recht bekannt<br />

geworden. Jeder von den Bürgern sollte hunderte von Gulden<br />

geben. Der Erzpriester Magister Oye, er ist vor 10 Jahren <strong>als</strong><br />

Erzpriester in Saalfeld gestorben, musste 300 Gulden erlegen, das<br />

weiß ich gewiss, sonst hätten die schwedischen Husaren ihm die<br />

Widdem angesteckt. Die Dörfer wurden auch schändlich<br />

mitgenommen, wenn der Zins schlecht einkam. Mancher mag sich<br />

auch herausgelogen haben.<br />

Das Jahr darauf Anno 1656 kamen die brandenburgschen und<br />

schwedischen Kriegsvölker her an die Grenze. Da sollte der<br />

Amtsschreiber alles schaffen und es war doch kein Geld da. Was<br />

noch dagewesen war, das hatte der Herr Amtshauptmann v.<br />

Auer<br />

Brandenburger geschlagen und<br />

hlacht, ich weiß es noch<br />

511 genommen, um Soldaten anzuwerben, das Schloss Lyck zu<br />

verteidigen. Er bekam auch etwa 200 Mann zusammen, auch noch<br />

einiges brandenburgsches Volk. Er wurde ihr Oberst und besetzte<br />

das Schloss. Die vielen Münder aber satt zu machen, das war<br />

keine Kleinigkeit. Wir dachten, es wird nicht lange dauern, so<br />

würden die verfluchten Pollaken geschlagen sein. Doch wurden<br />

leider Gottes die Schweden und<br />

die geschlagene Armee kam nach Lyck. Sie ließen aber nur die<br />

ersten in’s Schloss, die andern mussten weiter. Oberst v. Auer<br />

sagte, er braucht sie nicht, er würde schon das Schloss halten. Er<br />

hatte so schon viele Flüchtlinge aus der Stadt Lyck aufnehmen<br />

müssen. Alle Ställe lagen voll, nur wenige hatten etwas zu essen<br />

mitgebracht. Gleich am Tag nach der Sc<br />

511 S. FN 500<br />

325


wie heute, war Montag. Da sind die Pollaken und die Tataren<br />

schon in der Stadt. Wir konnten das Kreischen und Geschrei der<br />

Menschen deutlich hören, aber konnten ihnen nicht helfen. Die<br />

Tataren plünderten die Häuser aus, schlugen die armen Menschen<br />

tot oder schleppten sie gefangen halb oder ganz nackt weg.<br />

Dann steckten sie die Stadt an allen Ecken an. Nun wollten sie in’s<br />

Schloss und ritten auch mit den Pferden in den See. Andere<br />

stürmten auf die lange Brücke. Da war eine schwedische Kanone<br />

mit einem Rad. Ein schwedischer<br />

Wachtmeister von den<br />

Hakenschützen ging zum Oberst v. Auer und bat ihn, er möchte<br />

ihm erlauben,<br />

das Geschütz zu richten. Sie schleppten den<br />

Doppelhaken<br />

a hatten die beiden wieder geladen und wieder in<br />

ieh und die<br />

n die Schäferei zu Neuendorf<br />

mliegenden Dörfern. Zudem hatten die angeworbenen<br />

r<br />

512 den Schuttberg hinauf auf die Mauer. Der<br />

Wachtmeister und der Paskarbait laden, richten, und schießen nun<br />

in den dicksten Haufen auf der Brücke. Sie hatten gut gezielt. Die<br />

Pollaken gingen gleich zurück und hielten Beratung am Eingang<br />

zur Brücke. D<br />

den Haufen geschossen, dass sie auseinandersprengten. Nun<br />

schossen auch die Leute von der Besatzung. Da ritten die Tataren<br />

aus dem See und fort. Sie kriegten noch einige Kugeln<br />

nachgeschickt. Ich hatte gedacht, wir werden uns das vorrätige<br />

Getreide vom Vorwerk Lyck holen, auch das Vieh allmählich<br />

schlachten. Da hatte aber das Gesindel schon das V<br />

Menschen mitgenommen und die Gebäude, Schoppen und<br />

Scheunen mit allem vorrätigen Getreide verbrannt. Noch<br />

denselben Abend steckten die Bandite<br />

an. Es waren da 1000 Schafe. Ich hab’ seitdem so viele nicht mehr<br />

erlangen können. In der Nacht sahen wir überall den Feuerschein<br />

von den u<br />

Soldaten mir den Bierkeller aufgebrochen. Sie waren alle besoffen,<br />

tobten und wollten keinem Menschen gehorchen. Nun noch dazu<br />

das Angstgeschrei der Flüchtlinge aus der Stadt, mit denen die<br />

Besoffenen ihren Mutwillen trieben. Am andern Morgen ließ de<br />

512<br />

Doppelhaken: Schwere Gewehre mit angeschmiedeten Haken im Bereich des vorderen<br />

Laufdrittels, welche diesen Waffen ihren Namen gaben. Mit diesen Haken konnten die Waffen<br />

zur Abminderung des erheblichen Rückstoßes in ein an der Mauerbrüstung oder Schießscharte<br />

angebrachtes Prellholz eingehängt werden. Doppelhaken wurden weniger im Feld, sondern<br />

häufig zur Verteidigung fester Plätze eingesetzt. Mit ihnen konnten großkalibrige Bleikugeln<br />

relativ zielgenau auf größere Entfernungen verschossen werden. Diese eigneten sich z. B. zum<br />

Beschuss feindlicher Artilleriestellungen, da bei einem Kaliber zwischen 24-28 mm und einem<br />

Kugelgewicht von bis zu einem 1/4 Pfund Blei, selbst erdgefüllte Schanzkörbe oder<br />

Bohlenverhaue<br />

durchschossen werden konnten.<br />

326


Oberst Hans Georg v. Auer die Haupträdelsführer erschießen, da<br />

wurde es etwas ruhiger. Ich war aber doch sehr froh, <strong>als</strong> der<br />

General Waldeck ihm nach 8 Tagen von Lötzen aus den Befehl<br />

schickte, mit allem seinem Kriegsvolk zu ihm zu stoßen. Dieses<br />

fremde Volk waren wir nun zwar los, aber Elend und Not war bei<br />

uns zurückgeblieben. Der Amtshauptmann v. Auer kam nicht mehr<br />

zurück. Alle kamen zu mir, jeder wollte was haben und keiner<br />

brachte was. Im Amt Lyck waren 67 Dörfer vollständig abgebrannt<br />

und viele Huben wüst geworden. Die wenigen übriggebliebenen<br />

Einwohner waren in die äußerste Dürftigkeit geraten. Dazu kam<br />

noch die Hungersnot und das Sterben unter Menschen und dem<br />

Vieh, das übrig geblieben war. Es war ein Glück, dass wir<br />

wenigstens bei der Winterfischerei so viel fingen, dass wir Fische<br />

hatten. Im Frühjahr fing die Not erst recht an. Niemand hatte Saat<br />

und Brot, auch kein Angespann. Manche von den kurfürstlichen<br />

Untertanen entliefen nach Polen. Der neue Amtshauptmann<br />

Melcher v. Rippen, der im Jahr 1657 ankam, schlug die Hände<br />

über dem Kopf zusammen. Es war nichts vorhanden<br />

und Geld war<br />

schon gar nicht einzubekommen. Hab auch erst Anno 1658 die<br />

Amtsrechnung gelegt, da mussten über neuntehalbhundert Mark<br />

an Geld, gegen 9 Last<br />

Abgaben zugestanden waren. Die geringe<br />

em Kamin hätte er<br />

u viel<br />

die Berechtigung, mit kleinem Zeuge zu fischen,<br />

dann der Rostker See, der Druglinsee, der Mirzowkasee“.<br />

513 Weizen, an 10 Last Roggen, über 18<br />

Last Hafer, drittehalb Stein Wachs, mehr <strong>als</strong> 2000 Zinshühner,<br />

über 70 Gänse und 200 Achtel Holz niedergeschlagen werden.<br />

Von der Stadt Lyck kam auch kein Zins ein, da ihr zur Aufbauung<br />

drei Freijahre von allen<br />

Einahme war in den 2 Jahren nur 30 Mark. Darum konnte der<br />

Amtshauptmann v. Rippen erst 1669 daran denken, das verfallene<br />

Schloss ein wenig auszubauen. Ja ja, das waren trübselige Zeiten.<br />

Die beiden langen Brücken wären viel nötiger zu bauen gewesen,<br />

die sollten vom Torgeld an den 4 Jahrmärkten in Lyck unterhalten<br />

werden. Es kam aber jämmerlich wenig ein. Der Amtshauptmann<br />

hätte aber auch nicht solche große Zimmer und solche Fenster<br />

gebraucht. Den sehr geräumigen Saal mit d<br />

auch nicht bauen dürfen“.<br />

„Ich habe genug geredet, und dem Herrn schon z<br />

vorgeplappert. Wenn es Ihm gefällig ist, so zeigte ich ihm die<br />

bisherigen Kontrakte: Da ist zuerst der See Somnau, in dem hat<br />

die Stadt Lyck<br />

513<br />

Durchschnittlich entsprachen 1 Last<br />

ca. 60 Scheffel; 1 Stein 22-40 Pfund. Erläuterung zu<br />

Holzmaßen S. FN 286.<br />

327


„Diese Seen liegen mir etwas weit von <strong>Angerburg</strong>“, meinte<br />

Thomas bedenklich.<br />

„Nun, dann nehmt doch nur die zum Amte Arys gehörigen Seen<br />

in Pacht“, sagte der Amtsschreiber. „Das sind ein kleiner Teil der<br />

Seen: 1. Spirdingsee, 2. Terklosee, 3. Tuchliansee, 4.<br />

Mietzkowkasee, 5. Ragelsee, 6. Druglinsee, 7. Tillewosee, 8.<br />

Lipinskensee, 9. Krachsteinsee, 10. Sdedensee, 11. Kostkensee,<br />

12. Aryser See, 13. Leymosee, 14. Christsee, 15. Kallensee, 16.<br />

Biallasee. Diese enthalten zusammen circa 216 Winterzüge“.<br />

Der Amtsschreiber<br />

legte nun die Kontrakte vor und Thomas<br />

notierte sich die bisherigen Pachtsummen in sein Journal. Die Frau<br />

hatte unterdessen Backwerk und Met herbeigebracht. Thomas<br />

stieß auf das Wohlsein des alten Ehepaares, ihres Sohnes<br />

Christoph, ihres Enkels Michael und des dänischen Offiziers<br />

Baranowski an. Nach wortreichem Abschied und verschiedenen<br />

Komplimenten von beiden Seiten empfahl sich Thomas, da die<br />

Sonne im Südwesten schon nicht mehr hoch über dem Horizont<br />

stand.<br />

„Nun Jasch“, sagte Thomas, indem er den Schlitten bestieg,<br />

„fahre zu, damit wir bald die Stadt erreichen. Die Zeit ist Dir wohl<br />

lang geworden?“<br />

„Nicht allzusehr“, erwiderte<br />

Jasch. „Es kam ein alter Herr aus<br />

der Stadt mit einer dicken Frau, der hält bei mir an mit seinem<br />

Schlitten und fragt, wem das<br />

Fuhrwerk gehört. Na, dachte ich,<br />

<strong>jetzt</strong> brauchst du nicht mehr taubstumm zu sein, und erzählte es<br />

ihm. Er war noch nicht lange fort, da kam ein alter Humpelmann<br />

mit einem Holzfuß, um sich mit mir zu erzählen“.<br />

„Fahre <strong>jetzt</strong> auf den Hof des Eckhauses und bedecke<br />

die Pferde,<br />

ich werde bald kommen“.<br />

Esther war aus der Frühmette heimgekommen. Nach dem<br />

Morgengebet und dem gemeinsamen Frühstück rüstete sich der<br />

Vater zur deutschen Kirche.<br />

„Gestattet es, lieber Vater“, sagte Esther, „dass ich heute<br />

während der deutschen Kirche zu Hause bleibe. Ich bin nicht recht<br />

gesund“.<br />

Esther nahm ihr Gesangbuch und setzte sich an ein Fenster der<br />

Hinterstube. Es wollte ihr doch nicht gelingen, die Gedanken von<br />

Thomas abzuwenden, von dem Verstorbenen, den sie noch vor<br />

wenigen Wochen in der besten Manneskraft gesehen. Sie ließ das<br />

Buch in den Schoß sinken. Marie kam aus der Küche hinein.<br />

328


„Sieh, Esther“, sagte das Mägdlein, „was ich heute beim<br />

Ausfegen der Hinterstube fand. Die Ähren, die Du nachts aus dem<br />

Strohdach gezogen hast, sie sind alle voll. Das bedeutet wirklich<br />

etwas Gutes“.<br />

„Ach, lass doch die Possen“, sagte die Schwester traurig.<br />

„Aber was ist Dir denn?“, meinte Marie, „Du bist doch nicht viel<br />

früher <strong>als</strong> ich aufgestanden, <strong>als</strong> Dich der Bernhard wecken kam,<br />

und siehst ganz übernächtig aus. Komm, hilf mir ein wenig in der<br />

Küche, die Mägde gehen beide in die polnische Kirche und putzen<br />

sich <strong>jetzt</strong> schon bei Zeiten“.<br />

„Geh nur“, sagte Esther, „ich werde gleich nachkommen“.<br />

„Ach, wenn doch meine liebe Mutter noch lebte, da könnt’ ich ihr<br />

doch klagen, was mich bedrückt. Die Marie würde mich gar nicht<br />

verstehen, das Kind, und auch der alte Vater nicht. Ich muss es<br />

<strong>jetzt</strong> allein zu überwinden versuchen“.<br />

Der Vater würde ihr wohl Vorwürfe wegen ihres Vorwitzes<br />

machen. Sie wollte sich es noch überlegen, ob sie ihm ihr Herzleid<br />

offenbaren sollte oder nicht.<br />

In der Wirtschaft und Küche fand Esther auch Vielerlei zu tun,<br />

was ihre Gedanken etwas ablenkte, besonders, da sie der<br />

lebhaften Schwester Antwort geben musste. Dann deckte sie<br />

den<br />

Tisch mit Hilfe Bernhards. Dann kamen auch schon die polnischen<br />

Mägde aus der Kirche und berichteten, dass der Diakonus bald<br />

kommen würde, da er nur noch ein Kind zu taufen hätte. Bald trat<br />

er auch in’s Haus. Esther nahm ihm Mantel und Kragen ab und<br />

reichte ihm den bequemen Hauspelz. Dann ging man zu Tische.<br />

Der Hausvater sprach das Tischgebet.<br />

„Ist denn die Muhme noch nicht zurück?“ fragte Schwindovius.<br />

„Joseph ist während der polnischen Kirche zurückgekommen“,<br />

antwortete Maria. „Die Muhme ist in Ostrovola zurückgeblieben.<br />

Nächsten Sonntag wollen Olszewskis sie herbringen. Alle lassen<br />

grüßen und zu Neujahr Glück wünschen“.<br />

„Joseph hätte auch früher ausfahren können“, sagte der<br />

Diakonus, „dass er doch in die polnische Kirche hätte gehen<br />

können. Wo steckt er denn <strong>jetzt</strong>?“<br />

„Er bringt noch den Schlitten unter“, sagte Maria. „Die Pferde<br />

hat er schon gefüttert“.<br />

„Lass’ er sich wenigstens <strong>jetzt</strong> nicht heraustreiben während der<br />

Vesper und mit den Mägden ein Lied singen“,<br />

sagte der Diakonus.<br />

„Wer geht von Euch in die Vesper?“<br />

„Maria wird gehen“, sagte Esther.<br />

„Sie hatte vormittags mit der<br />

Besorgung des Mahles zu tun, da die Mägde in der polnischen<br />

329


Kirche waren. Nun musste Bernhard berichten, was er von der<br />

Predigt des Herrn Erzpriesters behalten hatte, wobei der Vater half<br />

und im Ganzen zufrieden zu sein schien. Doch sagte er:<br />

„Gegen Ende der Predigt habe ich auf dem Singchor ein<br />

Füßegetrapp gehört. Ich hoffe doch, dass Du nicht dabei gewesen<br />

bist, mein Sohn“.<br />

„Meinen Kameraden froren die Füße“, sagte Bernhard, „darum<br />

suchten sie sich durch Klopfen zu erwärmen“.<br />

Nach dem Dankgebet ging der Diakonus in seine Stube.<br />

Nachdem Esther den Tisch abgeräumt und dem Joseph die Reste<br />

des Mahles gebracht hatte, folgte sie dorthin dem Vater, den sie<br />

im Lehnstuhl nahe am Fenster in einem Buch lesend fand.<br />

„Wie ich sehe“, sagte Esther, wollt Ihr nicht Mittagsruhe halten,<br />

lieber Vater. Wenn Ihr es erlaubt, so lege ich mich ein wenig auf<br />

Euer Bett, denn ich habe heftiges Kopfweh. In der Hinterstube hat<br />

der Bernhard einige Schulkameraden zu Besuch, da kann ich mich<br />

nicht niederlegen“.<br />

Schwindovius sah über die Brille seine Tochter an und sagte:<br />

„Du siehst wirklich recht bleich aus, mein Kind. Lege Dich nieder<br />

und schlafe recht lange, das wird wohl helfen“.<br />

Mit diesen Worten wendete er sich wieder seinem Quartanten<br />

Enden des<br />

er dadurch geschlossen war. Sie legte sich<br />

514<br />

zu. Esther band die Bänder der beiden herabhängenden<br />

blauen, selbstgewebten Vorhanges auf, der die Stelle der<br />

herausgenommenen Tür vertrat, so dass der Eingang zu des<br />

Vaters Schlafkamm<br />

nieder. Die Stille, das eintönige laute Ticken der großen Stubenuhr<br />

im Nebenzimmer und die Kühle des Schlafzimmers taten ihr wohl.<br />

Sie hörte noch, halb im Schlafe, das Geläute der Glocken, die zur<br />

Vesper riefen, und war beinahe entschlummert, <strong>als</strong> sie<br />

Männerstimmen im Nebenzimmer vernahm.<br />

Nebe war, nachdem er sich von Thomas getrennt hatte,<br />

nachdenklich die Straße hinabgewandelt. Er überlegte, wie er am<br />

besten seinen Spruch, der Freiwerberei wegen, anzubringen hätte.<br />

Wenn ich nur wüsste, dachte er, wie es der Pfarrer Helwing<br />

gemacht hat, <strong>als</strong> er mein Freiersmann bei meinem Schwiegervater<br />

war. Nun tut es mir leid, dass ich ihn nie danach gefragt habe.<br />

Jedenfalls ist es am besten, ich falle nicht gleich mit der Tür in’s<br />

Haus, sondern komme erst allmählich auf den Hauptpunkt. Es wird<br />

sich mit dem Alten ja ganz gut reden lassen. Diesen Gedanken<br />

514<br />

Buch im Quartformat,<br />

s. FN 35.<br />

330


ausspinnend, war Nebe am Haus des Diakons vorbeigegangen und<br />

nicht wenig verwundert, <strong>als</strong> er am Tore des Städtchens stand. Er<br />

kehrte <strong>als</strong>o um, ging eine kleine Strecke zurück und sah sich nach<br />

einem Menschen um, den er nach der Wohnung des Diakons<br />

Schwindovius fragen könne. Da kamen ihm einige Schüler<br />

entgegen, laut untereinander redend, wie es schien in der Absicht,<br />

aufs Eis zu gehen. Nebe wendete sich an einen der Jungen und<br />

erkundigte sich bei ihm nach Schwindovius’ Haus. Der Junge zog<br />

seine Kopfbedeckung und sagte:<br />

„Kommt mit, lieber Herr, ich führe Euch bis an unsere Haustür.<br />

Jungs, wartet auf mich ein kleines Weilchen, ich komme gleich.<br />

Wenn Ihr in’s Haus kommt, lieber Herr“, wendete<br />

er sich wieder<br />

an Nebe, „dann geht gleich rechts in die erste Tür. Die andere<br />

führt in die Küche. Dann kommt ihr in Vaters Stube. Der ist zu<br />

Hause, nur die Marie ist in der Vesper“.<br />

So plauderte der Junge weiter bis zur Haustür und lief dann<br />

schnell zu seinen wartenden Freunden zurück. Nebe betrat den<br />

mit Ziegeln ausgelegten Hausflur, der nur durch ein Fensterchen<br />

über der Haustür erhellt war, öffnete die hinter einem großen<br />

Schrank befindliche Tür und trat mit einer tiefen Verbeugung ein.<br />

Schwindovius sah von seinem Buch auf.<br />

„Soviel ich urteilen kann“, begann Nebe mit nochmaliger<br />

Reverenz, „so verehre ich in dem Herrn mit gehöriger Submission<br />

den Diakonum dieser guten Stadt?“<br />

Schwindovius erhob sich, machte seine Gegenverbeugung und<br />

sagte:<br />

„Ich bin dem<br />

Herrn zum Dank bereitwillig, dass allem Ansehen<br />

nach ein gelehrter Mann mich mit seiner Gegenwart beehret.<br />

Jedoch bitte ich hinwiederum den Herrn, mir zuvor zu eröffnen,<br />

wer derselbe sei und aus was vor einer Stadt er zu mir<br />

gekommen“.<br />

„Ich will“, erwiderte Nebe,<br />

„nach dero Wunsche mich in so weit<br />

zu erkenne n geben, dass mein<br />

Name sei Jacobus Nebe, und dass<br />

ich <strong>als</strong> Diener<br />

am Wort in der Stadt <strong>Angerburg</strong> das Diakonat zu<br />

verwalten gewürdiget bin. Das übrige von mir werde ich so lange<br />

auf die Seite setzen, bis ich dem Herrn Diakono meinen<br />

Glückwunsch zu dem neuen Jahre abgestattet habe“.<br />

Nebe brachte nun in weitschweifiger<br />

Form seine<br />

Neujahrsgratulation an, welche von Schwindovius in ähnlicher<br />

geschraubter Weise erwidert wurde.<br />

331


„Freue mich sehr“, fuhr Schwindovius fort, „dass einer von<br />

meinen jüngeren Confratibus 515 mich aufsuchet. Doch setzt Euch<br />

nieder“.<br />

Bis dahin war die Begrüßung und Unterhaltung stehend<br />

geschehen. Nebe setzte sich auf einen in der Nähe des Ofens<br />

neben der verhängten Schlafkammer stehenden Stuhl, während<br />

Schwindovius ihm gegenüber auf seinem Lehnsessel Platz nahm.<br />

„Ich fürchtete schon“, begann Nebe, „den Herrn etwas<br />

angegriffen zu finden von den dreifachen Gottesdiensten, die er<br />

heute schon verrichtet. Ich bin umso mehr vergnügt, Euch so<br />

munter zu finden. Ich habe nämlich heute schon den deutschen<br />

und polnischen Gottesdienst besucht und mich recht an der<br />

polnischen Predigt des Herrn erbaut. War auch die polnische<br />

Kirche recht gefüllt, aber in der deutschen viele Plätze leer“.<br />

„Das kommt daher“, sagte Schwindovius, dass die deutsche<br />

Gemeinde allhier nur klein ist. Anno 1584 ist in Lyck die erste<br />

deutsche Predigt gehalten worden. Für die geringe Anzahl der<br />

deutschen Kirchspielskinder ist der Kirchenbesuch eben nicht<br />

schlecht zu nennen“.<br />

„Ein Kirchengebrauch, den ich sonst noch nicht gefunden“, sagte<br />

Nebe, „war mir heute in der deutschen Kirche neu, <strong>als</strong> nach den<br />

mnis 516 Hy ein Knabe vor dem Altar das Evangelium abgelesen,<br />

worauf dann erst das Te Deum laudamus gesungen worden“.<br />

„Diesen Brauch“, sagte Schwindovius, „hat hierselbst seit<br />

einigen Jahren der jetzige Herr Erzpriester eingeführt, wie er denn<br />

auch andere Kirchengebräuche der Kneiphöfschen Turmkirche<br />

ahrestag die Vesper-Lektion:<br />

517<br />

zu Königsberg hier einzuführen sich bemüht. So ist von ihm z.B.<br />

heute, am neuen J<br />

„Uns ist ein Kind etc. - des Heiligen Zebaoth“ beliebet worden.<br />

Mit der vollkommenen Einführung will es aber hier nicht gehen, da<br />

an der Königsberger Turmkirche zwei deutsche und ein polnischer<br />

Diakonus fungieren, ich aber hier nur allein bin“.<br />

„Ein großer Mangel ist, dass Eure Kirche keine Orgel besitzt. Wir<br />

haben in <strong>Angerburg</strong> ein schönes Orgelwerk, das Anno 1651 erbaut<br />

wurde. 20 Jahre darauf, 1671 den 18. Juli hat der Blitz vom<br />

Himmel in den Turm geschlagen. Der Strahl ging von der Spitze<br />

bis an die Orgel, tat aber weiter keinen Schaden, <strong>als</strong> dass ein<br />

515 Mitbrüdern<br />

516 Hymnische Gesänge der Liturgie<br />

517 Gemeint ist der Dom auf der Kneiphofinsel.<br />

332


Stück Mauer losgerissen und einige Pfeifen in der Orgel<br />

geschmeltzt wurden“.<br />

„Hier in Lyck ist auch ein Organon vorhanden gewesen, jedoch<br />

<strong>als</strong> vor 30 und einigen Jahren die Polen die Kirche anzündeten,<br />

vollständig verbrannt. Seit einigen Jahren haben wir zu einem<br />

Orgelwerk gesammelt. Es hat zum Bau noch immer nicht gereicht.<br />

Empfindlicher <strong>als</strong> das Fehlen einer Orgel ist mir der Umstand, dass<br />

beim Brand der Kirche dam<strong>als</strong> die auserlesene kostbare Bibliothek<br />

verbrannt ist. Es fällt mir schwer und ist für mich sehr<br />

umständlich, mir die Bücher zu verschaffen“.<br />

„Nun, es fehlt dem Herren doch nicht so sehr an Büchern“, sagte<br />

Nebe, auf die beiden gewaltigen Bücherschragen<br />

deutend.<br />

„In einem langen Leben kann man Manches sammeln“, meinte<br />

Schwindovius, freudig mit seinem Blick die alten Schmöker<br />

überlaufend.<br />

„An Gelehrsamkeit<br />

scheint es in Lyck überhaupt nicht zu fehlen“,<br />

sagte Nebe. „Es treiben sich sogar lateinische Sätze auf den<br />

Straßen umher, wo man sie nur aufzulesen braucht. Seht, da habe<br />

ich einige Streifen, die heut früh auf der Straße gefunden sind.<br />

Wie es scheint sind es einige Sätze aus einem lateinischen<br />

Chronicon, deren Sinn ich nicht recht verstehe“.<br />

Mit diesen Worten zog Nebe die Streifen hervor, welche Thomas<br />

auf dem Hofe des Wirtshauses gefunden hatte. Schwindovius<br />

setzte die Brille auf und trat mit den ihm gereichten Streifen an<br />

das Fenster.<br />

„Das ist ja die Handschrift meines ältesten Sohnes“, sagte er<br />

nach einigen Sekunden. „So schrieb Georg <strong>als</strong> kleiner Junge. Das<br />

sind einige Sätze aus dem Eutropius 518 . Ich ließ ihn, damit ihm das<br />

Latein schreiben geläufig würde, aus dem gedruckten Buche<br />

abschreiben. Hier an dieser Stelle hat er die Abbreviatur 519 nicht<br />

lesen können, da steht meine Korrektur dabei. Ich gab im Herbst,<br />

<strong>als</strong> mein Sohn zur Universität ging, alle seine alten Hefte dem<br />

Schulmeister Schickedanz, der darum bat. Dass er aber davon<br />

Streifen schneiden und sie auf den Straßen aussäen sollte, das<br />

habe ich nicht gewollt. Er ist ein alter Narr, bildet sich etwas<br />

darauf ein, dass er hier die lateinische Schule besuchte, wo er<br />

aber nichts gelernt hat“.<br />

518 Römischer Geschichtsschreiber des 4. nachchristl. Jhdts. Sein von den Anfängen Roms bis<br />

364 reichendes Geschichtswerk sowie die Fortsetzungen durch andere Verfasser dienten im<br />

Mittelalter <strong>als</strong> vielbenutztes Lehrbuch.<br />

519 S. FN 463.<br />

333


„Euer Schulmeister ist wohl auch zugleich Glöckner?“ fragte<br />

Nebe. Schwindovius nickte.<br />

„Das ist ja ein komischer Kauz“, fuhr Nebe fort, und erzählte die<br />

Begegnung des Küsters mit dem Kantor an der<br />

Kirchentür.<br />

Schwindovius musste herzlich und laut lachen, <strong>als</strong> Nebe die Worte<br />

des Schulmeisters mit überlauter Stimme ausrief:<br />

„Was denkt Ihr, Herr Kantor, bin ich Euer Despot!“<br />

„Nun, ich werde ihm sein Benehmen gehörig verweisen“, sagte<br />

Schwindovius. „Ich bin überhaupt nicht mehr recht zufrieden mit<br />

ihm. Er hat es nur seiner früheren Aufführung zu verdanken, dass<br />

er noch Schulmeister ist. Die polnische Schule ist miserabel,<br />

außerdem säuft er in der Zeit, wenn er nicht lehrt, wie ich gehört<br />

habe, <strong>jetzt</strong> mehr <strong>als</strong> sonst“.<br />

„Was hat er aber denn für Verdienste?“ fragte Nebe.<br />

„Als ich im Sommer 1657 herkam“, antwortete Schwindovius,<br />

war die Stadt Lyck im Herbst vorher von den Polen in den Grund<br />

verbrannt. Kirche, Schule, Pfarrgebäude, alles zerstört. Von<br />

angebrannten Balken und Strauch hatten die Einwohner sich<br />

elende Hütten gebaut. Der Erzpriester Oye, der im Oktober 1656<br />

entflohen war, kam gar nicht mehr zurück nach Lyck, mein<br />

Vorgänger Boretius war verschollen. Also war die Gemeinde länger<br />

<strong>als</strong> ein halbes Jahr ohne Geistlichen gewesen. Da hat dann der<br />

polnische Schulmeister, ohne Entgeld, alle Sonntage dem Volk aus<br />

der Postille<br />

enan im Hausflur die gellende Stimme des Weibes<br />

meines alten Schulmeisters:<br />

On he mott mi vom Deenst - de Collecte, de vom Klingbiedel on<br />

521<br />

520 auf dem Schloss, das allein stehen geblieben war,<br />

eine Predigt vorgelesen, hat die Kranken und Sterbenden<br />

getröstet, mit ihnen gesungen und gebetet, die Toten christlich<br />

beerdigt. Seht Herr, das hat mich bewogen, ihn noch zu halten.<br />

Wenn der Schulmeister nur nicht solch ein unnützes Weib hätte,<br />

dann möcht’ es mit ihm schon gehen. Sie säuft noch mehr <strong>als</strong> er.<br />

Vor einigen Tagen, gleich nach den Weihnachtsfeiertagen, hörte<br />

ich hier neb<br />

dat zeich ek an- on he mott mi vom Deenst - de Collecte...<br />

Meine alte Muhme kam aus der Küche und sagte:<br />

Oaber Schikkedanzsche, Schikkedanzsche, wat schrecht se so:<br />

Es he Deev, denn es se de Deevsche. Wacht se man, de<br />

520<br />

Predigtbuch, - sammlung; religiöses Erbauungsbuch.<br />

521<br />

Und er muss mir vom Dienst - die Kollekte, die vom Klingelbeutel- und das zeige ich an,<br />

und er muss mir vom Dienst- die Kollekte…<br />

334


Groschkes ware är woll knapp ware, wenn he ward weggejoagt<br />

sent. 522<br />

Das Weib ging ab, ohne weiter bei mir Anzeige zu machen. Ich<br />

nahm aber denn doch Gelegenheit, den Alten unter vier Augen<br />

vorzunehmen. Er versicherte hoch und teuer, so dass man’s ihm<br />

wohl glauben konnte, nie etwas von den Kirchengeldern<br />

entwendet zu haben. Der Ärger seines Weibes über ihn rühre<br />

daher, dass er ihr die Saufgroschen am dritten Feiertage des<br />

lich ein Stof<br />

ch wie meinte es der Herr, <strong>als</strong> er sagte, sein<br />

zur Wohnung des Erzpriesters begeben haben, um die<br />

chtige Scripturen 524 Morgens verweigert hätte. Als er abends aus der Kirche erfroren<br />

heimgekommen wäre, hätte sein Weib ihm sehr freund<br />

Branntwein vorgesetzt und ihm zugetrunken, um ihn zu besäufen.<br />

Da er sehr erfroren gewesen war, hätte er ohne etwas zu essen<br />

den Brantwein getrunken und wäre dann sogleich zu Bette<br />

gegangen. Als er im ersten Schlaf gelegen, hätte sein Weib, die<br />

ihn für betrunken gehalten, mit einem Stock auf ihn<br />

losgeschlagen. Anfangs hätte er sich nur mit Worten gewehrt,<br />

dann aber dem wütenden Weibe den Stock aus den Händen<br />

gerissen und sie gehörig gezüchtigt“.<br />

„Unser Glöckner in <strong>Angerburg</strong> ist ein ehrsamer Handwerker“,<br />

sagte Nebe. „Do<br />

Antecessor<br />

zu retten. Da er dort<br />

523 wäre verschollen?“<br />

„Das Diakonat in Lyck ist sozusagen ein Erblehn der Familie<br />

Boretius fast hundert Jahre lang gewesen, da von 1575 bis 1656<br />

immer der Sohn auf den Vater gefolgt ist. Mein Vorgänger George<br />

Boretius soll sich, <strong>als</strong> die Polen in die Stadt kamen und sie<br />

anzündeten, und der Erzpriester Oye schon früher geflüchtet war,<br />

Kirchenbücher und wi<br />

verweilte, soll er von den einstürzenden Sparren erschlagen und<br />

dann verbrannt sein, wie einige Leute meinen. Als ich herkam,<br />

fand ich eine verwilderte, mutlose Gemeinde und die ganze<br />

Umgegend auf viele Meilen weit ausgeplündert. Sie hatte viel Not.<br />

Der Erzpriester Caränicke, der bald nach mir ankam, war auch<br />

nicht der Mann für solch schwierige Verhältnisse. Er wurde auch<br />

von Krankheit heimgesucht und starb nach 7 Jahren“.<br />

522<br />

…was schreit Sie denn<br />

so? Ist er ein Dieb, dann ist Sie eine Diebin. Warte Sie mal ab, die<br />

Groschchen werden<br />

Ihr wohl knapp werden, wenn er weggejagt sein wird.<br />

523<br />

Vorgänger<br />

524<br />

Schriften<br />

335


„Aber Euer Dienst, Herr“, meinte Nebe, „muss doch hier ganz<br />

einträglich sein, da die Boretier ihn so lange in der Familie<br />

behalten haben“.<br />

„Mein bisschen Armut“, antwortete Schwindovius, hab’ ich nicht<br />

dem Kaplansdienst, sondern der bürgerlichen Nahrung zu<br />

verdanken. Meine erste verstorbene Frau, Gott habe sie selig, hat<br />

mit ihrer Mitgift das Bräuhaus, das dam<strong>als</strong> billig zu haben war,<br />

bezahlt. Als die Kirche und Widdem gebaut wurde, hat sie die<br />

Maurer und Zimmerleute gespeist. Diese gaben die Victualien,<br />

welche sie <strong>als</strong> Gottespfennig bekamen, auch noch etwas Geld,<br />

bauten und besserten auch an unserm Haus. So hat sie es sich<br />

früh bis spät sauer verdient, und auch die Kinder von frühester<br />

Jugend zur Arbeit angehalten. Wenn sie noch lebte, wär’ ich ein<br />

behaltener Mann geworden. Als sie vor 4 Jahren starb, konnt’ ich<br />

die Nahrung nicht weiter betreiben. Meine Muhme war dazu nicht<br />

geschickt<br />

genug, und die Kinder noch zu klein. Ich hab’<br />

verpachten müssen“.<br />

„Ihr müsst hier auch sehr gebunden sein, Herr“, sagte Nebe,<br />

„der Sprengel des Erzpriesters ist, wie ich denke, ziemlich groß<br />

und er wird Euch wohl im Sommer, wenn er auf Visitationen reist,<br />

die Arbeit für längere Zeit allein überlassen“.<br />

„Nun, der Erzpriester hat aus dem Lyckschen Amt 5 Kirchen und<br />

aus dem Olezkoschen<br />

11. Ich hätte auch nicht im Oktober nach<br />

Königsberg reisen können, wo ich seit vielen Jahren nicht mehr<br />

gewesen bin und wohin ich doch gern selbst meinen ältesten Sohn<br />

auf die Universität bringen wollte, wenn nicht der Diakon<br />

Olczewski aus Ostrokoln sich erboten hätte, mich zu vertreten“.<br />

„Nun, da werdet Ihr das alte Regiomontana<br />

526<br />

525 wohl recht<br />

verändert gefunden haben?“ meinte Nebe.<br />

„Ich möchte beinahe wünschen, ich hätt’s nicht wiedergesehn“,<br />

erwiderte Schwindovius, „die alten Straßen sind just noch<br />

die selben. Was haben aber die Reformierten für Progressen<br />

gemacht. Anfangs war da ein alter reformierter Hofprediger<br />

Agricola 527 , den noch die Mutter 528 unseres Kurfürsten in’s Land<br />

525<br />

Lat. Bezeichnung von Königsberg<br />

526<br />

Fortschritte<br />

527<br />

Adam Christian Agricola wurde 1593 in Teschen/Schlesien geboren und verstarb 1645 in<br />

Königsberg. Nach theologischen Studien in Leipzig und Frankfurt/Oder hielt er sich in<br />

England und Holland auf Hier wandte er sich wohl dem reformierten Bekenntnis zu. 1629 zum<br />

Hofprediger in Berlin berufen,wirkte er von 1636 bis zu seinem Tod <strong>als</strong> erster Prediger der<br />

noch kleinen deutsch-reformierten Gemeinde in Königsberg.<br />

336


gebracht hat. Auch sein Nachfolger Wendelin 529 , zu meiner<br />

Studienzeit, verhielt sich still, und es war von ihm wenig zu hören.<br />

Aber <strong>jetzt</strong>? Nicht genug, dass vor 14 Jahren in Königsberg der<br />

dritte reformierte Prediger angestellt ist, nun breiten sich die<br />

urg<br />

brave Mann Abraham Calovius 533 Reformierten über die anderen Städte aus. In Memel bekamen sie<br />

vor 18 Jahren das Privileg, zu ihrem Gottesdienst ein Haus zu<br />

kaufen. In Tilsit<br />

, der aus unserem Mohrungen<br />

530 , in Preußisch Holland, in Elbing, in Riesenb<br />

und wer weiß, wo noch überall sind Gemeinden. Ist es nicht<br />

unerhört? In Königsberg ist sogar eine polnisch-reformierte<br />

Gemeinde“.<br />

„Nun, Herr“, meinte Nebe, unser gnädigster Kurfürst will doch<br />

nur, dass ein jeder bei seinem Glauben bleiben möge, ohne übler<br />

Nachrede des Anderen. Es ist doch gewiss, dass er die Lutheraner<br />

nicht verfolgt, aber die Reformierten auch nicht Not leiden lässt<br />

und somit eine bürgerliche Verträglichkeit und Liebe unter ihnen<br />

stiften will“.<br />

„Liebe und Verträglichkeit“, sagte Schwindovius, „ja, ja, das sind<br />

schöne Worte. Wir sollen die Kalvinisten 531 lieben und ihnen<br />

überall nachgeben. Das ist der Wille unseres Herrn. Als ob sie<br />

seiner Gnade nicht schon überreich genossen hätten, hat er doch<br />

Anno 1655 eine Kalvinische Universität zu Duisburg im<br />

Klevischen 532 aufgerichtet und zu Frankfurt a/O aus einer<br />

Lutherischen ebenfalls eine Kalvinische gemacht. Was hat der<br />

528<br />

Elisabeth Charlotte von der Pfalz, 1597 – 1660.<br />

529<br />

Der Pfälzer Johann Wendelin<br />

versorgte ab 1645 <strong>als</strong> reformierter Prediger die Gemeinden<br />

in Königsberg und in Memel, wo er bis 1641 gewirkt hatte.<br />

530<br />

Stadt links an der schiffbaren Memel, um eine 1409 vollendete Ordensburg entstanden, bis<br />

ins 19. Jahrh. „Tilse“ genannt.<br />

531<br />

S. FN 45.<br />

532<br />

Das Herzogtum Kleve sowie die Grafschaften Mark und Ravensberg gelangten 1614 an<br />

den Kurfürsten von Brandenburg. Nach dem Tode Herzog Albrecht<br />

Friedrichs von Preußen<br />

(1618), der seit 1573 mit Marie Eleonore von Kleve vermählt war, fielen diese Gebiete im<br />

Rheinland sowie das Herzogtum Preußen an den Kurfürsten Johann Sigismund. Die 1655 von<br />

Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, gegründete Klevische Landesuniversität in<br />

Duisburg ging 1818 ein.<br />

533<br />

Abraham Calovius wurde 1612 in Mohrungen geboren und verstarb 1686 in Wittenberg.<br />

Er war Wortführer der lutherischen Orthodoxie, und er verfocht die reine lutherische Lehre vor<br />

allem gegen die Reformierten und Synkretisten Seine Berufung zum Theologieprofessor in<br />

Königsberg erfolgte im Jahre 1640. Als Studienfreund von Simon Dach unterhielt er recht<br />

enge Beziehungen<br />

zum Königsberger<br />

Dichterkreis. 1643 wurde Calovius <strong>als</strong> Rektor und<br />

Prediger<br />

an die Trinitatiskirche nach Danzig berufen. Das Trinitatisgymnasium wurde<br />

während seiner<br />

Amtszeit von allen reformatorischen Einflüssen rücksichtslos gesäubert. Das<br />

337


gebürtig und in Königsberg, Danzig und Wittenberg Dr. u. Prof.<br />

Theologiae gewesen, wegen seiner Liebe zur reinen Lutherischen<br />

Religion und wegen seines eifrigen Geistes durch die Kalvinisten<br />

leiden müssen, dass sie ihn den Ketzer-Macher genannt und mit<br />

andern Titeln besalbt hatten. Das hätten sie nicht tun können,<br />

wenn sie nicht am Kurfürsten einen Hinterhalt gehabt hätten,<br />

welcher verbot, dass seiner Kinder Untertanen in Wittenberg<br />

Theologiam lernten. Er hätte auch den Dr. Calovius, wie er es mit<br />

dem Dr. Strauch 534 gemacht hat, aufheben und einstecken lassen,<br />

wenn Calovius sich nicht allzu behutsam in Acht genommen<br />

hätte“.<br />

„Nun, der Calovius wird’s wohl auch arg genug gemacht haben“,<br />

meinte Nebe. „Ich habe bisher nur wenig von ihm gehört“.<br />

„Der brave Calovius“ erwiderte Schwindovius, „ist, mit vollem<br />

Recht, außerordentlich eifrig wider die Kalvinisten gewesen und<br />

hat sie weder <strong>als</strong> Socios der Augsburger Konfession 535 , noch <strong>als</strong><br />

Thorner Religiosgespräch des Jahres 1645, welches eine Annäherung der evangelischen<br />

Bekenntnisse erreichen wollte, scheiterte vor allem an seiner unbeugsamen Haltung und<br />

Streitsucht. Von 1645 bis 1686 hatte Calovius einen theologischen Lehrstuhl in Wittenberg<br />

inne und veröffentlichte in dieser Zeit eine Fülle polemischer Schriften.<br />

534<br />

Ägidius Strauch wurde 1632 in Wittenberg geboren und verstarb 1682 in Danzig. Nach<br />

seinem Studium (Geschichte, Mathematik,orientalische Sprachen, Theologie) wurde er 1656<br />

Professor der Geschichte in Wittenberg. Als Theologe (Promotion 1662) kämpfte er gegen<br />

Katholiken, Kalvinisten und Synkretisten. 1669 <strong>als</strong> Pfarrer an die dortige Trinitatiskirche und<br />

Rektor des Akademischen Gymnsaiums berufen, vertrat er eine schroff antikatholische und<br />

antipolnische Haltung und wurde deshalb 1673 vom Danziger Rat entlassen, bald aber wieder<br />

in seine Ämter eingesetzt. 1675 erhielt Strauch Berufungen nach Greifswald und Hamburg<br />

und verließ Danzig mit dem Schiff. Wegen seiner Ausfälle gegen die Kalvinisten und<br />

angeblicher Konspiration mit den Schweden wurde er auf Befehl des Großen Kurfürsten<br />

verhaftet und zuerst in Kolberg, dann in Küstrin eingekerkert. Nach Einsprüchen des Danziger<br />

Rates, des polnischen Königs u.a. wurde er 1678 freigelassen, kehrte nach Danzig zurück und<br />

übernahm seine früheren Ämter. Von theologischen Streitigkeiten hielt er sich <strong>jetzt</strong> aber<br />

zurück.<br />

535<br />

Vornehmlich von Philipp Melanchthon (1497 – 1560), dem bedeutendsten Mitarbeiter<br />

Martin Luthers, im Auftrage des sächsischen Kurfürsten für den Augsburger Reichstag von<br />

1530 zusammengestellte Rechtfertigungsschrift der Evangelischen (=Augsburger Bekenntnis).<br />

Unterzeichnet<br />

war das Augsburger<br />

Bekenntnis von Kursachsen, Ansbach, Braunschweig-<br />

Lüneburg, Hessen, Anhalt sowie von den Reichsstädten Nürnberg und Reutlingen. Von Kaiser<br />

Karl V. und den katholischen Ständen wurde die Augsburger Konfession 1530 nicht<br />

anerkannt. Erst durch den 1555 geschlossenen Augsburger Religionsfrieden erfolgte eine<br />

reichsrechtliche Anerkennung der „Verwandten (=Socii) der Augsburger Konfession".<br />

Wiedertäufer, Zwinglianer u.a. nichtlutherische Gruppierungen wurden davon aber<br />

ausdrücklich ausgeschlossen. Auf die Anhänger Kalvins, die Reformierten, wurde der<br />

Augsburger Religionsfrieden endgültig erst durch die Vereinbarungen des Westfälischen<br />

Friedens von 1648 ausgedehnt.<br />

338


Erben der ewigen Seligkeit annehmen wollen. Auch hat er die<br />

nicht leiden mögen, die Gelindigkeit gebraucht und von Frieden<br />

und Einigkeit der Lutherischen und Kalvinischen Religion<br />

geschrieben und geredet, und welche von ihm den Namen<br />

ch gar nicht zu verdenken,<br />

ber wir müssen ja leider gegen die<br />

Kalvinisten wie die stummen Hunde sein, wie es in dem Rescript 537<br />

von 1666 angeordnet ist. Das macht aber, dass wir keine<br />

preußischen Bischöfe 538 Syncretisten<br />

mehr haben. Wären die noch da, so würde<br />

es auch um das geistliche Amt besser bestellt sein, aber da ist<br />

536 bekommen haben“.<br />

„Ich habe“, sagte Nebe, „von Calovius Schriften, soviel ich mich<br />

besinne, nichts Bedeutendes gelesen, da sein Name zu meiner<br />

Studienzeit eben nicht auf der Universtität zu Königsberg in gutem<br />

Geruche war“.<br />

„Die Kalvinisten haben den Calovium gar gräulich geschimpft“,<br />

sagte Schwindovius, „da ist’s ihm do<br />

wenn er sie auch nicht fein behandelt hat. Des Calovius Bücher<br />

nannten die Kalvinisten Schmäh-Karten und Läster-Schriften. In<br />

diesen hätte er nach seinen alten Tücken durch unzeitigen Eifer<br />

übernommen und im Grimm erhitzet zugefahren und dem Fass<br />

den Boden ausgestoßen. Daraus wäre nichts <strong>als</strong> Teufels-Dreck<br />

geronnen, welchen man zurück in den Schlammkasten treiben<br />

müsse, weil Calovius damit einen so gar abscheulichen Gestank<br />

erregt, der Ober- und Niedersachsen, auch Papisten und<br />

Kalvinisten durchdringen“.<br />

„Ist denn Calovius schon lange tot?“ fragte Nebe.<br />

„Der brave Streiter“, sagte Schwindovius, ist vor 2 Jahren Anno<br />

1686 den 20. Februar, nachdem er seine ganze Lebenszeit in<br />

lauter Kampf und Mühe zugebracht, im 74. Jahre seines Alters, zur<br />

seligen Ruhe eingegangen. Das Herzleid, das ihm die Kalvinisten<br />

angetan, hatte ihm das Herz gebrochen. Es hätte sich die<br />

preußische Priesterschaft entschieden ihres Landsmanns<br />

annehmen müssen, a<br />

auch Gott zu klagen. Hier in unserem Winkel, da fehlt gewiss<br />

bessere Zucht unter den Priestern. Einer ist auf der Jagd, der<br />

536<br />

S. FN 549.<br />

537<br />

Auf welches Reskript sich Schwindovius hier<br />

beruft,ist nicht klar ersichtlich. Es hat<br />

mehrere Verlautbarungen des Großen Kurfürsten gegeben, die einen toleranten Umgang mit<br />

Reformierten<br />

und Katholiken anmahnten.<br />

538<br />

Die Bischofsverfassung wurde 1587 aufgegeben. Herzog Georg Friedrich ließ diese durch<br />

zwei landesherrliche Konsistorien in Königsberg (für das ehem. Bistum Samland) und in<br />

Saalfeld ( für das ehem.<br />

Bistum Pomesanien) ersetzen – trotz noch lange anhaltender<br />

Einsprüche der<br />

Stände gegen diese Neuregelung.<br />

339


andere auf dem Fischfang. Ich will nicht richten! Aber unsere<br />

beiden Konsistorien zu Saalfeld und Königsberg, ersetzen die denn<br />

einen Bischoff? Und nun gar die Oberratsstube, ist denn der<br />

Kanzler ein Gottesmann? Das Meiste macht ja doch der<br />

Obersekretär. Ist es erhört, dem wird die Stelle in Caymen<br />

gegeben, da kommt der Schotte Hamilton, schenkt dem Kanzler<br />

einen silbernen Becher und bekommt<br />

die Pfarrstelle in Caymen.<br />

Ja, wenn etwas für die Kalvinisten auszuwirken ist, dann sind die<br />

Herren gleich bereit, alles aufs wärmste zu befürworten. Gilt es<br />

aber, die lutherischen Priester zu schützen, und ihnen zu ihrem<br />

Recht zu verhelfen, dann kann man sich mit Geduld wappnen.<br />

Woher kommt denn das? Ja, da muss erst nach oben gehorcht<br />

werden, was wohl Serenissimus<br />

formierten zu<br />

539 dazu meinen möchte. Gott<br />

bessere es.<br />

Der Statthalter 540 Marschall v. Schomberg hat, wie ich mir in<br />

Königsberg habe erzählen lassen, vom Kurfürsten in seiner<br />

Introduktion bei der Übertragung der Statthalterschaft Preußens<br />

Anno 1687 die Mahnung erhalten, vorzüglich über die Erhaltung<br />

der Eintracht zwischen den Lutheranern und Re<br />

wachen. Wir haben doch von den Reformierten bisher schon<br />

genug zu tragen und zu leiden, und <strong>jetzt</strong> will der Kurfürst noch die<br />

reformierten Franzosen 541 in’s Land lassen“.<br />

„Ich habe auch etwas davon verlauten gehört“, sagte Nebe,<br />

„doch scheint es mir noch nicht ganz gewiss zu sein“.<br />

„Ihr könnt es mir schon glauben“, sagte Schwindovius. Es ist<br />

sogar die Anfrage gekommen und soll confidentiell 542 vom Amt<br />

berichtet werden, wieviele von den reformierten Franzosen hier in<br />

der Stadt, respektive 543 dem Amt etwa angesetzt werden könnten,<br />

539 Gemeint ist der Landesherr.<br />

540 Das Amt eines kurfürstlichen Statthalters im Herzogtum Preußen wurde 1657 geschaffen<br />

und dem litauisch-polnischen Fürsten Boguslaw Radziwill (1620 – 1669) übertragen. Obwohl<br />

Kalvinist, hatte Radziwill vorher hohe polnische Staatsämter bekleidet und sich durch<br />

militärische Erfolge ausgezeichnet. Nach seinem Tod wurde Herzog Ernst Boguslaw von Croy<br />

(1620 – 1684) Statthalter in Preußen. Mit seinem Ableben ging das Statthalteramt ein, anders<br />

<strong>als</strong> Schwindovius hier vorgiebt.<br />

541 Nach dem 1685 vom Großen Kurfürsten erlassenen Edikt von Potsdam, in denen ihnen<br />

Religionsfreiheit zugesichert worden war, wanderten ca. 20.000 reformierte Franzosen<br />

(=Hugenotten) in Brandenburg-Preußen ein. Meist Offiziere, Kaufleute und Handwerker,<br />

siedelten sie sich vorrangig in den Städten an und verstärkten dort den kalvinistischen<br />

Einfluss.<br />

542 Vertraulich<br />

543 Beziehungsweise<br />

340


und ob sich am hiesigen Ort ein größeres Lokal befände, welches<br />

zum Gottesdienst derselben zu aptiren 544 wäre. Da geschieht doch<br />

wieder unserer Lutherischen Kirche Abbruch, <strong>als</strong> wenn sie nicht<br />

schon genug durch die Päpstler zu leiden hätte“.<br />

„Nun“, meinte Nebe, „die Päpstler verhalten sich doch wohl<br />

ziemlich ruhig“.<br />

„Meint Ihr das, Herr“, sagte Schwindovius, immer eifriger<br />

werdend, „kennt Ihr denn die Zahl der Abtrünnigen? Was soll man<br />

dazu sagen, dass sogar der Präsident des Pomesanischen<br />

Consistorii D. Christoph Kerstein Anno 1672 zu den Päpstlern<br />

gegangen ist, und lutherische Geistliche ihm folgten. Wenn schon<br />

vier Professoren der alma mater Albertina ten werden,<br />

tät hätte bringen<br />

, Herr“, sagte Nebe, „unsere Kirche hat viele<br />

h einer der Katholischen Kirchen in<br />

545 546<br />

Aposta<br />

wer kann da sagen, wieviele ihnen noch folgen? Ich wünschte,<br />

dass ich meinen Sohn nach einer andern Universi<br />

können und nicht nach Königsberg“.<br />

„Es ist wahr<br />

Widersacher, doch hier, denke ich, werdet ihr doch nicht mit<br />

solchen Verblendeten zu schaffen haben?“<br />

„Sagt das nicht“, antwortete Schwindovius, „zwar mit den<br />

Römlingen 547 habe ich hier nicht zu kämpfen, nur zuweilen läuft<br />

ein abergläubischer Mensch nac<br />

Polen, um sich Weihwasser oder andere Narrheiten für sein Geld<br />

zu holen, doch haben wir hier in der Gemeinde die Arianer 548 .<br />

Denen ist schon längst befohlen, das Land zu räumen. Vor mehr<br />

<strong>als</strong> 12 Jahren, ich glaube es war Anno 1666, kam der Befehl, sie<br />

sollten das Ihrige verkaufen und abziehen. Sie demonstrierten<br />

aber dagegen. Was war das Ende vom Lied, sie sind heute noch<br />

da.<br />

544<br />

Benutzen<br />

545<br />

Albertus-Universität<br />

546<br />

Abtrünnige<br />

547<br />

Katholiken<br />

548<br />

Die Bezeichnung geht auf den altkirchlichen Theologen Arius (ca. 260 – 336 n.Chr.)<br />

zurück. Seine Lehre, nach der Christus nicht wesensgleich mit Gott ist, sondern nur dessen<br />

vornehmstes Geschöpf, wurde auf dem Konzil von Nizäa (325) verurteilt, lebte aber bei<br />

Goten, Langobarden und Vandalen bis zum 6.Jhdt. fort. Im 17.Jhdt. gehörten die Arianer zu<br />

den stärksten Gruppen protestantischer Abweichler in Preußen. Weil sie u.a. die Lehre von der<br />

Dreieinigkeit Gottes (=Trinitätslehre) ablehnten, wurden sie auch Antitrinitarier bzw. Sozianer<br />

oder Photianer genannt. Sie selbst nannten sich Unitarier. Ihre Glaubenslehre breitete sich<br />

zunächst in Polen aus, drang aber auch bald in Preußen ein. Nach einem 1658 in Polen<br />

erlassenen Ausweisungsedikt<br />

wanderten vor allem polnische sozianische Adelsfamilien in die<br />

während des Tatareneinfalls verwüsteten masurischen Ämter ein.<br />

341


Da hat einer von diesen Apostaten ein Buch ausgeben lassen,<br />

die Tuba pacis ad universas dissidentes in occidente eclesias 1685,<br />

worinnen er schreibt, dass unsere Königsberger Theologen<br />

Dreier apst die<br />

553<br />

,<br />

h nicht“, sagte Schwindovius, „aber hört nur<br />

549 , Zeidler 550 , Werner 551 und Pfeiffer 552 dem P<br />

alleinige Herrschaft über die Kirche zugeständen. Dieser<br />

Abtrünnige verlangt, wir sollten bei einem allgemeinen Consilio<br />

bei welchem der Papst präsidiere, seinen Aussprüchen und<br />

Entscheidungen uns unterwerfen“.<br />

„Der selige Dr. Zeidler“, sagte Nebe, „ist mir auf der Universität<br />

ein lieber Lehrer gewesen, besonders war seine Methode sehr zu<br />

loben, der Pfeiffer ist auch ein Mann von großer Erudition 554 “.<br />

„Den kenne ic<br />

weiter, was der Apostat alles in seinem Buch für Sachen hat. Er<br />

549<br />

Christian Dreier wurde 1610 in Stettin geboren und verstarb 1688 in Königsberg. 1642<br />

wurde er zum Prediger an der Schloßkirche, 1644 zum außerordentlichen Professor der<br />

Theologie in Königsberg berufen. Dreier gehörte der versönlichen Richtung der Theologie an,<br />

die im Sinne des Helmstädter Theologen Georg Calixt eine Annäherung der drei christlichen<br />

Bekenntnisse (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) erstrebte, die <strong>als</strong> „Synkretismus“ bekannt<br />

ist. Diese Theologie entsprach dem Standpunkt des Großen Kurfürsten, der <strong>als</strong> reformierter<br />

Herrscher der beiden strenglutherischen Länder Brandenburg und Preußen für eine<br />

kirchenpolitische Toleranz eintrat und Dreier deshalb gegen die Anfeindungen seiner<br />

lutherischen Gegner zu schützen versuchte.<br />

550<br />

Melchior Zeidler, 1630 in Königsberg geboren und dort 1686 verstorben, wurde 1658 zum<br />

Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg und zum 2. Hofprediger berufen. 1681<br />

wurde ihm das Amt des Pfarrers am Königsberger Dom übertragen. Zeidler verfasste eine<br />

große Zahl philosophischer Schriften und war ein Hauptvertreter des Aristoteles-Studiums.<br />

Als Theologe war er ein Vertreter des Synkretismus und einer Verständigung mit dem<br />

Katholizismus zugeneigt.<br />

551<br />

Gemeint ist hier der 1637 in Meseritz geborene und 1685 in Königsberg verstorbene<br />

Samuel Werner. Er wurde 1664 Pfarrer an der Sackheimer Kirche in Königsberg und 1675<br />

nach seiner Promotion zum Doktor der Theologie Professor an der Universität und 2.<br />

Hofprediger. Werner stand den Synkretisten nahe. In einzelnen Veröffentlichungen vertrat er<br />

ziemlich seltsame Ansichten.<br />

So behauptete er z.B., dass Hexen Unwetter verursachen können<br />

und erklärte es für eine Sünde, dass Geistliche eine Perücke trügen.<br />

552<br />

Johann Philipp Pfeiffer wurde 1645 in Nürnberg geboren und verstarb 1695 im<br />

ermländischen Guttstadt. Nach Abschluss seines Studiums in Königsberg wurde er dort 1671<br />

Professor der griechischen Sprache, 1673 Bibliothekar der Wallenrodtschen Bibliothek, 1679<br />

der Schlossbibliothek. Nach Niederlegung der griech. Professur übernahm er eine<br />

außerordentliche Professur für Theologie und wurde zum 2. Hofprediger ernannt. Pfeiffer<br />

stand anfangs den Synkretisten nahe. Weil sich aber seine Hinwendung<br />

zum Katholizismus<br />

verstärkte, wurde er 1694 seiner Ämter enthoben. Der Bischof von Ermland verlieh ihm 1695<br />

eine Stiftsherrnstelle in Guttstadt und trug die Kosten der Beisetzung in der Pfarrkirche zu<br />

Heilsberg.<br />

553<br />

Konzil: Kirchenversammlung.<br />

554<br />

Weisheit<br />

342


hält die Anbetung der Heiligen zwar nicht für durchaus notwendig,<br />

aber meint doch, sie könnten aus freier Andacht angerufen<br />

werden. Mit den sieben Sakramenten ist er völlig einverstanden,<br />

da die beiden großen, Taufe und Abendmahl, das erste geistige<br />

Leben geben und die fünf übrigen das andere. Er gesteht wohl zu,<br />

dass der Glaube zwar gerecht mache, jedoch nicht allein<br />

vollständig. Dagegen sieht er in den guten Werken ein<br />

bedeutendes Mittel zur Seligkeit. Was er vom Heiligen Abendmahl<br />

sagt, zeigt, dass er darüber ganz unwissend ist, denn seiner<br />

Meinung nach kann es unter einer, auch unter beider Gestalt<br />

verwaltet werden. Das unverschämteste aber ist, dass die<br />

Gemeinden, welche nicht freiwillig zum Papsttum kommen, durch<br />

Gewalt dazu gezwungen werden<br />

sollen, und dazu ermahnt er den<br />

Papst, den Kaiser, die Könige von Frankreich, England, Dänemark,<br />

Schweden und Polen, wie auch die Kurfürsten von Brandenburg<br />

und Sachsen, und die anderen Reichsfürsten“.<br />

„Ich bewundere es“, sagte Nebe, „Wie Ihr, Herr, in dererlei<br />

Schriften so bewandert seid, zudem ich davon nichts vernommen“.<br />

„Das macht“, erwiderte Schwindovius, „dass ich bei meiner<br />

Anwesenheit in Königsberg<br />

bei meinem Jugendfreund, dem Pfarrer<br />

am Roßgarten war. Mein alter George Falk<br />

nen Freund Dr. Zeidler. Der erzählte nun, dass<br />

, sondern ihm auch nachweist, wie er mit einem fremden<br />

g zu stiften, die uns wieder unter das päpstische Joch<br />

ganz fertig gehabt, wie mir sein<br />

t und wird großes Aufsehen<br />

555 war ziemlich der<br />

einzige, den ich dort noch antraf. Ich fand dort bei ihm den<br />

Diakonus vom Roßgarten Christoph Zeidler, einen Brudersohn von<br />

meinem verstorbe<br />

sein lieber seliger Oheim sehr gekränkt gewesen sei, wegen der<br />

Unverschämtheit dieses Apostaten, das er habe drucken lassen.<br />

Nach Dr. Zeidler stände dem Papst die alleinige Herrschaft über<br />

die Kirche zu. Er hat auch eine Widerlegung der Schandschrift<br />

verfasst, worin er dem Abtrünnigen nicht nur auf’s härteste<br />

widerlegt<br />

Kalbe gepflügt hat. Es sind hier Materialien von anderen<br />

kommuniziert worden, unter dem scheinbaren Vorwand, eine<br />

Vereinigun<br />

bringen soll. Besonders soll der Jesuit Johannes Franciscus Hacki,<br />

der ein Bruder des Abts von Oliva ist, ihm das meiste geliefert<br />

haben. Das Manuskript hat Zeidler<br />

Brudersohn, der Diakon sagte, bevor er starb. Es wurde aber zum<br />

Druck nach Helmstädt geschick<br />

machen. Es führt übrigens den Titel: Reputatio tuba pacis h. e.<br />

555<br />

Gemeint ist wohl der Pfarrer der löbenichtschen Kirche, der von 1625 – 1720 lebte und 68<br />

Jahre hindurch hier amtierte.<br />

343


etrusio suspicionis quasi Papatui savet, adspergere sibi volupe<br />

duxit“.<br />

„Wie nanntet Ihr, Herr, den Verfasser der tuba pacis?“ fragte<br />

Nebe.<br />

„Praetorius heißt er, Magister Matthäus Prätorius 556 , Pfarrherr zu<br />

Niebudzen 557 im Insterburgschen Hauptamt, welcher Anno 1685<br />

päpstisch ward und im Kloster Oliva Profoß tat“.<br />

„Das ist ja derselbe“, rief Nebe, „den der verstorbene Magister<br />

Hartknoch in denen Animadversionibus<br />

onibus an manchen Stellen gar<br />

rzen erfreut an<br />

.<br />

eine menschliche Erfindung<br />

558 zu seinem neu edirten<br />

Dusburg, auch in seinen Dissertati<br />

sehr lobet“.<br />

„So sehr ich mich über des Prätorius Tuba pacis geärgert“, sagte<br />

Schwindovius, „habe ich mich so recht von He<br />

einem Buch, das in dem neben Oliva gelegenen Danzig im vorigen<br />

Jahre 1687 gedruckt ist, und welches ich mir von Königsberg<br />

mitgebracht und unterwegs schon zum größten Teil gelesen habe“<br />

„Was ist denn das für ein interessantes Buch, das ihr, Herr, auf<br />

der Reise gelest habt?“ fragte Nebe.<br />

„Es ist“, erwiderte Schwindovius, „des gottseligen Dr. Samuel<br />

Schelwigs: Schriftmäßige Prüfung des Papsttums, ein Quartant, zu<br />

finden bei Martin Hallervoort 559 . Da wird den Päpsten so recht<br />

nachgewiesen, dass sie die Heilige Schrift verfälschen und die<br />

geistliche Verwandtschaft wird<br />

genannt, womit das Gewissen vergeblich beschwert wird. Die<br />

556<br />

Matthäus Prätorius wurde nach 1630 in Memel geboren und verstarb 1704 in<br />

Neustadt/Westpreußen. Er studierte in Königsberg und in Rostock und beendete seine Studien<br />

1661 in Rostock <strong>als</strong> Magister artium. Seit 1664 versah er das Pfarramt in Niebudschen, einem<br />

Kirchspiel mit vorwiegend litauischer Sprache. Hier hat Prätorius das litauische Volkstum<br />

kennengelernt, sich mit Fragen der altpreußischen Geschichte befasst und seine Ergebnisse in<br />

dem Werk „Deliciae Prussicae oder Preußische Schaubühne“ festgehalten. 1670/71 wurde<br />

Prätorius in einen Prozess verwickelt, der mit einer harten Geldstrafe und der Androhung der<br />

Amtsenthebung endete. Prätorius stand im Briefwechsel mit dem Jesuiten Franciscus Hacki.<br />

Daraus ist bereits seine Nähe zur katholischen Lehrmeinung ersichtlich. 1685 verließ er seine<br />

Pfarrstelle und trat zum Katholizismus über. Er verfasste <strong>jetzt</strong> eine Anzahl Schriften zur<br />

polnischen Geschichte, in denen er die Abstammung der Polen von den Goten nachzuweisen<br />

versuchte. In der 1685 veröffentlichten „Tuba pacis“ forderte er die Lutheraner auf, zum<br />

Papsttum zurückzukehren. Von 1688 bis zu seinem Tode war Prätorius nacheinander Pfarrer<br />

in Strasburg/Westpreußen, in Preußisch Stargard und zuletzt Probst in Neustadt/Westpreußen.<br />

557<br />

Niebudschen (Herzogskirch), Kr. Gumbinnen.<br />

558<br />

Anmerkungen, Bemerkungen<br />

559<br />

Der Rostocker Buchhändler Johann Hallervord gründete um 1645 eine Zweigstelle in<br />

Königsberg,<br />

nahe der Universität.<br />

Diese Zweigstelle übernahm sein 1693 verstorbener Sohn<br />

Martin.<br />

344


letzte Ölung weist Schelwig <strong>als</strong> einen Spott Gottes nach. Die Taufe<br />

der Glocken nennt er eine Lästerung des Heiligen Sakraments. Er<br />

sagt, dass keine größere Abgötterei in der Welt zu finden sei <strong>als</strong><br />

das Papsttum. Er hat noch viele andere solcher vortrefflichen<br />

Sachen. Jeder von uns Priestern müsste das treffliche Buch haben,<br />

denn die katholische Kirche wird uns zu mächtig. Wie hat sie mit<br />

den Evangelischen in Ungarn verfahren? Die sind dort ganz<br />

ausgetilgt. Die verjagten evangelischen Prediger aus Ungarn<br />

kamen Anno 1683 bei uns prachern<br />

dem Stadtsäckel noch ein Viaticum gereicht“.<br />

Rücken saß, an zu schnurren und schlug zwei Mal mit<br />

ngsamen abgemessenen Schlägen und mit lautem Klang.<br />

rzugehen, weshalb er<br />

er das<br />

altung ganz vergessen, dem Herrn<br />

rer<br />

noch aus<br />

meiner noch erinnert. Unsere<br />

in, <strong>als</strong> der Andreas Helwing von der Kurfürstlichen<br />

re alt, einer der gelehrtesten Studiosen<br />

560 . Ich hab’ einen acht Tage<br />

lang im Hause gehabt. Wir mussten uns lateinisch unterhalten, da<br />

hab’ ich es erfahren“.<br />

„Ja, ja“, sagte Nebe, „mein Schwiegervater hat mir auch davon<br />

erzählt. In <strong>Angerburg</strong> haben sie ihm und einem Vertriebenen von<br />

561<br />

Adel aus<br />

Jetzt fing die große Uhr in dem hohen Kasten, gegen den Nebe<br />

mit dem<br />

la<br />

Erschreckt wendete sich Nebe um.<br />

„Sie geht ganz richtig“, sagte Schwindovius.<br />

Es fiel Nebe ein, dass es die höchste Zeit sei, endlich, nach den<br />

langen Präliminarien 562 , darauf übe<br />

gekommen ist.<br />

„Geht richtig, geht richtig“, sagte Schwindovius nochm<strong>als</strong>, <strong>als</strong><br />

Nebe, sich besinnend, wie er beginnen sollte, noch imm<br />

Zifferblatt anstarrte.<br />

„Da habe ich“, sagte Nebe, sich wieder umwendend, „bei<br />

unserer interessanten Unterh<br />

einen Gruß abzustatten von einem guten Freund, dem Pfar<br />

Andreas Helwing aus <strong>Angerburg</strong>, der den Herrn Diakon,<br />

seiner Studienzeit, in sehr guter Erinnerung hält“.<br />

„Freut mich, freut mich sehr“, sagte Schwindovius, dass mein<br />

alter Freund Andreas sich<br />

Freundschaft ist alt genug. Es werden wohl an die 39 oder 40<br />

Jahre her se<br />

Schule zu Tilsit auf die Universität kam. Wie geht es ihm denn?“<br />

„Er lebt ja“, sagte Nebe, „in ganz guten Verhältnissen.<br />

Besonders hat er große Freude an seinem ältesten Sohn Georg<br />

Andreas, der <strong>jetzt</strong> 21 Jah<br />

560 Betteln<br />

561 Milde Gabe, Wegzehrung<br />

562 Einleitung, Vorbereitung, Vorspiel.<br />

345


ist, zu Königsberg, Leipzig, Wittenberg studierte und sich <strong>jetzt</strong> in<br />

Jena befindet. Aber auch der jüngere Sohn Christoph ist ein sehr<br />

begabter Schüler, besonders in der Mathematik. Auch an den<br />

Töchtern hat<br />

Pfarrer Helwing viel Freude. Er war recht besorgt um<br />

Euch, Herr, <strong>als</strong> er von Eurem Unfall mit dem Fuß auf der Reise<br />

hörte, und trug mir noch besonders auf, mich danach zu<br />

erkundigen“.<br />

„Aber wie hat mein alter Freund das erfahren?“ fragte<br />

Schwindovius verwundert.<br />

„Mein Schwager Thomas Anderson“, erwiderte Nebe, „der mit<br />

Euch, Herr, einen Teil der Reise zusammen gemacht, hat ihm<br />

davon berichtet und musste ihm,<br />

soviel er wusste, von Euch<br />

erzählen“.<br />

„Hm, der Thomas, der Thomas“, sagte Schwindovius.<br />

„Der Thomas ist der Bruder meiner Frau“, fiel Nebe ein. „Er hat<br />

<strong>jetzt</strong> die Handlung, das Haus und die bürgerliche Stellung<br />

meines<br />

Schwiegervaters, des alten Ratsverwandten William Anderson<br />

übernommen und befindet sich in guten Verhältnissen. Da er nun<br />

auf der Reise von Königsberg Eure Jungfer Tochter kennengelernt<br />

hat, so ist er mit mir gestern Abend hierher gekommen. Er hat<br />

mich, wie es sich ziert, an Euch, Herr, gesendet, und bittet Euch,<br />

ihm Eure älteste Jungfer Tochter Esther zum ehelichen Weibe zu<br />

geben, weil er ihr in herzlicher Liebe zugetan ist“.<br />

Nebe machte eine Pause und wartete auf eine Antwort. Da<br />

Schwindovius immer noch schwieg,<br />

fuhr er fort:<br />

„Meinen Schwager Thomas kennt der Herr ja von der Reise von<br />

Person und…“<br />

Schwindovius saß in seinem Stuhl, sah zur Erde und wiegte den<br />

Kopf hin und her. Plötzlich stand er auf, unterbrach Nebe und rief:<br />

„Nein, nein, das kann nimmermehr geschehen! Meine Tochter<br />

kann ich dem Thomas nicht geben, schon wegen der<br />

Verschiedenheit der Religion“.<br />

„Wegen der Verschiedenheit der Religion?“ fragte Nebe verdutzt.<br />

„Ich versteh Euch nicht, Herr, mein Schwager ist doch kein Jude“.<br />

„Ein Jude ist er nicht, das weiß ich“. sagte Schwindovius. „Er<br />

gehört zu den Kalvinisten, und unsere arme Lutherische Kirche hat<br />

von allen Seiten schon so viel zu erdulden. Ich habe hier die<br />

Gemeinde gesammelt, mühsam zusammengehalten, gegen<br />

Irrlehren geschützt. Nun soll ich mein Fleisch und Blut, meine<br />

Esther einem Kalvinisten geben, einen<br />

Kalvinisten in meine Familie<br />

aufnehmen?“<br />

346


„Aber Herr!“ unterbrach ihn Nebe, da Schwindovius Atem<br />

schöpfen musste. „Des Thomas Voreltern sind ja eben um ihres<br />

Glaubens willen im vorigen Jahrhundert aus Schottland<br />

vertrieben“.<br />

„Sie hingen <strong>als</strong>o doch der Genfer e an“, rief<br />

Herr, dafür verantwortlich gemacht werden solltet,<br />

Thomas lutherischer Pfarrherr in Rosengarten, und ich<br />

tzerfamilie machen wollt?“<br />

mir<br />

gefallen möchte, aber einem Menschen, der solche<br />

iss bekannter, und ich versichere Euch…“<br />

r hier auf den Deckel vor dem Titel hinein:<br />

563 Kirch<br />

Schwindovius dazwischen.<br />

„Nun, das verstehe ich nicht“, sagte Nebe, „das ist ja gerade so,<br />

<strong>als</strong> wenn Ihr,<br />

dass Eure Vorfahren im Papsttum gestecket. Übrigens ist der<br />

Bruder des<br />

habe eine Ehefrau aus dieser Familie, welche Ihr Herr, mit Gewalt<br />

zu einer Ke<br />

„Das mögt Ihr, Herr, mit Eurem Gewissen abmachen“, sagte<br />

Schwindovius. Wir wollen darüber weiter nicht streiten“.<br />

„Ich sehe schon“, sagte Nebe, „ich muss Euch den Thomas<br />

schon selbst herschicken. Er wartet nur auf ein Wort von mir“.<br />

„Tut das nicht, tut das nicht“, rief Schwindovius. „Es würde<br />

leid tun, wenn ich dem Thomas begegnen müsste, wie es ihm<br />

schwerlich<br />

Grundsätze hat wie dieser Thomas, kann ich nie und nimmermehr<br />

mein Kind zum Weib geben, und wenn er bis über die Ohren im<br />

Golde steckte“.<br />

„Aber wie könnt Ihr, Herr“, rief Nebe, „meinem Schwager<br />

Grundsätze andichten, da Ihr ihn doch nur wenig kennt? Mir ist er<br />

doch gew<br />

„Ja seht“, unterbrach ihn Schwindovius, „ich hab’s dem Thomas<br />

gar nicht zugetraut. Ich hatte ihn ganz gern, hielt ihn für offen,<br />

ehrlich, für einen zuverlässigen, ehrenwerten Charakter. Da<br />

schickt er mir vor 1 ½ Wochen das Buch des Apostaten Prätorius,<br />

und schreibt mi<br />

Amplissimo, doctissimo Viro Domino Diakono Schwindovio<br />

diligentissimo usui ad Ecclesiae aedificationem et animae salutem<br />

dedit omne observatione et cultu devotus Th. A.<br />

So, so, <strong>als</strong>o fleißig lesen soll ich’s. Also soll ich mir auch seine<br />

Grundsätze zu Eigen machen, dass alles egal ist. Ich mag gar<br />

nicht daran denken. Es ist schändlich, schändlich“.<br />

„Aber Herr“, unterbrach ihn Nebe, „ich kenne doch wahrhaftig<br />

meinen Schwager länger <strong>als</strong> Ihr. Niem<strong>als</strong> habe ich nur im<br />

Entferntesten so etwas an ihm bemerkt. Ich kann mir das gar<br />

nicht von ihm denken. Das muss ein Irrtum von Euch sein.<br />

563<br />

Genf war während<br />

der Reformationszeit Zentrum des Kalvinismus.<br />

347


Thomas ist Eurer Jungfer Tochter von Herzen in Liebe zugetan,<br />

wie sollte er…“<br />

„Das ist ja, leider Gottes“, rief Schwindovius, „der größte<br />

Schaden unserer Lutherischen Kirche, dass die jungen Priester, so<br />

wie Ihr, und des Thomas Bruder, der Pfarrer in Rosengarten ist,<br />

auf beiden Beinen hinkt, alles entschuldigt und fünf gerade<br />

sein<br />

lassen wollt. Dass Ihr, statt die Gnade Gottes zu verkünden, wie<br />

die Säue den Weinberg<br />

des Herrn zerwühlt“.<br />

„Herr“, sagte Nebe sehr ernst, aufstehend mit Nachdruck,<br />

„nehmt dieses Wort zurück!“<br />

„Ich kann nicht“, sagte Schwindovius, „ich kann nicht. Ich sage<br />

es aus keiner Bosheit, sondern aus herzlichem Mitleiden und<br />

Jammer meiner Seelen. Ich habe, ebenso wie Ihr, bei der<br />

Introduktion geschworen, dass ich dem Herrn diese Kirche und<br />

das arme Häuflein, zu dem ja auch meine Tochter gehört, so der<br />

Herr mit seinem Blut gar teuer erworben hat, weihen will mit<br />

rechtschaffener Lehre seines Wortes und derselbigen ohne<br />

Ärgernis mit gutem Exempel fürgehen, darauf der Herr am<br />

jüngsten Tage schwere Rechenschaft von mit fordern wird. Ich<br />

kann nichts zurücknehmen, was ich gesagt habe, ich kann nicht“.<br />

„Nun, so habe ich mit Euch nichts mehr zu tun“, rief Nebe.<br />

Die Tür fiel schmetternd in’s Schloss.<br />

„Ich kann nicht, ich kann nicht anders. Dieser Thomas…“,<br />

sagte<br />

Schwindovius für sich und legte sein Haupt auf die gefalteten<br />

Hände. „Dieser Thomas“.<br />

Ein Geräusch ließ ihn aufblicken. Da stand Esther vor ihm mit<br />

aufgelöstem<br />

Haar und totenbleichen Wangen.<br />

„Vater“, sagte sie, „Thomas lebt. Thomas wirbt um mich. Er will<br />

Euer Sohn werden und Ihr, Vater, stoßt ihn von Euch. Vater,<br />

weshalb wollt Ihr den Mann, den ich mit ganzer Seele liebe, nicht<br />

zu Eurem Sohn? Aus Eurem Streit mit dem Freiwerber bin ich<br />

nicht klug geworden“.<br />

Schwindovius erschrak, <strong>als</strong> er seine Tochter, deren Gegenwart<br />

im Nebenzimmer er ganz vergessen hatte, und die jedes Wort<br />

seiner Unterredung mit Nebe deutlich gehört haben musste, vor<br />

sich stehen sah.<br />

„Ich kann <strong>als</strong> lutherischer Christ und Priester nicht anders<br />

handeln“, sagte er schroff<br />

und hart. „Ein Mensch, der solche<br />

Grundsätze hat wie dieser Thomas, der kann nicht selig werden.<br />

Nein, nein, ein Mensch mit solchen Grundsätzen kann<br />

nimmermehr mein Sohn werden. Er ist ja schlechter <strong>als</strong> ein<br />

Heide“.<br />

348


„Aber Vater“, sagte Esther, „da tut Ihr dem Thomas gewiss<br />

Unrecht. Ihr habt ja selbst gesehen, wie er in Rastenburg mit uns<br />

betete“.<br />

„Ach was!“ rief Schwindovius, „ist es denn ein Verdienst, wenn<br />

er in unserer Gegenwart bei der Morgenandacht die Hände faltet?<br />

Sonst wird er’s gewiss nicht tun“.<br />

„Ich weiß aber“, sagte Esther, „dass Thomas das heutige neue<br />

Jahr mit Gebet angefangen hat“.<br />

„Woher weißt Du denn das?“ rief Schwindovius. „Ich will nicht<br />

hoffen, dass Du mit ihm hinter meinem Rücken Dich versteckst“.<br />

„Nein Vater“, sagte Esther,<br />

„ich muss es Euch gestehen: Ich<br />

habe es mit eigenen Augen gesehen, wie Thomas beim Schluss<br />

des alten Jahres, <strong>als</strong> diese Eure Uhr die Mitternachtsstunde schlug,<br />

das neue Jahr mit Gebet begann.<br />

„Du ungeratene<br />

Dirne“, brauste Schwindovius auf, „des Nachts<br />

siehst Du nach Mannsbildern?“ „Aber Vater“, fiel ihm Esther mit überströmenden Augen<br />

in die<br />

Rede,<br />

„so lasst Euch doch sagen, wie es gekommen ist“.<br />

Und nun erzählte sie, wie sie auf vielfaches Drängen und Bitten<br />

der Schwester sich eingelassen, um 12 nach den Strohhalmen zu<br />

gehen, und beim Glockenschlag der Mitternachtsstunde den<br />

betenden Thomas gesehen habe.<br />

„Ich glaubte nun, er sei gestorben und sein Geist<br />

mir<br />

erschienen. Seit der Zeit aber weiß ich auch, wie teuer er meinem<br />

Herzen ist“, endete Esther mit tränenden Augen.<br />

„Ärgert Dich Dein Auge, so reiß es aus!“<br />

unden, Euch aufgehoben, in die Herberge geführt<br />

564 rief der Diakonus.<br />

„Die Liebe zu diesem Menschen musst Du aus Deinem Herzen<br />

reißen. Der Satan hat Dir’s eingegeben, um Dich zu versuchen“.<br />

„Aber Vater“, sagte Esther sanft, „tut Ihr dem Thomas nicht<br />

wirklich zu viel? Er hat ja, wie der barmherzige Samariter 565 , Eure<br />

Wunden verb<br />

und Euch gepflegt. Der Heiland sagt ja selbst, nachdem er das<br />

schöne Gleichnis erzählt hatte, zu dem Schriftgelehrten, der ihn<br />

fragte: Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben erwerbe?<br />

Gehe hin und tue desgleichen“.<br />

„Hm“, sagte Schwindovius, „aber der Apostat Prätorius legt auch<br />

solch ein großes Gewicht auf die guten Werke. Weißt Du was,<br />

mein Kind, wir beide sind zu aufgeregt und zu sehr beteiligt, um in<br />

der Sache klar sehen zu können. Wir wollen die Angelegenheit<br />

564<br />

Bibelzitat: Math. 5,29.<br />

565<br />

Bibelzitat: Lukas 10, 30-37.<br />

349


meinem alten treuen Freund, dem Pfarrer Mroncovius in Grabnick<br />

vorlegen. Der mag <strong>als</strong> ganz Unparteiischer entscheiden, ob ich<br />

Recht habe. Katharina!“ rief er aus der Tür, in die Küche hinein.<br />

„Lass’ Joseph augenblicklich den Schlitten anspannen und geh’<br />

ihm helfen, damit es schneller geht“.<br />

Die Magd eilte in den Stall und Schwindovius kehrte in seine<br />

Stube zurück, nahm zwei Bücher, den Calovius und die Tuba<br />

pacis, ging in die Hinterstube zu Esther, die dort in einen Stuhl<br />

gesunken war und die Augen mit den Händen bedeckte.<br />

„Schnell, schnell, Esther“, rief er, „binde Dir ein Kopftuch und<br />

nimm auch Mütterchens Pelzwerk. Gib mir meinen Pelz und packe<br />

diese beiden Bücher ein“.<br />

„Aber Vater“, sagte Esther, „wie soll der fremde alte Mann<br />

unsere Familienangelegenheiten…“<br />

„Was, fremder Mann“, unterbrach sie der Alte hitzig, „mein<br />

Freund Mroncovius soll ein fremder Mann sein?“<br />

„Die Muhme ist ja aber nicht zu Hause“, wagte Esther zu<br />

entgegnen. „Die Marie ist noch nicht aus der Vesper<br />

heimgekommen und der Bernhard ist auch nicht da. Wir können<br />

doch das ganze Haus nicht allein lassen“.<br />

„Nun, so schließe alles zu“, sagte Schwindovius, seinen Pelz<br />

anziehend. „Schicke den Schlüssel durch die Magd der Marie und<br />

laß sie auf dem Kirchhof warten. Die Vesper muss gleich aus sein.<br />

Lass sie der Marie sagen, wir würden heute erst spät abends<br />

wieder kommen. Die Kathrine bleibt im Hause. Vergiss<br />

die Bücher<br />

nicht“.<br />

Esther besorgte<br />

alles nach dem Willen des Vaters, der Schlitten<br />

fuhr vor.<br />

Thomas traf seinen Schwager<br />

Nebe auf der Straße, dieser focht<br />

mit seinem Stock in der Luft herum und stieß ihn dann heftig in<br />

den Schnee der Straße. Er ging einige Schritte, murmelte, blieb<br />

wieder stehen und schlug den Schnee:<br />

„Ich verklag’ ihn beim Erzpriester“,<br />

hörte Thomas seinen<br />

Schwager sagen, <strong>als</strong> er ihm nahe kam, „ich verklag’ ihn. Ich darf<br />

mir das nicht gefallen lassen <strong>als</strong> rechtschaffener Priester“.<br />

Damit stieß<br />

er wieder die Spitze des Stocks heftig auf und ging<br />

einige Schritte, ohne Thomas zu bemerken. Dieser fasste ihn am<br />

Arm, schüttelte ihn und rief:<br />

„Was fehlt Dir denn, Jacob? Bist Du verrückt oder besoffen?“<br />

Nebe richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf:<br />

350


„Na hör’ mal“, rief er laut, „der Alte ist ja ein ganz verbohrter,<br />

ein ganz verdrehter, ein sackgrober Kerl. Mir so etwas zu sagen?<br />

Ich verklag’ ihn, das tue ich“.<br />

Damit schlug er wieder heftig in den Schnee, dass dieser hoch<br />

emporflog.<br />

„Schreie doch nicht die Straße voll“, sagte Thomas, indem er<br />

Nebes Arm nahm und ihn fortführte, „die Leute bleiben ja stehen.<br />

Komme auf den See, da kannst Du Dich auf dem Eis, so laut Du<br />

willst, ausschimpfen“.<br />

Mit diesen Worten führte Thomas seinen Schwager, der etwas<br />

widerstrebte und fortwährend knurrte, durch ein schmales<br />

Gässchen den Abhang hinunter auf das Eis des Sees aus der Nähe<br />

der Häuser. In der Ferne tummelten sich einige Knaben.<br />

„Nun rede“, sagte Thomas. „Was ist denn gewesen? Wie<br />

stehts<br />

mit meiner Esther?“<br />

„Die schlag’ Dir nur aus dem Sinn“, fuhr Nebe auf, „die ist nichts<br />

für Dich“.<br />

„Was sagst Du, Jacob?“ rief Thomas erschreckt.<br />

„Nun, ich rede doch wohl deutlich<br />

und laut genug“, sagte Nebe.<br />

„Der Alte gibt sie Dir nicht. Hast’s ja eben gehört“.<br />

„Ich kanns nicht glauben“, sagte Thomas erregt, „der alte<br />

Schwindovius…“<br />

„Ja, ja, der alte Schwindovius“, sagte Nebe, „er ist ein ganz<br />

ver…, nun ich will nicht schimpfen. Nein, nein, mir so etwas zu<br />

sagen, mich so zu beleidigen…“<br />

„Ich halte ihn“, fiel ihm Thomas in’s Wort, „für einen durch seine<br />

Gelehrsamkeit unbeholfenen, etwas eckigen und einseitigen Mann,<br />

aber sonst für eine ehrliche biedere Haut. Du musst Schuld haben,<br />

Schwager, dass er so ausfahrend gegen Dich wurde“.<br />

„So, nun soll ich noch Schuld haben“, rief Nebe, „dass der Alte<br />

solch ein verdrehter Krebs ist. Dir zu Ehren mache ich die<br />

beschwerliche Reise. Nun beschimpft mich der und nun kommst<br />

Du und machst’s ebenso. Ich werd’ es ihm aber nicht schenken“.<br />

„Aber meine Zeit!“ rief Thomas. „Ich bin doch mit dem alten<br />

Schwindovius zwei Tage lang zusammen auf einem Wagen<br />

gefahren und hab’ mich viel mit ihm unterhalten. Ich begreife das<br />

gar nicht. Es muss an Dir liegen, aber Du kannst mit keinem<br />

Menschen ordentlich reden“.<br />

„Mit keinem Menschen reden kann ich?“ rief Nebe. „An mir soll<br />

es liegen? Warum schickst Du ihm ein Buch, über das er sich<br />

ärgern muss?“<br />

351


„Wir kommen mit der Heftigkeit nicht weiter“, sagte Thomas,<br />

sich gewaltsam bezwingend. „Erzähle mir ordentlich nach der<br />

Reihe. Ich werde schon Geduld haben. Wir wollen weiter auf dem<br />

See gehen. Es kommen die Leute aus der Stadt, um nach dem<br />

Schloss zu gehen. Es ist nicht nötig, dass sie uns zuhören“.<br />

Damit nahm er den Schwager am Arm und entfernte sich mit<br />

ihm aus der Nähe des Schlosses. Nebe berichtete nun recht<br />

weitschweifig und langweilig sein Gespräch mit Schwindovius, und<br />

Thomas musste sich sehr zusammennehmen, ihn nicht zu<br />

unterbrechen. Dann kam er auf die Kalvinisten zu sprechen, gegen<br />

die<br />

der Alte wie Feuer und Fett wäre, und schließlich auf den<br />

Apostaten Prätorius.<br />

„Was hast Du Dich mit dem Alten herumzuzanken?“ konnte<br />

Thomas sich nicht enthalten zu rufen. „Ich habe Dich doch<br />

566<br />

gebeten,<br />

mein Flieser zu sein, und nun schimpft Ihr Euch<br />

herum. Du bist aber immer ein komischer Mensch gewesen“.<br />

„Ich hab’ Deine Werbung geziemend ausgerichtet“, sagte Nebe,<br />

„dass der Alte sagt: Nimmermehr kann ich dem Thomas meine<br />

Tochter Esther geben, dafür kann ich doch nichts“.<br />

„Aber er muss doch einen Grund haben“, fiel Thomas ihm in’s<br />

Wort. „Er musste Dir doch sagen, weshalb er Esther mir<br />

verweigert“.<br />

„Na, das hat er ja getan“, rief Nebe. „Er meint, Du bist ein<br />

Kalvinist“.<br />

„Den Irrtum kontest Du ihm doch gleich benehmen“, sagte<br />

Thomas.<br />

„Er wollte sich aber nicht weisen lassen“, rief Nebe. „An mir<br />

hat’s nicht gelegen. Er schrie immer:<br />

Nie und nimmermehr! Du<br />

wärst ein Mensch mit schändlichen Grundsätzen und hättest ihm<br />

ein ketzerisches Buch geschickt, die Tuba pacis, und vorn<br />

eingeschrieben, er solle es fleißig lesen und wohl beherzigen“.<br />

„Aber konntest Du denn nicht vernünftig mit ihm reden?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Das habe ich auch genau getan“, antwortete Nebe, „und <strong>als</strong> der<br />

Alte auf mich gar nicht hörte, sagte ich, ich würde Dich ihm<br />

schicken. Da sagte<br />

er, er würde Dich, wenn Du kommst,<br />

rausschmeißen, und <strong>als</strong> ich noch weiter redete, da hat er mich<br />

schändlich beleidigt. Ich verklage ihn aber, so wahr ich hier<br />

stehe“.<br />

566 Fürsprecher<br />

352


„Mag gewesen sein, was da will“, sagte Thomas stehen bleibend,<br />

„jedenfalls muss ich mit dem alten Schwindovius selbst reden. Es<br />

kann nur ein Irrtum vorliegen. Ich gehe sogleich zu ihm, und Du<br />

wirst mit dem Verklagen beim Erzpriester so lange warten, bis ich<br />

zurück bin“.<br />

Dabei drehte Thomas sich um und eilte, so schnell es auf dem<br />

Eis möglich war, der Stadt zu, es dem Schwager überlassend, ihm<br />

zu folgen. Im Eifer des Gesprächs waren die beiden Schwäger eine<br />

weite Strecke auf den See hinaus gekommen, und Thomas<br />

brauchte trotz seiner Eile eine geraume Zeit, bis er die Stadt<br />

erreichte. Er musste noch einen Umweg machen, um zu einem der<br />

Gässchen, die zum See aus der Stadt führten, zu gelangen. So<br />

schnell er konnte, kletterte er den Abhang hinauf und kam endlich<br />

in die Hauptstraße. Rasch durchschritt er diese und erreichte das<br />

Haus des Diakonus Schwindovius, <strong>als</strong> eine Magd eben im Begriffe<br />

war, die Flügel des Hoftores, das sich zwischen Haus und Stall<br />

befand, zu schließen.<br />

„Wo finde ich den Herrn Diakonus?“ fragte Thomas atemlos.<br />

„Herr“, sagte das Mädchen in polnischer Sprache mit einem<br />

Knicks, „der Herr Diakonus ist mit der Jungfer Esther vor kaum<br />

einem Viertelstündchen auf dem Schlitten weggefahren“.<br />

„Weißt Du nicht, mein Kind“, fragte Thomas, „wohin sie<br />

gefahren sind?“<br />

„Nein, das weiß ich nicht“, erwiderte die Magd. „Der Herr Diakon<br />

befahl vor einer halben Stunde, der Joseph soll gleich<br />

geschwinde<br />

anspannen und ich sollte ihm helfen, damit es schneller geht. Wir<br />

sputeten uns auch.<br />

Da kam der Herr Diakonus und die Jungfer<br />

Esther mit verweinten Augen. Ich setzte einen Stuhl an den<br />

Schlitten, dass sie<br />

einsteigen konnten. Da sah der Herr Diakon,<br />

dass der Joseph die neue Weihnachtsmütze und den neuen Guchl<br />

hatte. Bring mir das aus den Augen, sagte er. Nimm Deine alte<br />

Pudelmütze. Dem Joseph gefiel dass nicht. Er reichte mir die<br />

schönen Sachen, die ich auf die<br />

Schwelle legte. Dann gab mir die<br />

Jungfer Esther zwei Bücher zu halten, bis sie eingestiegen war.<br />

Eins war ein dickes,<br />

und eins ein dünnes. Schön eingebunden in<br />

rot mit weißem Rücken und weißen Ecken und einem roten<br />

blanken Schnitt. Ich reichte die Bücher der Jungfer Esther in den<br />

Schlitten. Die nahm sie seufzend, sagte aber kein Wort“.<br />

„Nach welcher Gegend sind sie denn gefahren?“ fragte Thomas.<br />

„Auf den See“, antwortete die Magd. „Wo sie aber von da weiter<br />

gefahren sind, ob nach Ostrokoln oder anders wohin, weiß ich<br />

nicht“.<br />

353


„Kann mir das denn kein Mensch hier im Hause sagen?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Ich bin ganz allein im Hause“, erwiderte die Magd. „Soll ich<br />

dem Herrn Diakonus vielleicht etwas von dem Herrn bestellen?“<br />

„Nein, mein Kind“, sagte Thomas, „ich werde wohl an ihn<br />

schreiben“. Mit diesen Worten reichte er der Magd ein Goldstück,<br />

warf einen langen Blick auf das kleine Giebelhaus und ging nach<br />

dem weißen Eckhaus.<br />

Schnaufend, pustend und schwitzig kam ihm der Schwager Nebe<br />

vom See her entgegen.<br />

„In diesem Nest bleibe ich keine Minute länger, <strong>als</strong> bis ich meine<br />

Anzeige beim Erzpriester gemacht habe. Er muss widerrufen und<br />

abbitten“, rief er Thomas entgegen. Thomas nahm ihn untern Arm<br />

und sagte:<br />

„Aber Jacob, was willst Du mit dem Widerruf, hat denn ein<br />

Mensch gehört, dass er Dich beschuldigt hat?“ Nebe schüttelte<br />

heftig den Kopf.<br />

„Nein, niemand war dabei“.<br />

„Nun, siehst Du“, sagte Thomas, „kein Mensch weiß ein<br />

Sterbenswörtchen von der Beleidigung, wenn Du nicht selbst<br />

anfängst und sie an die große Glocke hängst. Wenn Du aber<br />

meinst, so setze Deine Klageschrift in <strong>Angerburg</strong> mit Muße<br />

gründlich auf und schicke sie dem Lycker Erzpriester zu. Sonst bin<br />

ich aber ganz mit Dir einverstanden, keine Minute länger hier zu<br />

bleiben“. Nebe überlegte.<br />

Thomas ging durch den Torweg, nahm dem einen Pferde die<br />

Decke ab, während Jasch dasselbe mit dem andern tat. Beide,<br />

Herr und Diener, setzten sich auf den Schlitten und fuhren auf die<br />

Straße.<br />

„Nun steig ein, Schwager“, rief Thomas und half Nebe<br />

einsteigen. Beide grüßten die Wirtsleute und fuhren ab.<br />

In der großen Krugstube von Kaplans Haus in Lyck saßen am<br />

Abend des Neujahrstages zum Abendtrunke, um den großen Tisch<br />

in der Nähe des Ofens der polnische Schulmeister Schickedanz,<br />

neben ihm der Stadtdiener, gegenüber der Wirt, und am Ende des<br />

Tisches der alte Torwart Paskarbait mit seinem Holzfuß.<br />

„Ihr könnt mir glauben“, sagte der Wirt, „die Fremden waren<br />

aus Danzig und kein Mensch kennt sie hier“.<br />

„Na, weshalb sollten sie gerade aus Danzig sein“, fragte<br />

Schickedanz, „kann ja sein, aber woher wißt Ihr das?“<br />

354


„Seht“, sagte der Wirt, „der Fremde kannte unsers Bäckers<br />

Backwaren bei ihrem Danziger Namen, der Herr muss aber ein<br />

sehr vornehmer Mann sein, man kann das schon am Saufen<br />

erkennen“.<br />

„Hat er denn so schrecklich viel gesoffen?“ fragte Schickedanz.<br />

„Nun, das will ich meinen“, erwiderte der Wirt. „Gestern Abend,<br />

ich lag schon im Bett, sah aber durch die Tür, brachte der Kalps<br />

und der stumme Kutscher den Herrn schwer besoffen hier in diese<br />

Stube. Er konnte nicht stehen und schlief gleich weiter auf der<br />

Bank. Ebenso mühsam brachten sie ihn in die Kammer. Um 4 Uhr<br />

morgens ist der Kalps schon wieder da und holt für seinen Herrn<br />

ein Stof vom allerbesten teuersten Wein. Er selbst trank keinen<br />

Tropfen. In der Nacht hat der Herr das Bett zerbrochen. Den<br />

anderen Morgen ging er aber ganz stramm zur Kirche“.<br />

„Seht Ihr“, sagte Schickedanz, „Juden oder Papisten sind sie<br />

<strong>als</strong>o nicht“.<br />

„Na, aber nachmittags war der Herr wieder gehörig besoffen“,<br />

sagte der Stadtdiener. „Gleich nach dem Essen war meine Frau<br />

an’s Fenster gegangen. Ich benagte noch einen Knochen, da ruft<br />

sie mich: Du, komm’ einmal geschwind her. Was mag das für<br />

einer sein? Ich bin an’s Fenster, da kommt der fremde Herr<br />

vorbei, in tiefen Gedanken, sieht nicht rechts, nicht links. Da sagt<br />

meine Frau: Sieh, er geht zum Tor. Wer mag das bloß sein? Ich<br />

sag, ich kenn’ ihn nicht. Er hat doch seinen Pass am Tor<br />

aufzeigen<br />

müssen.<br />

Da werd’ ich mal gelegentlich nachfragen. Gut, ich leg’<br />

mich<br />

aufs Ohr, schlaf’ Mittagsstund’, da weckt mich meine Frau,<br />

und<br />

sagt, es hat schon vor ’ner Weile 2 geschlagen. Du wolltest<br />

Dich doch erkundigen am Tor, wer der fremde Herr ist. Was<br />

Du<br />

neugierig bist, sag ich. Na, aber die Altsche, lässt mir doch keine<br />

Ruh.<br />

Ich komme in den Hausflur, will gerad’ rausgehn, hatte schon<br />

die oberste Hälft’ der Haustür aufgemacht, wer kommt da von der<br />

Seite des Chors? Mein feiner Herr, schimpft, schlägt mit dem<br />

Stock um sich, bleibt stehen, immer brummend und schimpfend.<br />

Da kommt geschwinde von der Stadt her der<br />

Diener, ruft seinen<br />

Herrn an, ob er schon wieder besoffen ist, nimmt<br />

ihn untern Arm,<br />

und schleppt ihn auf’s Eis zum Ausnüchtern. So ein Diener hat es<br />

auch nicht gut bei solchem versoffenem Herrn“.<br />

„Habt Ihr denn nicht am Tor nachgefragt?“ fragte der Wirt.<br />

„Na, werd’ ich nicht“, sagte der Stadtdiener.<br />

„Dann könntet Ihr uns doch genaue Auskunft geben“, meinte<br />

Schickedanz.<br />

355


„Das ist ja das wunderliche, durch keines der beiden Tore ist ein<br />

solcher Herr in die Stadt gekommen, hat keinen Pass vorgezeigt“,<br />

sagte der Stadtdiener.<br />

„Es werden gewiss Franzosen gewesen sein, die in’s Land<br />

kommen. Die wollten wohl sehen, wie sie uns unsere Nahrung<br />

nehmen können“, sagte der Wirt. „Die Franzosen sollen nichts<br />

anderes saufen <strong>als</strong> Wein“.<br />

„Kann sein, kann sein“, meinte der Stadtdiener, „ es sollen sehr<br />

vornehme Herren darunter sein, wie der alte Schotte Bell<br />

erzählte“.<br />

„Ich kann<br />

Euch sagen“, rief der Wirt, „solch ein feiner Schlitten,<br />

feine Decken, feine Geschirre…“<br />

„Joa, joa, wär e hibsche Schläde“<br />

gesehn hat“.<br />

h einen Pollacken von dem fremden Herrn? Nun,<br />

ie beiden Münzen aneinander klingen ließ.<br />

Stall, wer en alle Decke<br />

567 , fiel Paskarbait ein.<br />

„Wo habt Ihr ihn denn gesehen?“ fragte der Wirt verwundert.<br />

„Wer ek oppe Schloss - keem de Herr beseeke dem nye Herr<br />

Amtshauptmann - fund em nich toa Hus, jing he biem Herr<br />

Amtsschriewer Nietzkis - jing ek an Schläde - froagt, wo Knecht<br />

herkehm - säd he, ut Neuhoff“. 568<br />

„Na das lügt Ihr in Eurern H<strong>als</strong> hinein, Ihr alter Aufschneider“,<br />

rief der Wirt, „der Kutscher ist taubstumm, der kann gar nicht<br />

reden. Wer weiß, wen der Alte<br />

„I, doa sull doch jlick dat Donnerwetter“ 569 , rief der alte Stelzfuß<br />

aufspringend, „geloage sull ek hebbe , hier, dat geef mi de Herr<br />

tom versupe !“ 570<br />

Damit warf er eine Silbermünze auf den Tisch. Schickedanz suchte<br />

in seiner Hosentasche und legte ebenfalls ein Silberstück auf die<br />

Tischplatte. „Wird doch wohl nicht f<strong>als</strong>ch sein?“ fragte er.<br />

„Habt Ihr auc<br />

f<strong>als</strong>ch ist das Geld nicht, der reine Silberklang“, sagte der Wirt,<br />

indem er d<br />

„F<strong>als</strong>chmünzen sind es <strong>als</strong>o nicht. Aber wissen möchte ich doch,<br />

was das für Leute gewesen sind“.<br />

„War ek nich weete“, sagte der Torwart wichtig - „had ek<br />

Waldenrotersch Peerd en onsem<br />

engeneejt de Schnell“. 571<br />

567<br />

„Ja, ja, es war ein hübscher Schlitten“<br />

568<br />

„Ich war auf dem Schloss – da kam der Herr den neuen Amtshauptmann besuchen. Er<br />

fand ihn aber nicht zu Hause und ging zum Amtsschreiber Nietzkis. Ich ging zum Schlitten und<br />

fragte, woher der Knecht käme. Er sagte, aus Neuhoff“.<br />

569<br />

„Da soll doch gleich das Donnerwetter<br />

reinschlagen,“<br />

570<br />

„gelogen soll ich haben, hier das gab mir der Herr zum Versaufen!“<br />

356


Die beiden Reisenden, die mit dem sinkenden Abend die Stadt<br />

verließen, hatten keine Ahnung davon, welch abenteuerliche<br />

Ansichten über ihre Personen auf der Bierbank zu Markte gebracht<br />

wurden. So gesprächig sie auf der Hinreise gewesen waren, so<br />

schweigsam waren sie <strong>jetzt</strong>. Nebe konnte es nicht lange<br />

verwinden, dass er doch nicht sogleich die Anzeige bei dem<br />

Erzpriester in Lyck gemacht hatte. Er sprach mit sich selbst,<br />

brummte für sich, schlief aber endlich von der ungewohnten<br />

Anstrengung des Tages ermüdet ein. Thomas ließ, mit<br />

zertrümmerten Hoffnungen, noch einmal die Erlebnisse des<br />

ereignisreichen Neujahrstages an seiner Seele vorüberziehen, wie<br />

er die Holdselige am frühen Morgen so traurig und bleich und doch<br />

so hinreißend schön gesehen. Verweinte Augen hätte Esther<br />

gehabt, hatte die Magd erzählt. Bücher hätten sie auf die Fahrt<br />

heute mitgenommen. Eines der Bücher kannte Thomas gut genug,<br />

es war ja die Tuba pacis, die er selbst dem Diakonus gesendet<br />

hat, um ihn zu erfreuen. Nicht einmal die Mütze des Josch, die von<br />

Thomas diesem geschickt war,<br />

wollte Schwindovius vor Augen<br />

haben. Was war der Grund, dass der alte Diakonus ihn so schroff,<br />

so beleidigend behandelte? Thomas marterte vergebens sein<br />

Gehirn.<br />

Er konnte nicht wissen, dass in dem bescheidenen Pfarrhause zu<br />

Grabnick, in dessen nächster Nähe die Reisenden vorbeigefahren<br />

waren, am selben Abend der alte Pfarrer Mroncovius zu Esther<br />

sagte:<br />

„Komme her, meine Tochter, stelle dich hier auf diese Stelle vor<br />

mich hin und achte auf meine Worte: Dein Vater hat mir den<br />

ganzen Fall ausführlich<br />

dargelegt und mir alles von Grund auf<br />

erzählt. Er hat mir auch das Buch gezeigt, welches dieser Mensch,<br />

wie zum Hohn, ihm zu Weihnachten gesendet und ihm darin<br />

lateinisch eingeschrieben hat, er solle<br />

es fleißig lesen und den<br />

Inhalt wohl beherzigen. In Anbetracht dessen, dass ein Mensch,<br />

der so gesonnen ist, nicht ewig selig werden kann, so hat dein<br />

Vater, wenn ihm auch das Herz dabei weh tut, sich nicht anders<br />

resolvieren 572 können, dir zu verkündigen, du sollest jeden<br />

Gedanken an jenen schändlichen kalvinistischen Menschen, der ein<br />

571 „Werde ich es nicht wissen“, sagte der Torwart wichtig – „hatte ich doch Wallenrodts<br />

Pferde in unserem Stall, in alle Decken war die Schnalle eingenäht“.<br />

572 Beschließen<br />

357


echter Spötter unseres heiligen Glaubens ist, aus deinem Herzen<br />

reißen und <strong>als</strong> eine gehorsame…„<br />

„Herr Ohm“, fiel ihm Esther in’s Wort, „ich habe Euch von<br />

frühester Kindheit an stets geliebt und geehrt, doch <strong>jetzt</strong><br />

muss ich<br />

Euch mit einem andern lateinischen Sprüchlein, das ich mit<br />

meinem Bruder zusammen lernte, widersprechen: audiatur et<br />

altera pars könnt Ihr, Herr Ohm, den Thomas solcher<br />

n?“<br />

Apostaten bekennt<br />

in Vater“, wendete sich Esther zum Diakon Schwindovius,<br />

en beeilte sich der Diakonus in’s Bett zu<br />

gehen. Esther leistete ihm schweigend die nötigen<br />

Handreichungen und küsste ihm dann die Hand.<br />

r’s nicht so zu Herzen gehn, mein Kind“, sagte<br />

us.<br />

573 . Wie<br />

Schändlichkeiten beschuldigen, da Ihr ihn nie gesehen, kein Wort<br />

mit ihm gesprochen habt? Wie könnt Ihr ihn ungehört<br />

verdamme<br />

„Nun, sein Sprüchlein zeigt ja doch genug“, sagte Mroncovius,<br />

„dass er sich zu den schändlichen Sätzen des<br />

und der fromme Calovius, den Du zu Hause nachlesen magst, hat<br />

ja hier mit klaren Worten gesagt, dass ein Kalvinist nicht die ewige<br />

Seligkeit erwerben kann“.<br />

„Me<br />

der in seinen Stuhl gesunken, gebeugt zur Erde sah, „ich will Eure<br />

gehorsame Tochter bleiben. Ihr sollt den Namen des Mannes, der<br />

in Euren und des Oheims Augen ein solcher Ausbund von<br />

Schlechtigkeit ist, nie von meinen Lippen hören. Doch das könnt<br />

Ihr von mir nicht verlangen, dass ich nicht an ihn denken soll“.<br />

Damit ging sie in die Küche zu der alten Schwester des Pfarrers,<br />

um ihr bei der Bereitung des Abendessens behilflich zu sein.<br />

„Es tut mir in der Seele weh…“, sagte Schwindovius.<br />

„Das musst Du überwinden“, unterbrach ihn Mroncovius. „Du<br />

hast ganz recht gehandelt, und die Esther wird auch den<br />

Menschen wohl bald vergessen haben. Denke doch nur, in welche<br />

Gefahr der Seele Dein Kind hätte kommen können, wenn Du nicht<br />

noch rechtzeitig die eigentliche Gesinnung dieses Menschen<br />

erkannt hättest“. So fuhr Mroncovius noch lange fort.<br />

Bei der Abendmahlzeit waren sämtliche Anwesende sehr<br />

einsilbig. Es wollte kein Gespräch in Gang kommen. Eine<br />

unbehagliche Stimmung herrschte in dem ganzen Kreis auch noch<br />

nachher. Die Lycker brachen auch bald auf. Unterwegs waren<br />

Vater und Tochter mit ihren Gedanken beschäftigt und redeten<br />

nicht. Heimgekomm<br />

„Lass Di<br />

Schwindovi<br />

57 3<br />

Man höre auch den anderen Teil.<br />

358


Esther antwortete nicht, küsste nochm<strong>als</strong> die Hand des Vaters und<br />

entfernte sich.<br />

„Ach Esther“, rief Marie, sich im Bette aufrichtend, <strong>als</strong> die<br />

Schwester mit dem Lichte in das Stübchen trat, „es ist recht<br />

schade, dass der Vater mit Dir heute Abend noch wegfahren<br />

musste. Wo wart Ihr denn?“<br />

„In Grabnick bei dem alten Ohm Mroncovius“, sagte Esther mit<br />

trauriger Stimme.<br />

„Denke Dir“, sagte Marie, „Ihr wart kaum fort, da kommt ein<br />

Herr zum Besuch“.<br />

„Hast Du ihn gesehen?“ unterbrach sie Esther.<br />

„Ach nein, leider nicht“ antwortete Marie. „Denk Dir, ich komme<br />

mit Maleski’s Christine zusammen aus der Vesper, da steht an der<br />

Kirchtür unsere Orth, gibt mir die Schlüssel und sagt, der Vater ist<br />

mit Dir weggefahren. Ihr würdet<br />

erst spät wiederkommen. Da<br />

dachte ich, dass es für mich allein zu Hause sehr langweilig sein<br />

wird und sage der Orth, sie soll dem Bernhard Vesper geben und<br />

den Mägden auch Essen. Ich würde bald nachkommen und gehe<br />

mit der Christine auf ein halbes<br />

Stündchen mit. Ich komme erst<br />

nach Hause, <strong>als</strong> es schon ganz finster ist. Da erzählt mir die<br />

Kathrin, ein großer schlanker,<br />

stattlicher Herr ist es gewesen. Er<br />

ist weggegangen, kurz bevor ich nach Hause kam. Er trug einen<br />

breitrandigen Hut und dunklen Radmantel. Er hat zum Vater<br />

wollen und hat gefragt, wo Ihr hingefahren seid. Er hat der<br />

Kathrin ein blankes Silberstück geschenkt und hat ihr gesagt, er<br />

wird vielleicht an den Vater schreiben. Die Kathrin meint, es ist ein<br />

sehr feiner<br />

Herr gewesen, gewiss einer von den Franzosen. Er hat<br />

aber sehr gut Polnisch reden können“.<br />

„Woher weiß denn die Kathrin, dass er einer von den Franzosen<br />

war?“ fragte<br />

Esther. „I, das hat ihr die Therese erzählt, die in<br />

Kaplans Haus dient, wo der vornehme Herr mit einem<br />

pockennarbigen Kutscher gestern Abend eingekehrt war, wo er<br />

auch die Nacht<br />

geblieben ist und heute in der Dämmerung<br />

fortfuhr. Schade, schade, dass ich nicht zu Hause war“.<br />

So fuhr Marie noch lange fort zu berichten, was ihr die polnische<br />

Magd erzählt hatte, und machte ihre Bemerkungen und<br />

Folgerungen dazu. Esther achtete<br />

<strong>jetzt</strong> nicht weiter darauf, sie<br />

kniete vor ihrer Lade nieder, schloss sie auf, stützte den Deckel<br />

an, öffnete die Beilade und nahm, nachdem sie ein<br />

zusammengelegtes Tuch entfernt hatte, das Gesangbuch der<br />

verstorbenen Mutter heraus und betrachtete<br />

lange die unter ihm<br />

liegenden Gegenstände. Es war da wenig zu sehen: Eine<br />

359


Silbermünze, ein schmaler Streifen von farbiger Seide und zwei<br />

Zettel. Auf dem einen stand von Thomas fester Handschrift: Dem<br />

Joseph, der versprochene Jahrmarkt! und auf dem anderen: Der<br />

Jungfer Esther für das weggeschenkte Tuch. Einen schmalen<br />

Streifen hatte Esther<br />

von dem Tuch abgeschnitten, <strong>als</strong> sie es<br />

viereckig schnitt, um es zu besäumen. Heiße Tränen flossen ihr<br />

<strong>jetzt</strong> auf den Schoß und die gefaltenen Hände, da sie vor der Lade<br />

kniete. Nein, nein, dachte sie, das war nicht möglich. Der Mann,<br />

der dies schrieb, konnte nicht an demselben Tag, vielleicht in<br />

derselben Stunde, dem Vater, um ihn zu ärgern, ein Buch zum<br />

Hohn und Spott schicken. Nein, nein, das war nicht möglich, das<br />

konnte Thomas nicht tun. Wie sollte sie<br />

aber dem Vater den<br />

Irrtum nehmen, in dem er noch durch den alten Mroncovius<br />

bestärkt war? Der ihm in allen Stücken Recht gegeben hat. Wie<br />

sollte sie den Vater überzeugen? Wie sollte sie, wenn es ihr<br />

wirklich gelingen<br />

sollte, was kaum möglich schien, den Geliebten,<br />

der zurecht von der harten Abweisung des Vaters ergrimmt sein<br />

musste, von der veränderten Gesinnung des Alten in Kenntnis<br />

setzen? Ach, sie durfte ihm ja nicht einmal zeigen, dass ihre Seele<br />

ganz mit seinem Bild, mit den Gedanken an ihn, erfüllt sei. Wer<br />

zeigte ihr einen Ausweg aus diesem Labyrinth? Lange, lange<br />

kniete Esther, trocknete dann entschlossen die Tränen, stand auf,<br />

warf noch einen Blick auf die unbedeutenden, von Thomas<br />

herrührenden Gegenstände, löschte das Licht und suchte ihr Lager<br />

neben der längst entschlummerten Schwester auf. Den gesuchten<br />

Schlaf konnte sie aber nicht finden. Thomas hatte sich doch nicht<br />

durch die beleidigende Abweisung, die ihm sein Schwager<br />

mitgeteilt haben musste, zurückschrecken lassen, war selbst<br />

gekommen, um mit dem Vater zu reden, selbst zu werben. Gewiss<br />

würde es ihm gelungen sein, den Vater zu überzeugen. Was trieb<br />

ihn, die Beleidigung zu verschmerzen? Nur die Liebe zu ihr, weil er<br />

ihr in herzlicher Liebe zugetan war. Dies Wort von Thomas<br />

Schwager, welches sie deutlich gehört hatte, stand immer wieder<br />

vor ihrer Seele. Endlich wendete<br />

sich ihre von Angst und Sorge,<br />

von Zweifel und Hoffnung gequälte Seele im Gebet zum rechten<br />

Tröster in allem Kummer.<br />

Am andern Morgen ging Esther wie gewöhnlich an ihre Arbeiten,<br />

fleißig und freundlich zu den Hausgenossen,<br />

doch war sie sehr<br />

bleich, sehr still und wurde von Tag zu Tage bleicher.<br />

360


30. Auf der Rückfahrt von Lyck nach <strong>Angerburg</strong>:<br />

Zwischenstation beim Diakon Boretius in Lötzen<br />

„Herr“, redete Jasch den in tiefen Gedanken sitzenden Thomas<br />

an, „Herr, hier ist der Krug von Grabnick, an dem wir gestern<br />

einen Augenblick anhielten, und dort geht’s nach Neuhoff. Sollen<br />

wir diesen Weg auch wieder zurückfahren? “<br />

Thomas fuhr auf, sah sich um und sagte:<br />

„Halt‘ am Kruge an, ich werde hineingehen und mich nach dem<br />

nächsten Weg nach Lötzen erkundigen“.<br />

Der Schlitten hielt, Thomas drängte sich durch die<br />

Menschenmenge, die vor der Tür und in dieser stand. Die Stube<br />

war gedrängt voll, denn die Polen wussten den Neujahrstag nicht<br />

besser zu beschließen <strong>als</strong> im Krug. Bei dem Wirt, der nach langem<br />

Suchen und Fragen endlich aufgefunden wurde, war keine<br />

Auskunft zu erlangen, denn er lag, sinnlos betrunken, in einer<br />

Ecke. Doch kam die Wirtin herbei, von einigen Polen<br />

benachrichtigt, dass ein fremder Herr mit dem Wirt sprechen<br />

wolle, <strong>als</strong> Thomas eben seine mangelhaften Versuche, den<br />

Betrunkenen zu wecken, aufgeben wollte. Thomas erkundigte<br />

sich<br />

nun nach dem nächsten Weg nach Lötzen und wie weit es bis<br />

dahin sei.<br />

„Wir rechnen bis Widminnen knapp<br />

drei Meilen über Jucha. Es<br />

ist aber noch ein näherer Weg über Krzewen und Radzien. Wer<br />

sich aber da nicht auskennt, kann sich leicht verirren“, sagte die<br />

Wirtin.<br />

„Kann ich nicht einen Menschen mitbekommen, der uns bis<br />

Widminnen begleitet?“ fragte Thomas, „ich will ihn gern bezahlen“.<br />

„Das trifft sich ja wunderschön“, sagte die Wirtin, „meiner<br />

Schwester Sohn aus Widminnen war zu den Feiertagen<br />

hergekommen und wollte morgen zurückgehen. Stanislaus,<br />

Stanislaus Topolowski“, rief sie mit kreischender Stimme in den<br />

Haufen hinein. „Stanislaus, komm mal her“.<br />

Ein schlanker hoch aufgeschossener Pole drängte sich durch die<br />

Menge, die Mütze auf dem Hinterkopf über das wirre Haar gesetzt,<br />

erschien er in kurzem Pelze.<br />

„Stanislaus“, redete Thomas ihn an, „Du kannst nach<br />

Widminnen mitfahren, hier hast Du einen Dreipölchner. Nimm<br />

noch einen Schnaps, dann wollen wir fahren“.<br />

Endlich hielt der Schlitten vor dem Kruge in Widminnen, hier<br />

war alles finster. Topolowski sprang ab. Er schien die Gegend gut<br />

361


zu kennen und fing mit einem Stock an einer Stallwand gewaltig<br />

zu poltern an.<br />

„Lorenz, Lorenz, mach’ auf, mach’ auf! Herrschaften sind<br />

gekommen“.<br />

Nach langer Zeit hörte man eine schläfrige Stimme, wieder nach<br />

einer Weile erschien eine Gestalt im Schlafpelz und Klumpen 574 .<br />

Die Haustür wurde geöffnet. In der Wirtsstube gelang es erst nach<br />

langem Pinkern 575 , Licht zu machen.<br />

„Bring’ uns einige Bunde Stroh“, befahl Thomas zu Stanislaus,<br />

„und der Jasch bringe die Lischke“.<br />

Nebe saß gähnend am Tische.<br />

„Nun, willst Du nicht etwas essen?“ fragte Thomas ihn und<br />

schob ihm die Speisen und das Messer zu. Nebe griff herzhaft zu,<br />

redete aber nicht weiter, sondern legte sich nach vollbrachter<br />

Arbeit auf die Streu, wo er bald eingeschlafen war. Thomas nahm<br />

nur einen Bissen Brot, während Jasch und sein neuer Freund sich’s<br />

wohl schmecken ließen und dann irgendwo<br />

ihr Lager suchten.<br />

Thomas ließ zur Sicherheit die Lampe brennen und legte sich, in<br />

seinen Mantel gewickelt, auf die Streu. Doch die Ruhe und den<br />

Schlaf, den er suchte, fand er nicht. Mit welchen Hoffnungen war<br />

er ausgefahren. Wie glücklich hoffte er, in Lyck zu werden, wie<br />

glücklich zurückzukehren, und <strong>jetzt</strong>? Er warf sich hin und her, sah<br />

oft nach der Uhr. Kein Schlaf kam in seine Augen. Endlich gegen<br />

Morgen machte die erschöpfte Natur ihre Rechte geltend, und er<br />

schlummerte mit wüsten Träumen ein. Als Thomas von diesen<br />

erschreckt erwachte, richtete er sich auf und sah den Schwager<br />

am Tisch vor der Lampe sitzen und in seinem Journal eifrig<br />

schreiben.<br />

„Bist Du schon auf? Guten Morgen. Es ist ja erst halb 6. Was<br />

schreibst Du denn so eifrig?“ „Ich setze meinen Entwurf zur Klage<br />

wegen der Beleidigung<br />

an den Erzpriester auf“ sagte Nebe<br />

mürrisch und schrieb weiter.<br />

Thomas erschrak. Er hatte doch gehofft, der Ärger würde dem<br />

Schwager vergehen, er würde ihn verschlafen. Nebe saß am Tisch,<br />

hatte<br />

die Unterlippe vorgeschoben<br />

und schrieb erregt weiter. Nun<br />

ist’s<br />

ganz aus zwischen Esther und mir, dachte<br />

Thomas, wenn ihr<br />

Vater, wie sich’s erwarten lässt, vom Erzpriester oder gar vom<br />

Konsistorio einen Verweis bekommt, wird er sich gewiss nicht<br />

574 Klumpen - geschnitzte Holzschuhe.<br />

575 Pinkern – leichtes Hämmern, hier: Feuerschlagen.<br />

362


versöhnen lassen. Seufzend erhob er sich von seinem Lager, um<br />

nach den Pferden zu sehen.<br />

„Wenn Du und Jasch gegessen habt, so können wir fahren, die<br />

Pferde haben gefressen“, sagte Thomas, zurückkehrend zu seinem<br />

Schwager.<br />

„Mir ist’s recht“, sagte dieser aufstehend und sein Journal<br />

schließend. „Ich bin eben fertig geworden. Dem Alten soll seine<br />

Beleidigung gut eingetränkt werden“.<br />

Eine halbe Stunde später saßen die Reisenden wieder auf dem<br />

Schlitten. Stanislaus Topolowski, der auf ein gutes Trinkgeld<br />

hoffte, war sehr behilflich beim Anspannen<br />

gewesen und hatte sich<br />

erboten, den Herrschaften <strong>als</strong> Führer nach Lötzen zu dienen,<br />

wohin er in diesen Tagen reisen müsste. Thomas war zufrieden.<br />

Stanislaus lenkte auf das Eis des Widminner Sees, über den sie<br />

seiner ganzen Länge nach über eine Meile weit sehr schnell<br />

fuhren. Dann ging’s etwa ebensoweit auf der guten Bahn des<br />

festen Erdbodens, wobei Stanislaus sehr geschickt die kleinen<br />

Seen benutzte. Endlich kam der Schlitten wieder auf das Eis des<br />

Löwentinsees, und in kurzer Zeit war das Städtchen Lötzen<br />

erreicht.<br />

Göring empfing die Reisenden wie alte Bekannte.<br />

„Das war eine schnelle Fahrt“, sagte Thomas. „Wir sind von<br />

Widminnen nicht viel länger <strong>als</strong> 2 Stunden gefahren. Die Uhr ist<br />

noch nicht neun“.<br />

Nachdem Nebe sich gehörig gestärkt, satt gegessen, und sich,<br />

wie er sagte, die Füße ein wenig vertreten hatte, sagte er zu<br />

Thomas:<br />

„Weißt<br />

Du was, ich gehe auf ein Stündchen zum Diakonus<br />

Boretius, dem ich einen Besuch schuldig bin“.<br />

„Wie Du willst, Jacob“, antwortete Thomas. „Bleibe aber<br />

nicht<br />

gar zu lange, damit wir <strong>Angerburg</strong> heute noch erreichen“.<br />

„Ich bin doch kein Kind!“ sagte Nebe in gereiztem Ton, und ging<br />

los.<br />

Thomas ging hin und her, besah die Kirche, die abgebrannten<br />

Häuser 576 . Er ging eine Strecke die Straße nach Lyck 577 hinaus.<br />

Heute hatte er keine Augen für die großartige Aussicht, die sich<br />

ihm über den See darbot. Traurig betrachtete er eine finstere<br />

576<br />

S. FN 355.<br />

577<br />

Freitag den 19.3.1688 entstand in Lyck eine Feuersbrunst, wodurch 80 Häuser nebst dem<br />

Rathhaus, der Kirche und Schule abbrannten.<br />

363


mächtige Wolkenwand, die sich im Süden über dem fernen<br />

Horizont türmte. So ist es auch mit meiner Liebe, dachte er.<br />

Vernichtet ist sie durch einen unseligen Irrtum. Gegen Mittag kam<br />

er in den Krug zurück, teilte das Mittagessen mit den Wirtsleuten,<br />

ließ es für den Schwager warmstellen, und schickte endlich um 1<br />

Uhr seinen Jasch, um den Herrn Diakonus Nebe zu rufen. Der<br />

Knecht kam nach ¾ Stunden mit der Nachricht, der Herr Diakonus<br />

würde bald kommen. Um halb 3 machte sich Thomas selbst auf<br />

den Weg und fand bald die Wohnung des Kaplans Boretius. Die<br />

Haustür stand offen. In dem kleinen, mit Ziegeln ausgelegten<br />

Hausflur befand sich niemand. Thomas hörte Stimmen hinter einer<br />

Tür und öffnete sie. Zwei kleine Knaben saßen an der Erde des<br />

Stübchens, jeder hatte eine hölzerne, schwarz gestrichene Tafel<br />

auf dem Schoß und zeichnete mit Kreide auf dieser, während ein<br />

Mädchen von 7 oder 8 Jahren mit einem Blatt Papier in der Hand<br />

neben ihnen kniete.<br />

„Kinder“, sagte Thomas, „könnt Ihr mir nicht sagen, wo ich den<br />

Herrn Diakonus finde?“<br />

Das kleine Mädchen stand auf, machte einen Knicks und<br />

erwiderte:<br />

„Der Vater ist mit einem fremden Onkel zum Herrn Pfarrer<br />

gegangen und sagte zur Mutter, dass sie bald wiederkommen<br />

werden. Mutter, Mutter“ rief das Kind mit schriller Stimme, „ein<br />

Mann ist da, der fragt nach dem Vater!“<br />

„Lass er sich hinsetzen und warten“, ertönte eine Stimme durch<br />

die angelehnte Tür. „Der Vater wird bald kommen. ich habe nicht<br />

Zeit“.<br />

Thomas setzte sich auf einen Stuhl an das Fenster. Die Kinder<br />

kamen zu ihm, stellten sich um ihn herum und besahen ihn. Er<br />

war immer ein Kinderfreund gewesen, nahm den jüngsten Knaben<br />

auf den Schoß und fragte:<br />

„Wie heißt Du denn, mein kleiner Mann?“<br />

„Georg Christoph Boretius, Kaplans Sohn aus Lötzen“ antwortete<br />

das Kind sehr ernsthaft.<br />

„Wie alt bist Du denn?“,<br />

„Zwei Jahre 3 Monate. Geboren den 8. Oktober 1685 in Lötzen“,<br />

sagte der kleine Knabe.<br />

„Sieh, das weißt Du ja sehr gut“, sagte Thomas, sich an den<br />

älteren Bruder wendend, der an seinem Knie lehnte.<br />

„Wie alt bist Du denn?“<br />

364


„Ich heiße“, ließ dieser sich vernehmen, „Johann Friedrich<br />

Boretius, Kaplans Sohn aus Lötzen. Hier geboren den 24. August<br />

1683“.<br />

„Wenn Ihr das so schön sagen könnt, dann musst Du mir doch<br />

auch Deinen Namen sagen“, wendete sich Thomas zu dem<br />

Mädchen,<br />

„Ich heiße Elisabeth Emerentia Boretiussin, Kaplans Tochter aus<br />

Lötzen, geboren in Goldap den 8. April 1679“, sagte das Kind mit<br />

einem Knicks.<br />

„Deine Eltern wohnten wohl lange in Goldap?“ fragte Thomas.<br />

„Ich weiß nicht“, antwortete das Kind. „Vater ist dort Rektor<br />

gewesen, ich kann mich auf<br />

Goldap nicht mehr besinnen. Ich war<br />

ganz klein, <strong>als</strong> wir herzogen“.<br />

„Onkel“, fing der kleine Christoph an, „Onkel, wir haben heut<br />

noch kein Mittag gegessen. Die Mutter gab jedem von uns ein<br />

Stück Brot und sagte, wir sollen warten, bis die Großen gegessen<br />

haben, und<br />

ich warte schon so lange“.<br />

„Das musst Du nicht erzählen, Christoph“, fiel strafend die<br />

Schwester ein.<br />

Thomas fasste in seinen Mantel, fand dort noch von dem<br />

Gebäck, das er sich in Lyck eingesteckt hatte, und verteilte es<br />

unter die Kinder.<br />

„Onkel“, sagte der kleine Christoph kauend, „der Engel hat mir<br />

zum heiligen Christ zwei schöne blanke Äpfel geschenkt. Ich fand<br />

sie unter meinem Schüsselchen“.<br />

„Hast Du denn den Engel gesehen, mein Söhnchen?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Ich nicht, aber die Emerenz und der Friedrich, die haben ihn<br />

kommen hören“, antwortete der Knabe.<br />

„Ja, ja“, sagte der kleine Friedrich, ernsthaft mit dem Kopfe<br />

nickend, „ich hab’ gehört, wie der Engel kam“.<br />

„Hast Du es denn auch gehört, mein Töchterchen?“, fragte<br />

Thomas.<br />

„Ich hab’s auch gehört“, sagte das Mädchen wichtig. „Die Mutter<br />

sagte uns am Heiligen Abend, wenn wir schön artig sein würden<br />

und fleißig beteten, dann wird uns in der Nacht der heilige Christ<br />

durch seinen Engel etwas hinlegen lassen, das würden wir am<br />

andern Morgen<br />

finden. Ich und der Friedrich, wir haben alle unsere<br />

Gebetchen,<br />

die wir nur konnten, zweimal gebetet, der kleine<br />

Christoph betete nur sein Abendgebetchen und schlief ein. Wir<br />

blieben aber noch munter und waren mäuschenstill, aber der<br />

kleine Christoph schnarchte wie ein Alter. Da mit einem Male tat<br />

365


sich ganz sanft die Tür von unserer Kammer auf und wir hören, es<br />

kommt hereingegangen der Engel ganz still, aber Schellenklingen<br />

hörten wir doch ganz leise. Am Tisch hörte das Klingen auf. Da<br />

hörten wir, wie unsere Schüsselchen ganz bisschen klapperten, die<br />

wir vor dem Schlafengehen auf den Tisch gestellt hatten. Dann<br />

hörten wir den Engel wieder hinausklingen. Gesehen haben wir ihn<br />

nicht, weil es ganz finster war“.<br />

„Was hatte denn der heilige Christ durch seinen Engel Euch<br />

geschickt?“ fragte Thomas.<br />

„Ach, ich bekam ein kleines Buch mit weißem Papier und einen<br />

blanken Apfel“, rief Friedrich.<br />

„Und mir hat der Engel ein blaues Band und auch einen blanken<br />

Apfel gebracht“, sagte das Mädchen.<br />

„Wo mag doch der Engel geblieben sein?“ fragte Thomas.<br />

„Der ist im Himmel“, sagte das Mädchen, „aber eine von den<br />

kleinen Glöckchen hat er bei uns verloren. Erst Feiertags morgens,<br />

<strong>als</strong> ich der Karoline mein Band zeigen wollte, fand ich sie, wie sie<br />

sich ein Glöckchen vom Unterrock absteckte, und da sagte sie mir,<br />

das wird der Engel verloren haben in unserer Kammer, und es hat<br />

sich gewiss an ihren Rock angehakt, <strong>als</strong> sie die Kammer sauber<br />

machte“.<br />

Der kleine Christoph auf Thomas Schoße sah sehr sehnsüchtig<br />

nach der Tasche des Radmantels, ob sich darin nicht noch mehr<br />

Backwerk befände. Thomas bemerkte es.<br />

„Habt Ihr denn nicht hier einen Bäcker in der Nähe?“ fragte er<br />

das Mädchen. „Ach ja“, antwortete diese, „hier gleich um die Ecke,<br />

da wohnt der Meister Szonzek,<br />

der hat schönes“.<br />

„Da, holt Euch davon, liebe Kinder“, sagte Thomas, dem<br />

Mädchen ein Goldstück reichend.<br />

Sie nahm es dankend, band den beiden Brüderchen Tücher um<br />

den Kopf, reichte beiden die Hand und so wanderten sie fröhlich<br />

zum Bäcker. Wie wenig gehört doch dazu, ein Kinderherz zu<br />

erfreuen, dachte Thomas, <strong>als</strong> er die drei Kinder so vergnügt über<br />

die Straße wandern und um die Ecke verschwinden sah. So wie<br />

diesen Kaplans Kindern wird es ja auch meiner Esther gegangen<br />

sein, <strong>als</strong> sie noch ein frohes Kind war, und <strong>jetzt</strong> am letzten<br />

Weihnachten… Er versank in tiefes schmerzliches Sinnen.<br />

Plötzlich fuhr Thomas auf. „Nun Emerentia“, hörte er von<br />

außen neben der nicht ganz geschlossenen Tür des Nebenraumes<br />

eine laute Männerstimme sagen:<br />

„Nun Emerentia, hast du Mittag? Ich bin schrecklich hungrig“.<br />

366


„Na hör’ mal, Georg“, fiel eine weibliche Stimme ein, „du bist<br />

bei’m Pfarrer zu Mittag und kommst verhungert nach Hause? Es<br />

ist doch wirklich ganz unverantwortlich von dir. Erst bittest du<br />

einen fremden Herrn zum Essen und ich beeile mich, so sehr ich<br />

kann, ein ordentliches Mittagsmahl zu bereiten. Es ist bald<br />

gar, da<br />

gehst du mit dem fremden Diakonus zum Pfarrer. Ihr bleibt und<br />

bleibt, ich warte, der Braten ist schon ganz trocken. Ich musst’ ihn<br />

vom Spieß nehmen und warm stellen, dass er nicht zu Kohle<br />

brennt. Ich schick’ die Karoline einmal, auch noch einmal. Immer<br />

kommt sie wieder und sagt: Die Herren erzählen sich noch immer.<br />

Was habt ihr denn da so Merkwürdiges vorgehabt?“<br />

„Ach, Emerentia, was mir<br />

das leid tut“, lautete die Antwort. „Du<br />

weißt ja, wie der <strong>Angerburg</strong>er Kaplan versessen darauf war, die<br />

alten verrosteten Münzen, Ringe und den andern Quark zu sehen,<br />

die hier gefunden sind und die der Pfarrer verwahrt hat. Er ließ<br />

sich ja gar nicht halten, <strong>als</strong> ich ihm davon erzählt hatte. Ich<br />

musste spornstreichs<br />

mit ihm hingehen. Na, du weißt, Wedekes<br />

essen immer Punkt 11. Als wir hinkamen, trug die jüngste Tochter<br />

eben das Tischlaken heraus. Na, ich denke, er wird doch in ’ner<br />

Viertelstunde die ganze Schublade mit dem alten Krimskrams<br />

besehen haben, und dann werden wir zum Essen gehen. Ja,<br />

komm’ an, die beiden fangen sich an zu erzählen und zu streiten,<br />

ich wurd’ nicht ganz klug daraus, von römischen Münzen, von<br />

Goten<br />

funden wurden, von der Insel Glin bei Doben,<br />

35 Jahren<br />

578 , was weiß ich. Wedeke 579 erzählte von den Urnen, die<br />

hier bei Lötzen ge<br />

von den Altertumsfunden bei Ortelsburg, wo er vor<br />

Rektor war. Der <strong>Angerburg</strong>er Kaplan musste doch auch nun sein<br />

Licht leuchten lassen und kramte seine Weisheit aus. Nun ging’s<br />

an’s Besehen, da ging der Streit wieder los. Der eine las einen<br />

Namen so auf der römischen Münze, der andere so, und <strong>als</strong> noch<br />

gar unser Rektor Sandius dazukam, da konnten alle drei sich erst<br />

recht nicht einigen. Ja, ja, die waren alle satt, aber ich hungrig wie<br />

ein Wolf“.<br />

„Wo steckt denn <strong>jetzt</strong> der <strong>Angerburg</strong>er Kaplan, kommt er zum<br />

Essen oder kommt er nicht?“ fragte die Frau.<br />

578 Germanischer Volksstamm.<br />

579 Pfarrer Andreas Wedeke in Lötzen starb daselbst 1693.<br />

367


„Das war ein schweres Stück Arbeit, ihn loszubekommen“, sagte<br />

Boretius 580 . „Ich war froh, <strong>als</strong> ich meinen Gast zum Aufstehen<br />

brachte, aber da dreht er sich um und nun geht’s wieder los.<br />

Endlich habe ich ihn im Hausflur, der Alte begleitet uns hinaus, da<br />

bleiben sie wieder stehen und können nicht auseinander. Nun hielt<br />

ich’s nicht länger aus und empfahl mich. Er wird bald<br />

nachkommen, es wird beiden bald kalt werden“.<br />

„Der <strong>Angerburg</strong>er Kaplan scheint mit dem alten dummen Zeug<br />

solch ein Narr zu sein, wie unser alter Wedeke und du mit deiner<br />

Schulmeisterei“, sagte die Frau. „Jetzt nimm nur einen Bissen,<br />

weil du so hungrig bist. Wer weiß, wann jener zum Essen kommt.<br />

Ich hab’ es aber ganz vergessen, dir zu<br />

sagen, die Kinder sagten<br />

mir schon lange, dass ein Mann auf dich wartet. Den Tisch werd’<br />

ich gleich decken“.<br />

Thomas stand am Fenster so fern <strong>als</strong> möglich von der Tür. Diese<br />

öffnete sich und der Diakonus Boretius trat ein, mit beiden Backen<br />

kauend. Thomas ging auf ihn zu, verneigte sich höflich und sagte:<br />

„Verzeiht, Herr Diakonus, dass ich so unverschämt bin, meinen<br />

Schwager, den Diakonus Nebe bei Euch aufzusuchen, der Abend<br />

kommt und wir haben noch meilenweit zu fahren“.<br />

„Freut mich, freut mich sehr“ sagte Boretius, „dass der Herr mir<br />

bei der Gelegenheit die Ehre seines Besuches in meiner geringen<br />

Wohnung schenkt. Setzt Euch doch nieder, Herr, Euer Schwager<br />

wird im Augenblick da sein, da er sich nur noch von dem Herrn<br />

Pfarrer in der Haustür<br />

verabschiedet“.<br />

Eine Magd kam hinein, um den Tisch zu decken. Die Frau des<br />

Diakonus trat gleich darauf ein,<br />

der Thomas ebenfalls eine höfliche<br />

Entschuldigung wegen seines Eindringens entgegenbrachte und<br />

die in gleich höflicher Weise erwidert wurde. Da hörte Thomas ein<br />

Scharren mit den Füßen in der Tür nach dem Hausflur, die sich<br />

sogleich öffnete. Herein trat Nebe mit strahlendem Gesicht.<br />

„Ein netter Mann, ein sehr netter Mann, dein Pfarrer Wedeke“,<br />

sagte er zu Boretius. „Sieh, was er mir geschenkt hat, eine alte<br />

Münze. Er hat zwei gleiche und eine hat er mir gegeben“.<br />

580 Der Diakon George Boretius in Lötzen wurde 1689 Diakon u. Pfarradjunct in Arys, 1690<br />

Pfarrer in Arys, 1693 Pfarrer in Lötzen, wo er am 1. Sept. 1710 starb [E. Anderson: Fernere<br />

Schicksale der in der Familiengeschichte vorkommenden Personen].<br />

Er stammt aus Bäslack; war zuerst Kantor in Goldap, wurde am 13. Mai 1680 <strong>als</strong> Diakonus in<br />

Lötzen ordiniert. Von 1689 – 1693 war er Pfarrer in Arys und wurde dann von dem<br />

Amtshauptmann Georg Ernst v. Schlieben <strong>als</strong> Pfarrer nach Lötzen berufen und am 26. Sonntag<br />

nach Trinitatis durch den Erzpriester aus Rastenburg Salomon Jester introduziert [Superint. E.<br />

Trincker: Chronik der Gemeinde Lötzen, 1912].<br />

368


„Aber lieber Schwager“, wendete sich Thomas an Nebe, der sich<br />

mit seiner Münze liebäugelnd am Fenster niedergelassen hatte,<br />

„wir müssen wirklich fahren, wenn wir heute noch <strong>Angerburg</strong><br />

erreichen wollen. Das Wetter…„<br />

„Doch nicht, ohne etwas gegessen zu haben“, fiel ihm die Frau<br />

des Diakonus in die Rede. „Bitte sehr, die Herren werden schon<br />

sehr fürlieb nehmen müssen, da das Essen bis Abend gestanden<br />

hat“.<br />

„Was“, rief Nebe, „ schon fahren? Lass die Pferde nur noch<br />

fressen, in ein paar Stunden sind wir über’s Eis gefahren“.<br />

Thomas Einwendungen wurden weiter nicht beachtet. Die<br />

Speisen wurden aufgetragen, die Lampe auf den Tisch gestellt,<br />

und nach kurzem Tischgebet saßen alle um den Tisch. Boretius<br />

und Nebe taten dem Mahl alle Ehre an, während durch die Ritze<br />

der Tür bald das eine oder andere Kinderköpfchen gesteckt wurde,<br />

das sich auf den gehobenen Finger der Mutter schnell zurückzog.<br />

„Das ist ja ein prächtiger Mann, dein Pfarrer, Boretius“ - sagte<br />

Nebe, nachdem der erste Hunger gestillt war. „Wo ist er denn<br />

eigentlich her?“<br />

„Unser Pfarrer Andreas Wedeke“, antwortete Boretius, „ist ja ein<br />

Landsmann von dir, er ist in <strong>Angerburg</strong><br />

Anno 1632 geboren und<br />

mit deinem Pfarrer Helwing gut bekannt von der Jugend her.<br />

Anfangs war er Rektor in Ortelsburg, kam jung in’s Amt, war erst<br />

20 Jahre alt, blieb aber nur 3 Jahre Schulmeister dort. Er wurde<br />

hier <strong>als</strong> mein Vorgänger zum Kaplansdienst in Lötzen berufen und<br />

Anno 1655 in der Woche nach Ostern ordiniert. Der Rastenburger<br />

Erzpriester kam aber nicht zur Introduktion. Nachdem der Pfarrer<br />

Columbus Anno 1656 vor Weihnachten verstarb, hatte er den<br />

Sonntag Invocavit, den<br />

15. Februar 1657, dazu bestimmt, an dem<br />

er den Wedeke einführen wollte. Da überfiel 5 Tage vorher eine<br />

Rotte streifender Tataren diese gute Stadt und hat sie in Asche<br />

gelegt. Nur das Schloss, die Kirche, die 1633 massiv erbaut und<br />

1642 mit einem Turm versehen<br />

war, und das Rathaus sind stehen<br />

geblieben.<br />

Die Vorstadt und Schlossfreiheit sind dagegen mit im<br />

Feuer aufgegangen. Bei der Einäscherung der Stadt und<br />

der<br />

umher liegenden Dörfer haben mehr <strong>als</strong> tausend Menschen das<br />

Leben<br />

oder die Freiheit eingebüßt. Unser Wedeke musste bei der<br />

so plötzlich entstandenen Niederlage und Verwirrung sich unter<br />

Zurücklassung aller Habe und Güter durch Flucht retten und sich<br />

so lange in Königsberg aufhalten, bis die Umstände sich änderten.<br />

Als er nun nach einiger Zeit zu seiner ganz verlassenen Gemeinde<br />

in Lötzen zurückgehen wollte, ist er unterwegs, ohne dass die<br />

369


Seinigen wussten, wo er geblieben wäre, von dem General<br />

Graf v.<br />

r musste<br />

n die<br />

gte<br />

n rhielt g“, sagte<br />

oretius, „verfügte sich nach Lötzen und verwaltete, ohne<br />

anns<br />

kens in, da Pfarr 13<br />

Musculus,<br />

E hatte er, denn<br />

Derschau,<br />

lichen Zustandes weg konnte,<br />

zu en Äm tzen, Rhein und<br />

n irchen lang<br />

lflich und<br />

azierte 581 Waldeck zum Feldprediger bei der Armee angenommen. E<br />

unverzüglich mit nach Polen fortmarschieren. Er hatte dan<br />

erste Predigt auf dem Feld vor dem Dorf Jucha gehalten“.<br />

„Musste Wedeke denn lange bei den Soldaten bleiben? “ fra<br />

Nebe.<br />

„Erst nach einigen Monate e er seine Entlassun<br />

B<br />

introduziert zu sein, mit Konsens des Herrn Amtshauptm<br />

Jacob Fink v. Fin te s amt und Diakonat. Erst<br />

Jahre später, Anno 1670, bekam Wedecke den Diakonus<br />

meinen Vorgänger, zur Hilfe. r es auch gar zu schw<br />

er musste dem Erzpriester aus Rastenburg<br />

Reinhold v.<br />

der seines kränk en nicht viel reisen<br />

die Inspektion der d tern <strong>Angerburg</strong>, Lö<br />

Sehesten gehörige K e Zeit abnehmen. Mein<br />

Antezessor Musculus war dem Pfarrer auch wenig behi<br />

v<br />

Anno 1680. Wedeke ist aber nicht nur ein Kenner der<br />

Antiquitäten, sondern hat auch verschiedene Schriften<br />

herausgegeben. Insonderheit hat er sich durch Übersetzung vieler<br />

geistlicher Lieder um die polnischen Gemeinden höchst verdient<br />

gemacht“. Boretius erging sich nun weitläuftig über seinen<br />

Vorgänger und die Verwaltung des Amtes.<br />

Thomas war bei Tische sehr still. Wie gerne, dachte er, würde<br />

ich heute Abend bei einem anderen Kaplan, bei dem in Lyck am<br />

Tisch sitzen und, an Stelle der Frau Boretiussin,<br />

meine Esther zur<br />

Tischnachbarin haben. Doch ich muss mich zusammennehmen,<br />

darf nicht so stumm, wie verzaubert, sitzen.<br />

„Eure Kinder“, wendete er sich an seine Nachbarin, „sind sehr<br />

begabt und geweckt, ich habe mich sehr über sie gefreut. Der<br />

kleine drollige Christoph sagte auf meine Frage, was er werden<br />

würde: Is werd Taplan“.<br />

„Es sind ungezogene Kinder“, antwortete die Mutter, „der<br />

Christoph hängte sich heute Morgen eine Schürze auf den Rücken,<br />

stieg auf einen<br />

Stuhl und predigte so lange, bis er das<br />

Gleichgewicht verlor, auf die Erde stürzte und sich die Nase blutig<br />

schlug“.<br />

„Der größere Bruder“, sagte Thomas, „sagte mir: Ich werd’<br />

Erzpriester werden“.<br />

581 Quittierte den Dienst, schied aus.<br />

370


„Ja, ja“, meinte die Mutter, „das sagt er <strong>jetzt</strong> immer, seitdem er<br />

im Sommer in die Kirche mitgenommen wurde, <strong>als</strong> unser<br />

Rastenburger Erzpriester Magister Heiligendörfer zur Visitation hier<br />

war. Der gefiel dem Friedrich besonders wegen seiner großen<br />

Perücke und imponierenden Gestalt. Er hat gehörige Prügel<br />

bekommen müssen, <strong>als</strong> er sich meines Mannes kleine<br />

Stutzperücke vom Perückenstock, der ganz oben auf dem<br />

Schaff<br />

oßen<br />

hätt’ sich totschlagen können, <strong>als</strong> er auf<br />

it in die Küche<br />

men.<br />

um besten bestellt. Als ich Anno 1680<br />

.<br />

ein kleines trockenes<br />

nur kurze Zeit hier, nur den Herbst und Winter<br />

r Rektor Philippus<br />

582 unter der Decke stand, herunterholte und verkehrt<br />

aufsetzte, sich einen dicken Bauch ausstopfte und mit der gr<br />

Bibel meines verstorbenen Schwiegervaters, des Pfarrers aus<br />

Bäslak 583 , vor der Lade 584 stand, welche er mit meinem Spreittuch<br />

bedeckt hatte. So fand ich den Jungen, <strong>als</strong> ich mit der Emerenz<br />

aus der Kirche kam. Er<br />

den hohen Schrank stieg“.<br />

„War das Kind denn ganz allein im Haus?“ fragte Thomas.<br />

„Ach, die Karoline hatte den kleinen Christoph m<br />

genommen. Ja, ja, verlasse sich nur einer auf die Dienstleute“.<br />

Nun folgte eine weitschweifige Erörterung über die Mägde in<br />

Goldap und Lötzen. Boretius war inzwischen von dem Bericht über<br />

das Pfarramt auf die Lötzener Schule gekom<br />

„Wie ich dir sage“, hörte Thomas ihn rufen, „mit unserer Schule<br />

ist’s durchaus nicht z<br />

herkam, war hier noch der Rektor Christoph Friedrich Wedeke.<br />

Über ihn will ich weiter nicht urteilen, der arme Kerl wurde Anno<br />

1682 von einem Barbier meuchelmörderischerweise erschossen<br />

Dann kam <strong>als</strong> Rektor ein Sohn des Pfarrers aus Czichen, der Paul<br />

Gisevius her, auf den Du Dich von Universitätszeiten vielleicht<br />

noch besinnen wirst“. Nebe nickte. „Er war<br />

Kerlchen. Mit dem wär’s ganz gut gegangen, denn er war gegen<br />

meine Methode gar nicht voreingenommen und nahm guten Rat<br />

an. Er blieb aber<br />

über, weil er schon 1683 im März an seines Vaters Stelle nach<br />

Czichen kam. Nun kam aber unser jetzige<br />

Sandius noch Anno 1683 an. Er war noch ein junger Mann von 20<br />

Jahren. Da dachte ich, wird sich die Schule heben. Ja, da komm<br />

einer an, von meiner Methode wollte er gar nichts wissen, wollte<br />

582 Schrank<br />

583 Kirchdorf, 4 km östl. von Heiligelinde, 10 km südwestl. von Rastenburg, 1365 <strong>als</strong><br />

Paistlauken und 1402 <strong>als</strong> zu Bayselawken erwähnt. Kulmer Recht erhielt es ab 1371. Dam<strong>als</strong><br />

Bestandteil einer Kette von befestigten Orten des Deutschen Ordens an der Grenze zu Litauen.<br />

584 Truhe, Schublade<br />

371


sich nichts sagen, sich nicht weisen lassen. Ich habe doch in<br />

Goldap <strong>als</strong> Rektor gute Resultate mit derselben erreicht“.<br />

„Worin besteht denn eigentlich deine gerühmte Methode?“<br />

fragte Nebe. „Du hast mir heute schon mehrm<strong>als</strong> davon erzählt“.<br />

„Meine Methode ist wirklich gut“, sagte Boretius, „weil dadurch<br />

das Gemüt zubereitet wird zur Weisheit, die Zunge zur<br />

Wohlredenheit und die Hände zu emsiger Übernehmung der<br />

Lebensverrichtungen“.<br />

„Das ist ja gar viel wert“, meinte Nebe. „Wissen, Tun und<br />

Reden,<br />

das ist ja das Salz des Lebens“.<br />

„Ich sage und wiederhole“, rief Boretius mit lauter Stimme, „klar<br />

und<br />

daher auch stet und fest wird sein, wenn Alles, was gelehret<br />

und<br />

gelernet wird, nicht dunkel oder verwirrt, sondern deutlich<br />

und<br />

wohlunterschieden abgeteilt ist. Wenn Alles den Sinnen recht<br />

vorgestellt<br />

wird, damit man’s mit dem Verstand ergreifen könne.<br />

Es<br />

will aber nicht in dem Verstand, wo es nicht zuvor in den<br />

Sinnen gewes en. Wenn nur die Sinne, der Sachen Unterschiede<br />

wohl<br />

zu ergreifen, fleißig geübt werden, ist das so viel, wie der<br />

ganzen Weisheitslehre und weisen Beredsamkeit zu allen klugen<br />

Lebensverrichtungen den Grund zu legen“.<br />

„Ich denke“, sagte die Frau, <strong>als</strong> Boretius innehielt, um Atem zu<br />

schöpfen, „wir heben die Tafel auf, denn wenn mein Mann erst da<br />

anfängt, kommt er so bald nicht los“.<br />

Alle erhoben sich und Thomas benutzte die Zeit nach dem<br />

Tischgebet, an Nebe heranzutreten und ihm zuzuflüstern:<br />

„Wenn wir in Lötzen nicht über Nacht bleiben wollen, so ist es<br />

die höchste Zeit aufzubrechen. Es ist schon ganz finster und das<br />

Wetter hat sich geändert. Wir müssen wirklich fahren“.<br />

„Ach, lass mich zufrieden“, rief Nebe, „ich bleibe noch. Du hast<br />

auf der ganzen Reise Deinen Willen durchgesetzt,<br />

was tut’s, wenn<br />

wir auch einige Stunden später in unsere Betten kommen. Auf der<br />

ganzen Fahrt hat es mir nirgends so gut gefallen, <strong>als</strong> bei meinem<br />

Bruder Boretius in Lötzen“.<br />

„Bleibt doch noch“, sagte Boretius zu Thomas, „und lasst es<br />

Euch bei uns gefallen“.<br />

Die Frau Diakonus hatte inzwischen den Tisch abgeräumt, wurde<br />

in der Tür von den Kindern umringt, die mit ihr mitgingen, um die<br />

Reste des leckeren Mahles zu bekommen. Thomas setzte sich<br />

seufzend mit dem Geistlichen an den Tisch, auf dem die Kanne mit<br />

Hausbier stand.<br />

372


„Nun, erkläre mir doch ausführlich deine Methode“, sagte Nebe,<br />

sich an Boretius wendend. „Du hast ja davon noch gar nichts<br />

gesagt, sondern dich…“<br />

„Sieh“, fiel ihm Boretius in’s Wort, „in allen unseren Schulen<br />

geschieht es, dass die Lehr- und Lernarbeit Allen schwer<br />

vorkommt und wenig Nutzen schafft, weil man den Lehrknaben zu<br />

lernen vorgibt, was sie nicht verstehen und was auch ihren Sinnen<br />

nicht recht war“.<br />

„Wie willst Du es denn aber machen?“ fragte Nebe.<br />

„Da habe ich“, erwiderte Boretius, „ein vortreffliches Büchlein,<br />

darin ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache,<br />

voller Figuren und Abbildungen, Bezeichnungen und aller Dinge<br />

Beschreibungen sind: Die Bilder dienen dazu, dass die Schule den<br />

Kindern keine Marter werde, denn es ist bekannt, dass die Kinder<br />

sich an Bildern belustigen. Demnach dient das Büchlein dazu, die<br />

Aufmerksamkeit zu wecken und zu schärfen, was etwas Großes<br />

ist. Dann hat das Büchlein noch drei andere Nutzbarkeiten:<br />

Erstlich, dient es, die Kinder viel leichter <strong>als</strong> bisher geschehen, in<br />

ihrer Muttersprache<br />

lesen zu lehren, zumal ein figürliches Alphabet<br />

vorangefügt, nämlich die Schriftzeichen aller Buchstaben und<br />

darneben das Bildnis desselben Tieres, dessen Stimme dieser<br />

Buchstabe ausdrückt. Dann aus der Beschauung des Tierbildes<br />

kann sich der ABC-Schüler leicht erinnern, wie ein jeder Buchstabe<br />

auszusprechen ist. Wenn er später mit der Buchstabentafel etwas<br />

bewandert ist, kann er fortschreiten zur Betrachtung der Figuren<br />

und der darübergesetzten Titelschriften. Wenn er <strong>als</strong>o das ganze<br />

Buch durchlaufen, kann es nicht sein, dass er nicht<br />

durch die<br />

bloßen Bilder-Überschriften lesen lerne“.<br />

„Das wäre<br />

ja ganz was Schönes“, sagte Nebe, „wenn die<br />

beschwerliche Kopfmarterung der insgemein gebräuchlichen<br />

Buchstabierung auf solche Weise könnte vermieden werden,<br />

wenns nur so geht“.<br />

„Zweitens dient auch das Büchlein“, fuhr<br />

Boretius fort, „wenn es<br />

in den deutschen Schulen in Deutsch gebraucht wird, die ganze<br />

Muttersprache von Grund auf zu erlernen, weil durch die<br />

Beschreibungen, die Wörter und Redensarten<br />

der Sprache, an<br />

festem Platz aufgeführt worden sind“.<br />

„Lässt sich hören“, schaltete Nebe ein.<br />

„Drittens hat es den Nutzen“, erklärte Boretius weiter, „dass<br />

durch die lateinische Übersetzung auch die lateinische Sprache<br />

leichter erlernt wird. Denn Alles ist so übersetzt worden, dass ein<br />

Wort dem anderen<br />

und eine Zeile der anderen gegenüber steht, es<br />

373


<strong>als</strong>o ein Buch mit zwei Sprachen ist. Nun brauchen nur noch<br />

etliche Sprachanmerkungen hinzugefügt und daran erinnert<br />

werden, in welchen Teilen die deutsche Sprach-Art von der<br />

lateinischen abweicht“.<br />

„Das ist ja ein wunderbares Buch“, sagte Nebe. „Ist das von Dir<br />

geschrieben?“ „Ach nein“, antwortete Boretius, „es ist Anno 1666<br />

in Breslau von einem Matthias Gutthäter, Dobratzki genannt,<br />

herausgegeben“.<br />

„Zeig’ mir doch einmal das merkwürdige Buch, ich muss es mir<br />

doch besehen“, sagte Nebe.<br />

Boretius brachte ein handgroßes, drei Finger dickes Buch mit<br />

vielen schlechten Holzschnitten, welches die <strong>Angerburg</strong>er besahen.<br />

„Diese Bilder-Schul“, erläuterte Boretius, „beginnt mit den bloßen<br />

Abrissen der Dinge, mit den Haupt-Sachen und Hauptwörtern, die<br />

in der ganzen Welt, der ganzen Sprache, und unseres<br />

Verständnisses der Dinge, die Grundsteine sind. Ich gebe es den<br />

Kindern schon früh in die Hand, sich damit nach eigenem Belieben<br />

zu belustigen in Beschauung der Figuren um diese ihnen<br />

bekannt<br />

zu machen. Danach habe ich sie nach<br />

und nach befragt, was<br />

dieses oder jenes sei oder heiße, damit sie nichts sehen, was sie<br />

nicht nennen können, und nichts nennen, was sie nicht weisen<br />

können. Auch habe ich ihnen die benannten Sachen nicht allein in<br />

der Figur, sondern an ihnen selber gezeigt, nämlich die<br />

Leibesglieder, die Kleider, Bücher, das Haus, die Hausgeräte<br />

usw“.<br />

„Hm“, meinte Nebe, „nicht übel“.<br />

„Darauf habe ich den Kindern<br />

zugelassen, die Bilder mit der<br />

Hand nachzumalen, erstlich darum, damit sie sich gewöhnen,<br />

einem Ding recht nachzusinnen und darauf<br />

scharf Achtung zu<br />

geben, dann auch das Ebenmaß der Dinge in Vergleichung<br />

derselben und schließlich die Hand geübt zu machen, was zu<br />

vielem gut ist“.<br />

„Das hört sich alles ganz gut an“, meinte Nebe bedenklich, „ob<br />

sich’s aber auch so ausführen lässt und Erfolg hat, ist denn doch<br />

noch sehr die Frage“.<br />

„Nun“, rief Boretius trimphirend, „wenn Du weiter keinen Zweifel<br />

hast, so will ich Dir’s einmal zeigen. Kommt einmal her, ihr<br />

Ölzweige“, rief er durch die Tür. „Du sollst sehen, dass es auch mit<br />

kleinen Kindern geht. Man muss nur Lust und Liebe zur Sache<br />

haben“.<br />

Die Mutter wischte noch<br />

schnell den Kindern Gesicht und Hände<br />

ab,<br />

und sie erschienen in der Tür, verlegen eines hinter<br />

dem<br />

anderen.<br />

374


„Komm nur her, Christoph, mein kleiner Freund“, rief Thomas,<br />

„wir kennen einander schon“. Das Kind näherte sich.<br />

„Nun“, rief Boretius, „bis zur wievielten Seite sind wir letztens in<br />

unserm Orbis pictus<br />

eund Nebe,<br />

585 gekommen?“<br />

„Bis zur Seite 302 und 303 das 98. Kapitel“, sagte die kleine<br />

Emerentia.<br />

„Nun“, sagte Boretius, „schlage einmal auf. Du, Fr<br />

kannst dem kleinen Christoph behilflich sein, und ich werde den<br />

beiden größeren helfen, wenn es einmal hapern sollte“.<br />

„Aber ich verstehe Dich nicht“, sagte Nebe, „wie die kleinen<br />

Kinder lateinisch und polnisch und französisch lesen und<br />

übersetzen sollen“.<br />

„Wirst schon sehen, wie wir es zu machen pflegen“, sagte<br />

Boretius, „fange gleich einmal an zu lesen, Friedrich, lies fein<br />

deutlich, langsam und laut: Wie heißt die Überschrift?“ „Der<br />

Ehestand“, las Friedrich.<br />

Der Ehestand Matrimonium<br />

ist von Gott eingesetzt, a Deo est institutum,<br />

im Paradeis. In paradiso.<br />

zur Gehülfschaft ad mutuum adjutorium.<br />

Ein Junggesell, Vir juvenis, (coelebs)<br />

so heiraten will, conjugium initurus,<br />

soll begabet sein instructus sit<br />

entweder mit Reichtum, aut opibus,<br />

oder mit Kunst u. Wissenschaft aut arte et scientia,<br />

Le Mariage Stan Malzenski<br />

est institue de Dieu od Boga jest postanowiony<br />

au paradis w Raju<br />

pours’entraider reciproquement dla spolney pomocy<br />

Celui, qui n’est pas marie Miodzian<br />

se voulant marier<br />

gdy sis zenic chec<br />

doit etre pourvoi musi byc opatrzony<br />

ou de richesses albo Dostatkami<br />

oud’un art et science<br />

albo Nanka y Umiej et noscca<br />

qui serve Krora sluzy<br />

585<br />

Lat. = Die gemalte Welt. Diese Bezeichnung wurde sehr häufig für Unterrichtsbücher<br />

gewählt, welche eine ähnliche Anlage zeigen, wie das 1658 von dem Pädagogen und<br />

Theologen Johann Amos Comenius in Nürnberg verlegte Buch „Orbis sensualium pictus“.<br />

Dieses zunächst nur für den Lateinunterricht betimmte Werk ist mit 150 Holzschnitten<br />

illustriert, die dem Schüler das Lernen erleichtern sollen. Es fand großen Zuspruch und erlebte<br />

zahlreiche<br />

Neuauflagen sowie auch Übersetzungen in andere Sprachen. Von späteren Autoren<br />

wurde es gerne nachgeahmt.<br />

375


Thomas stand auf und ging zum Fenster, während die übrigen<br />

eifrig fortfuhren und sein Weggehn nicht bemerkten. Ein tiefes<br />

Weh kam über ihn, <strong>als</strong> er seine Erlebnisse aus dem Mund der<br />

Kinder in den ihm bekannten Sprachen so abgerissen vortragen<br />

hörte. Wie anders könnte mir doch <strong>jetzt</strong> zu<br />

Mute sein, wenn nicht<br />

der unselige Irrtum, es kann ja nichts anders sein, vorgekommen<br />

wäre. Er lehnte die heiße Stirn an die Fensterscheiben, hörte<br />

nichts von dem,<br />

was im Stübchen vorging.<br />

Boretius fuhr inzwischen fort, die Vortrefflichkeit seiner Methode<br />

weitläuftig auseinanderzusetzen. Wie seine Jungen in ihrer<br />

Kindheit schon eine große<br />

Menge von Vokabeln behalten hätten,<br />

die sie später nicht lernen dürften. Zum Beweis fragte er nun die<br />

Kinder, und diese kramten ihre Weisheit aus. Dem Nebe wurde<br />

das langweilig, da das Examen kein Ende nehmen wollte.<br />

„Hör mal“, unterbrach er den eifrigen Schulmann, „es ist doch<br />

wirklich Zeit, dass wir aufbrechen, um zeitig nach Hause zu<br />

kommen“.<br />

Boretius machte noch einige höfliche Redensarten, auch seine<br />

Frau bat zum Bleiben, doch fühlte sie sich sehr erleichtert, <strong>als</strong> die<br />

Fremden Abschied nahmen, da sie nicht wusste, was sie ihnen<br />

zum Abendessen geben sollte. Dichte Finsternis empfing draußen<br />

die beiden Reisenden, dunkle Wolken jagten am Himmel. Sie<br />

traten in tiefen Schnee, der inzwischen gefallen<br />

war. Am Haus am<br />

Markt<br />

angekommen, brachte Thomas den Schwager zuerst in die<br />

erleuchtete Stube und ging dann, nach seinem Fuhrwerk zu sehen<br />

„Nun Jasch“, redete er den Knecht an, der mit einer Laterne ihm<br />

entgegenkam, „was machen die Pferde?“<br />

„Haben sich gut ausgeruht“, antwortete Jasch. „Ich habe allen<br />

Hafer beinahe verfuttert“. „Dort das Gewölk gegen Morgen will mir<br />

zwar nicht gefallen, gibt mehr Schnee, Herr“, meinte Jasch.<br />

Thomas trat in die Stube, wo er den Schwager behaglich in der<br />

Ecke neben dem Ofen, einen Weinkrug vor sich, sitzen fand.<br />

„Meiner<br />

Meinung nach“, sagte Thomas, „wäre es für uns besser,<br />

in Lötzen die Nacht zu bleiben, es ist sehr bewölkt, recht finster,<br />

ist gelind geworden, der Wind klingt hohl. Es wird wohl Schnee<br />

und Tauwetter geben“.<br />

„Na, das ist doch wirklich großartig“, schalt Nebe, „erst treibst<br />

du mit der Heimfahrt, dass man sich vor dir nicht retten kann, und<br />

<strong>jetzt</strong>, da wir fahren wollen, willst du hierbleiben“.<br />

„Hätten wir uns gleich mittags auf den Weg gemacht, so wären<br />

wir wohl schon zu Hause. Jetzt aber frage ich dich: Ist es durchaus<br />

376


notwendig, dass du morgen, <strong>als</strong>o Sonnabend, den 3 ten Januar, in<br />

<strong>Angerburg</strong> sein musst? Dann fahren wir“.<br />

„Du weißt ja“, rief Nebe, „dass ich Sonnabend vormittags die<br />

Beichte halten muss“.<br />

„Dann würden wir wohl noch hinkommen“, meinte Thomas,<br />

„wenn wir morgen des Morgens um 5 von hier ausfahren würden,<br />

dann hätten wir doch Mondschein, und es ginge gegen den Tag“.<br />

„Hör’ mal“, rief Nebe aufspringend, „nun ärgere mich nicht<br />

weiter. Ich fahre heute und zwar gleich. Willst du nicht<br />

mitkommen, so fahre ich allein mit Jasch“.<br />

„Es ist eigentlich noch nicht so spät“, sagte Thomas, nach der<br />

Uhr sehend, „erst ¾ auf 5. Nun, so wollen wir denn in Gottes<br />

Namen fahren“.<br />

Bald saßen die Reisenden im Schlitten, der in dem Torweg hielt,<br />

von Göring mit einer Laterne hinausbegleitet.<br />

„Ich würde Euch doch raten“, meinte Göring, „dass Ihr <strong>jetzt</strong><br />

nicht<br />

über die Seen nach <strong>Angerburg</strong> fahrt. Die Dunkelheit ist groß,<br />

es<br />

ist ein guter Teil Schnee herabgekommen, und dann führen so<br />

viele Schlittbahnen über die Seen, dass Ihr leicht irren könnt.<br />

Wählt lieber den alten Landweg, die Bahn ist dort auch gut über<br />

Spirgsten 586 und Harszen 587 . Du kennst doch den Weg?“ wendete<br />

er sich an Jasch.<br />

„Ja“, sagte Jasch, „von Harszen bis <strong>Angerburg</strong> find’ ich mit<br />

verbundenen Augen“.<br />

„Hier hinter Lötzen, im Stadtwald“, sagte Göring, „da kannst Du<br />

nicht irren, da ist immer eine große befahrene Straße, aber wenn<br />

der Wald aufhört bis Spirgsten, da nimm Dich in Acht, dass Du<br />

nicht zu weit links fährst, Du könntest Deine Herrschaft noch in<br />

den Trittsee 588 fahren“.<br />

586<br />

Ort, 6 km nordöstl. von Lötzen, an der Straße nach <strong>Angerburg</strong>.<br />

587<br />

Ort 8 km süd-südöstl. von <strong>Angerburg</strong> am Südufer des Harszener Sees.<br />

588<br />

See in der masurischen<br />

Seenplatte, 1,5 km östl. vom Mauersee, 4 km westl. von Spirgsten.<br />

377


31. Gut Grunden im Schneesturm<br />

Die ausgeruhten, frisch beschlagenen Pferde liefen schnell, und<br />

bald hatten unsere Reisenden den Stadtwald erreicht, wo der Wind<br />

von den Bäumen etwas abgehalten wurde, doch unheimlich in den<br />

Wipfeln rauschte.<br />

Als die Reisenden aus dem Wald kamen, fasste<br />

sie der Sturm.<br />

„Mache Deinen Pelz gut zu“ sagte Thomas zu Nebe, „und binde<br />

den Gürtel fester“.<br />

Da wirbelten auch schon die Schneeflocken in den Schlitten, ein<br />

Pfeifen und Heulen in der Luft. Der Schneesturm brach mit Gewalt<br />

los. Von allen Seiten schien er zu kommen und wirbelte den<br />

Schnee von der Erde auf. Überall durch alle Ritzen drang der<br />

Schnee ein. Das Heulen verstärkte sich.<br />

„Gib mir die Leine, Jasch“, sagte Thomas, „wir müssen uns den<br />

Pferden überlassen.<br />

Es ist nicht möglich, die Augen aufzumachen“.<br />

Weiter ging’s immer im rasenden Schneetreiben, bergauf,<br />

bergab, mit jeder Minute schien der Sturm sich zu verstärken.<br />

Plötzlich stürzte der Schlitten um und warf seine Insassen in den<br />

Schnee, die Pferde blieben glücklicherweise stehen, und so kamen<br />

die Reisenden, da auch an den Sielen nichts gerissen war, mit<br />

dem bloßen Schrecken davon. Langsam fuhr Thomas weiter. Nach<br />

allen Seiten versuchte er sich umzusehen, ob sich nicht irgendwo<br />

das Licht einer Menschenwohnung zeigte. Die Richtung der<br />

Weltgegenden war völlig verloren, und dabei raste der<br />

Schneesturm mit immer erneuter Wut. Der Diakonus stöhnte.<br />

„Ach, ach“, jammerte Jasch, „das hab ich gleich gewusst, dass<br />

es uns so gehen wird. Ich hab’ heute, bevor wir abfuhren<br />

vergessen, vor den Pferden mit der Peitsche<br />

ein Kreuz zu<br />

schlagen. Das hätte uns aber wohl nicht so viel Schaden getan wie<br />

das alte Weib. Die alte Hex’ kam hinein, <strong>als</strong> ich aus dem Tor in<br />

Lötzen herausfuhr. Da hab’ ich<br />

sie umgestoßen mit dem Schlitten.<br />

Da fing sie an zu fluchen und zu schimpfen, und <strong>als</strong> ich mich<br />

umsah, drohte sie mir mit ihrem krummen Stecken, die verfluchte<br />

Wetterhexe“.<br />

„Ach, schweige doch, Jasch“, rief Thomas, „strenge lieber Deine<br />

Augen an. Wir fahren gewiss schon länger <strong>als</strong> zwei Stunden. Da<br />

rechts scheint ein Gebüsch zu sein“.<br />

Wieder ging’s weiter in Sturm und Graus. Ein Pferd stürzte,<br />

stand<br />

aber bald wieder auf. Dann fuhr der Schlitten einen Abhang<br />

hinunter<br />

und auf<br />

ebener Fläche weiter. Nach einiger Zeit sagte<br />

Thomas:<br />

378


„Wir sind auf einem See - wir können jeden Augenblick in eine<br />

Blänke 589 hineingeraten. Bei dem Schneesturm wären wir<br />

unrettbar verloren“.<br />

„Ist’s denn wirklich so gefährlich?“ fragte Nebe ängstlich.<br />

„Wenn Gott uns nicht beschützt“, sagte Thomas, „so sind wir<br />

verloren, Jacob“, wendete er sich an Nebe. „Wir können bald<br />

zusammen vor Gottes Angesicht stehen. Vergib mir, wenn ich Dich<br />

geärgert und mit meinen Worten gekränkt habe“.<br />

„Von ganzem Herzen“ sagte Nebe, ihm die beschneite Hand<br />

drückend.<br />

„Wenn wir mit dem Leben davonkommen“, fuhr Thomas fort,<br />

dann vergib auch dem Diakonus in Lyck seine Beleidigung und<br />

mache von Deiner Eingabe keinen Gebrauch“.<br />

„Auch das<br />

will ich gern“, sagte Nebe.<br />

„Im Angesicht des Todes erscheint mir die Sache ganz kleinlich.<br />

Auch in <strong>Angerburg</strong>, sollten wir’s noch sehen, werde ich schweigen.<br />

Nur der Vater muss natürlich<br />

alles erfahren“.<br />

Nebe betete. Immer weiter gings auf dem See, über dessen<br />

weite Fläche der Sturm die Schneemassen fegte. Da, mit einem<br />

Male stürzten beide Pferde nieder, die rechte Kufe des Schlittens<br />

hob sich plötzlich hoch in die Höhe und die drei Männer waren im<br />

Eis, Schnee und Wasser begraben. Hoch auf spritzte das eisige<br />

Wasser. Thomas fühlte festes Eis unter seinen Händen, er richtete<br />

sich auf die Kniee auf - da sah er durch den Schneewirbel eine<br />

Helligkeit und hörte<br />

Menschenstimmen. Laut schrie er um Hilfe,<br />

das Licht näherte sich. Erst ganz in der Nähe erkannte Thomas<br />

drei Männer in Fischerkleidung, von denen der eine einen<br />

brennenden Zibber<br />

„Das weiß ich selbst nicht“, erwiderte Thomas. „Fischer sind uns<br />

Hilfe gekommen. Schmerzt Deine Wunde sehr?“<br />

590 trug, dessen Flamme vom Sturm bald hoch<br />

aufgetrieben, bald wieder fast ausgeblasen wurde. Thomas stand<br />

mühsam auf und ging vorsichtig auf dem Eis auf das Licht zu. Er<br />

fand einige Männer in der Nähe des umgestürzten Schlittens.<br />

Jasch kam zu ihnen. Sie leuchteten auf den Boden. Da lag der<br />

Diakonus Nebe auf dem Eis und blutete aus einer Kopfwunde.<br />

Während Thomas und Jasch ihn aufrichteten und ersterer mit<br />

Schnee das Blut zu stillen versuchte, schlug Nebe die Augen auf.<br />

„Wo bin ich?“ sagte er.<br />

zu<br />

589 Blänke - Tümpel mit periodisch wechselndem Wasserstand, hier offene Wasserfläche<br />

590<br />

Zibber = Kienfackel<br />

(s. FN 8)<br />

379


„Bin ich verwundet?“ fragte Nebe.<br />

“Für Euch ist es das größte Glück gewesen, dass Ihr<br />

umgeworfen wurdet“, sagte der Fischer. „Ihr wäret in die Tiefe<br />

gefahren, denn kaum 1000 Schritt weiter ist eine große Blänke auf<br />

r Bucht des Sees Kruklien, nicht weit vom östlichen<br />

gt kaum 1/8 Meile von hier, da ist auch<br />

nser Ceuper und die meisten von unseren Leuten. Wir drei<br />

mussten hier am See bleiben und unsere Netze bewachen, denn in<br />

dunklen Abenden und Nächten, besonders wenn es so stürmt wie<br />

heute und keine Spuren im Schnee später zu finden sind, da sind<br />

ie Rabuscher 593 dem See, wo er schon zu Lötzen gehört“.<br />

„Wo sind wir denn eigentlich?“ fragte Thomas.<br />

„In eine<br />

Ufer“, lautete die Antwort.<br />

„Liegt nicht in der Nähe eine Ortschaft, wo wir bei guten Leuten<br />

unterkommen können?“ fragte Thomas.<br />

„Der Hof Grunden<br />

sehr fleißig, die großen teuren Netze zu<br />

geknüpft, die Decken wieder in den Schlitten gelegt waren, hob<br />

591 lie<br />

592<br />

u<br />

d<br />

zerschneiden, um sich dann kleine daraus zu machen. Hier auf<br />

diesem Krukliensee ist das die beste Stelle für die Spitzbuben, weil<br />

die Grenze des Amts <strong>Angerburg</strong> und des Amts Lötzen quer durch<br />

den See geht, da war…“<br />

„Wer von Euch dreien kann uns denn nach Grunden<br />

hinbringen?“ unterbrach Thomas den redseligen Alten.<br />

„Ich werd’ mitfahren, Herr“, sagte dieser. „Dort in der Nähe des<br />

Ufers ist viel Bullereis 594 , das sind die überströmten Wiesen. Wenn<br />

Ihr da Euch nicht auskennt, könnt Ihr verunglücken“.<br />

Thomas verband die Stirn des Diakonus, so gut es bei dem<br />

Sturm gehen wollte, mit einem Tuch. Indessen schnitten die<br />

Fischer und Jasch die Stränge der Pferde los, die aufstanden und<br />

sich schüttelten. Den mit den Schienen nach oben liegenden<br />

Schlitten richteten sie auf und die herausgefallenen Sachen<br />

suchten sie so gut es ging aus dem Schnee zusammen. Thomas’<br />

Hut war vom Sturm fortgeweht, doch waren die Decken und Pelze<br />

sowie die Lischke gerettet. Dagegen waren die Weinflaschen<br />

sämtlich zerschlagen. Als die Leinen und die Sielenstränge<br />

man Nebe hinein. Ein Fischer ging mit dem Kienspan voran. Ein<br />

anderer nebst Jasch führten die Pferde, während Thomas und der<br />

591<br />

Gut am Nordende des Kruglinner Sees, 3km süd-südöstl. von Kruglanken.<br />

592<br />

Fischmeister<br />

593<br />

S. Rabatzer, FN 604<br />

594<br />

Bullereis - Bohleis<br />

380


alte Fischer zu beiden Seiten an den Schlitten angefasst gingen,<br />

um diesen zu halten. Langsam ging’s weiter, immer im gräßlichen<br />

Stiemwetter, zuweilen brach ein Pferd durch das hohle Eis mit<br />

einem Fuß ein, doch kam die Gesellschaft nach einiger Zeit zu<br />

einer ziemlich geschützten Stelle des Ufers, wo die Fischer in einer<br />

Höhlung des steil abfallenden Uferberges ein Feuer angezündet<br />

hatten.<br />

„Wir wollen machen, dass wir unter Dach kommen“, sagte<br />

Thomas, „ich bin besorgt wegen der Kopfwunde des Herrn<br />

Diakonus. Hier habt Ihr“, wendete er sich zu den zurückbleibenden<br />

Fischern, „die Zinnflasche mit Schnaps und teilt Euch den<br />

Proviant“.<br />

Darauf reichte er ihnen die Lischke, die Zinnflasche und jedem<br />

einen Dreipölchen, was sie mit ziemlich frostigem Dank in<br />

Empfang nahmen.<br />

Der alte Fischer setzte sich vorn in den Schlitten und nahm auf<br />

Thomas’ Anordnung<br />

die Leine. Jasch stieg hinten auf, um den<br />

Schlitten zu halten, wenn es schief gehen würde. Der Alte fuhr<br />

bald in ein Erlengebüsch, wo es zwar so finster war, dass man<br />

nicht die Hand vor Augen sehen konnte, jedoch die Heftigkeit des<br />

Sturms von den Bäumen etwas gebrochen und aufgehalten wurde.<br />

„Jetzt schmerzt<br />

meine Wunde“, sagte Nebe.<br />

„Habe nur ein wenig Geduld“, ermahnte Thomas, „hoffentlich<br />

kommen wir bald zu guten Leuten“.<br />

„Herr“, sagte der alte Fischer, sich umwendend, „wir fahren bald<br />

links einen Hohlweg herauf, dann sind wir gleich in Grunden<br />

aus <strong>Angerburg</strong> ist auch heut’ dahin<br />

ekommen“.<br />

595 „.<br />

„Wer wohnt denn da?“ fragte Thomas.<br />

„Der Herr Landschöppe Johann Drig<strong>als</strong>ki 596 . Der Herr<br />

Ratsverwandter Rohr 597<br />

g<br />

595<br />

Besitzer des kölm.Gütchens Grunden (3 Hufen)"in des Kruglaukschen Dorfes Grentzen<br />

gelegen" ist i.J. 1719 Johann Adrian Strauß. Die Kaufverschreibung stammt aus dem Jahre<br />

1612, kann aber 1719 nicht mehr vorgelegt werden. J.A. Strauß hat den Besitz von seinen<br />

Eltern geerbt. [Generalhufenschoß-Prot., Amt <strong>Angerburg</strong>, Nr.3, I, 1719] J.A. Strauß wird hier bereits<br />

1694 in einem Schuldvertrag mit Georg v. Pusch genannt [GStA Berlin, Etatsmin. Abt. 7d, 14].<br />

1769 lebt hier noch immer ein Nachkomme Friedrich Strauß [Mühlenkonsign. Kruglanken 1769].<br />

596<br />

„Johannes Drig<strong>als</strong>ki wurde Landschöppe und saß in Gronden (s. auch FN.331), das <strong>jetzt</strong><br />

<strong>als</strong> Stammsitz der Familie gesehen werden<br />

kann, und war mit Gertrud Rohr verh… starb etwa<br />

1713. Es sind 4 Söhne bekannt: Leopold, Johann, Christian und Paul Bernhard“.<br />

[APG29, S. 89]<br />

597<br />

Vizebürgermeister seit<br />

1683 (vorher Ratsverwandter) Michael Rohr starb am 19.11.1705.<br />

381


„Kehrt Euch nicht immer um, Alter“, sagte Thomas, „ein<br />

Fuhrmann muss stets nach seinen Pferden sehen, auch wenn es<br />

ganz finster ist“.<br />

Kaum hatte er das ausgesprochen, <strong>als</strong> der Schlitten umfiel und<br />

seine ganze Ladung im Schnee lag. Glücklicherweise waren sie<br />

weich gefallen und kamen mit dem Schreck und einigem<br />

Aufenthalt davon. Endlich fuhren die Reisenden in einen<br />

vollständig zugeschneiten Hohlweg hinein. Der Schlitten blieb<br />

stecken, <strong>als</strong> die Pferde fast bis an’s Kreuz in dem losen Schnee<br />

versanken. Thomas sprang ab, hieß den Diakonus sitzen zu<br />

bleiben, die andern beiden aber abzusteigen. Die 3 Männer halfen<br />

den Schlitten heben und schoben kräftig nach. So fuhren sie<br />

endlich auf einen, wie es schien, ziemlich geräumigen Hof, wo die<br />

ermatteten dampfenden Pferde vor der Tür eines langen<br />

Holzhauses mit hohem Dach stillhielten.<br />

„Erinnerung an Masuren“ (Pastell von Gerhard Wendenhorst)<br />

„Ich denke, Alter“, wendete sich Thomas an den Fischer, „Ihr<br />

wisst hier, wo man die Pferde unterbringen kann, was der Herr<br />

wohl erlauben wird. Bringt sie mit meinem Jasch unter Dach und<br />

dann kommt hinein, Eure Belohnung abholen. Du, Jasch, reibe die<br />

Pferde gut mit Stroh ab, stecke ihnen eine Handvoll Heu in die<br />

Raufe 598 und mache, wenn Du es haben kannst, eine gute Streu“.<br />

598 Futtergestell<br />

382


Inzwischen hatte Thomas dem Schwager vom Schlitten<br />

geholfen. Nebe stützte sich auf seinen Arm und öffnete die<br />

Haustür. Ein großer, mit Ziegeln ausgelegter Hausflur war hell<br />

erleuchtet von einem großen Feuer, welches in der Küche, die mit<br />

dem Hausflur durch einen mächtigen gemauerten Bogen<br />

verbunden war, an der Erde brannte. Eine ganze Anzahl von<br />

Männern, Fischern, Soldaten, Knechten saßen teils um das Feuer,<br />

oder hatten sich auf ihren Pelzen am Fußboden gelagert. Thomas<br />

fragte in polnischer Sprache nach dem Hausherrn. Einer der Leute<br />

wies ihm eine niedrige Tür, ließ sich aber weiter nicht in seiner<br />

lauten Unterhaltung stören. Thomas und Nebe betraten ein großes<br />

ziemlich niedriges Zimmer, dessen Decke, von sehr<br />

starken Balken<br />

getragen, etwas verräuchert aussah. Es war durch eine Lampe, die<br />

von der Decke, herabhing, erleuchtet, deren Flamme aber von<br />

dem hell brennenden Kamin weit übertroffen wurde. An dem weiß<br />

bedeckten Tisch saßen mehrere Personen. Als der Hausherr die<br />

beiden beschneiten Personen eintreten sah, stand er auf und ging<br />

ihnen entgegen. Er war ein breitschultriger, hoch gewachsener<br />

Mann mit markanten etwa 40 Jahre alt.<br />

e er seinen Schwager Nebe und sich selbst vor.<br />

e Tochter<br />

hilf den Herren doch, ihre nassen Kleider ablegen. Der Herr<br />

599 Zügen,<br />

„Herr Landschöppe“, sagte Thomas, sich verneigend, „erlaubt,<br />

dass wir bei dem furchtbaren Schneetreiben bei Euch Obdach<br />

suchen“.<br />

Dann stellt<br />

Drig<strong>als</strong>ki reichte ihnen beide Hände entgegen.<br />

„Wahrhaftig“, sagte er, „ich hätte den Herrn Diakonus nicht<br />

erkannt, und Euch nun gar nicht, Herr Thomas. Ich hab’ Euch vor<br />

vielen Jahren gesehen, <strong>als</strong> Ihr noch ein halbwüchsiger Bursche<br />

wart. Ich bin kurz vor Neujahr bei Eurem Vater gewesen, da wart<br />

Ihr nicht zu Hause. Doch legt ab und setzt Euch nieder. Ihr findet<br />

hier auch noch einen eingestiemten 600 <strong>Angerburg</strong>er, den Herrn<br />

Ratsverwandten Rohr. Hier, da ist meine Frau und mein<br />

Eleonore“.<br />

„Aber meine Zeit“, fiel die Hausfrau ihrem Mann in die Rede, „so<br />

Diakonus ist verwundet und Du machst Redensarten. Geh’, meine<br />

Tochter, und sorge dafür, dass die Herren bald etwas Warmes<br />

bekommen“.<br />

Die Reisenden legten ihre Pelze ab und die Hausfrau machte sich<br />

gleich daran, dem Diakonus das blutige Tuch von der Stirn zu<br />

599 Ausdrucksstarken<br />

600 eingestiemt - eingeschneit<br />

383


nehmen und die Wunde zu untersuchen. Es zeigte sich, dass die<br />

Stirn nur von einem kantigen Eisstück angeschlagen war, was<br />

weiter nicht viel auf sich hatte. Nur eine große Beule war ihr noch<br />

aufgefallen. Mit Essig wurde die Stelle verbunden. Rohr, ein<br />

„Auf der Fahrt von Lötzen nach <strong>Angerburg</strong> sind wir bei dem<br />

Schneetreiben verirrt“, erwiderte Thomas, „doch Ihr, Herr<br />

Nachbar, wie kommt es, dass ich Euch hier finde?“<br />

„Ihr wisst“, antwortete Rohr, „dass ich die Fischerei auf den<br />

kurfürstlichen Seen des Amts <strong>Angerburg</strong> in Administration und<br />

Arrende 601 habe. Nun muss ich überall, wo gefischt wird, soviel <strong>als</strong><br />

möglich selbst zugegen sein. Ich habe heute schon eine weite<br />

Fahrt gemacht, von 2 Uhr morgens an und kam noch gerade zur<br />

rechten Zeit vom Goldapgar See 602 hier an den Krukliener See 603 .<br />

Ich konnte noch die nötigen Anordnungen treffen, bevor der<br />

rechte Schneesturm losbrach. Das größte Netz konnten wir aber<br />

nicht mehr bergen und ich ließ einige der Leute unten am See, um<br />

es zu bewachen. Ich bin ihretwegen recht besorgt“.<br />

„Da kann ich Euch beruhigen“, sagte Thomas, „die Fischer<br />

haben sich ziemlich geschützt am Uferberg ein Feuer angezündet<br />

und sind ganz munter“.<br />

Er erzählte nun von der Fahrt und vom letzten Umfallen des<br />

Schlittens. Die Fischer hätten die Reisenden für Rabatzer 604<br />

hochgewachsener Mann mit grauen Haaren kam Thomas<br />

entgegen, reichte ihm die Hand und sagte:<br />

„Ich freue mich, den Herrn Nachbar hier auf befreundetem<br />

Territorio begrüßen zu können. Wie seid Ihr aber hierher<br />

gekommen, Herr Thomas?“<br />

gehalten, wä ren schnell zur Stelle gewesen und hätte n sie<br />

gerettet.<br />

Die Männer hatten sich um den Tisch gesetzt. Die Hausfrau eilte<br />

hinaus, um die Bereitung des Abendessens für die unerwarteten<br />

Gäste zu beschleunigen.<br />

„Wie man sich in der Zeit irren kann“, sagte Thomas, der zur<br />

Uhr sah, „ich glaubte, es wäre weit über Mitternacht, so lang kam<br />

mir unsere Fahrt vor. Jetzt sehe ich, dass<br />

es eben erst Neun ist“.<br />

Es<br />

tut mir wirklich leid, Herr Landschöppe, dass wir Euch mit<br />

601<br />

Arrende - Pacht<br />

602<br />

See in der masurischen Seenplatte, 1 km nördl. von Kruglanken.<br />

603<br />

Kruglinner See (Kraukelner See), See in der masurischen Seenplatte, 9 km östl. von<br />

Lötzen.<br />

604<br />

Rabatzer [poln. rabowac - rauben, plündern] - Räuber<br />

384


Menschen und Pferden am späten Abend noch Unruhe und<br />

Umstände machen, besonders da Ihr außer den Fischern auch<br />

noch viele Soldaten einquartiert habt, wie ich beim Eintritt in das<br />

Haus bemerkte“.<br />

„Wenn ich von Allem so viel hätte, wie Raum“, sagte Drig<strong>als</strong>ki,<br />

„wäre ich gut dran. An Raum fehlt‘s nicht, weder im Haus noch in<br />

den Ställen. Es gehören übrigens die meisten von den Reitern hier<br />

nicht in’s Haus. Ich habe nur 5 Pferde, einen Offizier und 2 Mann.<br />

Dem Offizier muss nun zweimal in der Woche, am Dienstag und<br />

Freitag, aus jedem Dorf der Umgegend, wo seine Reiter in<br />

Quartier liegen, Rapport<br />

cken“.<br />

nquartierung wohl nicht<br />

605 abgestattet werden. Nun kam aber<br />

heute kurz vor Mittag die Meldung, dass ein Reiter sich in<br />

Jorkowen erhängt hätte. Also musste mein Offizier mit einem<br />

Manne dorthin reiten. Dem anderen befahl er, er solle den Reitern<br />

mit dem Rapport sagen, sie sollen warten, er würde sich beeilen<br />

zurückzukommen. Er kam aber erst vor 2 Stunden und war höflich<br />

genug, mich zu bitten, die Reiter über Nacht hier zu behalten. Es<br />

könne sonst der eine oder andere bei dem Schneesturm<br />

verunglü<br />

„Das scheint ja ein sehr verständiger Offizier zu sein“, sagte<br />

Nebe, „da dürft Ihr, Herr, über die Ei<br />

klagen“.<br />

„Es war doch besser, <strong>als</strong> wir die Reiter noch nicht hatten“, sagte<br />

Drig<strong>als</strong>ki. „Das Kavallerie-Regiment des Generalfeldmarschalls<br />

Derfflinger 606 haben wir seit anderthalb Jahren hier in der Gegend,<br />

es ist eine große Plage.<br />

605<br />

Meldung<br />

606<br />

Gemeint ist hier der 1606 in Neuhofen an der Krems geborene Georg Freiherr v.<br />

Derfflinger. Er stand zwischen 1632 und 1638 in schwedischen Diensten. Als rangältester<br />

General-Wachtmeister des Großen Kurfürsten reorganisierte er ab 1655 das militärische<br />

Nachschubwesen und die Reiterei und war am Aufbau der Artillerie beteiligt. Im Jahre 1670<br />

wurde er brandenburgischer Generalfeldmarschall und nahm u.a. an den siegreichen Kämpfen<br />

gegen die Schweden bei Fehrbellin<br />

(1675) und bei Tilsit (1679) teil. Derfflinger starb 1695 an<br />

seinem Alterssitz Gusow bei Frankfurt/Oder.<br />

385


General v. Derfflinger<br />

Es hörte sich ganz gut an <strong>als</strong> unser Herr Amtshauptmann sagte,<br />

es käme viel Geld durch die Soldaten her, und wir könnten unser<br />

Heu und Futter gut verwerten. Die Soldaten würden uns bei der<br />

Ernte und beim Dreschen helfen. Wir würden auch mehr Dünger<br />

haben. Das klang alles sehr schön aber <strong>als</strong> die Bande, die bis<br />

dahin im Insterburgischen Hauptamt gelegen hatte, hier einzog,<br />

war es doch nicht so vortrefflich. Ich hatte in meinem Bezirk,<br />

besonders in der ersten Zeit, die größte Schererei. Das Reitervolk<br />

verstand nicht Polnisch und meine Bauern nicht Deutsch. Da gab’s<br />

alle Tage Recht<br />

zu sprechen, zu begütigen, zu schlichten,<br />

386


herumzureisen und sich nie zu ärgern. Dazu kam noch, dass allein<br />

die kurfürstlichen Scharwerksdörfer die Reiter und Pferde<br />

verpflegen mussten. Die adligen Güter hingegen, zum Beispiel<br />

Siewken, Gansenstein mit Regulowken und andere, bekamen<br />

keine Einquartierung. Kam ich nach Hause, hatte ich wieder Ärger.<br />

Die Kerle taten den ganzen Tag nichts, lungerten in den Ställen<br />

herum, sahen, wo sie mir das Futter stehlen konnten,<br />

versäumten 607 die Mägde. Die Korporäle waren das<br />

niederträchtigste Gesindel. Was habe ich mit denen anstellen<br />

müssen. Das Schlimmste war für mich, dass ich zwar über die<br />

Bauern meines Bezirks, aber nicht über die Soldaten Gewalt hatte,<br />

und die Herren Offiziere, na, die waren zu Gast in Gansenstein<br />

oder Siewken, ritten nach <strong>Angerburg</strong> oder Lötzen, manchmal nach<br />

Steinort oder sonst mehr. Kurz, wenn einer von ihnen gebraucht<br />

wurde, war er nicht zu finden. Seit einem halben Jahr geht‘s<br />

besser, da hab’ ich einen Offizier namens Ditzel in’s Haus<br />

bekommen. Der macht nun zwar im Hause manche Umstände,<br />

besonders weil die Frauensleute ihm gegenüber immer den Schein<br />

von Wohlhabenheit erwecken wollen, aber sonst ist er bescheiden,<br />

beträgt sich ehrlich und fromm, wie es einem ehrlichen Kavalier<br />

gebührt. Auch unterrichtet er, weil er viel freie Zeit hat, meinen<br />

ältesten Sohn von 10 Jahren“.<br />

„Hat er denn so gute Studia?“ fragte Nebe. „Die sind doch, wie<br />

ich mir habe sagen lassen, bei den Offizieren nicht eben oft<br />

vorhanden“.<br />

„Kann bei anderen wohl sein“, meinte Drig<strong>als</strong>ki, „aber unser<br />

608<br />

Ditzel hat was gelernt. Sein<br />

Bruder Johann Christoph ist Collega<br />

bei der lateinischen Schule in Wehlau. Er war im Sommer zum<br />

Besuch hier und hat auch meinen Jungen, den Bernhard, dam<strong>als</strong><br />

geprüft“.<br />

Die Hausfrau, gefolgt von der Tochter, brachte die bereiteten<br />

warmen Speisen, die sich die beiden Schwäger schmecken ließen.<br />

„Mein Bernhard hängt sehr an dem Ditzel“, fuhr Drig<strong>als</strong>ki nach<br />

der Unterbrechung fort, und man pflegt ja zu sagen, dass der<br />

Mensch, welcher sich mit Kindern gern abgibt, und den sie lieb<br />

haben, kein schlechter Mensch sein kann. Doch, was ist das für<br />

eine Musik?“<br />

607<br />

Versäumen – hier: von der Arbeit abhalten.<br />

608<br />

Angehöriger des Lehrerkollegiums.<br />

387


Die nach dem Hausflur führende Tür öffnete sich, und ein<br />

abenteuerlicher Zug marschierte in die Stube. Voran schritten zwei<br />

lies aus Leibeskräften auf<br />

einen umgehängten Kessel mit 2 Knütteln 610<br />

Kerle, wunderlich aufgeputzt. Sie hatten Larven<br />

ecke bis zur Erde reichte, mit<br />

olgte ein Bär,<br />

die<br />

u immer tolleren Späßen<br />

en Herrschaften mit<br />

und ließ den Schimmel hinten ausschlagen. Die<br />

, grässlichere Töne ihren<br />

rch die Zuschauer an der Tür<br />

uschritt<br />

eute mit dem Schimmel zu<br />

609 vor dem<br />

Gesicht, aus Birkenrinde, in die für Augen, Mund und Nase Löcher<br />

geschnitten waren. Der eine von ihnen b<br />

einer Pfeife, deren schrille Töne durch Mark und Bein gingen,<br />

während der andere<br />

mit aller Macht bearbeitete. Hinter den Musikanten kam ein Reiter<br />

auf einem Schimmel, dessen weiße D<br />

einem prachtvollen Schweif von Flachs. Dann f<br />

aufrecht gehend, an einer dicken Kette von seinem Führer<br />

geleitet, ein Jude mit seinem Bündel und ein altes Weib schlossen<br />

den Zug. Gleich hinterher drängten sich durch die Tür neugierige<br />

Mägde, Knechte, Kinder, Fischer und Soldaten. Sie blieben aber in<br />

der Nähe des Eingangs stehen. Die Maskierten zogen, die<br />

Musikanten voran, unter einem Mordsspektakel mehrm<strong>als</strong> um den<br />

Tisch, an dem die Herrschaften saßen. Dann standen sie still. Der<br />

Bär machte die wunderlichsten Kunststücke, der Schimmel<br />

gewagtesten Sprünge, ohne seinen Reiter abwerfen zu können.<br />

Der Jude und das alte Weib versuchten beide, ihre Person<br />

möglichst zur Geltung zu bringen. Alle schrieen so laut sie konnten<br />

durcheinander. Die Zuschauer an der Tür lachten und versuchten,<br />

durch ihre Zurufe die Schauspieler z<br />

aufzumuntern. Der Pfeifer blies, dass ihm die Augen durch die<br />

Larve quollen. Der Bärenführer begann, bei d<br />

seiner Kappe zu sammeln. Der Bär ergriff eine leere Schüssel vom<br />

Tisch und bettelte ebenfalls. Der Schimmelreiter streckte die hohle<br />

Hand aus<br />

Musikanten versuchten noch lautere<br />

Instrumenten zu entlocken und pracherten. Es war ein<br />

Höllenspektakel. Da drängte sich du<br />

die hohe Gestalt eines schlanken Mannes, der, da seine Stimme in<br />

dem Wirrwarr nicht zu vernehmen war, auf den Musikus z<br />

und ihm die Hand auf die Schulter legte, worauf die Töne sofort<br />

abbrachen. Die Kesselpauke verstummte.<br />

„Ich habe Euch wohl erlaubt, h<br />

gehen“, rief der Offizier, „aber nicht, solch furchtbaren Lärm zu<br />

machen und die Herrschaft so unverschämt zu belästigen“.<br />

609<br />

Larve - Maske, ein gemahltes oder geformtes menschliches Gesicht.<br />

610<br />

Knüttel = Knüppel<br />

388


Der Bär und seine Begleiter ließen die Köpfe hängen und<br />

schlichen, da sie schon ihr Geld bekommen hatten, der Tür zu.<br />

„Lass der Szurminski Euch noch eine halbe Tonne Bier aus dem<br />

Keller geben“, rief Drig<strong>als</strong>ki ihnen zu, wofür er von dem<br />

vorbeihuschenden Bären, dem das Erbsenstroh nachschleifte, in<br />

das er gewickelt war, einen Handkuss bekam. Den Schauspielern<br />

folgten die Zuschauer zur Tür hinaus, die dann geschlossen wurde.<br />

Nach dem Wirrwarr wurde es still in der Stube.<br />

„Ich muss sehr um Entschuldigung bitten“, sagte der Offizier,<br />

sich verneigend, „dass ich mir erlaubte, so formlos einzutreten,<br />

doch konnte ich es nicht länger mehr anhören, dass die werte<br />

Herrschaft von meinen Leuten belästigt wurde“.<br />

Drig<strong>als</strong>ki stand auf: „Hier, Herr, stelle ich Euch vor den Diakonus<br />

Nebe aus <strong>Angerburg</strong>, seinen Schwager Thomas Anderson und den<br />

Herrn Ratsverwandten Michael Rohr, gleichfalls aus <strong>Angerburg</strong>,<br />

von dem ich Euch heute vormittags erzählte, dass er herkommen<br />

wollte, <strong>als</strong> wir seinen Fischern zusahen. Die beiden anderen Herrn<br />

sind vom Schneesturm hergetrieben“.<br />

Die Vorgestellten erhoben sich und wechselten mit dem Offizier<br />

einige weitschweifige Redensarten nach der Mode der damaligen<br />

Zeit.<br />

„Doch, wenns Euch beliebt, Herr“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, „so setzt<br />

Euch noch ein wenig zu uns. Die Gäste können doch nicht früher<br />

schlafen gehen, <strong>als</strong> bis ihre Betten bereit sind“.<br />

Ditzel setzte sich dankend neben Rohr. Der Hausherr füllte aus<br />

der mit Münzen verzierten silbernen Kanne mit Hausbier die<br />

Krüge.<br />

„Dass doch die Leute nie Maß halten können“, begann Ditzel.<br />

„Ich hatte ihnen, auf ihre Bitte, das Vergnügen, mit dem<br />

Schimmel zu<br />

gehen, gestattet, doch ärgert es mich, dass sie es<br />

gleich so übertreiben“.<br />

„Na, na“, meinte Drig<strong>als</strong>ki, „so arg war es ja auch nicht; aber<br />

habt Ihr auch in andern Gegenden diesen Spektakel in den<br />

Zwölften zwischen Weihnachten und Heilige Drei Könige<br />

611<br />

gefunden?“<br />

611<br />

Die Zwölften oder Zwölfnächte, sind die 12 Nächte, unter Einschluss der betr. Tage, die<br />

vom Christtage (1. Weihnachtstag) bis zum Tag der heiligen 3 Könige, <strong>als</strong>o vom 25. Dez. bis<br />

6. Jan. fallen. Diese Zeit ist im Volksglauben heilig, da die Nachfeier des Christfestes sich bis<br />

dahin erstreckt. Manche abergläubische<br />

Meinungen banden sich an diese Zeit. Hauptsächlich<br />

glaubte<br />

man, dass das Wetter der 12 Monate des neuen Jahres an den Himmels- und<br />

Wettererscheinungen während dieser 12 Nächte erkannt werden kann.<br />

389


„Im Kirchspiel Kussen 612 “, erwiderte Ditzel, „wo unsere Reiter<br />

lagen, bevor wir herkamen, habe ich dies bei den Litauern nicht<br />

vorgefunden. Dafür haben sie andere Zanteleien 613 in dieser Zeit.<br />

Bei meinem Oheim, dem Pfarrer Ernst Ditzel in Walterkehmen 614 ,<br />

den ich Weihnachten vor einem Jahr besuchte, kamen in den<br />

Zwölften des Abends die Schimmelreiter in’s Pfarrhaus. Bei dieser<br />

Gelegenheit erzählte der Oheim, dass sie schon in seiner Kindheit<br />

in Fischhausen sich nach Weihnachten gezeigt hätten“.<br />

„Im Oberlande bei Saalfeld“, ließ sich Nebe vernehmen, „gehen<br />

ähnliche Gestalten nach Weihnachten in den Dörfern um. Dort<br />

werden sie aber nicht Schimmelreiter, sondern heilige Christen<br />

oder hellge Kreste, wie die Oberländer sagen, genannt. Es muss<br />

wohl schon ein alter Brauch sein. In Büchern habe ich, soweit ich<br />

mich besinnen kann, darüber nichts gefunden“.<br />

„Wer weiß, ob er nicht vielleicht mit dem Umherziehen der<br />

Heiligen Drei Könige zusammenhängt“, meinte Ditzel. „Im<br />

Kussenschen zogen 3 Kinder, die sich Hemden über die Kleider<br />

gezogen hatten, von denen eins einen Stern auf einer Stange trug,<br />

von Haus zu Haus und sangen“.<br />

Weihnachtsstern-Singer in Kutten (Ernst Rimmek)<br />

612<br />

Kirchort 10 km westl. von Pilkallen (Schlossberg), 20 km nord- nordöstl. von Gumbinnen.<br />

613<br />

Zantelei = Zauberei / Hexenwerk<br />

614<br />

Kirchdorf seit 1607, 11 km SSO von Gumbinnen an der Straße nach Goldap.<br />

390


„Ebenso machten sie es im Kattenauschen“, sagte Nebe, „ich<br />

hab’s bei meinem Oheim Schultz dort öfters gesehen, aber meiner<br />

Meinung nach sind diese Bräuche grundverschieden“.<br />

Es entspann sich nun ein ziemlich lebhafter Meinungsstreit, bei<br />

dem, wie gewöhnlich, nichts herauskam, da jeder sich vom<br />

anderen nicht überzeugen lassen wollte.<br />

Thomas war inzwischen hinausgegangen, um sich bei Jasch<br />

nach den Pferden zu erkundigen, und dem alten Fischer sein<br />

versprochenes Trinkgeld zu geben. Er fand die Männer<br />

erwartungsvoll um eine Biertonne stehen, die soeben aus dem<br />

Keller heraufgeschafft war und durch die vereinte Geschicklichkeit<br />

mehrerer Knechte angezapft werden sollte.<br />

„Wie steht’s mit den Pferden?“ fragte Thomas seinen Jasch, <strong>als</strong><br />

er ihn aufgefunden hatte.<br />

„Der Braune legte sich sogleich hin“, antwortete dieser, „wollt’<br />

nicht einmal fressen. Der Stall ist warm, aber ziemlich eng“.<br />

Inzwischen war es gelungen, dem Spund Luft zu machen<br />

n, um das<br />

buntes Durcheinander, jeder versuchte, dem<br />

enden Zinnkrug sich durch<br />

nen Augen. Bei Thomas’ Eintritt erhob er sich und<br />

usflur,<br />

wo die zusammengewürfelten Männer singend und zechend um<br />

615 , und<br />

alle drängten sich nun mit leeren Trinkgefäßen hera<br />

braune Nass zu erlangen. Auch die Mägde kamen mit Töpfen<br />

herbei. Es war ein<br />

anderen zuvorzukommen. Endlich erwischte Thomas den alten<br />

Fischer, der mit dem gefüllten schäum<br />

die Menge drängte, und drückte ihm das versprochene Trinkgeld<br />

in die Hand. Plötzlich erschien die Hausfrau, der die Mägde von der<br />

aufgetragenen Arbeit fortgelaufen waren, und trieb dieselben mit<br />

herben Worten von der Biertonne hinweg. In das Wohnzimmer<br />

zurückgekehrt, fand Thomas die Herren schläfrig am Tische sitzen.<br />

Rohr gähnte. Nebe hatte sich aufgestützt und nickte. Der Hausherr<br />

saß in seinem Lehnstuhl, die Hände über dem Bauch gefaltet, mit<br />

geschlosse<br />

sagte:<br />

„Muss doch einmal nachsehen, ob meine Weibsleute mit den<br />

Betten noch nicht in Ordnung sind“.<br />

Da kam auch schon die Hausfrau mit einem Lichte hinein und<br />

brachte den Herren die angenehme Nachricht, dass alles bereit<br />

sei. Nachdem dieselben ihr eine geruhsame Nacht gewünscht<br />

hatten, ergriff Drig<strong>als</strong>ki das Licht und führte sie in den Ha<br />

615 Der Zapfen war entfernt, mit dem das Spundloch zuvor verschlossen war.<br />

391


das hell brennende Feuer saßen. An einer Tür verabschiedete sich<br />

der Offizier und ging in seine Kammer. Die drei <strong>Angerburg</strong>er<br />

wurden vom Hausherrn durch einen Gang und eine<br />

Vorratskammer in die Gastkammer<br />

geführt, die an der Giebelecke<br />

des Hauses lag. Ein gewaltiges Feuer brannte in dem Kamin, hatte<br />

aber die Kammer nicht zu erwärmen vermocht.<br />

„Ist doch noch schändlich kalt hier“, sagte der Hausherr, das<br />

Licht auf den Tisch setzend, „konnte aber die Herren so spät<br />

nirgends anderswo unterbringen“.<br />

„Man hört hier so recht das Toben des Sturmes“, sagte Nebe.<br />

„Das Haus kracht und knarrt“.<br />

„Ja, ja“, meinte Drig<strong>als</strong>ki, „auf jener Seite des Hauses in der<br />

Wohnstube konnten wir wenig davon hören, aber schlaft nur ganz<br />

ruhig, ihr Herrn, solch ein altes Holzhaus, von vollkantigen Eichen<br />

in Gerjas<br />

t allerseits“.<br />

hen. Ein breites<br />

zu legen, die Bettstücke in demselben sind aus<br />

densarten ließen beide es sich<br />

ing in die Hände, und er setzte sich mit demselben<br />

kalten, sauber bezogenen Bettstücke waren ihm aber doch etwas<br />

616 gesetzt, hat schon mehr überstanden <strong>als</strong> solchen<br />

Sturm. Aber meine Weibsleute haben nur zwei’ Bettstellen<br />

zurechtgemacht, zwei von den Herren müssen schon<br />

zusammenschlafen. Nun, wohlschlafende Nach<br />

„Gute Nacht. Ich bin recht müde und schläfrig“, sagte Nebe<br />

gähnend.<br />

„Ich nicht minder“, sagte Rohr.<br />

Thomas hatte sich in der Kammer umgese<br />

Himmelbett mit dunkeln Vorhängen stand an der Mittelwand<br />

neben einem großen Schrank. In der Ecke des Hauses war ein<br />

Spannbett aufgestellt, eine Lade stand unter dem Fenster, dessen<br />

Läden geschlossen waren.<br />

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf“, wendete sich Thomas<br />

an Rohr, „so würde ich die Herren ersuchen, sich zusammen in<br />

das Himmelbett<br />

geheizten Räumen hineingebracht, die Herrn werden da bald warm<br />

werden“.<br />

Nach einigen höflichen Re<br />

gefallen. Thomas war ihnen beim Auskleiden behilflich und zog die<br />

Vorhänge zu. Er selbst hängte seinen nass gewordenen Mantel an<br />

das Kaminfeuer. Dabei fiel ihm das Gebetbüchlein von Elisabeth<br />

Ramsey aus Elb<br />

an das Licht und las den Abendsegen. Er legte das feucht<br />

gewordene Büchlein zum Trocknen auf den Tisch, warf noch eine<br />

Handvoll trockenes Holz in den Kamin und suchte sein Lager. Die<br />

616<br />

Gerjas = Gefach?<br />

392


zu frisch und feucht. Er legte deshalb nur den Rock und die Stiefel<br />

ab. Die Gedanken an Esther wollten ihn anfangs nicht einschlafen<br />

lassen, die Natur forderte aber ihr Recht und bald schlief er ein,<br />

trotz Kummer, dem Gesang der Zechenden, Sturm und Krachen<br />

des Hauses. Bleiern hatte der Schlaf den Ermüdeten umfangen, da<br />

hörte Thomas im Traum ein wiederholtes heftiges Klopfen. Er<br />

meinte, in Elbing zu sein und in einem Warenraum Ramseys auf<br />

einem Ballen zu liegen. Das Klopfen wiederholte sich, er hörte<br />

seinen Namen rufen, konnte aber nicht aufstehen. Er meinte,<br />

vollständig wach zu sein. Deutlicher hörte er rufen: „Thomas!<br />

Thomas! Wach auf, Thomas! Thomas! Dann wieder das heftige<br />

Klopfen und mit aller Kraft versuchte Thomas, sich aufzurichten,<br />

vermochte es aber nicht. Da schwebte Elisabeth, fortwährend laut<br />

Thomas Namen rufend, immer näher der Lagerstatt. Eine eisige<br />

Kälte durchrieselte seinen Körper.<br />

Da stand Elisabeth schon neben<br />

seinem Bette und legte ihre kalte Totenhand auf Thomas Rechte,<br />

die auf dem Deckbett lag. Wieder rief sie seinen Namen. Grauen<br />

und Entsetzen fasste ihn, doch konnte er sich nicht rühren.<br />

Thomas! Thomas, rief Elisabeth <strong>jetzt</strong> nahe an seinem Ohr und<br />

legte ihre andere kalte Totenhand auf sein Gesicht. Nun<br />

vermochte Thomas<br />

sich aufzurichten, riss die Augen auf, sah bei<br />

dem Scheine des verglimmenden Kaminfeuers die weiße Hand von<br />

seinem Gesichte herabfallen und eine weiße Gestalt sich nach dem<br />

Feuer hin bewegen. Er hörte dabei fortwährend das Klopfen.<br />

Entsetzt fuhr Thomas aus dem Bette, eilte zum Kamin und warf<br />

eine Menge von trockenen Spänen auf die Kohlen. Hell flammte<br />

das Kaminfeuer auf und<br />

beleuchtete den Raum. Da sah denn<br />

Thomas, dass sich das Dach verschoben hatte, ein dicker Balken<br />

aus seiner Lage gekommen war und dass sich dicht neben der<br />

Decke am Giebel ein handbreiter Spalt geöffnet hatte, durch den<br />

der Sturm in den verschiedensten Tönen heulend in die Kammer<br />

fuhr, Schneemassen auf sein, eben verlassenes Lager fegte und<br />

durch die Kammer bis zum Kamin jagte. Dabei krachte das<br />

Haus,<br />

das Gebälk und die Sparren. Dröhnende Stöße hörte Thomas von<br />

dem Gebälk gegen den Schornstein schlagen, dass durch den<br />

Kamin kleine Ziegel- und Kalkstückchen herabfielen.<br />

„Steht auf, Herr Rohr“, schrie Thomas, den Schlafenden<br />

rüttelnd, „steht schnell auf, weckt meinen Schwager, das Haus<br />

hält nicht mehr. Eilt, eilt“, rief er wieder, indem er in die Stiefel<br />

fuhr. Rohr richtete sich auf. „Hört nur, wie die Balken gegen den<br />

Schornstein schlagen“.<br />

393


Schnell warf Thomas den Mantel über und eilte hinaus, um den<br />

vorderen Hausflur zu erreichen. Ein heller Feuerschein, der durch<br />

eine geöffnete Tür fiel, leitete ihn dorthin. In der Küche brannte an<br />

der Erde ein ungeheures Feuer, die Heizvorräte hatten sich<br />

entzündet. Doch die Soldaten, Fischer und Knechte lagen<br />

unbekümmert durcheinander betrunken am Boden, während die<br />

umgestürzte Tonne mit eingeschlagenem Boden bezeugte, dass<br />

sie bis auf den letzten Tropfen geleert ist. Vergebens suchte<br />

Thomas, den einen und anderen zu wecken. Wie sollte er in dem<br />

unbekannten Haus den Hausherrn finden? Da fiel ihm der Offizier<br />

ein, dessen Kammertür auf den Hausflur ging. Er schritt über die<br />

Schläfer der Tür zu, klopfte an und versuchte sie zu öffnen. Sie<br />

war unverschlossen. Ditzel kam ihm völlig angekleidet entgegen.<br />

„Herr“, rief Thomas, „helft mir um Gottes willen, die Leute zu<br />

wecken. Hört nur, wie die Balken gegen den Schornstein schlagen.<br />

Fällt der ein, so haben wir das Feuer im Dach. Der Sturm hebt das<br />

Dach des Hauses. Ihr kennt Euch ja hier aus“.<br />

Ohne ein Wort zu erwidern, ergriff Ditzel ein neben der Tür<br />

hängendes Jagdhorn und stieß hinein.<br />

Gar nicht lange dauerte es,<br />

da waren die Soldaten auf den Beinen.<br />

„Schnell, schnell“, rief Thomas, „bringt Wasser und Eis um das<br />

Feuer zu dämpfen“.<br />

Mit diesen Worten eilte er auf den Hof und warf eine von dort<br />

geholte Ladung Schnee in’s Feuer.<br />

„Helft mir, Leute“, rief Thomas atemlos, „helft“.<br />

Die plötzlich nüchtern gewordenen Leute trugen in Hüten,<br />

Pelzen, Körben oder in den Händen den Schnee in’s Feuer. Die<br />

barfüßigen<br />

Mägde erschienen von der anderen Seite und gossen<br />

Eimer und Kannen mit Wasser hinein. Ein gewaltiger Dampf und<br />

Qualm füllte das Haus, doch durch diesen drangen die Leute<br />

hindurch und warfen immer neue Schneemassen auf die<br />

aufzuckenden Flammen. Ditzel war mit seinen Soldaten auf den<br />

Hof geeilt. Drig<strong>als</strong>ki, notdürftig bekleidet, kam in den Hausflur.<br />

„Herr Landschöppe“, rief Thomas durch das Gedränge ihm zu.<br />

„Herr Landschöppe, wir müssen mit einer Laterne auf den Boden,<br />

um zu sehen, ob der Schornstein von den Stößen der Balken nicht<br />

solchen Schaden erlitten hat, dass er einstürzt und Menschen<br />

erschlägt. Gebt schnell eine Laterne“.<br />

Drig<strong>als</strong>ki eilte durch eine Tür und kam bald mit einer<br />

brennenden<br />

Laterne, die er Thomas reichte.<br />

394


„Schnell eine Axt“, rief Thomas. Eine der Mägde reichte ihm eine<br />

solche. „Komm mit Jasch, und einer von den Knechten des<br />

Hauses“.<br />

„Christoph, komm mit“, rief Jasch.<br />

„Nehmt meinen Mantel“, rief Thomas dem Landschöppen zu,<br />

indem er ihm denselben überwarf.<br />

Christoph stieg voran mit der Laterne, Thomas, Jasch und ein<br />

anderer der Knechte, der ein Beil ergriffen hatte, folgten.<br />

„Lauft auf den Hof, Leute“, rief Thomas aufsteigend den Fischern<br />

zu, die ebenfalls nachkommen wollten, „und seht, ob Ihr den<br />

Soldaten dort etwas helfen könnt“.<br />

Drig<strong>als</strong>ki war schon auf den Hof geeilt.<br />

Auf dem Boden<br />

angelangt, sah man bei dem zitternden Licht, wie der ganze<br />

Dachstuhl hin und her schwankte. Die Sparren zitterten und<br />

knarrten, die beiden Querbalken zwischen den Sparren neben dem<br />

Schornstein krachten mit immer erneuten Stößen gegen das<br />

Mauerwerk.<br />

„Hier, dieser ist’s“, rief Thomas, seine Laterne hebend, „dieser<br />

Hasambalken en Schornstein“. Thomas schwang<br />

Leuten auf dem Hof helfen. Verstopft aber vor allen Dingen das<br />

ssen hat. Nehmt Flachs,<br />

617 schlägt gegen d<br />

sich auf einen Haufen Flachs, und mit gewaltigen Hieben schlug er<br />

die Axt in den Balken, dass die Spähne flogen. „Christoph“, rief er,<br />

ohne seine Arbeit zu unterbrechen, schiebe mit dem fremden<br />

Knecht jene Lade an den Schornstein, stülpe sie um“ rief er<br />

ärgerlich, <strong>als</strong> beide den Inhalt des Kastens langsam<br />

herausnehmen wollten.<br />

Bald war derselbe auf seine schmale Seite gestellt, Christoph<br />

kletterte hinauf und hieb am andern Ende des Hasambalkens ein.<br />

Doch nicht umsonst hatte der Landschöppe das feste Eichenholz<br />

seines Hauses gerühmt, der Balken leistete Widerstand.<br />

„Lasst mich herauf, Herr Thomas“, rief Jasch, der die Laterne<br />

hoch hielt, „ich bin an Holzhackerarbeit mehr gewöhnt <strong>als</strong> Ihr“.<br />

Thomas reichte ihm die Axt, und mit frischer Kraft hieb Jasch<br />

auf das Endstück des Balkens, dass dieser endlich brach.<br />

„Nun darf der Balken auf der anderen Seite des Schornsteins<br />

auch fort“. Mit aller Kraft hieben die Knechte auf ihn ein. „Gott<br />

Lob“, rief Thomas, <strong>als</strong> der Balken fiel. „Der Schornstein hat nur<br />

eine wunde Stelle und einen kleinen Riß. Doch nun wollen wir den<br />

Loch, das der Sturm dort in das Dach geri<br />

617 Hasambalken - Querbalken<br />

395


Heede 618 , was Euch in die Hände fällt, damit der Sturm nicht<br />

hinein kann und von innen das Dach hebt“.<br />

Die Männer eilten über den Boden und verstopften die<br />

in der Hand, die Leiter hinabstieg, tönten ihm aus dem<br />

use?“, hörte<br />

u<br />

ie<br />

des Hauses aufgestapelten Bauhölzern zu<br />

befestigen.<br />

„So - nu häbb’ wi dem Deck angebunde wie e Hund - nu loat de<br />

d man riete“ 619 eingerissene große Lücke, die noch mit Stangen und Brettern<br />

gestützt wurde. Als Thomas, gefolgt von den 3 Knechten, mit der<br />

Laterne<br />

dunklen, mit Rauch gefüllten Hausflur jammernde Stimmen<br />

entgegen.<br />

„Mein Gott, mein Gott, wo brennt’s denn im Ha<br />

Thomas die Stimme der Hausfrau. „Alle Räume sind voller Qualm.<br />

Kinder, bleibt bei mir. Wo mag nur mein Mann sein?“ rief sie<br />

weinend.<br />

Als Thomas den Boden erreichte, sah er bei dem trüben Schein<br />

der Laterne die Hausfrau mit einem kleinen weinenden Kind auf<br />

dem Arm. Die erwachsene Tochter versuchte ein weinendes<br />

Mädchen zu beruhigen. Die anderen Kinder drängten sich zur<br />

Mutter. Nebe und Rohr standen mit verstörten Gesichtern dabei.<br />

„Beruhigt Euch, werte Frau“, rief Thomas näher tretend mit<br />

lauter Stimme, um verstanden zu werden. „Das Feuer ist, Gott<br />

Lob, gelöscht und die Gefahr des drohenden Einsturzes des<br />

Schornsteins abgewendet. Euer Mann ist mit dem Offizier, den<br />

Soldaten und Fischern draußen, um das Dach von außen z<br />

stützen. Geht mit den Kindern und Gästen in ein Zimmer hinein.<br />

In dem Hausflur, das voll mit Wasser, Schnee und Rauch ist,<br />

könnt Ihr nicht bleiben. Der Qualm wird sich wohl allmählich<br />

verziehen. Wir wollen sehen, ob wir denen draußen nicht helfen<br />

können. Kommt ihr Leute, ich bringe Euch bald Nachricht“, rief er,<br />

sich in der Haustür noch einmal umwendend.<br />

Auf dem Hofe fasste ihn der Sturm und warf ihn fast zu Boden.<br />

Sich an der Längenwand des Hauses festhaltend, gelangte er an<br />

den Giebel des Hauses. Hier waren, wie er allmählich bemerkte,<br />

<strong>als</strong> das Auge sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatte, d<br />

Männer beschäftigt, eine dicke lange Holzkette um einen Balken<br />

des übergebauten Dachs zu legen und diese dann an den an der<br />

hinteren Längenwand<br />

win<br />

, hörte Thomas einen von den Leuten sagen.<br />

618<br />

Heede (Heide) - die verworrenen gröberen und kürzern Fasern des Hanfes und Flachses.<br />

619<br />

„Nun haben wir die Decke angebunden wie einen Hund – nun lasst den Wind mal reißen“<br />

396


„Bringt noch die dicken Stangen und langen Rundhölzer, dass<br />

wir sie auf das Rohrdach legen, damit der Sturm nicht wieder ein<br />

Loch einreißt“, rief Drig<strong>als</strong>ki mit überlauter Stimme durch den<br />

Sturm.<br />

Mit großer Mühe wurden aus einem offenen Schuppen die<br />

Holzstücke allmählich herangeschafft. Vier und mehr Menschen<br />

mussten an einem Stück tragen und wurden doch mehrm<strong>als</strong> vom<br />

Sturm in den Schnee geworfen.<br />

Die Leiter eines Erntewagens<br />

wurde mühsam herangebracht und es bedurfte der vereinten<br />

Kräfte der Männer, um sie aufzurichten und gegen das Dach zu<br />

stellen.<br />

„Loat’ dem Bar’ man ’rop“, rief die Stimme eines Soldaten, der<br />

am eifrigsten geholfen hatte. „Loat dem Bar’ man ’rop, de kann<br />

goot klattere! Hoalt man dem Ledder fest“<br />

ch der<br />

nd Schneetreiben<br />

620 .<br />

Er hatte ein Tau um den Leib gebunden und kletterte trotz des<br />

Sturmes wie eine Katze die Leiter hinauf.<br />

„Nu bindt däm End vom Ströck an“, rief er, „emmer an dat<br />

dünne End“. 621<br />

Es geschah, und geschickt zog der Bar eine Stange na<br />

anderen mit ihren dünneren Enden aufs Dach und verteilte sie an<br />

den gefährdetsten Stellen. Ditzel war inzwischen nach den<br />

Pferdeställen gegangen.<br />

„Herr Landschöpp“, rief er, sich durch Sturm u<br />

und aufgewehten Schneemassen mühsam einen Weg bahnend,<br />

„Herr Landschöpp, das Dach des langen Stalles hat schon ein<br />

großes Loch. Wir müssen dorthin. Kommt Leute“.<br />

Alle eilten so schnell es ging, zur bedrohten Stelle, und es<br />

gelang, wenn auch mit großer Anstrengung, das Dach des Stalles<br />

und das der Scheune, die außerdem noch von außen gestützt<br />

wurde, zu sichern. Thomas begab sich in’s Haus, <strong>als</strong> die letzten<br />

Streben gesetzt wurden, wobei er nicht mehr helfen konnte, um<br />

der geängstigten Familie zu sagen, dass alle Gefahr vorüber wäre.<br />

Als er die Haustür öffnete, jagte der Sturm eine Masse Schnee in<br />

den Hausflur, und es bedurfte seiner ganzen Kraft, um die Haustür<br />

wieder zu schließen. Als es ihm gelungen war und Thomas sich<br />

umwendete, kam ihm aus der Tiefe des Hauses eine Laterne<br />

entgegen. In der Trägerin der Laterne glaubte er bei dem trüben<br />

zitternden Licht, die Tochter des Hauses zu erkennen.<br />

620<br />

„…Haltet mal die Leiter fest“<br />

621<br />

„Nun bindet das Ende vom Strick an“, rief er, immer an das dünne Ende“.<br />

397


„Wo ist er, lebt er noch, haben sie ihn nicht erschlagen?“ rief sie<br />

Thomas entgegen.<br />

„Euren Vater, Jungfer Leonore? Der wird sehr bald<br />

hereinkommen“, antwortete Thomas.<br />

„Ach nein, den meine ich nicht, sondern den Offizier“, rief<br />

Leonore. „Den wollten in dieser Nacht die Reiter totschlagen, weil<br />

er kugelfest ist und keine Kugel ihn trifft. Die Louise hat’s mir<br />

eben erzählt. Wie leicht können sie ihm bei dem furchtbaren<br />

Sturmwetter unbemerkt mit einem Pfahl oder einer Stange auf<br />

den Kopf schlagen. Er fürchtet keine Gefahr, ist der wildeste<br />

tollkühnste Reiter. Sagt mir, Herr, wo ich ihn finde, ich muss ihn<br />

warnen“.<br />

„Jungfer Leonore“, sagte Thomas, „draußen ist kein Wetter<br />

für<br />

Frauensleute. Kaum, dass ein starker Mann sich auf den Füßen<br />

halten kann, aber um den Offizier dürft Ihr nicht fürchten. Die<br />

notwendigen Stützen sind überall angebracht. Sie setzten eben<br />

noch die letzten dicken Pfähle an der kleinen Scheune<br />

an. Der<br />

Offizier wird gleich mit Eurem Vater und mit allen Leuten<br />

hereinkommen. Ich glaube, sie sind schon an der Haustür“.<br />

Wirklich öffnete sich diese und Ditzel erschien, weiß beschneit,<br />

in ihr.<br />

„Gott sei Dank“, sagte Leonore, wendete sich und verschwand in<br />

einer Türe des Hauses.<br />

Thomas aber öffnete die Stubentür und trat in das Wohnzimmer.<br />

Er fand die Hausfrau mit einem Kind auf dem Schoß, so wie den<br />

Schwager Nebe und den Ratsverwandten<br />

Rohr an dem großen<br />

Ofen in der Wohnstube auf der Ofenbank sitzen. Die Kinder waren<br />

eingeschlafen, der Rauch hatte sich fast vollständig verzogen.<br />

„Nun, wie steht’s?“, rief die Hausfrau ihnen entgegen. „Ich bin in<br />

großer Angst um meinen Mann“.<br />

„Was Menschenkraft vermochte, ist geschehen, um Eure<br />

Gebäude vor dem Einsturz zu sichern“, sagte Thomas, „Euer Mann<br />

wird mit den übrigen bald da sein, sie setzen noch die letzte<br />

Stütze an die Scheune. Aber habt Ihr nicht im Haus einige<br />

Piken<br />

ster zertrümmert und<br />

schlägt sie noch immer gegen das Gebäude“.<br />

„Da stecken noch vom allgemeinen Landesaufgebot in der<br />

Mägdekammer einige Piken, an denen die Weibsbilder ihre Kleider<br />

622 , die man gegen die Fensterladen stemmen könnte? Eine<br />

hat der Sturm schon aufgerissen, das Fen<br />

622 Spieße<br />

398


zu trocknen pflegen“, sagte die Frau. „Schnell, Louise, leg‘ den<br />

Plunder anders wohin und bringt die Piken her“.<br />

Die Magd eilte hinaus und kam bald mit einem ganzen Arm voll<br />

Piken wieder. Thomas nahm sie ihr ab, da traten auch schon die<br />

Männer in den Hausflur, die vom Hof kamen, schwitzend und<br />

keuchend, und schüttelten den Schnee ab.<br />

„Kann Euch nicht helfen?“, fragte Thomas, „Kommt noch einmal<br />

hinaus, nehmt die Piken und stützt<br />

sie von außen gegen die<br />

Fensterladen“.<br />

Er ging voran und willig folgten die Leute. Bald war die letzte<br />

Arbeit getan, und im Gefühl der<br />

wiedergewonnenen Sicherheit<br />

kehrten alle in’s Haus zurück.<br />

„Johann, Johann“, rief die Hausfrau aufspringend und ihrem<br />

Mann um den H<strong>als</strong> fallestiemnd, „wie habe ich mich Deinetwegen<br />

geängstigt, <strong>als</strong> das ganze Haus voll Rauch war und Du nirgends zu<br />

finden warst“.<br />

„Nun siehst Du“, erwiderte er lächelnd, „dass Dein alter<br />

Brummbär wieder lebendig da ist. Den wirst Du so bald nicht los.<br />

Aber <strong>jetzt</strong> geh, liebes Herz, und gieb den Leuten etwas zu essen,<br />

sie haben sich wacker gehalten, auch Schnaps lass die<br />

Szurminski<br />

„Der Herr Thomas versichert, dass der Schornstein noch gut hält,<br />

er können sie nicht mehr gebracht werden, da stiemen<br />

ski und Thomas legten ihre<br />

hr könnt ruhig schlafen, Herr<br />

623 verteilen“.<br />

„Aber“, erwiderte die Frau kleinlaut, „sie haben gestern ein<br />

ganzes Schaf aufgegessen“.<br />

„Schadet nichts, gieb ihnen Salzfleisch“, entschied der Hausherr.<br />

lass sie sich ein tüchtiges Feuer machen. Der Sturm geht durch<br />

Mark und Bein. Die Mägde müssen die Kinder zu Bett bringen und<br />

den Gästen hier an der Erde ihr Lager aufschlagen, in die<br />

Gastkamm<br />

sie ein“.<br />

Die Frau tat wie ihr geheißen. Drigal<br />

nassen Oberkleider ab und Letzterer empfing vom Hausherrn<br />

einen warmen Hauspelz. Da kam auch Ditzel, der seine Kleider<br />

gewechselt<br />

hatte, hinein.<br />

„Ich habe meine Leute eingeteilt“, sagte er, „je zwei und zwei<br />

haben draußen die Wache und müssen nachsehen, dass kein<br />

neuer Schade geschieht. Alle halbe Stunde werden sie abgelöst.<br />

Die Fischer und fremden Knechte haben es freiwillig übernommen,<br />

die Reiter dabei zu begleiten, I<br />

Landschöppe“.<br />

623 Eine Magd<br />

399


„Ich danke Euch herzlich, Herr“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, „und auch<br />

Euch, Herr Thomas, dass Ihr mein Haus so umsichtig vor Gefahr<br />

bewahrt habt, doch ist’s mir nicht recht klar, wie alles gekommen<br />

ist. Ich war müde und schlief sehr fest, <strong>als</strong> das Hornsignal mich<br />

aufschreckte. Als ich die Tür aufriss, glaubte ich, das ganze Haus<br />

stände in Flammen“.<br />

„Hätte wohl so kommen können“, sagte der Offizier, „wenn der<br />

Herr Thomas nicht alle schnell geweckt hätte, im Schornstein war<br />

die Flamme weit über das Dach hinaus gestiegen, es brannte ja<br />

beinahe wie ein Klafter Holz. Dabei die Mauerbrecher, die gegen<br />

den Schornstein stießen… Wäre der gefallen, so hätten wir bei<br />

dem Sturm wohl kaum das nackte Leben retten können“.<br />

„Ich wunderte mich Herr“, sagte Thomas zu dem Offizier, „dass<br />

ich Euch in der Nacht um zwei vollständig angezogen, gestiefelt<br />

und gespornt vorfand“.<br />

„Darüber dürft Ihr Euch nicht wundern“, sagte dieser, „ich<br />

pflege, wenn meine Reiter, besonders mit anderen Leuten abends<br />

zusammen beim Trunke sitzen, mich nicht weit von ihnen zu<br />

entfernen und vollständig angezogen zu bleiben. Denn, wenn die<br />

Köpfe erst erhitzt sind, fallen gar leicht anzügliche Worte, es<br />

entsteht dann eine Prügelei, ja Mord und Totschlag. Da kann ich<br />

Euch ein Exempel…“..<br />

„Aber ich begreife nicht“, sagte Thomas, wie sich die vielen<br />

ausgepichten Kehlen, Kerle wie Bären, an einer halben Tonne Bier<br />

so besaufen konnten“.<br />

„Mir war‘s auch nicht klar“, sagte Ditzel, „hab’s eben<br />

herausbekommen. Einer von den Reitern hatte ein Fäßchen<br />

Branntwein aus dem Krug in Kruglanken<br />

leicht bereden, den Branntwein zu verkaufen und später das<br />

s<br />

dass sie lärmten und<br />

624 für seine Wirtsleute<br />

eingekauft und hergebracht. Da es bezahlt war, so ließ er sich<br />

Fässchen frisch für seine Wirtsleute füllen zu lassen. Geld hatten<br />

sich ja die Schimmelreiter zusammengebettelt. Auch Ihr hattet<br />

dem alten Fischer Geld gegeben. Nun soffen sie das Fässchen bi<br />

auf den letzten Tropfen aus. Daher kam es,<br />

sangen, bis sie einschliefen.<br />

Ich war lange munter geblieben und<br />

muss eben auf dem Stuhl eingenickt sein, <strong>als</strong> Ihr anpochtet. Bei<br />

dem Lärm und dem Getrommel auf den leeren Fässern habe ich<br />

vom Sturm fast gar nichts gehört“.<br />

Nebe und Rohr waren übermüdet auf der Ofenbank<br />

eingeschlafen. Die Mägde brachten aus der Gästekammer die<br />

624 Kirchdorf 18 km süd-östl. von <strong>Angerburg</strong> am Goldapgarsee.<br />

400


Bettstücke. Alle gingen zur Ruhe, um durch Schlafen bis weit in<br />

den Morgen hinein das Versäumte nachzuholen. Nur der Offizier<br />

machte mit den Soldaten und Fischern zusammen noch einmal die<br />

Runde um die Gebäude und untersuchte die Kette, die Streben,<br />

Stangen usw., um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung sei,<br />

bevor er zur Ruhe ging.<br />

Spät kamen am andern Morgen die Hausgenossen zusammen.<br />

Der Schneesturm raste noch immer mit gleicher Wut. Die Lampe<br />

brannte, da man es nicht wagte, die Fensterläden zu öffnen. Zum<br />

Frühmal, das in Zinnschüsseln aufgetragen wurde, erschien die<br />

Hausfrau. Nach der Begrüßung klagte sie, wie es überall im Hause<br />

durch alle Ritzen einstieme<br />

wieder eine Anweisung bekommen, Über der Landschöppen Pflicht<br />

neuert<br />

625 und beinahe soviel Schnee in den<br />

Kammern und auf dem Boden wäre, wie draußen.<br />

„Na, sei nur zufrieden“ - meinte der joviale 626 Hausherr, „wir<br />

haben Heede genug, ich werde Dir die Ritzen gleich, wenn die<br />

Leute gegessen haben, verstopfen lassen. Sie können auch den<br />

Schnee hinaustragen, dann bekommen sie keine Langeweile. Der<br />

Schaden im Hause ist schon zu überwinden, aber wie wird’s in den<br />

Dörfern meines Bezirks aussehen, wenn der Sturm sich gelegt<br />

haben wird? Es fällt <strong>jetzt</strong> schon schwer genug, von den armen<br />

Bauern den Horn- und Klauenschoß 627 , die Zins-Hühner, Gänse<br />

und Eier einzutreiben. Obgleich bei dem Horn- und Klauenschoß<br />

sich mancher zu drücken weiß. Wenn ihnen nun noch die Dächer<br />

abgerissen und das Heu vom Sturm weggeweht und anderer<br />

großer Schade verursacht ist, dann werd’ ich wohl manche<br />

Entschuldigung gelten lassen müssen“.<br />

„Ihr habt“, sagte Thomas, „gewiss einen recht beschwerlichen<br />

Dienst bei Eurem Amt <strong>als</strong> Landschöppe“.<br />

„Weiß Gott, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Nun haben wir<br />

bei der Kirchen. Es ist eigentlich schon eine alte Verordnung, wie<br />

mir unser alter Diakonus Surminski 628 aus Kruglanken sagte, der<br />

schon länger <strong>als</strong> 30 Jahre dort Diakonus ist, die wieder er<br />

wurde. Sie ist aber so allgemein gehalten, dass man eigentlich<br />

nicht recht daraus klug wird“.<br />

625 Einstiemen - einschneien<br />

626 Jovial – heiter / fröhlich<br />

627 Horn- und Klauenschoß - Viehsteuer<br />

628 Paul Surminski, Diakon in Kruglanken 1655-1705<br />

401


„Was ist denn aber ihr Inhalt?“ fragte Nebe. „Es heißt darin,“<br />

antwortete Drig<strong>als</strong>ki, „den Landschöppen ist nichts sonderbares<br />

vorzuschreiben, was bei der Kirchen ihnen zu tun oder zu lassen<br />

obliegen will, was ihnen diesfalls in Ihrer Kurfürstlichen<br />

Durchlaucht Instruction demandiret und befohlen ist, und werden<br />

nach erheischender Notwendigkeit bei den Kirchen Sachen und<br />

Gebäuden dasjenige praestiren und verrichten, was zur<br />

Beförderung des ewigen Heils aller Eingewidmeten und dann auch<br />

zu guter und fruchtbarer Fortsetzung der erbaulichen Kirchen-<br />

Disziplin nützlich und<br />

notwendig sein mag. Was soll das eigentlich<br />

heißen? Unser Pfarrer Mieczkowski<br />

zu lang damit ausbleiben, zwei oder dreidoppelt geben.<br />

n ihn so<br />

be, die im Osten<br />

629 hat mich schon seit 5<br />

Jahren, solange er in Kruglanken ist, gequält, Kirchenvater zu<br />

werden. Ich hab’s ihm aber abschlagen müssen. Wie kann ich bei<br />

meinem Landschöppendienst auch das noch verrichten? Ich muss<br />

schon meine Wirtschaft oft genug versäumen. Die Decemsreste 630<br />

muss ich sowieso schon immer in meinem Bezirk eintreiben. Es ist<br />

verordnet, dass die Leute, welche an den Decems-Tagen sich nicht<br />

mit dem Decem einstellen, die sollen den Decem doppelt, wo sie<br />

aber gar<br />

Damit hat man Schererei genug, ich will nicht Kirchenvater<br />

werden“.<br />

„Aber Euer Landschöppendienst muss doch auch einträglich<br />

sein, wenns nicht zu unbescheiden ist, danach zu fragen“, meinte<br />

Rohr.<br />

„Ach damit hält sich’s“, sagte Drig<strong>als</strong>ki. „Außer dem Genuss von<br />

einigen wüsten Huben fallen wenig Sporteln 631 ab“.<br />

„Euer Bezirk ist wohl recht groß?“ fragte Thomas.<br />

„An Flächeninhalt nicht viel größer <strong>als</strong> andere“, antwortete<br />

Drig<strong>als</strong>ki, „aber die Seen Warniak, großer und kleiner Dgall, Skars,<br />

Büffke, Siewener und Soltmahner See, 632 mache<br />

ausgedehnt. Ausserdem liegen die adligen Güter Gansenstein und<br />

Siewken 633 nebst Dörfern und Vorwerken, mit denen ich nichts zu<br />

tun habe, mitten in meinem Bezirk. Da muss ich immer erst<br />

durch, wenn ich in meine Walddörfer zu reisen ha<br />

liegen. Am ärgerlichsten war‘s mir, <strong>als</strong> wir die Reiter vor 1 ½<br />

629<br />

Friedrich Mieczkowski, Pfarrer in Kruglanken 1682 - 1699<br />

630<br />

Decemsrest – ausstehender Zehnt<br />

631<br />

Sporteln – Gebühren für Amtshandlungen.<br />

632<br />

kleinere Seen in der Masurischen Seenplatte östl. von Dargainen- und Mauersee.<br />

633<br />

Ort im Kirchspiel Kruglanken, 6 km süd- östl. von Kruglanken, am Westende des Siewker<br />

Sees.<br />

402


Jahren hierher bekamen und die Menge von Menschen und<br />

Pferden untergebracht werden musste. Die adligen Güter und ihre<br />

Untertanen brauchten keinen Mann und kein Pferd aufzunehmen.<br />

Es half kein Remonstrieren 634 von meiner Seite bei dem Herrn<br />

Amtshauptmann. Woher mag sich das eigentlich fortschreiben?“<br />

„Darüber kann ich Euch Auskunft geben, Herr Landschöppe“,<br />

sagte Nebe. „Der Herzog Albrecht verlieh den Ordensherren,<br />

welche die Finsternis des Papsttums verließen und die vereinigte<br />

lutherische Lehre annahmen, auch anderen ansässigen<br />

lutherischen Adligen, die Güter mit manchen schönen Privilegien.<br />

Er legte ihnen nur die Verpflichtung auf, im Krieg einen oder<br />

mehrere vollständig gerüsteten Reiter, die sich auch selbst<br />

verpflegen mussten, völlig umsonst zu stellen, je nach der Größe<br />

der Güter oder auch nach der Begnadigung in der Verschreibung.<br />

Von anderen Lasten und Abgaben waren<br />

die Güter frei, auch…“.<br />

Ein Trappeln von vielen Menschenfüßen und ein Gewirr vieler<br />

Stimmen im Hausflur unterbrach Nebe in seiner<br />

Auseinandersetzung.<br />

„Wir haben sie, wir haben sie!“, erschollen die Rufe aus vielen<br />

Kehlen.<br />

Durch die Tür aber kam der Offizier, ganz vermummt und<br />

beschneit, nahm seine Pelzmütze ab, verneigte sich und sagte<br />

zum Hausherrn: „Erlaubt,<br />

Herr Landschöppe, dass die beiden<br />

Fischer, welche die Nacht am Ufer des Sees zubrachten, sich in<br />

das Bett der Mägde in der Mägdekammer legen dürfen. Die armen<br />

Kerle sind ganz erstarrt“.<br />

„Sehr gern, Herr“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, „ich werde sogleich meiner<br />

Frau sagen, dass sie alles besorgt und ihnen etwas Warmes gibt.<br />

Doch legt ab, Ihr seht aus wie ein<br />

Schneemann“.<br />

„Es ist nur gut, dass die Fischer da sind“, sagte Rohr. „Ich war<br />

schon ihretwegen besorgt. Aber warum sind sie denn nicht schon<br />

früher gekommen? Es ist doch schon länger <strong>als</strong> 1 ½ Stunde Tag“.<br />

„Es ist zu hören, Herr Ratsverwandter“, sagte der Offizier, der<br />

sich seiner Hüllen entledigt und an den Tisch gesetzt hatte, „dass<br />

Ihr nicht aus dem Haus gekommen seid. Bei dem Sturm und<br />

Schneetreiben ist’s für zwei Menschen, die schon die ganze Nacht<br />

auszuhalten hatten, nicht möglich, sich durchzuarbeiten“.<br />

„Und doch weckte mich“, unterbrach ihn Thomas, „mein<br />

Schwager Nebe um 5 Uhr und verlangte in allem Ernste von mir,<br />

634 Remonstrieren [lat. monstrare] – Widerspruch einlegen.<br />

403


ich sollte anspannen lassen und mit ihm nach <strong>Angerburg</strong> fahren,<br />

damit er die polnische Beichte nicht versäume“.<br />

„Ich erfuhr es erst heute Morgen“, fuhr Ditzel fort, „dass die<br />

beiden Fischer am See geblieben wären. Ich ließ nur 2 Leute zur<br />

Sicherheitswache hier und ging, sobald es etwas heller wurde, mit<br />

den Übrigen hinaus. Sämtliche Stricke und Leinen, die wir fanden,<br />

Stangen und Leitern mussten sie mitnehmen. Wir banden die<br />

längste Leine an die große Linde und gingen immer zwei und zwei<br />

durch Sturm und Schneetreiben längs der Leine dem See zu. Ich<br />

kenne das Terrain wirklich gut genug von der Jagd im Herbst, aber<br />

es war beinahe unmöglich, sich zurecht zu finden. Wo Schluchten<br />

und Vertiefungen sich befanden, sind <strong>jetzt</strong> hohe Schneefälle, dabei<br />

Himmel und Erde zusammen, Schnee von unten, von oben, von<br />

allen Seiten, dass man die Augen nicht richtig aufmachen<br />

konnte.<br />

Wir stürzten oft bis an den H<strong>als</strong> in den losen Schnee. Es war ein<br />

Glück, dass die Leute so unverzagt<br />

vorgingen. Als die lange Leine<br />

zu Ende war, wurde eine andere angebunden und so ging’s weiter,<br />

bis wir die Erlen erreichten. Der alte Fischer, der doch im Uferberg<br />

den Unterschlupf hatte einrichten helfen, konnte sich durchaus<br />

nicht mehr zurechtfinden und war ganz verirrt. Wir mussten <strong>als</strong>o<br />

das Ufer absuchen, wo der Schneewall höher <strong>als</strong> ein Haus lag.<br />

Dabei haben die Leute nun auch Euren Hut gefunden, Herr<br />

Thomas. Endlich stieß einer der Reiter ein Freudengeschrei aus.<br />

Richtig, da fanden wir die eingestiemten Fischer, die so erklammt<br />

waren, dass sie gar nicht reden konnten, aber Schnaps ließen sie<br />

sich geduldig einfüllen. Das war schon ein Stück Arbeit, bis wir sie<br />

hierher brachten. Es ist nur gut, dass es gelungen ist. Lasst sie<br />

nun erst ordentlich warm werden und sich gehörig ausschlafen,<br />

dann wird’s ihnen weiter nichts schaden“.<br />

Der Hausherr kam wieder hinein. „Abgefroren haben sie nichts“,<br />

sagte er, „ihre Kameraden bringen sie zu Bett“.<br />

„Ist nur gut, dass die Kerle lebendig sind“, meinte Rohr, „Es<br />

hätt‘ mich das Amt noch gar für die Kerle verantwortlich machen<br />

können. Ich hab so schon meinen Ärger mit der Fischerei“.<br />

„Hm“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, „aber den schönen Gewinn steckt Ihr<br />

doch gern ein. Wir wunderten uns alle in dieser Gegend, dass Ihr,<br />

Herr, vor 8 Jahren die Fischerei des Amts in Pacht bekamt, da Ihr<br />

doch erst kurz vorher<br />

nach <strong>Angerburg</strong> gezogen wart“.<br />

„Nun“, meinte Rohr, „man hat ja denn doch noch so seine<br />

Verbindungen in Königsberg an den Stellen, die den Ausschlag<br />

404


geben. Daher bekam ich die kurfürstliche Fischerei in<br />

Administration und Arrende 635 “.<br />

„Ihr hättet Euch aber, Herr Nachbar, auch damit begnügen<br />

sollen“, sagte Thomas, „und meinem Vater nicht den Aalfang 636<br />

bei <strong>Angerburg</strong> abwendig machen sollen, den er so viele Jahre<br />

hindurch gehabt hat. Es ist dem alten Mann recht nahe gegangen,<br />

wenn er auch nicht darüber spricht“.<br />

Rohr wiegte den Kopf hin und her. „Herr Thomas“, sagte er nach<br />

einer Weile, „im September war Euer Vater so krank, dass<br />

jedermann an seinem Aufkommen zweifelte. Nun wusste ich aus<br />

guter Quelle, dass zum 1. Oktober der Aalfang auf 10 Jahre neu<br />

ausgegeben werden würde. Da beredete ich mit dem Herrn<br />

Amtshauptmann, dass er keinen Bietungstermin<br />

bekannt machen<br />

möchte, ich würde für den alten Preis den Aalfang, wie ihn Euer<br />

Vater, der wohl bald sterben würde, seit 40 Jahren gehabt hat,<br />

nehmen. Das ist auch geschehen und bestätigt. Hätte ich<br />

gewusst,<br />

dass Euer Vater gesund werden würde…“<br />

„…dann hätte er Euch gewiss nicht in seinen Kontrakt eintreten<br />

lassen“, fiel ihm Thomas in’s Wort.<br />

„Doch lassen wir das, es ist<br />

nicht mehr zu ändern“.<br />

„Herr Thomas“, sagte Rohr, „glaubt mir, wenn ich nur den<br />

zwanzigsten Teil der Forderungen ausgezahlt bekäme, die ich an<br />

die Krone Polens habe, ich würde wahrhaftig nach so etwas nicht<br />

trachten, aber ich bin ein Flüchtling und der jetzige König 637 von<br />

Polen ist mein besonderer Feind“.<br />

„Wie kamt Ihr, Herr, aber nach Polen?“, fragte Drig<strong>als</strong>ki. „Ihr<br />

habt ja einen ganz deutschen Namen, wenn auch Eure Aussprache<br />

den Ausländer vermuten lässt“.<br />

„Meine Vorfahren“, erzählte Rohr, „wohnten bis vor ungefähr<br />

hundert Jahren in Schlesien im Herzogtum Oels. Mein Großvater<br />

Johannes Rohr war Herr des Städtchens Rataje 638 , das schon<br />

dessen Vater und Großvater besessen hatten. Mein Großvater zog<br />

635<br />

Arrende = Pacht<br />

636<br />

Die <strong>Angerburg</strong>er Aalfänge waren besonders ertragreich und berühmt. In vielen älteren<br />

Schriften wird deshalb auch über sie berichtet. Aalfänge befanden sich am Schloss (alte<br />

Wasserkunst) und später auch im Mühlenkanal.<br />

637<br />

Johann III. Sobieski, auch Jan III. Sobieski (* 17.8.1629 in Olesko; †17.6.1696 in<br />

Wilanów) war ein poln. Adeliger, Staatsmann, Militärführer und ab 1674, <strong>als</strong> König von Polen<br />

und Großfürst von Litauen, der Regent des Staates Polen-Litauen, aus dem Adelsgeschlecht<br />

der Sobieskis.<br />

638<br />

Rataje, (Rathe),<br />

Kreis Olesnica (Oels), 30 km nord-östl. von Breslau.<br />

405


1570 nach Groß-Polen auf Laski 639 und Grosna im Wielunschen 640<br />

Distrikt. Auf Grosna lebte auch mein Vater, der auch den Namen<br />

Trozinski annahm. Unser nächster Nachbar war der Fürst Jeremias<br />

Michael Wisniowiecki 641 , der sich in den Kosakenkriegen berühmt<br />

gemacht hatte. Er leitete sein Geschlecht von Korybut, dem<br />

Bruder König Jagiello’s her, die Frau 642 war eine Urenkelin des<br />

berühmten Zamoyski 643 . Es war ein stolzes Volk, besonders die<br />

Alte, die sich viel auf ihre Abstammung einbildete, aber Pracherei<br />

war überall. Sie hatten nur einen einzigen Sohn Michael, der war<br />

mein guter Kamerad, wir waren immer zusammen, wie Knaben<br />

eben, lernten auch oft gemeinsam. Wir wurden auch zusammen<br />

auf Reisen geschickt nach Prag und Wien, um zu studieren und<br />

deutsch zu lernen. Das Geld dazu gab der Prinz Karl Ferdinand<br />

Bischof v. Plozko 644 , ein besonderer Freund der Fürstin<br />

Wiesniowiecky, wo der Michael bei Kaiserin Mutter 645 in großen<br />

Gnaden war. Es war um die Zeit, <strong>als</strong> die Kosaken und die Tataren<br />

in Polen einfielen“.<br />

„Aber ich glaubte“, sagte Thomas, „die Tataren sind treue<br />

Freunde und Bundesgenossen der Polen, mit denen sie gemeinsam<br />

vor mehr <strong>als</strong> 30 Jahren hier in Preußen grausam gewütet haben“.<br />

„Ach die Tataren“, erwiderte Rohr, „das ist ein niederträchtiges<br />

heidnisches Raubgesindel. Wo es etwas zu plündern gibt, da sind<br />

sie dabei. Die haben unsere Güter vollständig verwüstet und alles<br />

in den Grund verbrannt. Der König Johann Casimir<br />

Gezänk der Thronbewerber in Polen los. Von<br />

646 dankte ab<br />

und nun ging das<br />

639<br />

Laski, ehem. Prov. Posen, 70 km östl. von Breslau.<br />

640<br />

Wielun, 120 km östl. von Breslau. Ein Ort Grosna ist unbekannt. Der Ort Wisniowiec<br />

(Vishnevets in der Ukraine), Geburtsort von König Michael W. liegt ca. 600 km von dort<br />

entfernt. Eine direkte Nachbarschaft bestand <strong>als</strong>o in Wirklichkeit nicht.<br />

641<br />

Wiśniowiecki Jeremi Michał, gen. "Jarema", (*1612; †1651), poln. Herzog, Vater des<br />

poln. Königs, Michał Korybut W. 1632 ist er Katholik geworden. Der reiche Erbe vieler<br />

Dörfer, die am linken Ufer des Dnieprs lagen (gen. Łubniańskisland) in der Ukraine, die er<br />

stark kolonialisierte. Er besaß auch das Land um Wołyń und Polesie. Michael Korybut<br />

Wisniowiecki war von 1669 – 1673 polnischer König. Er war mit der Habsburgerin Eleonore,<br />

einer Schwester Kaiser Leopolds I., verheiratet.<br />

642<br />

Griselda Zamoyska, (*1623; †1672) heiratete Jeremias Wisniowiecki 1639.<br />

643<br />

Jan Zamoyski (*1542; †1605) war ein poln. Magnat, Szlachcic und Politiker aus der<br />

Region um Zamość.Er war Kronkanzler ab 1576, Großkronkanzler ab 1578, Großhetman der<br />

Krone der polnisch-litauischen Adelsrepublik ab 1581.<br />

644<br />

Plock, an der mittleren Weichsel gelegen, ist seit 1075 Sitz des poln. Bistums Masowien.<br />

645<br />

Mutter des Kaisers Leopold I. war Maria Anna von<br />

Spanien. Sie lebte von 1606 – 1646.<br />

646<br />

Johann II. Kasimir war von 1648 – 1668 König von Polen.<br />

406


denen hatten der Herzog von Neuburg 647 und der Herzog Karl v.<br />

Lothringen in ihren Parteien ziemlich das Gleichgewicht. Da ließ<br />

der Unterkanzler Andreas Olczowski, Bischof von Kulm 648 , eine<br />

Schrift drucken, darin er erwies, dass ein Piast<br />

n zwischen Neuburg und Lothringen geteilt waren und der<br />

im<br />

ehmen, aber die Alte, seine Mutter, ließ es nicht zu.<br />

sagte Rohr seufzend,<br />

rechen<br />

649 sich am besten<br />

für die Polen zum Könige schicke. Als nun bei der Wahl die<br />

Stimme<br />

Unterkämmerer den Fürsten Michael Wisniowiecki nannte, waren<br />

bald alle polnischen Woiwodschaften einig, denn der Adel drang<br />

mit großem Geschrei auf seine Ernennung und wollte alle<br />

niederhauen, welche sich derselben widersetzen würden. Hätt’<br />

Leben nicht gedacht, dass mein Michel König von Polen werden<br />

sollte, er war so arm, dass er nicht einmal seinen eigenen Wagen<br />

hatte. Da bot ihm sein Feind, der jetzige König Johann Sobieski 650 ,<br />

der dam<strong>als</strong> Kronfeldherr war, seine Kutsche zum Geschenk an.<br />

Michael hätt’s nicht ausschlagen sollen, hab’ ihm sehr zugeredet,<br />

er sollt’s ann<br />

Der Primas nahm ihn in seine Kutsche, und er fuhr richtig mit dem<br />

Pfaffen, der ihn in’s Schloss zu Warschau bei Färkeln brachte“.<br />

„Nun, da kamt Ihr wohl bald zu hohen Gnaden bei dem neuen<br />

Könige“, meinte Drig<strong>als</strong>ki.<br />

„Ach, die Herrlichkeit war nicht gar groß“<br />

„Michael verlieh meinem Vater, seinem treuen Diener Karl<br />

Trozinski das Gut Klein Labtisch in Podolien 651 und zog ihn in der<br />

Würde eines Geheimen Rats an den Königlichen Hof. Aber das war<br />

nur ein Anschein, der König hatte im Wahlvertrage versp<br />

müssen, dass alle, die durch den Waffenstillstand von<br />

647<br />

Gemeint ist Pfalz-Neuburg.<br />

648<br />

Kulm, Stadt nahe dem rechten Ufer der Weichsel etwa 30 Kilometer nordöstlich von<br />

Bydgoszcz (Bromberg), heute 20.600 Einwohner. 1232 von vom Deutschen Orden <strong>als</strong> Stadt<br />

gegründet. Das Bistum Kulm wurde zusammen mit den preußischen Bistümern Ermland,<br />

Pomesanien und Samland gegründet.<br />

649<br />

Piasten, polnische Dynastie, die zahlreiche Herzöge und Könige hervorgebracht hat und<br />

deren Ursprung im 9. Jahrhundert beim westslawischen Stamm der Polanen lag. Der Name<br />

Piasten bezieht sich auf ihren legendären Stammvater Piast.<br />

650<br />

Johann Sobieski, poln. Jan III. Sobieski, lit. Jonas Sobieskis (*17.8.1629 in Olesko;<br />

†17.6.1696 in Wilanów) war ein poln. Adeliger, Staatsmann, Militärführer und ab 1674, <strong>als</strong><br />

König<br />

von Polen und Großfürst von Litauen, der gewählte Herrscher des Staates Polen<br />

Litauen, aus dem Adelsgeschlecht der<br />

Sobieskis.<br />

651<br />

Podolien, Gebiet in der südwestlichen Ukraine<br />

und im nordöstlichen Moldawien<br />

407


Andrussow 652 ihre Güter verloren hatten, vom König mit den<br />

zuerst erledigten Gütern versorgt werden sollten. Nun fielen alle,<br />

die bessere Ansprüche zu haben meinten, über den König, über<br />

meinen Vater und andere her, die Güter erhalten hatten. Geld war<br />

nie da. Der Reichsschatzmeister gab <strong>als</strong> Reichseinkünfte nur<br />

d 653 475000 Gulden an. Der König sollte geben und besaß nichts, dabei<br />

tagtäglich Ärger und fortwährend Querulanten. Die Heirat mit der<br />

Schwester des Kaisers Leopol im Februar 1670 in<br />

Czenstochau<br />

Polen hatte. Mein Vater starb, er hatte viel Verdruss<br />

d Tataren Anno 1673 ein. Der König wollte selbst sein<br />

10. November mit 35 Jahren.<br />

in Jahr nach dem Vater. Für mich<br />

654 zeigte durch die Wenigkeit und den geringen Wert<br />

der Hochzeitsverehrungen, wie wenig Ansehen Michael bei den<br />

vornehmen<br />

mit seinem Amt, hat’s auch nur 11 Monate gehabt, aber keinen<br />

Groschen Gehalt bekommen. Nun fielen noch gar die Türken mit<br />

Kosaken un<br />

Heer anführen. Mein einziger Bruder Jeremias zog auch mit. Der<br />

König wurde krank und starb am<br />

Mein Bruder aber fiel bei Beresteczko 655 . Gut, dass es die Mutter<br />

nicht mehr erlebte, sie starb e<br />

war nun kein Bleiben mehr in Großpolen. Meine Güter waren in<br />

Asche gelegt und ruiniert. Der König Michael war gestorben, der<br />

ganze Zustand von Polen äußerst betrübt. Mein Feind Johann<br />

Sobieski war zum König erwählt, so war ich genötigt, außer<br />

Landes im Exil zu leben, und begab mich nach dem Städtchen<br />

Mewe 656 im polnischen Preußen, nahm den Namen Rohr wieder an<br />

und trat zur lutherischen Kirche über“.<br />

„Wie kam es aber, Herr“, fragte Drig<strong>als</strong>ki, „dass Ihr dort nicht<br />

wohnen bliebt?“<br />

„Das will ich Euch sagen“, erwiderte Rohr. „Auf dem Reichstag<br />

zu Krakau Anno 1676, <strong>als</strong> Johann Sobieski zum König gekrönt<br />

war, wurden ihm die Starosteien Kalces, Stry Javarrow und Mewe<br />

auf Lebenszeit überlassen. Nun fühlte ich mich in Mewe nicht mehr<br />

sicher, wo man leicht von den Beamten, die der König zur<br />

652<br />

Dieses Abkommen von 1667 beendete die Auseinandersetzungen zwischen Russland und<br />

Polen-Litauen. Letzteres musste umfangreiche Territorien (z.B. das Smolensker Gebiet,<br />

Sewerien mit Nowgorod, die ganze Ukraine links des Dnjepr u.a.) an Russland abtreten.<br />

653<br />

Leopold I. (* 9. 6.1640 in Wien; † 5.5. 1705) aus dem Hause Habsburg, war von 1658 bis<br />

1705 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches sowie König von Ungarn (seit 1655), Böhmen<br />

(seit 1656) und Kroatien und Slawonien (seit 1657).<br />

654<br />

Kreisstadt in Schlesien, an der Warthe. Kloster Jasna Góra, gegründet 1382, mit der<br />

„Schwarzen Mutter Gottes“, dem Nationalheiligtum Polens und meistbesuchtem Wallfahrtsort.<br />

655<br />

Beresteczko, Ort in der Ukraine, 100 km NO von Lvov/Lemberg<br />

656<br />

Mewe, Ort<br />

12 km NW von Marienwerder.<br />

408


Verwaltung hinschicken würde, den Günstling und Kammerjunker<br />

des Königs Michael auch unter dem Namen Rohr wiedererkennen<br />

könnte; zumal da verlautete, dass der König nach Danzig kommen<br />

würde“.<br />

„Ich habe den Polenkönig im August 1677 in Danzig bei seinem<br />

Einzug gesehen“, sagte Thomas.<br />

„In Mewe war <strong>als</strong>o meines Bleibens nicht“, erzählte Rohr weiter.<br />

„Ich ging <strong>als</strong>o über die Grenze nach dem herzoglichen Preußen<br />

und musste, um leben zu können, bürgerliche Nahrung zu<br />

betreiben anfangen. Seht, das ist alles, was von der Herrlichkeit<br />

aus Polen mir geblieben ist“, sagte er, indem er einen Ring mit<br />

großem Edelstein vom Finger streifte und ihn Drig<strong>als</strong>ki reichte.<br />

„Aber, wenn erst John Sobieski tot ist, mache ich meine<br />

Forderungen an die Krone Polens geltend. Sterbe ich früher <strong>als</strong> er,<br />

so muss es mein ältester Sohn Johann Bernhard tun“.<br />

„Das ist ja ein fein geschnittenes<br />

Wappenschild“, sagte Drig<strong>als</strong>ki,<br />

den Stein betrachtend und den Anwesenden zeigend. „Wie es<br />

scheint, ist es ein altes Stück, doch was sind das für kleine<br />

viereckige Löcher im Mittelschild des Wappens?“<br />

„In diesem Schild“, erklärte Rohr, „präsentiert sich das<br />

Stammwappen<br />

dere gefunden wird und…“<br />

nachher zum Polenkönig gewählt wurde, erzogen<br />

e hier<br />

.<br />

rliche<br />

<strong>Angerburg</strong> schämen sich dessen nicht. Ebensowenig wie ich mich<br />

657 unserer Familie, nämlich in blutrotem Feld sechs<br />

goldene Mauersteine, <strong>als</strong>o gesetzt, dass oben 3, in der Mitte 2 und<br />

unten einer, übereinander stehen. Über dem Schild befindet sich<br />

der freie offene Turnierhelm. Übrigens habt Ihr Recht, Herr<br />

Landschöppe, der Ring ist recht alt. Mein Urgroßvater hat ihn<br />

schon getragen. Es ist schändlich, dass ich mich <strong>jetzt</strong> mit<br />

bürgerlicher Nahrung und Fischerei placken muss, da ich doch von<br />

einer so vornehmen alten Familie bin, wie hier in dieser Gegend<br />

Preußens keine an<br />

„Nanu“, unterbrach ihn Drig<strong>als</strong>ki, „was bildet Ihr Euch ein, Herr<br />

Ratsverwandter, ist es denn Euer Verdienst, dass Ihr mit einem<br />

Jungen, der<br />

seid? Wir Drig<strong>als</strong>kis stammen von den Fürsten Gutowski, di<br />

einwanderten, denen Drigallen gehörte und die sich Gutowski v<br />

Drig<strong>als</strong>ki nannten, und es soll schändlich sein, bürge<br />

Nahrung zu treiben!? Meine Verwandten, die Drig<strong>als</strong>kis in<br />

schäme, meinen Acker zu bauen“.<br />

657<br />

Hinweis im Manuskript: erneuertes Patent des Adels derer v. Rohr von König August dem<br />

Starken 1705.<br />

409


„Ihr habt wohl keinen Grund, Herr Nachbar“, sagte Thomas, <strong>als</strong><br />

Drig<strong>als</strong>ki inne hielt um Atem zu schöpfen, „auf die bürgerliche<br />

Nahrung zu schimpfen, die Euch ernährt.<br />

Was Eure Vornehmheit<br />

betrifft, so muss ich Euch sagen, dass in Schippenbeil seit einigen<br />

Jahren William Douglas wohnt. Der treibt auch bürgerliche<br />

Nahrung, obleich seine Familie seit uralten Zeiten in Schottland<br />

mehr zu bedeuten hatte <strong>als</strong> Ihr mit Eurem Anhang bei Eurem<br />

Schattenkönig Michael“.<br />

„Nun, Ihr Herrn, so war’s nicht gemeint“, suchte sich Rohr zu<br />

entschuldigen, <strong>als</strong> er sah, dass Drig<strong>als</strong>ki wieder auf ihn zufahren<br />

wollte. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Euch Ärgernis<br />

gegeben habe“. Dabei reichte er Drig<strong>als</strong>ki und Thomas die Hand.<br />

Der Hausherr verweigerte dem Gast die seinige nicht und<br />

schluckte seinen Ärger runter.<br />

Nach diesem unangenehmen Zwischenfall wollte das Gespräch<br />

nicht mehr recht in Gang kommen. Ditzel erhob sich, um zum Stall<br />

zu gehen, und Thomas begleitete ihn, um nach seinen Pferden zu<br />

sehen. Draußen tobte der Schneesturm mit ungeschwächter Kraft.<br />

„Es ist ein Hundewetter“, sagte Ditzel,<br />

„aber ich glaube, der<br />

Schneesturm wird wohl nur bis heute Abend anhalten. In 24<br />

Stunden pflegt er ausgetobt zu haben“.<br />

Mühsam mussten die Männer sich durch die aufgewehten<br />

Schneewälle hindurch arbeiten, um zum Stalle zu gelangen. In<br />

diesem brannte eine Laterne, die Pferde standen sehr gedrängt, es<br />

war heiß im Stall. Einer der Reiter schüttete den Tieren Futter ein.<br />

Ditzel ging zu seinen Pferden. Ein Schimmel wendete bei seiner<br />

Annäherung den schönen Kopf mit klugen Augen nach ihm und<br />

empfing seinen Herrn mit leisem Wiehern, ließ sich von ihm den<br />

H<strong>als</strong> klopfen und mit Brot füttern.<br />

„Ein schönes Tier“, sagte Thomas, der inzwischen nach seinen<br />

Pferden gesehen hatte, „schlank gebaut und doch dabei kräftig“.<br />

„Die Schönheit ist die geringste der Vortrefflichkeiten<br />

meines<br />

Schimmels“, sagte Ditzel, „eher noch seine Schnelligkeit und<br />

besonders seine unverwüstliche Ausdauer. Seht Herr, die<br />

verwachsene Narbe am rechten Oberschenkel, die kommt von<br />

einem Wolfsbiss her. Nur durch die schnellen Füße entging der<br />

Schimmel<br />

vor 3 Jahren den beiden Wölfen, die ihn angefallen<br />

hatten. Nun, morgen oder spätestens übermorgen,<br />

sobald der<br />

410


Schneesturm nachgelassen hat, muss er mit mir eine tüchtige<br />

Tour durch die verstiemten 658 Wege machen“.<br />

„Wohin müsst Ihr denn reiten, wenn’s nicht zu unbescheiden ist,<br />

sich danach zu erkundigen?“<br />

„Nach Lyck muss ich leider reiten“, sagte Ditzel, „mein Herr<br />

Rittmeister ist schon vor Weihnachten zum Besuch seines Vetters,<br />

des neuen Amtshauptmanns v. Troschke gereist. Wer weiß, wann<br />

er wiederkommt. Schabehard“, wendete sich Ditzel an den Reiter,<br />

„bring mir den grauen Mantel aus meiner Kammer, ich muss noch<br />

in den Notstall zu den anderen Pferden“. Der Reiter<br />

entfernte sich.<br />

„Könnt Ihr denn nicht eine Ordonanz schicken?“ fragte Thomas.<br />

„Nein, das geht nicht“, sagte Ditzel „man kann vor den Ohren<br />

der Leute nicht davon reden. Darum schick ich den Arbeiter weg.<br />

Es ist eine reine Strafe, unter dem Rittmeister zu dienen. Ich bin<br />

der wahre Packesel, alles überlässt er mir, kümmert sich um<br />

nichts. Er hat nicht einmal die Anweisungen auf das Geld<br />

unterschrieben, das unsere Prime Plane<br />

in jedem Fall persönlich nach Lyck reiten<br />

en ich hier schreibe, dem Diakonus in Lyck persönlich<br />

err, will ich das ausrichten“, sagte Ditzel. „Geht in<br />

r findet dort alles, was Ihr zum<br />

“.<br />

6 Groschen, der Wachtmeister 8 Taler, der<br />

659 vom Amtshauptmann in<br />

<strong>Angerburg</strong> <strong>jetzt</strong> empfangen soll. Diese hatte ich ihm schon im<br />

November vorgelegt. Wir brauchen das Geld unter allen<br />

Umständen. Überall ist eingeborgt. Ich muss durchaus nach Lyck,<br />

ohne des Rittmeisters Unterschrift gibt‘s keinen Groschen, und es<br />

fällt so schon schwer genug, das Geld vom Amt zu bekommen“.<br />

„Wenn Ihr denn<br />

müsst“, sagte Thomas, „so möchte ich Euch, Herr, sehr bitten,<br />

einen Brief, d<br />

auszuhändigen“.<br />

„Sehr gern, H<br />

meine Kammer, da brennt Licht. Ih<br />

Schreiben braucht. Auch stört Euch dort niemand. Ich gehe<br />

inzwischen nach den Pferden im Notstall sehen und werde bald<br />

wiederkommen<br />

„Habt Ihr denn so viel Geld zu empfangen?“ fragte Thomas.<br />

„Es ist ein großer Posten“, antwortete Ditzel, „wenn auch des<br />

Rittmeisters 45 Taler abgehen. Der Lieutenant bekommt 21 Taler,<br />

der Cornet 16 Taler<br />

Fourir 6 Taler, 3 Corpor<strong>als</strong> a 5 Taler= 15 Taler, der Trompeter 4<br />

Taler 6 Groschen, der Feldscheer 5 Taler, der Fahnschmidt 5 Taler,<br />

658<br />

verschneiten<br />

659<br />

Prime Plane - Reiterregiment<br />

411


der Sattler 4 Taler 6 Groschen. Die Reiter bekommen monatlich an<br />

Tractament 660 2 Taler 6 Groschen“.<br />

„Aber, wenn Euer Herr Rittmeister so viel Geld zu bekommen<br />

hat, wundert‘s mich doch, dass er nicht mehr dahinter ist und<br />

nicht zu Neujahr wiederkam“, sagte Thomas.<br />

„Ach, der hat seinen Teil schon längst bekommen“, sagte Ditzel,<br />

„und wird wohl keinen Schilling mehr davon haben. Das wird<br />

gewiss schon verspielt sein“.<br />

„Gibt der Amtshauptmann denn Vorschuss?“ fragte Thomas.<br />

„Der wohl nicht“,<br />

sagte Ditzel, „aber irgend ein Anderer wird<br />

dem Herrn Rittmeister auf seine Anweisung Geld gegeben haben<br />

und nimmt’s an seiner Stelle in Empfang. Den Rittmeister<br />

kümmert das Übrige nicht, wenn er nur lustig leben kann. Ich<br />

bin’s satt, wenn die Kavallerie nicht in die Städte verlegt wird, und<br />

es muss entschieden dazu kommen, nehme ich meinen Abschied“.<br />

„Aber wie kommt Ihr, Herr, mit Euren Kenntnissen und Studien<br />

unter die Reiter?“ fragte Thomas.<br />

„Ja, seht Herr“, antwortete Ditzel, „ich dachte mir das<br />

Soldatenleben anders <strong>als</strong> es ist. Ich<br />

dachte, weil unser<br />

Kommandeur es vom schlechten Reiter zum Feldmarschall<br />

gebracht hat, so könne es mir gar nicht fehlen, bald aufzusteigen<br />

und ließ mich <strong>als</strong>o unter die Derfflingerschen<br />

die Runde ging. Die Liegerei draußen im Herbst<br />

661 anwerben. Die<br />

Werbeoffiziere verstanden ihr Handwerk und wussten mir alles<br />

vortrefflich auszumalen. Wir rückten gleich vor Stettin, das der<br />

gnädigste Kurfürst seit dem August belagerte. Da sah ich zum<br />

ersten Mal den alten Derfflinger. Er ritt im Gefolge des gnädigen<br />

Kurfürsten, der die neuen Truppen musterte. Den nächsten Tag<br />

kam der Alte allein. Na, reiten hat er uns lassen, dass mir zuletzt<br />

die ganze Welt in<br />

war mir sehr beschwerlich. Dabei noch schlecht zu essen und<br />

schwerer Dienst. Der bestand fast allein darin, tagsüber hin und<br />

her zu jagen und Meldungen zu machen. Kam man todmüde in’s<br />

Lager zurück, so konnte man sich zur Ruhe auf die nasse Erde<br />

legen. Wir waren froh, <strong>als</strong> Stettin endlich kapitulierte,<br />

abgekoddert 662 , mit verhungerten Pferden, wurden wir nach<br />

Litauen geschickt. Nun ging das Sparen los. Die Rittmeister hatten<br />

in der Campagne 663 zusetzen müssen. Das sollte nun nicht allein<br />

660<br />

Tractament - Besoldung<br />

661<br />

S. FN 606.<br />

662<br />

Abgekoddert [ostpreuß.], zerkoddert,<br />

zerlumpt.<br />

663<br />

Campagne – [fr.] Handel, hier <strong>als</strong> Feldzug<br />

gemeint.<br />

412


wieder eingebracht werden, sondern jeder wollte auch noch<br />

Gewinn haben. Überall wurden Abzüge gemacht und abgeknappt.<br />

Die Pferde hatten’s noch am besten, denn der Litauer hat das<br />

Pferd lieb. Die Gäule wurden bald dick und rund, auch die Reiter<br />

fraßen sich bei den Bauern durch, dass ihnen die Röcke zu eng<br />

wurden. Aber das Lederzeug sollte ewig halten, immer wieder<br />

geflickt werden.<br />

Doch da ist ja Schabehard mit meinem Mantel, geht in meine<br />

Kammer, Herr Thomas, ich werde bald nachkommen“.<br />

Die Kammer war ein großer Raum mit 2 Fenstern, deren Läden<br />

geschlossen waren. In der Mitte stand ein<br />

großer Tisch mit<br />

gedrehten Füßen, auf dem eine Lampe brannte. Ein Knabe hatte in<br />

ihrem Lichtkreis ein dickes Buch aufgeschlagen und besah<br />

Bilder.<br />

Als<br />

Thomas eintrat, sah er von dem Buch auf, verneigte sich und<br />

sagte: „Ihr findet den Herrn Offizier hier nicht,<br />

Herr, Er ist in die<br />

Ställe gegangen“.<br />

„Das weiß ich, mein Kind“, sagte Thomas, „ich habe dort eben<br />

mit ihm gesprochen. Ich habe einen notwendigen Brief zu<br />

schreiben und er sagte mir, ich würde hier alles finden, was ich<br />

zum Schreiben brauche“. Dabei rückte<br />

Thomas einen der großen<br />

hochlehnigen Stühle an den Tisch. Auf diesem lagen alle Sachen in<br />

peinlicher Ordnung. Das große gedrechselte Tintenfass, Federn mit<br />

und ohne Fahnen, und andere Schreibutensilien waren da, doch<br />

Papier war nicht zu finden.<br />

„Der Herr Offizier hat dort noch Papier im Kasten“, sagte<br />

Bernhard, „soll ich ihn nicht rufen?“<br />

„Lass nur“, erwiderte Thomas, „er wird wohl<br />

bald da sein. Wie<br />

heißt Du denn, mein Sohn?“ „Paul Bernhard Drig<strong>als</strong>ki, geboren in<br />

Grunden<br />

a Latein“,<br />

664 den 17. Mai 1676“, antwortete der Knabe.<br />

„Was hast Du denn da für ein großes Buch? Das ist j<br />

sagte Thomas, das Buch in die Hand nehmend. „Wo hast Du das<br />

her?“<br />

664<br />

E. Anderson war hier offensichtlich (s. auch APG NF 29. (Band 11), S.88-90) der<br />

Meinung, dass es sich bei dem Geburtsort von P. B. Drig<strong>als</strong>ki um das Gut Grunden bei<br />

Kruglanken handelte. Aus anderen Quellen, wie<br />

den Grundbüchern von Buddern [GStA<br />

Berlin, XX, Ostpr.<br />

Fol. 15207: Grundb. 1825 Bl.7v] muss man jedoch schließen, dass es sich<br />

hierbei um den Ort Gronden<br />

an der Goldap bei Buddern handelte. Paul Dryg<strong>als</strong>ki, Pfarrer zu<br />

Kutten (1650 - 1655) wird hier <strong>als</strong> erster Besitzer von 6 kölm. Hufen in Gronden aufgeführt.<br />

Das Privilegium ist 1639 in Königsberg ausgefertigt worden und enthält auch die<br />

Kruggerechtigkeit. Gleichzeitig wird im Grundbuch ein Johann Dryg<strong>als</strong>ki <strong>als</strong> kölm.<br />

Erstbesitzer von 3 Hufen erwähnt. Seine Verschreibung darüber stammt aus dem Jahre 1669.<br />

Weitere ca. 20 Morgen in Gronden gehörten ebenfalls Johann Dryg<strong>als</strong>ki<br />

(s. auch FN 395).<br />

413


„Ach, meine Schwester Leonore brachte es heute Morgen in der<br />

Schürze mit, <strong>als</strong> sie Gerste für ihre verhungerten Hühner von der<br />

Lucht ein ganzer Haufen Bücher;<br />

och auch zu besehen bekommen könnte“.<br />

ch<br />

hon recht alt sein. Leider fehlt der Titel“.<br />

sagte Bernhard, „hier am<br />

fang des neuen Testaments steht: D.N.Jesu Christi Novum<br />

aber ich<br />

ortete Bernhard,<br />

dormienti illi, calida stercora inciderent super oculos<br />

, der an der Erde liegt, ist der<br />

Nest der Schwalben ist gar<br />

albe scheint mir zu kurze Flügel zu haben“,<br />

.<br />

665 holte. Sie sagt, da liegt noch<br />

ach, wenn ich diese d<br />

„Das ist ja eine lateinische Bibel“, sagte Thomas, in dem Bu<br />

blätternd. „Sie muss sc<br />

„Die Bibel ist gerade 100 Jahre alt“,<br />

An<br />

testamentum: Basiliae MDLXXVIII. Ich weiß nur nicht, was Basiliae<br />

bedeutet“.<br />

„Nun, das ist der Name der Stadt Basel“, sagte Thomas, „wo die<br />

Bibel 1578 gedruckt ist. Die Stadt wirst Du wohl nicht kennen?“<br />

Bernhard schüttelte mit dem Kopf. „Lesen wirst Du die lateinische<br />

Bibel wohl nicht können“, fuhr Thomas fort, „Du besiehst nur die<br />

Bilder. Weißt Du denn, was die bedeuten?“<br />

„Nein, verstehen kann ich vieles von dem Latein noch nicht“,<br />

antwortete Bernhard, „es fehlen mir zu viele Vocabeln,<br />

habe mir unsere deutsche Bibel herübergeholt und da lese ich<br />

nach, wenn ich nicht weiß, was ein Bild zu bedeuten hat“.<br />

„Das hast Du ganz klug gemacht“, sagte Thomas, weiter die<br />

Bilder musternd, „was hat aber dies Bild zu bedeuten?“<br />

„I, das habe ich vorhin schon besehen“, antw<br />

„Liber Tobiae, Caput VI v. 11 666 steht die Erklärung: Et ex nido<br />

hirundinum<br />

ejus, fieretque caecus. Der alte Jude<br />

alte Tobias, sein Sonnenschirm liegt neben ihm, das Weib mit dem<br />

kurzen Rock wird wohl seine Frau sein, und der junge Mensch an<br />

der Treppe sein Sohn, aber von dem<br />

nichts zu sehen“.<br />

„Die fliegende Schw<br />

meinte Thomas, „auch hat sie den Kopf verdreht, was die<br />

Schwalben beim Fluge nicht tun“<br />

Bernhard nahm aus einem seiner Bücher eine Zeichnung und<br />

reichte sie Thomas. „Ist diese Schwalbe nicht viel natürlicher?“<br />

fragte er.<br />

Thomas betrachtete das sauber ausgeführte Blatt, es war eine<br />

Schwalbe in natürlicher Größe. „Wo hast Du das schöne Bild her?“<br />

fragte er.<br />

665 Lucht - Dachboden (Speicher)<br />

666 Bibel: Buch Tobias, Kap. VI, Vers 11.<br />

414


„Der Herr Offizier hat die Schwalbe gemalt und mir das Bild<br />

geschenkt“, antwortete Bernhard.<br />

„Was ist das aber für ein Stock, den die Schwalbe in ihren<br />

Füßchen hat?“ fragte Thomas.<br />

„Das ist ein Rohr“, antwortete der Knabe. „Der Vater war gleich<br />

nach Weihnachten nach Piezonken<br />

er auf<br />

n<br />

walben,<br />

Größe, unten an der Brust weiß und oben, wie<br />

te der Offizier,<br />

gerückten Stuhl setzte. „Manche Leute nennen es einen<br />

667 gefahren. Da traf er im Krug<br />

mit dem Hrn. Ratsverwandten Rohr zusammen, der den Dgall-<br />

See 668 befischen wollte und auf seine Leute wartete, die<br />

dem Steinortschen See 669 zurückgelassen hatte. Als die Schlitte<br />

ankamen, brachte der Ceuper 670 des Herrn Ratsverwandten ein<br />

Rohr von dem Wintergarn in die Stube, an welchem sich einige<br />

Schwalben mit den Füßen angeklammert hatten. Diese Sch<br />

da sie etwa über ½ Stunde in der warmen Stube gelegen, sind alle<br />

wieder aufgelebt und in der Stube herumgeflogen, was alle Leute<br />

mit Verwunderung angesehen. Mein Vater brachte eine von den<br />

Schwalben <strong>als</strong> Wahrzeichen mit nach Hause. Sie war von<br />

ziemlicher<br />

gewöhnlich, schwarz. Das Schwälbchen hat der Herr Offizier<br />

abgemalt und ihm das Rohr in die Füßchen gegeben. Später gab<br />

die Schwester Lenore uns Kindern ein Kästchen, und darin haben<br />

wir das Vögelchen in dem hohlen Lindenbaum im Garten unter<br />

Moos begraben, weil die Erde gefroren war“.<br />

„Ich sehe eben“, sagte Thomas, die Zeichnung in der Hand<br />

haltend, zu dem eintretenden Offizier, „dass Ihr, Herr, auch die<br />

Malkunst betreibt. Diesen Vogel habt Ihr vortrefflich gezeichnet<br />

und coloriert“.<br />

„Wir Ditzels haben alle so eine Liebhaberei“, sag<br />

indem er seinen Mantel ablegte und sich auf den von Bernhard an<br />

den Tisch<br />

Sparren. Mein verstorbener Vater drechselte, mein Oheim, der<br />

Pfarrer in Walterkehmen, dichtet und malt, mein Bruder in Wehlau<br />

dichtet, und ich treibe auch diese brotlosen Künste“.<br />

667<br />

[Grünau] Ort im Kirchspiel Lötzen am Weg Lötzen-Kruglanken, 3 km süd- westl. von<br />

Kruglanken.<br />

668 2<br />

See, fast 1 km Fläche, 8 km nördl. von Lötzen, 500 m vom Ostufer des Dargainen-Sees.<br />

Am Südost-Ufer liegt Pietzarken.<br />

669<br />

Steinorter<br />

See, liegt direkt südl. vom Gut Steinort, 12 km süd- südwestl. von <strong>Angerburg</strong>.<br />

Hier<br />

befindet<br />

dich das Schloss der Grafen v. Lehndorff.<br />

670<br />

Ceuper = Keiper<br />

= Fischmeister, in Altpreußen: Keipper, das ist ein Oberster über die<br />

Fischereien.<br />

415


„Nun, wenn Eurem Herrn Oheim seine Malereien so gut<br />

gelingen, wie Euch diese Schwalbe, dann muss er wirklich ein<br />

Künstler sein“, sagte Thomas.<br />

„Ach, mein Oheim beschränkt sich nicht auf so kleine Blätter wie<br />

ich“, sagte der Offizier, „der braucht größere Flächen. Er ist<br />

wirklich ein guter Maler, davon in der Widdem in Walterkehmen,<br />

die von einer streifenden Partei in die Asche gelegt und später neu<br />

erbaut wurde, schöne Bilder zu sehen sind, mit denen er die<br />

Wände geziert hat. Sein Studierstübchen prangt mit schönen<br />

Gemälden und Devisen 671 . An der Tür bei der kleinen Stube ist<br />

eine Sonnenuhr an der Wand eines Hauses, die gegenüber einer<br />

Gasse zu sehen ist, auf welche die Sonne scheint, cum termino 672<br />

Tempora tempore tempera 673 . Zum Eingang ist ein Betender, der<br />

auf der Erde liegt und zum Himmel ruft: Miserere 674 . Das vom<br />

Himmel fallende Echo heißt: misereor, dabei die Aufschrift: o<br />

salutus echo<br />

großen<br />

675 “.<br />

„Es wundert mich“, sagte Thomas, „wie Euer Herr Oheim neben<br />

seinem Amt und der Beschäftigung mit der Malerei noch Zeit zur<br />

Poesie hat“.<br />

„Seine Dichtkunst“, sagte Ditzel, „besteht meistens in der<br />

Übersetzung von Kirchenliedern aus dem deutschen Gesangbuch<br />

in die litauische Sprache. Von denen sind sieben (wie er mir<br />

sagte), 1685 in das litauische Gesangbuch aufgenommen worden,<br />

sowie zwei, die er selbst in litauischer Sprache gedichtet hat, auch<br />

im litauischen Gesangbuch befindlich. Doch ich will den Herrn<br />

beim Schreiben nicht weiter stören“.<br />

„Schreiben möchte ich wohl“, meinte Thomas, „doch habe ich<br />

kein Papier vorgefunden“.<br />

„Wie man auch so etwas vergessen kann“, sagte Ditzel und<br />

brachte aus einem Kasten einen ganzen Stoß Papier. „Doch nun<br />

komm, Bernhard, dein Bilderbuch kannst du mitnehmen“.<br />

„Ich begleite Euch noch hinüber“, sagte Thomas.<br />

Als sie die Wohnstube betraten, fanden sie Rohr missmutig auf<br />

der Ofenbank sitzend, während Nebe mit verbundener Stirn, wie<br />

mit der Binde des Hohenpriesters, komisch anzusehen, mit<br />

Schritten das Zimmer durchschritt.<br />

671<br />

Devise – beschriftetes Sinnbild<br />

672<br />

Hier - mit der Aufschrift<br />

673<br />

Mit der Zeit mildern<br />

sich die Umstände.<br />

674<br />

Miserere – Vergebung / Gnade; Echo: misereor – Ich<br />

habe Erbarmen<br />

675<br />

Oh gegrüßter Widerhall<br />

416


„Wir hätten heute Morgen um 5, <strong>als</strong> ich Dich weckte, nach<br />

<strong>Angerburg</strong> fahren müssen“, wendete sich Nebe, in seinem<br />

Sturmlauf anhaltend, an Thomas. „Du hast es zu verantworten,<br />

den lassen“.<br />

r 676 dass ich <strong>jetzt</strong> nicht die polnische Beichte halten kann. Hätte ich<br />

mir doch nicht abre<br />

„Aber es war heute früh ganz unmöglich fortzukommen, auch<br />

<strong>jetzt</strong> ist’s nicht möglich“, sagte Thomas.<br />

„Ultra posse nemo obligatu “, wendete sich Ditzel an den<br />

Diakonus, „wenn Ihr mir nicht glaubt und Eurem Schwager, so<br />

macht gefälligst nur einen kleinen Spaziergang über den Hof bis<br />

zur Scheune, dann werdet Ihr den Glauben schon in die Hand<br />

bekommen“.<br />

„Na na, so schlimm wird’s nicht sein“, meinte Nebe. Thomas<br />

hielt’s fürs beste, um den Schwager zu überzeugen, mit ihm auf<br />

den Hof zu gehen. Doch kaum hatte Nebe einige Schritte gemacht,<br />

<strong>als</strong> er ausglitt und in einen Schneewall stürzte, aus dem Thomas<br />

ihn mit Mühe herauszog und in den Hausflur zurückbrachte.<br />

Nachdem er hier etwas zu Atem gekommen war und Thomas ihm<br />

den Schnee abgeklopft hatte, sagte Nebe seufzend: „Ich sehe, es<br />

geht nicht, aber was fang’ ich an vor Langeweile“.<br />

„Ach, gegen diese weiß ich guten Rat“, sagte Thomas, „hier<br />

oben auf dem Boden liegt ein ganzes Fuder<br />

Holzschnitte in der Bibel besahen.<br />

über<br />

677 alter Bücher. Eine<br />

Vulgata 678 von 1578 mit Holzschnitten habe ich schon gesehen.<br />

Wir wollen den Hausherrn bitten, dass er dich die Bücher<br />

durchstöbern lässt. Hoffentlich findest du da mancherlei, was dir<br />

von Interesse ist. Aber gib mir doch dein Journal“.<br />

Inzwischen waren beide in die Wohnstube zurückgekehrt, wo die<br />

Anwesenden mit Bernhard die<br />

Nebe bemächtigte sich mit einer Hand der Bibel und reichte mit<br />

der anderen sein Journal dem Schwager, der mit diesem in die<br />

Kammer des Offiziers eilte, um vor allen Dingen sich genauer<br />

das Gespräch und den Zank zwischen Nebe und Schwindovius zu<br />

informieren und dann seinen Brief abzufassen.<br />

„Gott Lob,“ dachte er, nachdem die Durchlesung beendet war,<br />

„dass dieses Schreiben nur in meine Hände und nicht an die<br />

Behörde gelangt ist“. Dann setzte er sich eifrig an’s Schreiben. So<br />

676<br />

„Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet“.<br />

677<br />

Fuder, alte Volumeneinheit für Festkörper, auch Wagenladung.<br />

678<br />

Vulgata [lat. „die allgemein Verbreitete“] - die in der kathol. Kirche gebrauchte latein.<br />

Bibelübersetzung<br />

des Hieronymus, der seit 383 daran arbeitete. Die Vulgata wurde 1546 vom<br />

Trienter Konzil für authentisch erklärt.<br />

417


echt von Herzen schrieb er an den alten Schwindovius, wie er zu<br />

ihm gesprochen hätte, <strong>als</strong> er mit ihm gemeinschaftlich die Reise<br />

machte. Mehr <strong>als</strong> 5 Bogen hatte Thomas geschrieben bevor er<br />

endlich zum Schluss kam. Er las mehrm<strong>als</strong> das lange Schreiben<br />

durch. „Ein gutes Wort findet eine gute Statt, Gott wende alles<br />

zum besten“, sagte Thomas halblaut für sich, faltete dann den<br />

Brief künstlich zusammen und siegelte mit seiner Hausmarke, die<br />

er stets bei sich führte. Die Aufschrift lautete: „An den<br />

Wohlehrwürdigen Wohlgelehrten Herrn Georgium Schwindowium,<br />

Diakonus in Lyck“.<br />

Ditzel kam hinein: „Das ist ja ein ganz riesenhafter Brief“ - sagte<br />

er lächelnd.<br />

„Ich fürchte Herr“, sagte Thomas, „er<br />

wird den Herrn zu sehr<br />

beschweren“.<br />

„Durchaus nicht“, sagte Ditzel.<br />

„Nun so habt die Gewogenheit, Herr, dem Diakonus den Brief zu<br />

eigenen Händen zu übergeben und von mir einen Gruß<br />

abzustatten“.<br />

„Soll alles pünktlich besorgt werden“, sagte Ditzel. „Ich werde<br />

Euch, Herr, nach meiner Rückkehr,<br />

da ich jedenfalls zur Erhebung<br />

des Geldes nach <strong>Angerburg</strong> kommen muss, aufsuchen und Euch<br />

Bericht abstatten“.<br />

„Nehmt meinen Dank im voraus“, sagte Thomas, ihm die Hand<br />

reichend. „Vielleicht kann ich Euch, Herr, einmal wieder einen<br />

Gefallen tun, ich stehe jederzeit zu Diensten“.<br />

„Wer weiß, ob ich Euch nicht bald beim<br />

Worte nehme,“ sagte<br />

Ditzel, indem er den Brief zu andern Skripturen in einen Kasten<br />

legte und diesen verschloss. „Doch nun kommt hinüber<br />

zu den<br />

anderen, Euer Schwager hat sich schon lange die alten Bücher<br />

vom Boden heruntertragen lassen“.<br />

In der Wohnstube fanden die Eintretenden den Diakonus Nebe<br />

auf einem niedrigen Schemel sitzen. Um ihn her lagen mehrere<br />

Haufen Bücher in allen Formaten, die Lampe hatte Nebe sich<br />

herangezogen und musterte die Titel der Bücher, welche ihm von<br />

Bernhard gereicht wurden.<br />

„Sieh, sieh“, rief Nebe erfreut, „das hätte ich nicht zu finden<br />

gedacht. Wo habt Ihr denn die raren Bücher her, Herr<br />

Landschöppe?“<br />

„Ach, die stammen aus dem Nachlass meines ältesten<br />

verstorbenen Bruders Matthias. Sie kamen mit anderen Sachen<br />

zusammen her. Ich zeigte die Bücher dam<strong>als</strong> dem alten Pfarrer<br />

Johann Adami aus Kruglanken. Der meinte, sie wären keinen<br />

418


Groschen wert, wären unnütz und veraltet. Da wurden denn die<br />

Bücher auf die Lucht gebracht und unten in den großen Kasten<br />

gepackt, den Ihr, Herr Thomas, umkippen ließt. Ich hatte sie ganz<br />

vergessen. Freut mich nur, dass Ihr, Herr Diakonus, darunter<br />

etwas gefunden habt, was Euch gefällt“.<br />

Nebe vertiefte sich in seine Bücher, dass er bald die ganze<br />

Umgebung vergessen hatte. Die anderen Männer saßen um das<br />

Kaminfeuer. Ditzel wendete sich an den Ratsverwandten Rohr und<br />

fragte ihn, ob er vielleicht mit dem Leutnant v. Rohr verwandt sei,<br />

der 1683 bei dem Kavallerie-Regiment des General-Feldmarschalls<br />

v. Derfflinger unter dem Rittmeister v. Heyn gestanden habe, aber<br />

mit diesem zusammen zu einem anderen Truppenteil versetzt sei.<br />

Rohr verneinte es, erkundigte sich aber nach den übrigen<br />

Offizieren, die dam<strong>als</strong> mit dem Leutnant v. Rohr zusammen<br />

gedient hätten.<br />

Dizel sagte: „Es lagen Anno 1683 eine ganze Anzahl von<br />

Offizieren im Kirchspiel Kussen 679 . Da war des Rittmeisters Neffe,<br />

der Leutnant v. Heyn, dann der Leutnant v. Schwarzburg, der<br />

Leutnant v. Witte und der Leutnant v. Rohr. Ich war dam<strong>als</strong> noch<br />

Kornett 680 , musste aber doch meinen Beitrag geben, <strong>als</strong> die<br />

Offiziere in der Kussener Kirche das kurfürstliche Chor staffieren<br />

ließen. Das kostete uns 90 Mark. Hätten’s wohl auch nicht<br />

zusammengebracht, wenn der Pfarrer Rauschning uns nicht so viel<br />

dazu ermahnt hätte. Das Pfarrhaus war aber auch das einzige, wo<br />

die Offiziere zusammenkamen. Nach Insterburg zu reiten, war’s zu<br />

weit und beschwerlich, und die beiden Krüge in Kussen und<br />

Malwischken 681 waren zu ärmlich. Adlige Güter gab’s dort gar<br />

keine. Es war ihm leid genug, dass der Altar schon fertig und<br />

staffiert war, dazu hätte er uns auch wohl gern herangezogen“.<br />

„Nun, hier habt Ihr das nicht zu besorgen, Herr“, sagte<br />

Drig<strong>als</strong>ki, „unser Altar in Kruglanken ist Anno 1617 schon sehr fein<br />

geschnitzt und verziert, wollt Ihr aber etwas<br />

dazu geben, dass er<br />

etwas aufgeputzt wird, so wird’s der Pfarrer gern annehmen“.<br />

Ditzel wurde herausgerufen und kam erst nach einiger Zeit wieder.<br />

679<br />

Kussen im Landkreis Pilkallen.<br />

680<br />

Kornett - Fahnenjunker der Kavallerie.<br />

681<br />

(Mallwen) Kirchdorf 15 km nördl. von Gumbinnen an der Straße Tilsit-Ragnit-<br />

Gumbinnen, entstand 1724 im Zuge des Retablissements und erhielt von Königs Friedrich<br />

Wilhelm I. eine Zuwendung von 7.000 Talern zum Bau der Kirche.<br />

419


Der Hochaltar der Kirche<br />

Kruglanken (Aufn. 2008)<br />

„Was gibt‘s denn wieder?“ fragte Drig<strong>als</strong>ki.<br />

„Hm, die Reiter fragen mich, wie sie die Pferde tränken sollen“,<br />

antwortete Ditzel, „ da s Wasser, das ich gestern in die Ställe<br />

tragen ließ, ist verbraucht, an den See zu gelangen ist unmöglich,<br />

der Brunnen hatte früher schon wenig Wasser und ist <strong>jetzt</strong><br />

ganz<br />

verstiemt. Was machen wir nun?“<br />

„Ja, was machen wir nun?“ fragte auch Drig<strong>als</strong>ki, den Kopf<br />

hin<br />

und her wiegend. „Für die Küche können wir Schnee<br />

und Eis<br />

schmelzen aber mein Vieh kann auch nicht ohne Wasser bestehen,<br />

ebensowenig wie Eure Pferde. Wir müssen den Braukessel und<br />

die<br />

420


Waschkessel aufstellen und wenigstens vorläufig so viel zu<br />

m enug.<br />

etter<br />

mit Ditze igen<br />

gte ihnen,<br />

te.<br />

, auch das noch!“ rief dieser aus, „da<br />

esen bin.<br />

s ich d muss den<br />

e ordne legst Du mir<br />

zur istorie<br />

n<br />

ann rechts davon<br />

ie Historia ecclesiastica 682 legen,<br />

en 683 schmelzen versuchen wie öglich. Holz haben wir g<br />

Hoffentlich wird bald Tauw eintreten“.<br />

Drig<strong>als</strong>ki ging l hinaus, um die notwend<br />

Anordnungen zu treffen und zu beaufsichtigen. Rohr fol<br />

und Thomas ging zu Nebe, der in den Büchern kram<br />

„Prachtvoll, wunderschön<br />

sind ja rare Bücher, hinter denen ich schon lange her gew<br />

Hätt’ nicht gedacht, das ie hier finden würde. Ich<br />

ganzen Stapel in wenig n. Bernhard, hier links<br />

(I) die Bücher H ,<br />

hier vorn kommen<br />

(II) die Scripta Geographica,<br />

nebenbei<br />

(III) die Lebensbeschreibu gen,<br />

d<br />

(IV) die Bücher über Staatsrecht,<br />

an diese kannst Du<br />

(V) die Bücher über d<br />

und hinten wollen wir<br />

(VI) die Miscellane aufstapeln“.<br />

„Ja, aber ich kenne die Bücher ja nicht“, wendete der Knabe ein.<br />

„Ich werde Dir behilflich sein“, sagte Thomas, „besorge nur ein<br />

Stück Kreide oder Röthel<br />

und bezeichnete die entstandenen Flächen mit den<br />

684 , dann werden wir schon fertig<br />

werden“, wendete er sich an den Knaben. Dieser sprang davon<br />

und kam bald mit einem großen Kreidestück zurück. Thomas zog<br />

nun von Nebes Sitzbank sieben strahlenförmige Linien auf den<br />

Fußboden<br />

Nummern I bis Vl. „Nun reiche dem Herrn Diakonus die Bücher<br />

hin, wie sie Dir in die Hand fallen“, sagte er zu Bernhard.<br />

“Joh. Meletii, Epistola ad Georg Sabinum de sacrificiis et idolatria<br />

veterum Brassorum 1582; Nr. V - Kirchengeschichte“. Das<br />

Büchlein fand seine Stelle. Nebe las weiter: „Catalogus Lectionum<br />

in Academia Regiomontana 1636 - ja, wo legen wir das hin?“<br />

„Unter die Miscellaneen“, schlug Thomas vor.<br />

„Nein, das geht nicht“, sagte Nebe „mache nur noch eine<br />

Abteilung:<br />

682<br />

Kirchengeschichte<br />

683<br />

Miscellaneus, [lat.] – Allerlei / Verschiedenes / Sonstiges<br />

684<br />

Röthel – eisenhaltiger, rot abfärbender Seifenstein.<br />

421


(VII) Zur gelehrten Historie“.<br />

Es geschah. „Nun weiter. „Privilegia Typographiae<br />

Regiomontanae 1625 - in dieselbe Abteilung, zur Gelehrten<br />

Historie. Was ist das für ein Foliant?“<br />

„Kurfürstliche Manifestation wegen entbundener Lehnspflicht<br />

1618, unter Nr. IV“.<br />

„Weiter: Benedicti Richardii vita Georgii Wilhelmi Electorio<br />

Brandenb. 1641”, las Thomas.<br />

„Unter III, Lebensbeschreibungen“ bestimmte Nebe. „Eine<br />

schöne Comoedia von Isaaks Heyrath. Aus dem 24. Cap. des 1. B.<br />

Mosis genommen, zur Lehr und Trost allen Gottseeligen Eheleuten<br />

gedichtet durch Georgium Pondo Iszlebiensem, <strong>jetzt</strong> Cöln an der<br />

Spree Stiffts<br />

Verwandten, im Jahre, wie die lateinischen<br />

Buchstaben folgender Verslein ausweisen: De Muth Ist guuts ein<br />

artiges Kraut Theur abr ein Gertner es selten<br />

bauut. (Demuth ist<br />

gewiss ein artiges Kraut, teuer aber ein Gärtner es selten baut).<br />

Genes. 2. Gott der Almächtig gestiftet hat Die Eh, mit<br />

wohlbedachtem rath MDLXXXX<br />

nsteina - Pruss - Delineatio notitiae<br />

on der Tochter, um den<br />

die eifrig in ihrer<br />

r“, erwiderte die Frau, „Ihr und der Herr Diakonus seid<br />

en an einem Tisch<br />

ihn mit meinen<br />

685 .<br />

„Dummes Zeug“, sagte Nebe - „unter die Miscellaneen“.<br />

„Das ist ein neueres Buch“, sagte Thomas, „noch wenig<br />

gebraucht: Joh: Lydicii - Hohe<br />

Ducatus Prussiae generalii et specialis - Wittenberg 1677“.<br />

„Leg mir das besonders unter die Geographica“, sagte Nebe.<br />

Die Hausfrau trat in die Stube, gefolgt v<br />

Tisch zur Abendmahlzeit zu decken. Nachdem sie diese Anleitung<br />

gegeben hatte, setzte sie sich ermüdet auf die Ofenbank.<br />

Thomas verließ die beiden Gelehrten,<br />

Beschäftigung fortfuhren, trat zu ihr und sagte: „Wir machen<br />

Euch, geehrte Frau, viele Mühe und Umstände mit Menschen und<br />

Pferden und können Euch doch nicht von unserer Gegenwart<br />

befreien“.<br />

„Ach, Her<br />

es gewiss besser gewöhnt. Ihr müsst schon zufrieden sein und<br />

mitessen, so gut wir’s haben. Ach, mit den Herrschaften ist ja gar<br />

nicht so viel Arbeit <strong>als</strong> mit dem Volk da draußen. Da wollte der<br />

Ceuper 686 nicht mit dem gemeinen Volk zusamm<br />

essen. Musst’ dem Kerl apart decken lassen, ließ<br />

Kindern essen, weil ich den stinkenden Thranstiefel doch nicht zu<br />

den Herrschaften bringen konnte. Wir sind ganz aus dem Schwung<br />

685 1590<br />

686 S. FN 670.<br />

422


gekommen. ich wollte <strong>jetzt</strong> in den Zwölften 687 die letzten Federn<br />

reißen lassen, aber da ist nicht heranzukommen“.<br />

„Eure Jungfer Tochter ist Euch doch wohl viel behilflich“, meinte<br />

Thomas.<br />

„Nun ja“, sagte die Frau, „das Kind hilft mir schon, und ich muss<br />

nicht jeden Gang selbst machen. Heut‘ ist es das erste Weilchen,<br />

dass ich mal sitze. Sie hat mir auch im Herbst bei der Mastung<br />

und dem Wurstmachen manches abnehmen können. Na, aber es<br />

ist doch noch nicht so recht mit dem Geschick, und dann versäumt<br />

sie mir auch sehr das Spinnen“.<br />

„Ihr könnt doch aber auch nicht verlangen“, meinte Thomas,<br />

dass Eure Tochter von 17 Jahren schon so geschickt ist wie Ihr“.<br />

„Nun, die Leonore wird zu Ostern 18“, sagte die Mutter, „und<br />

lernen müssen meine Kinder in der Wirtschaft alles. Schade, dass<br />

mir ein Töchterchen gestorben ist, die wäre nun 16 Jahr alt. Der<br />

Bernhard ist ein ganz aparter Jung’. Immer steckt er in den<br />

Büchern. Er ist nur mit Gewalt zu bewegen die Bohnen zu lüften<br />

und Erbsen auszulesen. Federn reißen ist ihm auch zu langweilig“.<br />

„Ihr solltet Euch doch freuen, verehrte Frau“, sagte Thomas,<br />

‚dass der Junge solche Lust zu den Büchern hat. Seht nur, wie er<br />

mit leuchtenden Augen meinem Schwager die Büchertitel vorliest“.<br />

„I, für einen Landmann kann er schon genug“, meinte die Frau.<br />

„Ein Pfarrer, wie meines Mannes Großvater, wird er doch nicht, wir<br />

können nicht so viel an ihn wenden, dass er studiert. Das kostet<br />

ein schmerzliches Geld. Mein verstorbener Schwager hat sein<br />

ganzes Erbteil verstudiert und musste doch sterben, bevor er<br />

angestellt war“.<br />

Thomas wollte nicht weiter auf die vielleicht unerquicklichen<br />

Familienverhältnisse eingehen und fragte: „Ihr habt wohl recht<br />

weit zur Kirche 688 zu fahren?“ „O nein“, antwortete die Frau, „es<br />

ist gar nicht weit, nicht viel über eine Viertelmeile 689 . Ich bin sonst<br />

alle Sonntage in die Kirche gegangen oder gefahren, wenn ich<br />

nicht gerade in den Sechswochen<br />

g, wenn ich nicht in der Kirche gewesen bin<br />

690 gelegen, aber morgen ist’s<br />

unmöglich, nach Kruglanken zu fahren. Mir ist es gar nicht wie ein<br />

ordentlicher Sonnta<br />

und eine Predigt gehört habe. Doch ich muss nun nach dem<br />

Rechten sehen, hat mir doch die Leonore da auf den Tisch die<br />

687<br />

S. FN 611.<br />

688<br />

In Kruglanken<br />

689<br />

Ungefähr 2 km (1 Preuss. Landmeile = 7,533 km).<br />

690<br />

Die sechs Wochen nach einer Entbindung.<br />

423


f<strong>als</strong>che Schüssel gesetzt“. Damit stand die emsige Hausfrau auf<br />

und ging ab, indem sie sagte: „Wer weiß, was sie mir in der Küche<br />

für Dummheiten machen“.<br />

Thomas trat zu Nebe und schlug ihm auf die Schulter, um ihn<br />

aufmerksam zu machen. „Hör mal, Schwager“, sagte er, „leg mir<br />

mal den Folianten hin. Du sitzst ja wie eine Spinne in ihrem Netz“.<br />

„Na, was willst du denn?“ fragte Nebe. „Du würdest der Familie,<br />

die uns so<br />

gastfrei aufgenommen und beherbergt hat, und<br />

besonders der Hausfrau, eine große Freude bereiten, wenn du<br />

morgen Vormittag hier Hausgottesdienst halten würdest“.<br />

„Das will ich sehr gern“, sagte Nebe, „aber lass mich nur erst<br />

mit den Büchern in Ordnung kommen“. Damit wendete er sich<br />

wieder seiner Beschäftigung zu.<br />

Drig<strong>als</strong>ki trat mit Rohr und Ditzel ein eifriges Gespräch an. „Ist<br />

denn der Strolch noch nicht am Galgen, wo er hingehört?“ fragte<br />

Drig<strong>als</strong>ki.<br />

„Noch sitzt er wohl verwahrt im <strong>Angerburg</strong>er Schloss“,<br />

antwortete Rohr.<br />

„Das muss doch seinen besonderen Grund haben. Wozu habt Ihr<br />

denn den Galgen auf dem Galgenberge? Sonst wurden doch nicht<br />

so viele Umstände gemacht“.<br />

„Das will ich Euch wohl sagen, Herr Landschöppe“, sagte Rohr,<br />

sich mit den anderen niedersetzend. „Ich hab’s im Vertrauen<br />

gehört, <strong>als</strong> ich neulich in Königsberg war. Nun, ich kann Euch<br />

sogar, wenn Ihr keinen Gebrauch davon macht, die Quelle<br />

nennen. Ich weiß es durch den Kanzelisten Schniefke, der mit dem<br />

Herrn Obersekretarius Daniel Kalau, welcher seit 1679 angestellt<br />

ist, gut bekannt ist. Ihr wisst vielleicht, dass der alte Kanzler<br />

Johann Dietrich v. Tettau schon ein schwacher Mann<br />

war und im<br />

Mai 1687 starb. Es dauerte ziemlich lange, bis die Stelle wieder<br />

besetzt wurde, welche der Landesdirektor und Hauptmann von<br />

Brandenburg Georg Friedrich v. Kreytzen bekam. Der ging nun<br />

gleich in’s Zeug. Ihr kennt ja das Sprichwort von den neuen<br />

Besen etterte und fluchte über die Unordnung, die im<br />

Landrichter Pilkowski verhandelt sei. Die Landgerichte sollten ihre<br />

691 . Er w<br />

Gerichtswesen in den letzten Zeiten seines Vorgängers und<br />

besonders nach dessen Tode eingerissen sein sollte. Er ließ sich<br />

die Akten alle vorlegen und nun wurde er ganz fuchswild, dass ein<br />

solcher Fall wie mit dem Straßenräuber in <strong>Angerburg</strong> vom<br />

691<br />

Die neuen Besen kehren gut, man soll (aber) die alten nicht wegwerfen, sie fegen gut die<br />

Ecken.<br />

424


Nase in die ihnen zugewiesenen Sachen stecken und nicht<br />

Kriminalfälle aburteilen usw“.<br />

„Warum ließ sich aber der kluge Herr Kanzler nicht den<br />

Inculpanten 692 nach Königsberg kommen, da hätte er ihn doch in<br />

der Peinstube gründlich verhören können?“ fragte Drig<strong>als</strong>ki.<br />

„Ja, das ging nur nicht“, antwortete Rohr, „unser <strong>Angerburg</strong>er<br />

Amtshauptmann übernahm es nicht, den Kerl nach Königsberg zu<br />

schaffen. Seine Spießgesellen könnten ihn unterwegs befreien. Es<br />

hätten sich schon einige verdächtige Gestalten in der Nähe des<br />

Schlosses gezeigt. Nun wird der Herr Kanzler wohl einen<br />

Deputierten vom H<strong>als</strong>gericht nach <strong>Angerburg</strong> schicken, um den<br />

Kerl dort zu verhören“.<br />

„Was machen die Herrn dann aber mit solch einem Kerl für<br />

Umstände, was wollen sie denn von ihm herausbekommen?“<br />

fragte Ditzel.<br />

„Ja, seht Herr“, sagte Rohr, „wenn der Kerl nur den<br />

Amtshauptmann Lemke geschlagen und gewürgt hätte, würde der<br />

Herr Kanzler nicht so viel Lärm machen. Auch wegen der<br />

Wegelagerer würde er wohl nicht einen Deputierten schicken. Der<br />

Kerl weiß es aber allein, wo er die schwedische Kriegskasse<br />

versteckt hat, darum handelt es sich hauptsächlich. Über den<br />

Überfall auf der Landstraße könnt Ihr uns, Herr Thomas, wohl die<br />

beste Auskunft geben“.<br />

„Gewiss kann ich das, Ihr Herren“, sagte Thomas, „aber, wie<br />

kamt Ihr überhaupt auf den Schieler?“<br />

„Euer Knecht hielt gerade Vortrag über seine Heldentaten, <strong>als</strong><br />

wir zu den Leuten an das Feuer kamen“, sagte Ditzel, „da war’s<br />

ganz natürlich, dass wir auf den Gefangenen kamen. Aber erzählt<br />

uns doch, wie es eigentlich mit dem Überfall war, bei Eures<br />

Knechts Erzählung ist viel Aufschneiderei“.<br />

Thomas erzählte das Abenteuer, sowie das Verhör bei dem<br />

Herrn Landrichter Pilkowski.<br />

Als er geendet hatte, meinte Rohr: „Da wäre es doch am<br />

einfachsten, den Spitzbuben auf die Folter zu legen, dann würde<br />

er schon reden, und es muss sich doch schließlich ausweisen, ob<br />

er sich die Kriegskasse aus ihrem Versteck geholt hat oder nicht“.<br />

„Nun, zur Folter möchte ich denn doch nicht so ohne weiteres<br />

meinen Beifall geben“, sagte Drig<strong>als</strong>ki.<br />

„Warum denn nicht?“ fragte Rohr, „das ist ja das beste Mittel,<br />

solch einem verstockten Kerl die Zunge zu lösen“.<br />

692<br />

Inculpant [aus<br />

dem Latein.], Beschuldigter<br />

425


„Zum Sprechen würde ihn die Folter schon bringen“, meinte<br />

Drig<strong>als</strong>ki, „ob aber dabei immer die Wahrheit an das Licht kommt,<br />

ist eine andere Frage, da kann ich Euch aus meiner Familie<br />

erzählen, was sich da zugetragen hat. Einer von meinen<br />

Vorfahren, der noch die hohe und niedere Gerichtsbarkeit hatte,<br />

nahm ein junges Weib. Das Ehepaar schlief in einer Kammer,<br />

deren Fenster auf<br />

einen Abhang ging, von unten <strong>als</strong>o nicht zu<br />

erreichen war. Der warmen Nacht wegen blieb das Fenster offen,<br />

und auf das Fensterbrett hatte die junge Frau ihren Trauring<br />

gelegt. Der Mann stand der Ernte wegen früh auf, die Frau schlief<br />

etwas länger. Als sie ihren Ring nehmen wollte, war er fort. Meine<br />

Urmutter denkt nichts anderes, <strong>als</strong> dass ihr Mann den Ring<br />

versteckt hat und sie ängstigen will. Sie ist <strong>als</strong>o ganz ruhig, kann<br />

aber doch nicht unterlassen, ihren Mann zu fragen, <strong>als</strong> er vom<br />

Felde kommt, ob er den Ring hat. Dabei stellt sich dann heraus,<br />

dass er spurlos verschwunden ist <strong>als</strong>o gewiss gestohlen. Niemand<br />

war sonst in der Kammer gewesen <strong>als</strong> ein alter Knecht, der seinen<br />

Herrn vor Sonnenaufgang geweckt hatte. Der Knecht wird gerufen<br />

und soll den gestohlenen Ring abgeben. Der Spitzbube leugnet<br />

hartnäckig, wird gefoltert, bekennt unter den Schmerzen, den<br />

Ring gestohlen<br />

zu haben, versichert dann wieder seine Unschuld,<br />

und wird schließlich gehängt. Nach vielen Jahren lässt mein<br />

Urvater eine alte große Linde, die das Haus sehr verschattete und<br />

finster machte, abhacken. Die Arbeiter kommen schon früh am<br />

Morgen, die drei jüngsten Jungen etwas später heraus und sehen<br />

zu. Der alte Baum will nicht fallen und muß mit Stricken gerissen<br />

werden. Endlich fällt die Linde. Trockene Äste fliegen herum und<br />

nun kullert etwas Rundes den Abhang hinunter. Die Jungen laufen<br />

hinterher, greifen es sich und bringen es mit Freudengeschrei in<br />

die Stube, wo Vater und Mutter zusammen sitzen. Was war’s? Ein<br />

altes Elsternest. Der Vater untersucht es und findet Scherben von<br />

blankem Geschirr, ein Stück zinnerner Löffelstiel, einen blanken<br />

Knopf und ganz unten aus der Tiefe zieht er<br />

den Ring heraus. Der<br />

Alte soll aufs Höchste erschrocken gewesen sein und bis an sein<br />

Lebensende nie mehr gelacht haben. In einen Achatstein ließ er<br />

eine Elster einstechen, die einen Ring im Schnabel hält. Den<br />

Stein 693 ließ er in das Gold des Ringes fassen“. Drig<strong>als</strong>ki ging an<br />

den kleinen Eckschrank, schloß den unteren Schubkasten auf und<br />

holte einen kleinen Gegenstand. „Hier habe ich den Ring noch“,<br />

693<br />

Anmerkung von E. Anderson: Diesen Stein habe<br />

ich etwa 1829, da ihn mir die Mutter,<br />

eine Urenkelin Drig<strong>als</strong>kis, zum Spielen gab, verschmissen.<br />

426


sagte er, trage ihn aber nie. Das Gold ist dasselbe, welches den<br />

alten Knecht das Leben gekostet hat. Daher ist meine Meinung,<br />

dass ein Bekenntnis auf der Folter erpresst, nicht viel Wert hat“.<br />

„Na, lass‘ sich der Herr Kanzler mit dem Strolch wissen“,<br />

meinte Rohr. „Uns <strong>Angerburg</strong>ern wäre es am liebsten, wenn er<br />

nicht gehängt würde, dass er aber sobald <strong>als</strong> möglich aus der Ruh‘<br />

unserer guten Stadt kommen möchte“.<br />

Ditzel hatte sich unterdessen dem Diakonus genähert, der<br />

noch immer, mit gespreitzten Beinen auf seinem Schemel sitzend,<br />

zusammen mit dem Knaben die Bücher nach Fächern ordnete.<br />

Ditzel nahm ein besonders gelegtes Buch in die Hand und blätterte<br />

darin. „Ei, sieh da“, sagte er, „Herr Landschöppe, da kann ich Euch<br />

ja aus diesem Buch Auskunft über die Kölmer<br />

sst Du ja ganz gut schon übersetzen können,<br />

be sah zweifelnd auf den Diakonus und wusste nicht, ob<br />

694 geben, was ich<br />

neulich nicht wusste, <strong>als</strong> Ihr mich fragtet. Komme einmal her,<br />

Bernhard, das mu<br />

lies einmal vor“.<br />

Der Kna<br />

er seine Beschäftigung unterbrechen dürfe. Thomas kam ihm zu<br />

Hilfe, nahm ihm den Folianten aus der Hand und reichte ihn dem<br />

Schwager zu. Bernhard trat zum Offizier: „Hier, Seite 209 Kapitel<br />

6“. Bernhard las und übersetzte: „Die im Herzogtum Preußen<br />

lebenden Littauer werden wie die preußischen deutschen Bauern<br />

gehalten und sind Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht leibeigene<br />

Unterthanen.<br />

Proprii sunt Homines Leibeigene sind die Leute<br />

Prutenicae conditionis zu preußischen Rechten oder<br />

Originem suam derivant<br />

Preußische Leute.<br />

Ihren Ursprung leiten sie ab<br />

antiquis Prussis paganis<br />

von den alten Preußen, den Heiden<br />

in bello ab ordini captis, ab, die im Kriege vom Orden<br />

et vi ad Christianam gefangen und mit Gewalt zum<br />

fidem adactis, et sunt christlichen<br />

wurden<br />

Glauben gebracht<br />

partim libertini, partim und sie sind teils Freigelassene,<br />

rustici, partim hortulani. teils Bauern, teils Gärtner.<br />

Rustici et libertine Prutenici Bauern und preußische Freie<br />

in hisce potissimum unterscheiden sich unter<br />

inter se differunt: einander hauptsächlich:<br />

I. Quod rusticis a Dominis I., dass den Bauern von den<br />

694 S. FN 394.<br />

427


labores pro lubitu Herrn Arbeiten nach Belieben<br />

imponere possunt, libertini aufgelegt werden können, die<br />

certa, neque tarn gravia Freien gewisse nicht so schwere<br />

onera; neque tam servitia Lasten; auch nicht so beschaffene<br />

praestare cogantur, Dienste zu leisten gezwungen sind.<br />

II. quod libertinorum filii II. dass die Kinder der<br />

facilius se a Domini potestate Freien sich leichter von<br />

liberare possint, der Gewalt des Herrn befreien<br />

nec opificia discere können, auch nicht<br />

prohibeantur, quod verhindert zu werden ein<br />

rusticis secus est, opificia - was ist das? - Handwerk<br />

zu lernen, welches bei den<br />

Bauern nicht so ist.<br />

Porro differunt quoque a Ferner unterscheiden sich<br />

se invicem libertini auch nicht wechselsweise die<br />

Prutenicae conditionis Freien zu preußischen Rechten<br />

a Culmensibus hominibus, von den Cöllmischen Leuten<br />

potissimum quoad onera vorzüglich in Betreff<br />

et successionem. der Lasten und der Nachfolge.<br />

Onera Culmenses nulla, Die Cöllmer haben keine<br />

vel exigua habent oder geringe Lasten<br />

possuntque libere bona u. können frei ihre<br />

sua alienare. Güter veräußern.<br />

In Privilegio Culmense Im Culmischen Privilegi-<br />

scriptum est: um ist geschrieben:<br />

„ipsis etiam hano „auch verleihen wir ihnen<br />

contulimus libertatem, diese Freiheit, dass sie ihre<br />

ut bona sua, quae a do- Güter, die sie von unserm<br />

mo nostro possident ven- Hause besitzen, Macht haben<br />

dendi habeant potestatem“. zu verkaufen“.<br />

„Wenn’s den Herren gefällig wäre“, unterbrach ihn die Hausfrau,<br />

„so möchte ich bitten, die Bücher beiseite zu legen. Das<br />

Abendessen wird kalt“.<br />

„Ist’s schon so spät“, fragte Nebe verwundert, sich von seinem<br />

Schemel erhebend.<br />

„Siehst Du, Schwager, wie bei den Büchern die Zeit vergangen<br />

ist“, sagte<br />

Thomas.<br />

Nach dem Tischgebet wurde das Mahl eingenommen und noch<br />

während<br />

desselben festgestellt, dass Nebe und Rohr in der<br />

Wohnstube<br />

schlafen sollten, weil Ersterer sich zum morgigen<br />

Hausgottesdienst<br />

vorbereiten wollte, während<br />

Ditzel das<br />

428


Anerbieten machte, Thomas <strong>als</strong> Schlafgesellen in seine Kammer zu<br />

nehmen.<br />

„Ich werde Euch nicht stören, Herr Kaplan“, sagte Rohr zum<br />

Diakonus. „Ich bin hundemüde und werde schlafen wie ein<br />

Ratz<br />

nd mit einem Gebet des Diakonus die Woche<br />

ichen<br />

enn auch die<br />

nz beschneit hereintrat, hatte er die alte<br />

s Deckels stand: Paulus Drig<strong>als</strong>ki, Pastor<br />

indem er<br />

mmt, setzt Euch<br />

er Pfeifen sich stopfend, „doch sagt,<br />

wohl<br />

695 “. Als der Tisch abgeräumt war, blieb die Gesellschaft an<br />

diesem sitzen. Die Gesangbücher wurden gebracht, ein Lied<br />

gesungen, u<br />

geschlossen. Die beiden Junggesellen begaben sich in Ditzels<br />

Kammer, in der inzwischen für Thomas ein Lager bereitet war. Der<br />

Offizier nahm seinen grauen Mantel und ging, die nötigen Wachen<br />

für die Nacht anzuordnen. Thomas setzte sich in einen Stuhl am<br />

Tisch und ließ vor seinem Geiste die Tage der ereignisre<br />

Woche seit der Abfahrt von <strong>Angerburg</strong> an sich vorübergehen. Wie<br />

er so voller guter Zuversicht und Hoffnung abgefahren und <strong>jetzt</strong><br />

doch in solcher Ungewissheit zurückkehre, w<br />

Hoffnung, dass alles noch gut werden würde, wenn Schwindovius<br />

erst sein Schreiben erhalten und gelesen hätte, die Oberhand<br />

gewann. Er nahm Nebes Journal und blätterte darin. Als der<br />

Offizier wieder ga<br />

deutsche Bibel, die Bernhard hatte liegen lassen, in der Hand. Auf<br />

der Innenseite de<br />

Drygallensis, und darunter, wie es schien, von einer anderen<br />

Hand: obiit 1596.<br />

„Seid ihr noch nicht zu Bett gegangen, Herr Thomas?“ fragte er<br />

verwundert. „Ich dachte, Euch schon in tiefem Schlaf zu finden wie<br />

ein Ratz“.<br />

„Schlafen kann ich noch nicht“, antwortete Thomas,<br />

ihm den Mantel abzulegen behilflich war.<br />

„Gerade so geht’s mir“, sagte Ditzel, „doch ko<br />

an den Tisch. Eine Kanne mit Hausbier haben wir ja hier, vielleicht<br />

möchtet ihr auch etwas Tabak trinken, ich hab’ es mir im Felde<br />

angewöhnt und liebe eine Pfeife nach dem Abendessen“. Mit<br />

diesen Worten brachte Ditzel ein Körbchen mit holländischem<br />

Tabak und einige Tonpfeifen.<br />

„Zuweilen habe ich in Gesellschaft mir auch die Pfeife munden<br />

lassen“, sagte Thomas, eine d<br />

Herr, wie ist’s mit dem Wetter draußen?“<br />

„Der Sturm hat sich bedeutend gelegt“, antwortete Ditzel, „aber<br />

es schneit so arg, dass wir bis morgen, wenn es so fortgeht,<br />

kaum zur Haustür herauskommen werden“.<br />

695<br />

Ratz – Iltis [dieselbe<br />

Wortwurzel wie Ratte], schläft gewöhnlich am Tage.<br />

429


„Es ist eine große Gnade Gottes, dass wir hier gestern Abend in<br />

diesen Hafen einlaufen konnten“, sagte Thomas. „Es tut mir nur<br />

leid, dass wir notgedrungen dem Landschöppen auf dem H<strong>als</strong>e<br />

liegen müssen und besonders der Hausfrau so viel Arbeit<br />

machen“.<br />

„Nun, nehmt es Euch nur nicht zu sehr zu Herzen“, sagte Ditzel.<br />

„Der Landschöppe Drig<strong>als</strong>ki hält’s schon aus, er ist ein ganz<br />

wohlhabender Mann und ihr könnt mir schon glauben, dass er<br />

Euch die Herberge und das Essen gerne gibt“.<br />

„Ist denn die Besitzung groß?“ fragte Thomas.<br />

„Das eben nicht“, antwortete Ditzel, „denn sie ist von der einen<br />

Seite durch den See und von<br />

der andern Seite durch die adligen<br />

Güter in der Nähe begrenzt. Aber der Landschöppe ist ein<br />

tüchtiger Wirt, der beste Pferdekenner in der ganzen Gegend. Da<br />

er viele Wiesen und Futter hat, so kauft er billig die guten Pferde,<br />

wenn sie bei den Bauern<br />

halb verhungert sind und er weiß stets,<br />

wo die besten zu haben sind und verkauft sie mit Vorteil“.<br />

„Ich habe mir aber sagen lassen“, meinte Thomas, „dass noch<br />

niemand beim Pferdehandel reich geworden ist“.<br />

„Im Ganzen kann’s wohl so sein“, entgegnete Ditzel, „wenn man<br />

das <strong>als</strong> Geschäft betreibt, doch an einzelnen Pferden, die der<br />

Landschöppe an die Kavallerie verkaufte, weiß ich, dass er ganz<br />

schön verdient<br />

hat. Er hält sie aber auch gut und gibt ihnen seinen<br />

Hafer, anstatt mit ihnen in die Städte meilenweit zu fahren und<br />

dort zu sehr geringem Preis zu verkaufen. Auch sät er viel Lein<br />

und hat die einzige Ölmühle in der Gegend, wohin die Dörfer von<br />

weit und breit ihre Leinsaat bringen. Wenn dabei die Einnahme<br />

auch eben nicht sehr groß ist, so hat er doch auch sehr geringe<br />

Ausgaben, denn, wie Ihr wisst, kommt es weniger darauf an, dass<br />

man viel einnimmt, <strong>als</strong> darauf, dass man wenig ausgibt. Die<br />

Wirtschaft wird durch das Getreide erhalten, die Rinder, Schweine,<br />

Schafe, Gänse durch das Getreide fett gemacht und dann<br />

aufgegessen, oder auch, wenn etwas übrig ist, an den Fleischer<br />

verkauft. Außer dem Schmied und zuweilen dem Stellmacher wird<br />

keinem<br />

Handwerker etwas zu verdienen gegeben. Flickereien an<br />

den Gebäuden werden von den Knechten gemacht, die auch die<br />

Schirrarbeit verrichten und im Winter die nötigen Stricke drehen.<br />

Die Schaffelle werden im Haus gegerbt,<br />

Flachs und Wolle im Haus<br />

gesponnen, gefärbt und zu Kleiderzeug gewebt. Die Mannskleider<br />

und Pelze macht ein lahmer Bönhase 696 . Also werden auf dem<br />

696 Bönhase war in Norddeutschland ein unzünftiger Handwerker.<br />

430


Jahrmarkt nur Sachen von den Schotten und Scherbenzeug von<br />

den Töpfern, Wocken von den Drechslern und dann und wann ein<br />

Paar Stiefel gekauft. Großen Umgang hat die Familie nicht, und<br />

wenn die Verwandten aus <strong>Angerburg</strong> zuweilen herauskommen, so<br />

verursacht Honig und Hausbier, schönes Gebäck und Fleisch von<br />

eigenen Kälbern, Schafen, Gänsen je nach der Jahreszeit<br />

keine<br />

besondere Geldausgabe“.<br />

„Nach Eurer Beschreibung“, sagte Thomas, „müsste der<br />

Landschöppe<br />

ein ganz materieller Geldsammler sein. So ist er mir<br />

nicht erschienen“.<br />

„Nun, er sieht nach seiner Wirtschaft“, sagte Ditzel, „aber er hat<br />

nebenbei auch etwas mehr Bildung <strong>als</strong> mancher Besitzer eines<br />

großen Gutes. Sein ältester Bruder, von dem die Bücher<br />

herstammen, die Euerm Schwager so sehr gefallen, hat ihn<br />

unterrichtet und ihm mancherlei beigebracht, was bei der<br />

Unterhaltung zum Vorschein kommt. Die Frau aber hält eigentlich<br />

alles so recht zusammen. Sie ist die Seele der Wirtschaft, immer<br />

tätig, zuerst morgens auf dem Platz, überall, fasst alles an, da<br />

knallt’s auch manchmal, wenn die Mägde ihr’s nicht gut machen<br />

und sehr reinlich ist sie. Nun besser etwas zu viel davon <strong>als</strong> zu<br />

wenig“.<br />

„Da seid Ihr wohl mit Eurem Quartier ganz zufrieden“, sagte<br />

Thomas.<br />

„Werd’ ich nicht?“, sagte Ditzel. „Musste ja liegen wie ein Hund<br />

in Grodzisko iel. Dort war das ein armes<br />

697 im Kuttenschen Kirchsp<br />

Volk, miserable Wohnung und das Essen war nicht zu genießen“.<br />

„Dann werdet Ihr es wohl früher im Insterburger Amt in den<br />

Quartieren besser gehabt haben“, meinte Thomas.<br />

„Das ist so ziemlich Jacke wie Hose“, sagte Ditzel, „die litauische<br />

Bauernwirtschaft ist nicht schöner <strong>als</strong> die des polnischen Bauern,<br />

nur dass jener bessere Pferde hat. Da konnte ich mich <strong>als</strong> Kornett<br />

viel eher frei machen und öfters nach Kussen zum Pfarrer<br />

Rauschning reiten, der war ein wohlhabender Mann, hatte außer<br />

seinen Pfarrhufen noch 2 Hufen in Kussen, 1 ½ in Bräzen und 5<br />

Hufen in Kischenbannies 698 und den Krug in Bruyen. War immer<br />

ein lustiges Leben bei ihm. Auch bei dem Präzentor Siemon fielen<br />

wir manchmal ein. Nach Kattenau und Niebudzen wurde auch<br />

öfters geritten, zuweilen auch eine Extratour nach Insterburg<br />

gemacht. Da könnt ihr wohl denken, dass es mir in Grodzisko, wo<br />

697<br />

Ort im Kirchspiel Kutten, 18 km östl. von <strong>Angerburg</strong>, 5 km südl. von Benkheim.<br />

698<br />

Orte im Landkreis Pilkallen.<br />

431


ich <strong>als</strong> jüngster Offizier nicht abkommen konnte, gar nicht gefiel.<br />

War ein Glück, dass ich unserem Rittmeister attachiert 699 wurde<br />

und herkam. Hab’ aber das Soldatenspielen herzlich satt. Wenn es<br />

mir gelingen möchte, ein kleines Gütchen zu kaufen, dann schmiss<br />

ich die ganze Militaria zum Teufel!“<br />

„Aber ich dachte, Ihr wäret mit Leib und Seele Soldat“, sagte<br />

Thomas, eine frische Pfeife stopfend, „Eure Reiter gehorchen Euch<br />

ja auf den Wink und ich hab’ nicht gesehen, dass Ihr einen<br />

geschlagen habt. Da muss sich doch wohl die Jungfer Leonore<br />

geirrt haben“.<br />

„Was ist’s mit der Jungfer Leonore?“ fragte Ditzel hastig, „die<br />

redet mit mir nie ein Wort. Die ist für mich nicht zu erobern, wenn<br />

die Alten auch vielleicht nicht so ganz abgeneigt sein möchten, sie<br />

mir zu geben. Nein, nein, die Jungfer Leonore hat mir ihre<br />

Abneigung deutlich genug gezeigt. Komme ich zu einer Türe<br />

hinein, geht sie stets zur anderen Türe hinaus. Aber was wisst Ihr,<br />

Herr Thomas, von der Jungfer Leonore, worin soll sie sich geirrt<br />

haben?“<br />

Thomas erzählte nun seine Begegnung mit der Tochter des<br />

Hauses am heutigen Morgen im Hausflur, wie sie sich begeben und<br />

setzte hinzu: „Aber ich begreife nicht, weshalb die Kerle Euch,<br />

Herr, sollten totschlagen wollen und was es mit dem Festmachen<br />

für eine Bewandnis hat“.<br />

„Also die Jungfer nimmt Anteil an mir, wollte mich warnen.<br />

Hätt’s ihr nicht zugetraut. Was aber das kugelfest machen betrifft,<br />

so kann ich Euch das erklären. Als ich von Stettin zu den<br />

Derfflingerschen Reitern<br />

on sehr gefährlichen<br />

it Pferden und Waffen die<br />

Pferden<br />

. Nun<br />

700 kam, waren darunter viele Litauer, sie<br />

sprachen stets untereinander ihre Muttersprache, die von den<br />

anderen nicht verstanden wurde. Ich wollte mich schon mit ihnen<br />

auf Litauisch unterhalten, da hörte ich, dass v<br />

Sachen, Desertion zu den Schweden m<br />

Rede war. Zu meinem Glück verriet ich nicht, dass ich Litauisch<br />

verstand. Sie konnten es nicht vermuten, hätten mich unfehlbar<br />

umgebracht. Die Kerle wollten mit ihren<br />

hinüberschwimmen, ersoffen aber alle 6. Es war ein heilsamer<br />

Schrecken für die anderen, besonders, da ihnen der Feldpriester<br />

in’s Gewissen redete und sagte, dass die 6 ersoffen seien, wäre<br />

eine Strafe für den Eidbruch. Wer desertiere, würde ersäuft<br />

ist für die Litauer nichts schrecklicher, <strong>als</strong> in’s Wasser geworfen zu<br />

699 Zugeteilt<br />

700 S. FN 606<br />

432


werden. Mir war’s aber eine Lehre, nie zu verraten, dass ich<br />

Litauisch verstünde und hütete mich, meine Kenntniss der Sprache<br />

zu verraten. Daher sprechen die Reiter in meiner Gegenwart dreist<br />

die heimlichsten Sachen, und ich kenne meine Leute ganz genau.<br />

Ich weiß alle ihre Schelmenstücke und Heimlichkeiten, weiß, wenn<br />

einer gestohlen, gewilddiebt oder heimlich gefischt hat. Kurz, ich<br />

habe sie völlig in der Hand. Ich gelte bei ihnen <strong>als</strong> allwissend.<br />

nverwundet aus<br />

ssen<br />

behandelt sie doch gar nicht so<br />

d des Herrn v. Gansenstein 701 Dass ich dreist gegen das feindliche Feuer der Schweden<br />

vorausritt und durch Gottes gnädige Bewahrung u<br />

dem Feuer zurückkam, hat mir den Ruf gebracht, kugelfest zu<br />

sein. Aber vor 8 Tagen, <strong>als</strong> ich durch den Wald ritt, erprobten die<br />

Kerle an mir die Kugelfestigkeit. In einem Hohlweg pfiffen mir<br />

mehrere Kugeln um die Ohren. Dank der Schnelligkeit meines<br />

Gauls kam ich noch weg. Unter den Reitern, die hier sind, mü<br />

mehrere von den Rackers sein. Ich habe es vermutet, nun weiß<br />

ich es gewiss. Es sind die beiden polnischen Rackers, denn die<br />

Magd versteht jedes Wort. All die Reiter, die sich hier befinden,<br />

sind Litauer, den einzigen Westfalen, Schabehard, mal<br />

ausgenommen“.<br />

„Warum stehen Euch denn aber die verfluchten Kerle nach dem<br />

Leben?“ fragte Thomas. „Ihr<br />

niederträchtig“.<br />

„Das ist die verdammte Wilddieberei“ antwortete Ditzel. „Im<br />

Herbst, <strong>als</strong> ich nach Walterkemen geritten war und sie sich sicher<br />

glaubten, hatte die Bande ein vollständiges Treibjagen auf dem<br />

Jagdgrun<br />

angestellt.<br />

Unglücklicherweise kam ich ihnen in’s Gehege: Ich kam nämlich<br />

über Goldap von einer Seite, wo sie mich nicht vermuteten. Wäre<br />

ich über <strong>Angerburg</strong> und Possessern geritten, so hätte ich sie nicht<br />

gesehen, denn da hatten sie Vedetten<br />

ren die Bauern ihnen<br />

702 auf allen Höhen<br />

aufgestellt. Wenn sie auch die Gesichter geschwärzt hatten, so<br />

erkannte ich doch an der Figur einige der Reiter. Die anderen<br />

verrieten sich durch ihre Ängstlichkeit. Wä<br />

nicht behilflich gewesen, hätten es die Reiter gar nicht fertig<br />

gebracht, aber bei Spitzbübereien sind die Bauern gewöhnlich<br />

dabei“.<br />

„Warum habt Ihr, Herr, aber die Kerle nicht bestraft?“ fragte<br />

Thomas.<br />

701<br />

Gansenstein: Gut 5 km östl. von Kruglanken.<br />

70 2<br />

Vedette [fr.] - Posten<br />

433


„Weil die Strafe zu hart ist“, erwiderte Ditzel, „die meisten der<br />

Reiter sind beweibt. Ich bedauerte die armen Weiber und Kinder,<br />

nd dann hätte ich sämtliche Reiter bestrafen müssen. Solch ein<br />

Fall hätte gar nicht vorkommen können, wenn die Reiter gleich<br />

nach dem Friedensschluss nicht aufs platte Land, sondern in die<br />

Städte verlegt worden wären. Aber freilich, da waren die Herrn<br />

Eigentümer der Reiterregimenter dagegen. So billig können die<br />

Mannschaften und Pferde in den Städten nicht unterhalten<br />

werden, wie auf dem Lande, wo Mann und Pferd bei den Bauern<br />

gegen ein geringes Entgelt ernährt wird“.<br />

„Was wird denn für beide monatlich gezahlt?“ fragte Thomas.<br />

„Billig genug ist’s. Nur wie ist die notwendige Kontrolle möglich,<br />

wenn die Leute und Pferde in vielen Ortschaften zerstreut liegen?<br />

Im Herbst und Frühjahr kann man bei den grundlosen Wegen<br />

kaum hinkommen. im Winter ist’s auch oft miserabel genug. Im<br />

Sommer gehen die Pferde auf die Weide und da gibt’s ewig<br />

Streitereien zwischen den Soldaten und den Bauern. Mal ist die<br />

Weide nicht gut, da sollen die Bauern Zäune machen, mal sind die<br />

Wölfe zu vertreiben usw. Bei den Musterungen kann man sich zu<br />

Schaden ärgern, überall sind Loddereien 703 u<br />

und Schaden. Bei den<br />

beweibten Reitern geht’s noch gut, die halten die Weiber ein wenig<br />

in Zucht, flicken ihnen ihre Sachen usw. Jedoch die unbeweibten Reiter,<br />

die sind<br />

für die Hölle zu schlecht“.<br />

„Habt Ihr denn aber keine Korporäle, die Euch behilflich sind?“<br />

fragte Thomas.<br />

„Ach, geht mir doch mit denen fort“, antwortete Ditzel, „das sind<br />

gerade die ärgsten versoffenen Schweinehunde. Was das<br />

schlimmste ist, beinahe alle sind Günstlinge des Rittmeisters. Ich<br />

wollte, ich könnte lieber heute <strong>als</strong> morgen den Dienst quittieren.<br />

Der Reiter, der sich gestern erhängte, macht mir auch<br />

Kopfschmerzen“.<br />

„Was bewog aber den Kerl dazu, sich zu erhängen?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Seht“, sagte Ditzel, „die Ställe sind hier bei den Bauern ganz<br />

miserabel. Sie sind niedrig, eng, heiß, noch elender <strong>als</strong> in Litauen.<br />

Da sollen nun unsere Pferde gut untergebracht werden? Das ist<br />

beinahe nirgends möglich. Nun hat der Schimmel des Reiters in<br />

Jorkowen des Nachts seinen Kopf unter die Krippe gesteckt, ist mit<br />

dem einen Vorderfuß über die Halfterkette getreten, hat den Kopf<br />

nicht mehr hervorbekommen und wurde des Morgens<br />

halbtot<br />

703 Lottern - liederlich leben, schlampen<br />

434


gefunden. Während Reiter aus dem Dorf und die Polen um den<br />

Schimmel stehn, verschwindet sein Reiter. Als sie ihn schließlich<br />

vermissen und aufsuchen, finden sie ihn kalt und steif in der<br />

Scheune hängen. Das Pferd wird wohl nicht draufgehen, wenn’s<br />

auch recht lange krank bleibt. Wo bekomme ich aber einen<br />

anderen Reiter her?“<br />

„Ich kann es nicht begreifen, wie Ihr, Herr, bei Euren<br />

Kenntnissen unter die Reiter gekommen seid“, sagte Thomas.<br />

„Ja, wie es so kommt“, sagte Ditzel, „ich war in Insterburg auf<br />

der lateinischen Schule unter dem Rektor Langhans, dem alten<br />

Christian, wie wir Jungen ihn nach seinem Vornamen nannten. Der<br />

Konrektor Feuerabend und der Kantor Naps waren mit<br />

mir<br />

zufrieden. Ich hatte genug gute Kraft bei dem Herrn Georg Grunau<br />

und dachte, es wird so fortgehen und würde in einigen Jahren die<br />

Universität beziehen können. Da starb Anno 1670 unverhofft mein<br />

Vater, der Pfarrer in Nemmersdorf, noch nichtm<strong>als</strong><br />

50 Jahre alt. Er<br />

war immer ein guter Mann gewesen, der lieber gab <strong>als</strong> nahm.<br />

Nach der Beerdigung zeigte es sich, dass wir Kinder nichts<br />

besaßen. Mein Oheim Ditzel, des Vaters jüngerer Bruder,<br />

nahm<br />

meinen jüngsten Bruder zu sich nach Walterkemen, um ihn zu<br />

erziehen. Der Oheim Regge, der Bruder der Mutter, nahm zwei<br />

Schwestern zu sich. An mich dachte niemand. Die Verwandten<br />

gaben mir den Rat, ich sollte sehen, mir in Insterburg<br />

Freitische zu<br />

verschaffen, sollte freie Schule erbitten. Die alten Bücher aus des<br />

Vaters Nachlass würde ich ja gebrauchen können, auch einige<br />

seiner Kleider könnte ich nehmen. Das fuhr mir gewaltig durch<br />

den Sinn, ich sollte prachern<br />

unter den Soldaten. Hätte die<br />

ie<br />

uf und ging in der Kammer auf und ab, fuhr dann mit<br />

üssen an den morgigen Gottesdienst denken. Wie<br />

704 , mich durch mensa ambulatoria 705<br />

nähren, sollte bitten, von andern fremden Leuten abhängen. Das<br />

schien mir die reine Sklaverei zu sein. Was weiß solch ein dummer<br />

Junge, wenn er auch sonst allerlei gelernt hat, von Sklaverei?<br />

Keine ärgere kann‘s geben <strong>als</strong><br />

Mutter noch gelebt, wär‘s vielleicht anders gekommen. Nun fiel ich<br />

den Werbern in die Hände. Ich ging unter die Reiter, doch d<br />

Jungfer Leonore, wer hätte das geglaubt, dass sie solchen Anteil<br />

an mir nimmt“.<br />

Er stand a<br />

der Hand über das Gesicht und wendete sich wieder an Thomas.<br />

„Doch wir m<br />

feiern wir aber würdig den morgigen Tag, ich denke, meine<br />

704 betteln<br />

705 Wandeltisch, wechselnder Freitisch für arme Schüler.<br />

435


Kammer eignet sich am besten zu einer Kapelle. Wenn wir die<br />

Bettstelle und den Tisch hinaus schaffen, wird Raum genug sein.<br />

Ihr bei der<br />

mir 12 oder 16<br />

mer 707 Baltarsas“, rief Ditzel, die Tür öffnend, in dem Hausflur. Ein<br />

riesiger Reiter erschien und stellte sich kerzengerade neben die<br />

Tür. „Baltarsas“, sagte Ditzel zu ihm, „wenn<br />

Nachtwache lange Weile habt, so könnt Ihr<br />

Leuchter aus Wruken<br />

ebenso viele Brettchen, ungefähr eine Handbreit<br />

und 16 Leuchterstützen“, antwortete der<br />

tig Holz hauen<br />

706 schnitzen, dann schneidest Du in der<br />

Schirrkam<br />

lang und ebenso breit, unten kommt eine Stütze, damit sie an die<br />

Wand genagelt werden können. Was sollt Ihr machen?“<br />

„16 Wrukenleuchter<br />

Reiter, „aber Herr“, setzte er mit halber Stimme hinzu, „es ist<br />

szwents wakars, will sagen heiliger Abend 708 und…„<br />

„Morgen wird hier Gottesdienst sein“, fiel Ditzei ihm in’s Wort,<br />

„dazu werden sie gebraucht, deshalb darfst Du Dir kein Gewissen<br />

daraus machen, sie zu fertigen“. Der Reiter machte Kehrt und ging<br />

hinaus.<br />

„Wozu braucht Ihr denn aber, Herr die vielen Lichte?“ fragte<br />

Thomas. „Wir werden doch den Hausgottesdienst nicht vor 9<br />

beginnen“.<br />

„Nun, meiner Meinung nach“, sagte Ditzel, „werden wir<br />

vormittags schwerlich die Fensterläden öffnen können. Die Leute<br />

haben dann auch <strong>jetzt</strong> etwas zu tun und kommen auf keine<br />

dummen Gedanken. Bei Tage habe ich sie tüch<br />

lassen. Doch ich denke, Herr Thomas, wir gehen zur Ruhe“.<br />

Das geschah denn auch, und bald lagen die beiden Junggesellen<br />

in tiefem Schlaf. Wovon sie träumten? Wahrscheinlich Thomas von<br />

seiner Esther und Ditzel von der Jungfer Leonore.<br />

Am andern Morgen, Sonntag, dem 4. Januar 1688, wurde<br />

Thomas von einem Lichtschein und redenden Stimmen erweckt, er<br />

richtete sich auf. Ditzel war aufgestanden und stand mit dem<br />

Reiter am Tische.<br />

„Guten Morgen“ rief er, „seid Ihr schon aufgestanden? Es ist ja<br />

eben erst 5 Uhr“.<br />

„Guten Morgen“, erwiderte Ditzel. „Es ist noch so mancherlei zu<br />

tun, bis zum Frühstück müssen wir unsere Kapelle fertig haben“.<br />

Thomas stand auf, kleidete sich schnell an, um behilflich zu sein.<br />

Er trat zu Ditzel an den Tisch. Auf diesem standen sauber<br />

706<br />

Wruken - Kohlrüben<br />

707<br />

Kammer in der das Pferde- und Ackergeschirr verwahrt wird.<br />

708<br />

Sonnabend vor Epiphanias, der 03. Januar 1688.<br />

436


geschnitzte 16 Leuchter von Wruken, manche mit zierlichem<br />

Schnitzwerk, daneben die Brettchen mit ihren Stützen.<br />

„Das sieht ja so aus, <strong>als</strong> ob die unterirdischen Kauken 709 das<br />

alles so schnell gefertigt haben“, sagte Thomas.<br />

„Nun, Kauken waren es wohl nicht“, sagte Ditzel, „die Reiter und<br />

Fischer haben nur ihren Wetteifer gezeigt, wer von ihnen die<br />

Sache am besten machen kann. Wo habt Ihr das denn her?“<br />

wendete er sich fragend an zwei Reiter, die mit einer Menge von<br />

duftenden Tannengewinden eintraten.<br />

„Die Tannenkränze haben einige Fischer im Stall geflochten“,<br />

antwortete einer der Reiter.<br />

„Wo bekamen sie aber die Tannen her?“ fragte Ditzel.<br />

„Wir haben sie alle zusammen aus der Schlucht geholt und, weil<br />

die Äste so beschneit waren, mussten sie im Stall flechten“.<br />

„Was bringst Du denn da in der Lischke?“<br />

„Ach, der Brzowrowski“, antwortete Baltarsas verlegen, hat von<br />

plattem Stroh Kettchen und Kisschen geflochten und meinte, sie<br />

würden vielleicht zur Verzierung<br />

anzuwenden sein“.<br />

Thomas öffnete die Lischke und nahm die Strohsachen, die wie<br />

Gold glänzten, behutsam<br />

heraus. Auf dem Boden der Lischke<br />

befand sich ein hölzernes Kreuz mit einem Fuß, das mit dem<br />

glänzenden Stroh beflochten, sehr gut aussah.<br />

„Das habt ihr alles sehr hübsch gemacht“, sagte Ditzel. „Du<br />

kannst es den andern sagen, Baltarsar. Doch nun bringe mir einen<br />

Maßstock und du, wendete er sich an den anderen Reiter, „hole<br />

mir Hammer und Nagelbohrer. Lass auch einige hölzerne Pflöcke<br />

von hartem Holz machen“.<br />

„Ich begreife die Menschen nicht“, sagte Thomas, <strong>als</strong> die Reiter<br />

sich entfernt hatten. „Vergangene Nacht wollten sie Euch, Herr<br />

totschlagen, und <strong>jetzt</strong> tun sie alles, was sie Euch an den Augen<br />

absehen können“.<br />

„Ich denke“, sagte Ditzel, „den Altar stellen wir an die schmale<br />

Seite der Kammer, der Tür und dem Kamin gegenüber, und<br />

befestigen an den 4 Holzwänden je vier Wandleuchten“. Bald kam<br />

auch Baltarsar mit dem Fußstock und Schabehard mit dem<br />

Nagelkasten. „Ruft die andern und tragt zuerst die Bettstellen in<br />

den Hausflur“, befahl Ditzel. „Den Tisch brauchen wir vorläufig<br />

noch“.<br />

Nun ging‘s an’s Messen. Dann wurden, um keine große Störung<br />

zu machen, mit umwickeltem Hammer die Wandleuchter<br />

709 Fabelwesen<br />

437


angeschlagen. Dann wurden Löcher in die Holzwand gebohrt, die<br />

Pflöcke hineingesteckt und zuletzt an diesen die Tannengewinde<br />

aufgehängt. Eine breite niedrige Holzkiste wurde auf ihre schmale<br />

Seite gestellt und <strong>als</strong> Altar mit einem dunklen Tuch besteckt. Oben<br />

wurde das Kreuz auf einen Klotz gesteckt und davor über einem<br />

schrägen Klotz, der <strong>als</strong> Pult diente, ein farbiges Tuch gebreitet, auf<br />

das die alte Bibel des Drig<strong>als</strong>kischen Geschlechts gelegt wurde.<br />

Während dieser Vorbereitungen war der kleine Bernhard<br />

hineingekommen und schaute verwundert die veränderte Kammer<br />

an.<br />

„Bernhard“, sagte Ditzel zu ihm, „bitte deine liebe Mutter um die<br />

beiden großen Messingleuchter und 20 von ihren dicksten<br />

Lichten“. Der Knabe eilte hinaus.<br />

Thomas hatte geholfen, wo er konnte. Jetzt, da nur noch wenig<br />

zu tun war und viele Hände sich dazu drängten, ging er zu seinem<br />

Schwager in’s Wohnzimmer hinüber. Er fand den Diakonus am<br />

Tisch sitzend, den Kopf in die Hand gelegt. Rohr schnarchte noch.<br />

„Guten Morgen, Jacob“, rief Thomas. „Bist Du schon auf, es ist ja<br />

eben erst sechs Uhr“.<br />

„Schönen Dank“, erwiderte Nebe, „gut, dass es Morgen ist. Hab’<br />

eine unruhige Nacht gehabt und konnte lange nicht einschlafen.<br />

Ich hatte einen schändlichen Druck auf dem Kopf, hatte meine<br />

Sorge, wie es mit der heutigen Andacht werden würde“.<br />

„Nun, solch ein gewiegter alter Geistlicher wie du hat doch wohl<br />

nicht nötig, sich vor einer Hausandacht zu scheuen“, sagte<br />

Thomas.<br />

„Ach meinetwegen habe ich durchaus keine Besorgnis, ich bin<br />

mit meiner Predigt fertig. Ich bin nur nicht daran gewöhnt<br />

öffentlich zu reden, wenn mir die Menschen auf die Zehen treten.<br />

Hier in dieser Stube ist’s erbärmlich eng und im dunkeln Hausflur<br />

geht’s doch auch nicht“.<br />

„Nun, dafür wird schon Rat werden“, meinte Thomas. „Aber<br />

warum hast du dir denn das Tuch so um den Kopf geschnürt?“<br />

„Meiner Wunde wegen“, antwortete Nebe, „band ich‘s gestern<br />

abend um“.<br />

„Lass doch einmal sehen“, sagte Thomas, das wie einen Strick<br />

zusammengedrehte Tuch entfernend. „Aber Jacob! Da wunderst<br />

du dich noch, dass du nicht schlafen konntest? Binde das dumme<br />

Tuch doch nicht um, die Stirn ist ja ganz heil“.<br />

Drig<strong>als</strong>ki kam hinein. „Guten Morgen, ihr Herrn“, sagte er,<br />

beiden Schwägern die Hand reichend. „Wohl geschlafen? Wo ist<br />

denn der Herr Ratsverwandte Rohr?“<br />

438


„Den werde ich gleich aufwecken“, sagte Thomas und ging an<br />

das Himmelbett. Nach dem gemeinsam eingenommenen<br />

Frühstück führte Thomas den Diakonus in die Kammer Ditzels und<br />

war selbst überrascht, wie würdig der Raum zum Hausgottesdienst<br />

geschmückt war. Nebe war ganz entzückt. Die Fischer und<br />

Soldaten hatten inzwischen ihre Morgentoilette beendet, das Vieh<br />

war versorgt. Sämtliche Hausbewohner begaben sich nun zur<br />

Kapelle. Vor dem Altar, auf dessen Stufe der Diakonus stand, war<br />

ein freier Raum. Der Hausherr mit seiner Familie und den Gästen<br />

nahmen auf den dort aufgestellten Stühlen Platz. Dahinter standen<br />

auf einer Seite die Reiter, auf der anderen die Fischer und<br />

zwischen ihnen die Knechte, zu denen sich Jasch gesellte, und die<br />

Mägde im besten Putz. Nur die alte Kinderfrau war<br />

zurückgeblieben, um nach den kleinsten Kindern zu sehen und die<br />

Küche zu beaufsichtigen. Nebe sagte das Neujahrslied in<br />

deutscher, litauischer und polnischer Sprache strophenweise vor<br />

und stimmte an: „Nun lasst uns gehn und treten mit Singen und<br />

mit Beten zum Herrn, der unserem Leben bis hierher Kraft<br />

gegeben“.<br />

verglich nun das Haus, in dem<br />

mmengefunden<br />

710 Dann verlas er die Epistel des Sonntags nach dem<br />

neuen Jahr: 1 Petri 3 V. 20: „Die etwa nicht glaubten, da Gott<br />

einstm<strong>als</strong> harrete und Geduld hatte zu den Zeiten Noahs, da man<br />

die Arche zurüstete, in welcher wenige, das ist acht Seelen<br />

behalten wurden durchs Wasser und sind ihm untertan die Engel,<br />

die Gewaltigen und die Kräfte“. Er<br />

die vom Tod bedrohten Schutz und Rettung gefunden hatten, mit<br />

der Arche, gedachte ihrer Not, dankte Gott für die gnädige<br />

Bewahrung und lobte den Herrn, dem <strong>jetzt</strong> sowie dam<strong>als</strong> die<br />

Engel, die Gewaltigen und die Kräfte untertan sind. Selten wird<br />

wohl eine andächtigere Versammlung sich zusa<br />

haben. Besonders die Fischer, die gerettet waren, und die Reiter,<br />

die Deutsch verstanden, waren ergriffen, <strong>als</strong> der Diakonus ihnen<br />

die göttliche Bewahrung vor Augen stellte. Auf den kleinen<br />

Bernhard machte dieser Gottesdienst einen so mächtigen<br />

Eindruck, dass er bis in sein spätes Alter den Seinigen, wenn<br />

Schneetreiben eintrat, davon erzählte.<br />

Nach einem Gebet wurde der deutsche Gottesdienst mit dem<br />

Segen und mit einem Danklied geschlossen. Nun hielt Nebe noch<br />

für die Polen und zuletzt für die Litauer seine Ansprache, zu der<br />

die alte Kinderfrau gerufen wurde. Auch Ditzel nahm daran teil.<br />

710 Textdichter: Paul Gerhardt, 1607 – 1676.<br />

439


Thomas ging inzwischen in Begleitung des Hausherrn um die<br />

Gebäude. Es war mild geworden und es träufelte vom Dach. Die<br />

Luft war trübe und nebelig, so dass man nicht weit sehen konnte.<br />

Ungeheure Schneemassen, in die man sehr tief einsank, lagen in<br />

Hof und Garten. Drig<strong>als</strong>ki ordnete an, dass das Schneewasser<br />

aufgefangen und zum Tränken der Haustiere benutzt werden<br />

sollte. Dann kehrten beide in’s Wohnzimmer zurück, wo sie Rohr<br />

missmutig auf der Ofenbank sitzend fanden.<br />

„Nun, wie ist’s draußen?“ fragte er.<br />

„Der Schneesturm hat aufgehört“, antwortete Drig<strong>als</strong>ki. „Es ist<br />

Tauwetter, wird aber wohl noch mehrere Tage dauern, bis die<br />

Wege durch den Schnee gebahnt und befahrbar werden“.<br />

„Was ist das für ein schändliches Versäumnis“, klagte Rohr. „Ich<br />

muss täglich bar für die Leute 7 Mark zahlen. Wer weiß, wie es mit<br />

meinem Wintergarn im See aussieht. Es mag längst gestohlen<br />

sein. Ich bin ein geschlagener Mann“, schloss er seufzend“.<br />

„Aber Euer Wintergarn liegt ja unter einer dicken<br />

Schneeschicht“, sagte Drig<strong>als</strong>ki. „Das findet dort kein Spitzbube.<br />

Doch nun, da der Sturm sich gelegt hat und das Wetter weich<br />

geworden ist, muss die Räumung der großen Landstraße sogleich<br />

in Angriff genommen werden. Wir müssen Vieh treiben und die<br />

Dörfer aufbieten, um zu schaufeln. Die Leute müssen heute<br />

bestellt werden, damit wir morgen recht früh anfangen können. Es<br />

ist nur gut, dass die Soldaten noch hier sind, da kann ich die<br />

Befehle in alle Dörfer schicken“.<br />

„Ich dachte“, meinte Rohr, „die Reiter würden den Fischern<br />

helfen, mein großes Wintergarn herauszuholen“.<br />

„Na, das wird wohl nicht gehen“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, “die müssen in<br />

ihre Dörfer zurück. Wenn Ihr aber, Herr Ratsverwandter, meinen<br />

Bauern, sobald sie die Straße geräumt haben, ein Stück Geld gebt,<br />

auch noch, wenn Ihr einen guten Fang getan, jedem einige Fische<br />

schenkt, so werden sie sich dazu gern bereit finden lassen“.<br />

Nebe kam mit Ditzel hinein. Der Hausherr ging auf den Diakonus<br />

zu, reichte ihm die Hand und sagte: „Ich dank’ Euch sehr für Eure<br />

schönen Worte, und auch Euch, Herr Offizier, dass Ihr uns eine so<br />

schöne Kapelle hergerichtet habt. Doch setzt<br />

Euch nieder, die<br />

Mahlzeit ist bald fertig“.<br />

„Wo habt Ihr, Herr Diakonus, so vortrefflich litauisch gelernt?“<br />

wendete sich Ditzel an Nebe.<br />

„Versteht Ihr das denn, Herr?“<br />

entgegnete Nebe verwundert.<br />

„Ich glaubte, Ihr bliebet nur, um die<br />

Reiter zu beaufsichtigen bei<br />

der<br />

litauischen Andacht. Ich habe mein Litauisch bei meinem<br />

440


Oheim, dem Pfarrer Theophil Schulz in Kattenau gerlernt aber Ihr,<br />

Herr?“.<br />

„Isz mazens; von frühester Kindheit an lernte ich Litauisch mit<br />

dem Deutschen zusammen“, antwortete Ditzel.<br />

„Ich habe die Sprache nicht lernen können“, mischte sich<br />

Thomas ein. „In Kowno 711 hätte ich’s wohl brauchen können, da<br />

wird in den besten Familien Litauisch gesprochen. Ich musste mir<br />

schon mit den Dolmetschern helfen, wenn die Geschäftsleute<br />

weder Deutsch noch Polnisch verstanden“.<br />

„Verzeiht, Ihr Herren“, sagte Ditzel aufstehend,<br />

„ich möchte<br />

gern die Reiter ausschicken, sobald sie gegessen haben, um die<br />

Wege zu erkunden, damit sie heute heimkehren können“.<br />

„Dann erlaubt Ihr wohl, Herr“, sagte Drig<strong>als</strong>ki, „dass die Reiter<br />

mir dann für morgen früh die Leute aus den Dörfern bestellen, um<br />

die Landstraße von der Grenze des Amtes Lötzen nach <strong>Angerburg</strong><br />

hin zu räumen, soweit mein Bezirk reicht“.<br />

Die Kirche in Kruglanken (Zeichnung E. Kalless 1887).<br />

711<br />

Kaunas, Stadt am Zusammenfluss von Memel und Neris, etwa 100 km westl. von<br />

Vilnius/Wilna. Heute zweitgrösste Stadt Litauens.<br />

441


32. Zurück im heimatlichen <strong>Angerburg</strong><br />

Montag und Dienstag wurde fleißig an der Räumung der Straße<br />

gearbeitet. Mittwochmorgens machte Ditzel sich auf den Weg<br />

nach<br />

Lyck, von Thomas eine Strecke weit geleitet, der ihm die<br />

eigenhändige Ablieferung des Briefs an den Diakonus<br />

Schwindovius an’s Herz legte. Voller Hoffnung auf die gute<br />

Wirkung seines Schreibens schaute Thomas dem schlanken Reiter<br />

und seinem Diener Schabehard nach, bis sie seinen Blicken<br />

entschwanden. Der Schlitten war schon angespannt, <strong>als</strong> Thomas<br />

zum Haus zurückkehrte. Die beiden Schwäger nahmen von<br />

Drig<strong>als</strong>ki und seiner Familie dankend Abschied. Die Straße war auf<br />

vielen Stellen noch nicht geräumt, und so kamen die Reisenden<br />

erst spät abends mit sehr ermüdeten Pferden und selbst ermattet<br />

von der Anstrengung, da sie oft hatten aussteigen und den<br />

Schlitten schieben helfen müssen, in <strong>Angerburg</strong> an.<br />

„Fahre zuerst zum Herrn Diakonus“, gebot Thomas seinem<br />

Jasch. Der Schlitten fuhr durch das dunkle stille Städtchen und<br />

hielt<br />

vor der Kaplanei.<br />

Anna kam herausgestürmt, verlor auf der Treppe einen<br />

Pantoffel, und fiel erst ihrem Manne und dann dem Bruder um den<br />

H<strong>als</strong>, bevor sie noch abgestiegen waren. „Gott Lob, dass Ihr<br />

wieder lebendig und gesund da seid!“ rief sie. „Es war sehr<br />

verständig von dir, Thomas, dass du dem Reiter, der auf’s Amt<br />

geschickt wurde, vorgestern ein Zettelchen mitgabst. Ach, wie<br />

haben wir uns Euretwegen geängstigt! Aber erzählt doch, wie es<br />

Euch gegangen ist“.<br />

„Lass uns nur erst aussteigen“,<br />

sagte Thomas. Er half dem<br />

Schwager vom Schlitten und brachte ihn die Steintreppe hinauf.<br />

„Ich bin ganz steif, hungrig und müde“, sagte Nebe. „Es ist doch<br />

nirgends so schön wie zu Hause. Ich gehe gleich zu Bett“.<br />

Thomas verabschiedete sich im Hausflur trotz der Einwendungen<br />

seiner Schwester. Die Seinigen fand er im Begriff, die<br />

Abendandacht zu beginnen. Alle standen auf und eilten ihm<br />

entgegen. Thomas küsste dem Vater die Hand.<br />

„Gott sei gelobt und gepriesen“, sagte der Alte, nachdem er ihn<br />

herzlich umarmt hatte, „dass er unser Flehen erhört und Dich<br />

gesund wieder heimgebracht hat. Aber wo ist der Jacob?“<br />

„Den habe ich schon bei seinem Haus abgesetzt“, erwiderte<br />

Thomas, Mutter und Geschwister begrüßend. „Doch lasst Euch<br />

nicht stören, ich bin froh, mit Euch gemeinsam dem Herrn für<br />

seine<br />

gnädige Bewahrung danken zu können“.<br />

442


Voller Furcht und Hoffnung hatte Thomas die Nacht zugebracht.<br />

Was sollte er dem alten Vater sagen? Er hielt es nach langem<br />

Überlegen für das Beste, mit dem Vater zu sprechen, bevor Nebe<br />

zu ihm käme, der vielleicht, da er selbst so sehr gegen<br />

Schwindovius erbittert war, wohl nicht die Worte stets abwägen<br />

würde. Früh war Thomas schon munter und wollte eben die Stufen<br />

zur Tür der Wohnstube hinaufgehen, <strong>als</strong> die Tür sich öffnete und<br />

der Vater im Hauspelz erschien.<br />

„Guten Morgen, Herzensvater“, rief Thomas, „seid Ihr schon<br />

auf? Ihr werdet Euch im Hausflur, den die Magd fegt, erkälten“.<br />

„Wir können ja in das Stübchen neben dem Hausflur gehen, das<br />

ist noch warm von gestern“, sagte der Vater, „dort stört uns<br />

niemand“.<br />

Thomas zündete ein Licht an und folgte beklommenen Herzens<br />

dem Alten.<br />

„Nun, wie ist’s denn?“ fragte dieser, sich<br />

in den Lehnstuhl am<br />

Ofen niedersetzend. „Du siehst mir gar nicht aus wie ein<br />

überglücklicher Bräutigam. Ist dir deine Freierei leid geworden, <strong>als</strong><br />

du deine Zukünftige in der Häuslichkeit anders gefunden, <strong>als</strong> du es<br />

dir vorgestellt hast?“<br />

„Mein lieber Vater“, sagte Thomas gepresst, „meine<br />

Gesinnung<br />

gegen Esther ist noch ganz unverändert. Ihr Besitz ist mein<br />

höchster Wunsch, da ich sie wiedergesehen habe“.<br />

„Nun, was sagte sie Dir? Warum stockst Du?“<br />

„Ich habe mit Esther kein Wort gesprochen“, sagte Thomas<br />

traurig.<br />

„Das begreife ich nicht“, unterbrach ihn der Vater. „Du fährst<br />

nach Lyck, bleibst zehn Tage fort und sprichst mit deiner<br />

Erkorenen kein Wort“.<br />

„Aber lasst Euch doch erzählen, lieber Vater“, sagte Thomas,<br />

„und habt Geduld mit mir, wenn ich zu weitschweifig werde“.<br />

Thomas berichtete nun von der Irrfahrt nach Eckersberg, dem<br />

Aufenthalt in Neuhoff, dem Neujahrstag in Lyck usw. Der Vater<br />

hörte ihm sehr aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, nur<br />

zuweilen schüttelte er den Kopf. Als Thomas geendet hatte, sagte<br />

der Alte: „Meiner Meinung nach ist die Sache vollständig zu Ende,<br />

ich fürchte, deine schriftliche Bewerbung wird ebensowenig Erfolg<br />

haben, wie die mündliche meines Schwiegersohnes“.<br />

„Ach, Herzensvater“, bat Thomas, „geduldet Euch doch einige<br />

Tage. Ich kann es nicht glauben, dass der alte Schwindovius<br />

gegen alle meine Gründe sich verschließen kann. Es ist mir ganz<br />

unmöglich, die Hoffnung auf Esther aufzugeben“.<br />

443


„Wir wollen sehen“, sagte der Alte. „Wenn der Offizier<br />

Mittwochmorgens von Grunden fortgeritten ist, wie du sagst, so<br />

kann er nächsten Montag sicher hier sein. Wir wollen 8 Tage<br />

warten und die Sache inzwischen ruhen lassen. Ich wünsche dir,<br />

mein lieber Sohn, dass es dir gelingen möge, den Widerstand des<br />

Alten zu besiegen, da ich sehe, wie dein Herz an dem Mägdlein<br />

hängt. Ich fürchte aber, du wirst ihr entsagen müssen. Das Jahr<br />

1688 hat schlimm genug für uns angefangen. Nicht allein, dass wir<br />

<strong>jetzt</strong> den Aalfang nicht mehr haben, das würde sich mit Gottes<br />

Hilfe noch überwinden lassen, kommt <strong>jetzt</strong> noch eine neue Auflage<br />

für arme kleine Städte. Im Oktober wurde eine Hubensteuer von<br />

20 Groschen für eine<br />

Hube während der 12 Monate des Jahres<br />

1688 bewilligt, was schon recht hoch war. Nun fehlen aber zur<br />

Befriedigung des Militärs von der Provinz Preußen noch 12.566<br />

Taler und außerdem noch die Aussteuer<br />

für die Prinzessin Marie<br />

Amalia<br />

mal vorstellig werden. Es wird<br />

andeln<br />

er<br />

einen Vätern gewesen ist, so wird er auch<br />

mit wir mit den<br />

en“.<br />

chwester eben im Begriff<br />

712 . Das soll nun alles gleich aufgebracht werden. In der<br />

letzten Ratssitzung konnten wir uns nicht ganz einig werden. Die<br />

meisten Mitglieder wollten noch ein<br />

aber wohl nichts helfen. Die armen kleinen Städte sind immer am<br />

schlimmsten daran. Der Adel und die drei Städte Königsberg<br />

haben auf den Landtagen immer das große Wort und beh<br />

uns wie sie wollen. Wenn sie auf dem Landtag uns eine<br />

Vermögenssteuer bestimmen, so müssen wir sie ruhig bezahlen.<br />

Ich fürchte, so wird es auch diesmal sein. Du wirst es schw<br />

haben, mein lieber Sohn, doch lass uns unsere Sorge auf den<br />

Herrn werfen, der für uns sorgt. Er wird dich, mein Sohn, nicht<br />

verlassen. Wie er mit d<br />

mit dir sein. Doch nun komme in die Stube, da<br />

Hausgenossen unsere gemeinsame Morgenandacht halt<br />

In Lyck trat am Freitagabend Esther im Pelzchen der Mutter und<br />

mit einem großen beschneiten Spreittuch über dem Kopf in das<br />

hintere Stübchen der Kaplanei, wo die S<br />

war, zu Bett zu gehen.<br />

„Wo bleibst du nur so lange?“ fragte Marie, ihr entgegentretend,<br />

„wo ist die Muhme?“<br />

„Die Muhme ist gar nicht von Ostrokollen 713 mitgekommen“,<br />

erwiderte Esther, indem sie sich ihrer Hüllen entledigte. „Sie hat<br />

712<br />

Marie Amalia (1670-1739), älteste Tochter des Kurfürsten Friedrich Wilhelm und seiner<br />

zweiten Gattin<br />

Dorothea von Holstein-Glücksburg.<br />

713<br />

S. FN 456<br />

444


wieder ihren Magenkrampf. Es war noch sehr schlecht zu fahren,<br />

die Wege sind wenig geräumt, darum komme ich so spät zurück“.<br />

„Weißt du, Esther“, unterbrach sie Marie, „ich hab’ ihn gesehen!“<br />

„Wen denn?“ fragte Esther.<br />

„Nun, den vornehmen Herrn, der am Neujahrsabend hier war,<br />

<strong>als</strong> der Vater es nötig hatte, mit dir nach Grabnick zu fahren“.<br />

Esther wendete sich schnell in den Schatten. Eine Flamme<br />

schlug über ihr Gesicht. Ihr Herz schlug, <strong>als</strong> wolle es das Mieder<br />

zersprengen. Sie konnte kein Wort hervorbringen.<br />

„Ich war gerade in Vaters Schlafkammer, um aufzuräumen“,<br />

fuhr Marie fort. „Es war gegen Vesperzeit. Der Vater hatte sich<br />

vormittags eingeschlossen gehabt, und die Katharine hatte<br />

draußen bei den Kühen zu tun, weil der Jacob weggefahren war.<br />

Da höre ich die Stubentür aufgehen und eine Stimme nach dem<br />

Vater fragen. Ich sehe durch die Ritze der Vorhänge, da tritt ein<br />

schlanker Mann in Vaters Stube - mit vornehmen Anstand. Er<br />

fragt, ob er die Ehr hat, dem Herrn Diakonus Schwindovius in<br />

eigener Person gegenüberzustehen. Als der Vater bejaht, da zieht<br />

der Herr einen großen Brief hervor, geht zum Vater an’s Fenster,<br />

übergibt das Schreiben und sagt - den Namen verstand ich nicht -,<br />

ließe grüßen. Der Vater fuhr auf: Nehmt den Brief nur wieder mit,<br />

Herr, rief er heftig, von dem nehme ich keine Briefe an! Ich<br />

begreife den Vater nicht, er ist doch sonst nicht so gewesen, nicht<br />

einmal zum Sitzen hat er den fremden Herrn genötigt oder zur<br />

Mahlzeit gebeten. Der Herr sagte kein Wort, steckte den Brief<br />

wieder ein, empfahl sich höflich und ging ab.<br />

Er soll von hier<br />

geradezu aufs Schloss gegangen sein, wie die Orthe ermittelt hat.<br />

Es war überhaupt ein ganz verkehrter Tag: Gleich des Morgens,<br />

Du mochtest wohl schon 3 Stunden weg sein, hatten wir die<br />

Lampen eben ausgelöscht, da kommt der Glöckner Schickedanz<br />

besoffen an, über den<br />

sich der Vater sehr ärgert. Der ist dann<br />

noch nicht lange fort, da kommt der Amtsschreiber Nietzki. Ich<br />

war gerade in der Küche und hörte, wie er sich mit dem Vater im<br />

Hausflur begrüßte. Nietzki sagte, er wollt’ den alten Paskarbait mit<br />

dem offenen Brief nicht schicken und müsste ihn schon selbst<br />

bringen. Sie gehen ganz<br />

freundlich zusammen in Vaters Stube. Es<br />

dauert gar nicht lange, hör’ ich darin lautes und heftiges Reden,<br />

des Vaters und des Amtsschreibers Stimme. Da kommt Nietzki<br />

heraus und verlässt das Haus.<br />

Ich bekam vom Vater auch noch was ab: „Was hast Du, dumme<br />

Gans, im Hausflur zu stehen und aufzupassen?“, schrie er mich<br />

an. Dann schloss er sich ein, kam nicht zum Mittagessen und hätt’<br />

445


auch nicht aufgemacht, wenn er nicht zu einem Kranken gerufen<br />

wäre. Da dachte ich, ich muss doch die Kammer aufräumen. Er<br />

kam aber zu früh zurück und ich wagte nicht, die<br />

Kammer zu<br />

verlassen, da er immer heftig auf- und abging. Überhaupt ist der<br />

Vater, seitdem die Muhme fort ist, wie<br />

Du weißt, immer so gereizt<br />

und empfindlich, dass man ihm am liebsten aus dem Wege geht.<br />

So arg wie heute ist es aber doch noch nie gewesen“.<br />

So fuhr Marie noch lange fort. Esther gab ihr nur wenig Antwort<br />

und schließlich schlief Marie ein. Esther konnte den Schlaf nicht<br />

finden. Thomas hatte <strong>als</strong>o wirklich an den Vater geschrieben.<br />

Jetzt, da der<br />

Vater den Brief nicht angenommen, ihn nicht gelesen<br />

und uneröffnet zurückgeschickt hat, diesen Brief, auf den Esther<br />

ihre einzige Hoffnung gesetzt hatte. Nun war alles, alles aus.<br />

Am anderen Morgen war Esther krank. Der Diakonus meinte, sie<br />

würde sich bei der Fahrt nach Ostrokollen erkältet haben, es<br />

würde wohl bald vorübergehen. Marie hätte ihr nicht zureden<br />

sollen, dorthin zur Muhme mitzufahren. Auch sonst blieb der Alte<br />

übellaunig, brummig und ärgerlich,<br />

woran auch die Anwesenheit<br />

seiner alten Muhme, die in der Woche darauf von ihrer Schwester<br />

und deren Schwiegersohn nach Lyck zurückgebracht worden war,<br />

nichts änderte. Darüber war Marie höchst verwundert. Bernhard<br />

lernte seine Aufgaben fast immer am Bett der kranken Schwester<br />

Esther, da er bei dem Vater in dessen Stube stets mäuschenstill<br />

sein sollte. Nach 14 Tagen stand Esther wieder auf, wenn auch<br />

noch recht bleich und angegriffen, und wendete sich ihren<br />

häuslichen Beschäftigungen wieder zu. Am Montag, dem 26.<br />

Januar 1688, <strong>als</strong> der Diakonus mit den Seinigen nach der<br />

Morgenandacht bei dem Frühmahl saß, kam der Schulmeister<br />

Schickedanz mit verschiedenen Kratzfüßen in die Stube und<br />

richtete seine Empfehlung vom Herrn Erzpriester aus. Der Herr<br />

Erzpriester ließe den Herrn Diakonus bitten, sich zu ihm zu<br />

bemühen zu wollen.<br />

„Esther, bind’ mir die Krause um und gib mir meinen Mantel“,<br />

sagte Schwindovius, ein Zeichen in die aufgeschlagene Bibel<br />

legend, nachdem sich Schickedanz mit mehreren Bücklingen<br />

rückwärts aus der Stube entfernt hatte. „Wer weiß, was der<br />

Erzpriester wieder für dummes Zeug hat“. Angetan mit dem<br />

dreieckigen Hut, Krause, Mantel und Manschetten stelzte<br />

Schwindovius, seinen Stock in der Hand, ziemlich übel gelaunt zur<br />

Wohnung des Erzpriesters Breuer.<br />

Nach der Begrüßung und einigen allgemeinen<br />

Redensarten sagte<br />

Breuer:<br />

„Hab’ den Herrn Diakonum zu mir bitten lassen, um von<br />

446


ihm in Erfahrung zu bringen, was es eigentlich für eine Bewandnis<br />

hat mit dem Streit, so derselbe mit dem Herrn Amtsschreiber<br />

N<br />

S ch<br />

piphanias vo offener, vom<br />

anzler unterzeichneter Befehl der Oberratsstube überbracht<br />

orden. Er solle sich am 9ten Februar in <strong>Angerburg</strong> mit seiner<br />

ltesten Tochter und seinem Knecht Joseph Sydmogrodski<br />

infinden, um dort einen Delinquenten, Schieler genannt, zu<br />

cognosciren 714 , ob dieser derselbe sei, welcher am 31. Oktober<br />

.pr. 715 die vorgenannten drei Personen auf der Straße vor<br />

astenburg überfallen habe. Es sei doch eine offenbare Knechtung<br />

er Kirchen, wenn die Oberräte sich nicht entblöden, die Diener<br />

es Wortes Gottes durch das Amt zu kommandieren. Es sei ganz<br />

nerhört, da doch immer sämtliche Rescripta 716 ietzki gehabt, worüber selbiger sich beschwert“.<br />

chwindovius erzählte nun, es sei ihm zwei Tage na<br />

E<br />

m Amtsschreiber Nietzki persönlich ein<br />

K<br />

w<br />

ä<br />

e<br />

re<br />

a<br />

R<br />

d<br />

d<br />

u<br />

aus der<br />

Oberratsstube<br />

den Geistlichen durch die Erzpriester überbracht<br />

wer den. Er hätte darum auch dem Amtsschreiber sogleich das<br />

Schreiben zurückgegeben. So fuhr er noch immer weiter fort, über<br />

die<br />

Vergewaltigung der Kirche und ihrer Diener zu eifern und ließ<br />

den Erzpriester nicht zu Wort kommen. Dieser ging zu seinem<br />

Tisch, nahm von diesem einen großen Brief, reichte ihn dem<br />

Diakonus und sagte: „Ehe wir weiter reden, möchte ich den Herrn<br />

Diakonum bitten, dieses von dem Herrn Kanzler an mich<br />

gerichtete Schreiben zu lesen“. Schwindovius nahm seine Brille,<br />

putzte sie ab, setzte sie regelrecht auf die Nasenspitze und ging<br />

mit dem Schreiben an das Fenster. Der Brief lautete:<br />

Euer Hoch Ehrwürden belieben doch mit dem Herrn Diakono zu<br />

conferiren, weshalb er der Aufforderung der Oberratsstube, sich<br />

mit der Jungfer Tochter und seinem Knecht in <strong>Angerburg</strong> zur<br />

Recognoscirung eines Delinquenten, der Ihn auf offener Straße am<br />

31. Octobris anni präteriti 717 angefallen, so lhm von dem Amtsschreiber<br />

eingehändiget worden, mit so unverständigen Worten<br />

gegen die Oberrathsstube ausgelassen und selbiger zu folgen<br />

verweigert. Ob ich gleich dieses alles nicht glaube und von des<br />

Herrn Diakoni Pietät ein viel besseres concept 718 habe, so möchte<br />

dennoch, damit an Kurfürstl. Durchlaucht Dienst nichts versäumet<br />

714<br />

recognoscere [lat.] – wiedererkennen, mustern, identifizieren<br />

715<br />

anni priori [lat.] – vorigen Jahres<br />

716<br />

rescriptum [lat.] – Bescheid, Schriftstück<br />

717<br />

anni praeteriti [lat.] – vorhergehenden Jahres<br />

718<br />

conceptus [lat.] – (auch) Gedanke, Vorstellung<br />

447


werde, dass Euer Hoch Ehrwürden belieben möchten, die<br />

Umstände zu vernehmen und nach Befinden dem Herrn Diakono<br />

an die Handt zu geben, dass Er der Aufforderung der<br />

Oberratsstube stets Folge zu leisten habe, wenn auch sothanes<br />

Rescriptum, wie hier geschehen, aus Unaufmerksamkeit der<br />

Kanzley, Ihm nicht durch Euer Hoch Ehrwürden, sondern durch<br />

das Amt zugefertiget. Darff Ich mir noch in der Sache eine nähere<br />

Information<br />

ausbitten, werden Euer Hoch Ehrwürden mich<br />

ungemein verbinden, womit mich Dero beharrlichen gewogenheit<br />

empfehle. Kbg., d. 17. January 1688. gez. v. Kreytzen m.pr.<br />

Esther nur nicht nach <strong>Angerburg</strong> reisen müsste“.<br />

heute zu schreiben und zu dem Amtsschreiber zu gehen?“<br />

719<br />

„Nun, was soll ich dem Herrn Kanzler Exzellenz antworten?“<br />

fragte Breuer, da der Diakonus schwieg. „Haltet Ihr, Herr, Eure<br />

Weigerung, dem Befehl zu folgen, aufrecht?“<br />

„Wenn sie mir aus der Oberratsstube nur nicht das Rescriptum<br />

durch den Amtsschreiber geschickt hätten“, sagte Schwindovius.<br />

„Ihr habt aber doch, Herr, eben gelesen“, sagte Breuer, „dass<br />

ein Versehen in der Kanzlei geschehen ist. Der Schreiber hatte<br />

wohl noch für andere Leute Vorladungen auszufertigen, welche an<br />

die Ämter zur Bestellung geschickt wurden, und da hat er denn<br />

das Eurige aus Versehen an das Amt Lyck geschickt, anstatt an<br />

mich zur Aushändigung für Euch“.<br />

„Ja, aber der Kanzler hat’s doch durch seine Namensunterschrift<br />

gut geheißen“, wendete Schwindovius ein.<br />

„Wenn Ihr meinem Rate folgen wollt“, unterbrach ihn der<br />

Erzpriester, „so setzt Euch gleich heute hin, verfasst Euer<br />

Entschuldigungsschreiben an die Oberratsstube. Versprecht, zum<br />

bestimmten Tage in <strong>Angerburg</strong> zu sein, und bittet wegen Eures<br />

Betragens um Verzeihung“. Schwindovius ließ den Kopf hängen.<br />

„Dann möchte ich Euch raten, sobald Ihr könnt, zu dem Herrn<br />

Amtsschreiber Nietzki, Eurem langjährigen Beichtkind, zu gehen<br />

und Euch wegen der gegen ihn ausgestoßenen heftigen und<br />

unbedachten Worte zu entschuldigen, damit die unangenehme<br />

Sache beigelegt werden kann. Er hat’s gut mit Euch gemeint, dass<br />

er Euch das Schreiben nicht durch den Amtsdiener geschickt,<br />

sondern selbst überbracht hat“.<br />

„Das möchte ich schon alles tun“, sagte Schwindovius, „wenn<br />

ich mit der<br />

„Da wird sich der Herr Kanzler von Euch wohl nichts<br />

vorschreiben lassen“, sagte Breuer. „Ihr versprecht mir <strong>als</strong>o, noch<br />

719 manu propria [lat.] - eigenhändig<br />

448


Schwindovius zögerte etwas, versprach es aber doch endlich<br />

dem Erzpriester in die Hand und ging gesenkten Hauptes heim, wo<br />

er sich in seiner Stube einschloss. Gegen Abend rief der Diakonus<br />

durch die Tür der Hinterstube, wo die Muhme und seine Töchter<br />

spannen: „Esther, komme einmal hinein“. Esther folgte dem Vater,<br />

der vollständig zu einem Ausgang gerüstet vor ihr stand, in seine<br />

Stube, wo sie am Fenster schweigend stehen blieb, während<br />

Schwindovius einige Gänge durch das Zimmer machte, plötzlich<br />

blieb er vor ihr stehen und rief: „Esther, wir müssen Mittwoch über<br />

acht Tage nach <strong>Angerburg</strong> fahren!“ Esther fuhr auf, ein freudiger<br />

Schrecken ging durch ihre Glieder, Schwindovius bemerkte es. „Du<br />

darfst Dich nicht weiter darüber freuen, mit dem Thomas ist’s<br />

nicht. Ich werde dafür zu sorgen wissen, dass Du dort mit ihm<br />

kein Wort sprichst“.<br />

„Ich weiß wohl, mein Vater“, sagte<br />

Esther mit verhaltenen<br />

Tränen. „dass Ihr den Thomas ungehört verdammt, weil Ihr seinen<br />

Brief anzunehmen und zu lesen Euch geweigert habt“.<br />

„Was hast Du mir aufzulauern?“ fuhr der Alte heftig auf.<br />

„Aber Vater“, sagte Esther gekränkt, „ich war ja am Freitag vor<br />

14 Tagen gar nicht zu Hause, ich war ja dam<strong>als</strong> in Ostrokollen“.<br />

„Das ist wahr“, sagte der Diakonus nach einigem Besinnen,<br />

„doch das ändert nichts. Fahren müssen wir nach <strong>Angerburg</strong>. Ich<br />

habe hier einen Brief an die Oberratsstube geschrieben. So schwer<br />

ist mir noch keiner in meinem langen Leben zu schreiben<br />

gewesen. Der muss morgen abgehen, auch ein Brief an meinen<br />

alten Freund, den Pfarrer Helwing in <strong>Angerburg</strong>. Hab’ ihn gebeten,<br />

dass er uns beide einige Tage beherbergt. Jetzt muss ich noch<br />

einen sauren Gang auf’s Schloss machen. Nun besorge Dir alles,<br />

was zur Reise nötig ist. Jetzt kannst Du gehen“. Schwindovius<br />

steckte die Briefe ein und verließ das Haus. Esther blieb in des<br />

Vaters Stube zurück, setzte sich in den<br />

Armstuhl, legte die Hände<br />

vor das Gesicht und weinte bitterlich.<br />

Mittwoch, den 4. Februar fuhr Joseph des Morgens um 5 mit<br />

dem Schlitten vor die Haustür des<br />

Kaplanhauses in Lyck. Zu<br />

seinem Ärger hatte er die stattliche Polenmütze und den Leibgurt<br />

nicht anlegen dürfen. In der Hinterstube war nach der<br />

Morgenandacht Marie beschäftigt, die Wegekost-Lischke zu füllen.<br />

Der Diakonus und Esther nahmen ihre Pelze. Die alte Muhme band<br />

Esther ein Stirntuch um, da das Kind doch nicht ohne Stirntuch in<br />

der Winterszeit fahren könne. Der kleine Bernhard wollte überall<br />

helfen. Endlich war man bereit.<br />

449


„Nun gehorche hübsch der Muhme und zanke Dich nicht mit<br />

Marie“, sagte Esther zu ihrem Bruder. Dann nahm sie Abschied.<br />

Schwindovius war still und finster. Von dem ganzen<br />

zurückbleibenden Hauspersonal wurden die Reisenden an den<br />

Schlitten geleitet und fuhren ab.<br />

In Grabnick<br />

urden. In der<br />

hten,<br />

Braugerste zu Markt gekommen ist. Wer kommt<br />

Worten reichte er Jasch eine Münze und wendete sich wieder den<br />

renden Kunden zu. Doch nur mechanisch verrichtete er das<br />

ne Gedanken weilten bei Esther. Bis zur<br />

getriebe.<br />

720 wurde die erste Station gemacht, wo<br />

Schwindovius lange mit dem alten Mrongovius conferirte.<br />

Der Schlittweg war gut und die Reisenden kamen am Freitag<br />

gegen Abend wohlbehalten in <strong>Angerburg</strong> an, wo sie vom Pfarrer<br />

Helwing und seiner Familie freundlich empfangen w<br />

Stadt <strong>Angerburg</strong> brachte der Sonnabend viel Marktverkehr, weil<br />

die Landleute die gute Schlittbahn noch benutzen wollten, um ihr<br />

Getreide zur Stadt zu bringen.<br />

Thomas hatte alle Hände voll zu tun; da kam Jasch in den Laden<br />

gestürzt, drängte sich durch die Menge zu seinem Herrn durch und<br />

rief atemlos:<br />

„Herr Thomas, Herr Thomas, ratet einmal, wen ich gesehen<br />

habe“.<br />

„Mache keine Dummheiten“, sagte Thomas ärgerlich, „du siehst<br />

doch, wie ich beschäftigt bin. Nun gibst Du mir Rätsel auf“.<br />

„Ach Herr“, rief Jasch, ohne die Zurechtweisung zu beac<br />

„mein bester Freund ist hier, der Joseph aus Lyck. Gestern Abend<br />

ist er mit seinem Herrn, dem Kaplan, und der Jungfer Esther<br />

hergekommen. Sie sind beim Pfarrer und werden einige Tage<br />

bleiben“.<br />

Thomas setzte den Schubkasten, den er in der Hand hielt,<br />

nieder. Esther war hier mit ihrem Vater.<br />

„Ich ging heute, wie Ihr mir befohlen hattet“ erzählte Jasch<br />

eifrig weiter, „auf den Markt und in die benachbarten Straßen, um<br />

zu sehen, ob gute<br />

da angegangen? Mein Joseph. Na, die Freude, ich ließ ihn auch<br />

nicht mehr los und fragte ihn, wie er herkommt“.<br />

„Gehe nur wieder an Dein Dir aufgetragenes Geschäft“, sagte<br />

Thomas, „und wenn Du mit Joseph wieder zusammen kommst, so<br />

kannst Du mit ihm eine oder zwei Maaß Bier trinken“. Mit diesen<br />

har<br />

gewohnte<br />

Geschäft, sei<br />

Dunkelheit<br />

währte das Markt<br />

720 Grabnick – Kirchdorf 12 km nordwest von Lyck<br />

450


Endlich konnte Thomas sich frei machen und eilte zu Nebe.<br />

„Guten Abend, lieber Schwager“, sagte Thomas, in die Stube<br />

tretend, wo der Diakonus bei der Lampe eifrig mit seiner Predigt<br />

beschäftigt war. „Entschuldige, dass ich Dich zu ungelegener Zeit<br />

störe, aber ich hörte, dass der alte Schwindovius<br />

mit der Esther<br />

seit gestern Abend bei unserm Pfarrer Helwing ist. Hast Du etwas<br />

von ihm gesehen oder gehört?“<br />

„Ich weiß von nichts“, erwiderte Nebe, „nur heute früh ließ mich<br />

der Pfarrer bitten, für ihn die deutsche Beichte zu halten, und<br />

morgen auch die deutsche Predigt zu übernehmen, da er Gäste<br />

bekommen habe. Die Vesper würde morgen der Rektor Trantz<br />

nicht<br />

sich zur Türe. Diese öffnete sich und es trat Frau Anna, in ein<br />

weites Spreittuch gehüllt, ihr Töchterchen auf dem Arm, hinein.<br />

ier finde, lieber Thomas“, rief<br />

irst doch <strong>jetzt</strong> nicht<br />

tun“, sagte Thomas.<br />

721<br />

halten. Also der alte Schwindovius und seine Tochter sind die<br />

Gäste. Ich wollte schon morgen Nachmittag zum Pfarrer<br />

hinübergehen, aber nun bleib’ ich zu Hause, mit dem<br />

Schwindovius will ich nicht zusammentreffen. Wenn ich ihn… Na,<br />

es ist überwunden!“<br />

„Aber hast Du denn keine Ahnung, weshalb der Diakonus<br />

Schwindovius und die Esther hergekommen sind?“ fragte Thomas,<br />

„ich glaubte schon, dass sie wegen des Schieler, der übermorgen<br />

nochm<strong>als</strong> verhört werden soll, wozu ich auch eine Vorladung durch<br />

das Amt bekommen habe, hergekommen wären. Das kann aber<br />

nicht der Fall sein. Sie haben ja ihre Aussagen in Rastenburg<br />

schon gemacht“.<br />

„Ich kann Dir darüber nichts sagen“, meinte Nebe, „aber das<br />

weiß ich, dem alten Schwindovius gehe ich aus dem Weg. Er hat<br />

mich doch gar zu sehr geärgert“.<br />

„Nun, ich will Dich nicht weiter aufhalten“, sagte Thomas. „Ich<br />

musste aber zu Dir kommen, denn ich habe keinen Menschen, mit<br />

dem ich über Esther reden kann“.<br />

„Die Wahrheit zu sagen“, meinte Nebe, „ich hab’ noch heute<br />

Abend tüchtig zu tun. Hab’ an die deutsche Predigt noch<br />

denken können; aber komm’ morgen Nachmittag zu mir“.<br />

Damit reichte er dem Schwager die Hand, und Thomas wendete<br />

„Ach, das ist schön, dass ich dich h<br />

sie, dem Bruder die Hand reichend. „Du w<br />

gleich<br />

gehen wollen“.<br />

„ Aber der Jacob hat ja zu<br />

721<br />

Der Rektor Andreas Trantz, der seit<br />

1686 Rektor in Angerb. gewesen war, wurde 1688<br />

Pfarrer in Kutten, wo er 1699 starb.<br />

451


„Komm in die Hinterstube, da stören wir ihn nicht“.<br />

Damit führte sie den Bruder in die daneben liegende Stube,<br />

stellte das kleine Mädchen an die Erde und band ihm die Tücher<br />

ab, während Thomas sich niedersetzte.<br />

„Ich bin nabern<br />

mit der<br />

r, dass ich deine Schwester bin“.<br />

kommen sind?“<br />

Alten hab’ ich gar nicht gesehen, der war mit dem<br />

farrer in der Stube nebenan in eifrigem Gespräch. Aber was ist<br />

die Esther für ein verständiges, liebes, freundliches Mädchen. Nur<br />

sehr bleich und traurig sieht sie aus. Ich bin mit ihr in der kurzen<br />

Zeit so bekannt geworden, <strong>als</strong> wenn sie meine jüngere Schwester<br />

wäre. Mit der kleinen Euphemia hat sie sich sehr viel abgegeben.<br />

Die saß fast immer auf ihrem Schoße, und Esther küsste sie auf<br />

die Augen. Ich habe mich mit ihr sehr nett unterhalten, musste ihr<br />

viel aus unserm Städtchen erzählen. Dabei verging mir die Zeit so<br />

schnell, dass ich ganz verwundert war, <strong>als</strong> die Lampe<br />

hereingebracht wurde. Aber ich plappere und denke gar nicht<br />

daran, dass ich Dir nicht zu essen und trinken vorgesetzt habe.<br />

Erlaube mir einen Augenblick, ich will Dir wenigstens von meiner<br />

Leberwurst zu schmecken bringen, bis das Abendbrot fertig ist“.<br />

Mit diesen Worten eilte Anna in die Küche, um das Versprochene<br />

722 gewesen“, plauderte Frau Anna, „hörte heute<br />

Morgen von unserer Lotte, dass der Diakonus Schwindovius aus<br />

Lyck und seine Tochter Esther bei Pfarrers zu Gast sind. Des<br />

Pfarrers Mine 723 hatte es ihr erzählt. Mit denen bist du ja im Herbst<br />

von Königsberg gekommen. Also nachmittags geh’ ich<br />

Euphemia in’s Pfarrhaus hinüber. Der Frau Pfarrerin schien es sehr<br />

zu passen, dass ich hinkam, weil sie Vielerlei zu tun hatte und<br />

nicht Zeit hatte, der Esther Gesellschaft zu leisten. Sie machte<br />

mich mit ihr bekannt und sagte ih<br />

„Kannst Du mir nicht sagen“, unterbrach sie Thomas, „weshalb<br />

die Lycker herge<br />

„Ach, Vater und Tochter haben sich, so wie du, am Montag auf<br />

dem Amt wegen des Räuberkerls <strong>als</strong> Zeugen zu stellen“, erwiderte<br />

Anna. „Den<br />

P<br />

zu holen. Als sie nach kurzer Zeit mit Tellern, Brot usw.<br />

hineinkam, hatte Thomas die kleine Nichte auf dem Schoß und<br />

küsste ihre Augen, wie Esther es getan hatte. Er setzte das Kind<br />

auf die Erde, stand auf und sah nach der Uhr.<br />

„Was“, rief Anna, „du willst doch nicht gehen? Das lass nur sein,<br />

heute lasse ich dich nicht los. Du musst heute unser Gast sein“.<br />

722<br />

Plattdeutscher Ausdruck für den Austausch von Neuigkeiten und Gerüchten zwischen<br />

Nachbarn.<br />

723<br />

Eine Magd.<br />

452


„Aber der Vater hat es gern, wie du weißt“, sagte Thomas,<br />

„wenn wir alle zum Schluss der Woche bei der Abendandacht<br />

versammelt sind“.<br />

„Wie spät ist’s denn?“ rief Anna, eifrig den Tisch deckend. „Erst<br />

halb sieben, warte noch ein Viertelstündchen. Die Lotte bringt<br />

gleich die Eier. Ohne zu Essen kommst du mir nicht weg. Zum<br />

Abendessen will ich dich weiter nicht halten, die Euphemia nehme<br />

ich mit in die Küche“.<br />

„Lass mir das Kind hier“, sagte Thomas. „Es ist müde“.<br />

Als die Mutter zurückkam, lag das kleine Mädchen in Thomas<br />

Armen und schlief.<br />

Im Hausflur des Vaterhauses empfing Wilhelm seinen Bruder<br />

und sagte: „Thomas, der Vater hat heute Abend sehr auf Dich<br />

gewartet. Er ist schon ganz ungeduldig und fragt alle<br />

Viertelstunde, ob du noch nicht zurück bist. Er muss etwas sehr<br />

Wichtiges mit dir zu besprechen haben“.<br />

„Wo finde ich denn den Vater?“ fragte Thomas.<br />

„Geh nur gleich durch die Hinterstube“, sagte Wilhelm. „Der<br />

Vater sitzt am Kamin im Stübchen“.<br />

Thomas eilte hin. „ Wo bleibst du so lange, mein Sohn?“, fragte<br />

der<br />

Vater, <strong>als</strong> Thomas vor ihm stand, „wo bist du denn gewesen?“<br />

„Es hat eben erst sieben geschlagen“, sagte Thomas.<br />

„Ich war<br />

bei der Schwester Anna. Sie ließ mich nicht fort. Ich musste erst<br />

ihre Wurst schmecken. Hätte ich gewusst, dass Ihr auf mich<br />

wartet…“<br />

„Schon gut, mein Sohn“, sagte der Alte, „setze dich einmal her.<br />

Ich habe in Erfahrung gebracht, dass der Diakonus Schwindovius<br />

mit<br />

seiner Tochter hergekommen ist. Nun halte ich es für meine<br />

väterliche Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, dass nach<br />

dem, was geschehen ist, von deiner Seite auch nicht die<br />

allergeringste Annäherung zu Vater und Tochter stattfinden darf.<br />

Versprich mir das, mein Sohn“.<br />

„Ja, Herzensvater, das verspreche ich Euch“, sagte Thomas.<br />

„Zwischen mir und Esther ist’s vorbei. Ich will, wenn ich mit ihr<br />

auf dem Amt zusammentreffen sollte, was ich nicht wissen kann,<br />

so tun, <strong>als</strong> ob ich sie nie gesehen hätte, so schwer mir’s auch<br />

fällt“.<br />

„Das ist das Vernünftigste, was du tun kannst“, sagte der Alte.<br />

„Der Jasch kam heute in der Dämmerung mit dem fremden Knecht<br />

aus Lyck auf unsern Hof. Beide waren ziemlich schräge, sie gingen<br />

in den Stall. Da sie sehr lange nicht zurückkamen, ging ich ihnen<br />

nach, denn es war schon ganz finster geworden, und ich fürchtete,<br />

453


die betrunkenen Knechte könnten unvorsichtig mit dem Licht<br />

umgehen. Jasch hatte auch schon die Laterne angesteckt. Beide<br />

standen vor der Lade des Jasch und er zeigte seinem Freund<br />

Joseph die neue Mütze und den farbigen Gürtel. Joseph sagte nun,<br />

er hätte beides noch schöner und schalt auf seinen Herrn, der die<br />

Sachen ihm zu tragen nicht gestatte. Ich rief beide Knechte herein<br />

und setzte sie bei einer Maaß Bier in den<br />

Hausflur. Joseph war<br />

sehr redselig und erzählte von seinen Schlittenfahrten nach<br />

Ostrokollen, nach Grabnick und zuletzt nach <strong>Angerburg</strong>. In<br />

Grabnick, wo die Reisenden mehrere Stunden bei dem dortigen<br />

Pfarrer gewesen, wäre der alte Pfarrer noch dem Diakonus zum<br />

Schlitten nachgegangen, hätte ihm die Hand gereicht und<br />

mehrm<strong>als</strong> gesprochen: „Bleibe ja fest“.<br />

<strong>Angerburg</strong>er Schloss und „Wasserkunst“ (Wasser-Triebwerk in die 2. Schloss<br />

– Etage<br />

und über ein Holzröhrensystem in die 6 Stadtbrunnen, gebaut 1740 unter dem<br />

Amtshauptmann General v. Katt) (Aufn. vor 1909).<br />

454


33. Der gescheiterte Fluchtversuch Schielers aus dem<br />

<strong>Angerburg</strong>er Schlossgefängnis<br />

Am folgenden Tag, 5. Sonntag nach Epiphanias, dem 8. Februar,<br />

war Thomas schon früher auf. Die Kirchenbesucher vom Land<br />

kamen mit Schlitten in das Städtchen. Die Sonne ging auf und<br />

beleuchtete hell und freundlich die beschneiten Straßen. Der Vater<br />

ging<br />

mit Thomas in Begleitung von Barbara zur Kirche, die Mutter<br />

und Wilhelm sollten später die Vesper besuchen. Als Thomas die<br />

Anhöhe zur Kirche hinaufstieg, wendeten sich seine Augen<br />

unwillkürlich nach rechts, am Garten des Diakonus vorbei, zum<br />

Pfarrhaus, wo Esther weilte, <strong>jetzt</strong> nicht mehr seine Esther. Der<br />

Vater ging mit seinen Kindern durch den Hauptgang der Kirche<br />

und begab sich in den Rats-Stand, während<br />

Thomas und Barbara<br />

ihren gewöhnlichen Platz in der ersten Bank der Reihe rechts vom<br />

Altar nahmen, es war noch nicht eingeläutet. Jetzt begannen die<br />

Glocken in langgezogenen Tönen. Die Kirchenbesucher wendeten<br />

die Köpfe dem Eingang zu und flüsterten. Da kam den Hauptgang<br />

hinabgeschritten die stattliche Person des Pfarrers<br />

Helwing. Neben<br />

ihm ging etwas gebückt der Diakonus Schwindovius. Hinter den<br />

Männern ging Frau<br />

Katharina Helwingin und an ihrer rechten Seite<br />

Esther, mit niedergeschlagenen Augen. Als sie am Ende des<br />

Ganges sich nach rechts wendete, sah sie sich Thomas gegenüber.<br />

Ihre Blicke trafen sich und Thomas konnte nicht unterlassen,<br />

Esther mit den Augen zu grüßen. Sie erschrak, blieb stehen,<br />

errötete und eilte, sich besinnend, der Frau Pfarrerin nach in die<br />

Bank des Pfarrherrn. Dieser kleine Vorfall wäre wohl von den<br />

Kleinstädtern bemerkt worden, wenn nicht in dem Augenblick<br />

beide Turmtüren aufgerissen worden wären, durch welche<br />

sporenklirrend der gebietende<br />

Herr Amtshauptmann Gottfried v.<br />

Perband hineingeschritten wäre. An seiner rechten Seite kam ein<br />

schwarz gekleideter Herr mit großer Perücke und Degen:<br />

„Der Herr Hofgerichtsrat“, hörte Thomas<br />

eine Stimme hinter sich<br />

flüstern.<br />

Die Herren begaben sich auf das kurfürstliche Chor<br />

esicht<br />

724 und ließen<br />

sich auf den hochlehnigen Stühlen nieder. Der Gottesdienst<br />

begann. Thomas sah über sein Gesangbuch in das holde Ang<br />

von Esther, die neben der Frau Katharina zu deren linken Seite<br />

saß. Lebhaft gedachte er des Neujahrsmorgens in der Kirche in<br />

724<br />

Priviligierte Plätze für den Inhaber des Patronats einer Kirche – in diesem Fall des<br />

kurfürstlichen Landesherrn bzw.<br />

seiner höheren Beamten.<br />

455


Lyck. Er konnte seine Augen nicht von der lieblichen Gestalt<br />

abwenden. Es war ja das letzte Mal, dass er sie leibhaftig vor sich<br />

sah. Dann war ja alles, alles aus. Der Gottesdienst wurde in der<br />

gewöhnlichen Weise gehalten.<br />

Esther wohnte demselben<br />

andächtig bei, was man von Thomas nicht behaupten konnte, da<br />

er mehr auf Esther <strong>als</strong> auf die Worte des Schwagers achtete. Nicht<br />

ein einziges Mal wendete Esther ihre Augen auf Thomas.<br />

Als Nebe<br />

die Gemeinde mit dem Segen entlassen hatte, eilte Alles dem<br />

Ausgang zu. Pfarrer Helwing ließ erst noch den Herrn<br />

Amtshauptmann mit seinem Gast vorgehen und folgte dann mit<br />

den Seinigen. Bei Thomas ging Esther mit niedergeschlagenen<br />

Augen vorüber. Dieser folgte mit der Schwester Barbara. In der<br />

Halle des Turms begrüßte der Herr Amtshauptmann den Herrn<br />

Pfarrer und begab sich mit dem Herrn Hofgerichtsrat zu seinem<br />

Schlitten, den die Polen, die zur polnischen Kirche kamen,<br />

neugierig umstanden, um die Herren abfahren zu sehen. Thomas<br />

folgte mit den Augen der Gestalt Esthers bis zur Haustür des<br />

Pfarrhauses. Schwindovius und Helwing gingen zuerst hinein,<br />

dann<br />

folgte Frau Katharina und zuletzt Esther. Auf der Schwelle blieb sie<br />

stehen, wendete sich um, ihre Augen überliefen die Menge und<br />

blieben bei Thomas haften. Dieser erhielt einen so liebevollen<br />

Blick, dass er wie geblendet stand, und <strong>als</strong> Esther verschwunden<br />

war, wie ein Träumender dem Vaterhaus zuging. Bei Tisch war er<br />

sehr still.<br />

Nach der Vorlesung der Predigt am Nachmittag während der<br />

polnischen Vesper sagte Thomas: „Wenn Ihr nichts<br />

dagegen habt,<br />

lieber Vater, so gehe ich zu dem Schwager Nebe, den ich gestern<br />

nur einen Augenblick sprechen<br />

konnte“.<br />

„Gehe, mein lieber Sohn“, sagte der Alte, „grüße ihn und die<br />

Anna, sage ihr, sie möchte die kleine Euphemia uns herschicken“.<br />

Thomas küsste Vater und Mutter die Hand und ging. Im Hausflur<br />

kam ihm wedelnd der Cerber<br />

dem Hund, ihn zu begleiten. Esther hat<br />

gehabt, denn <strong>als</strong> Thomas um die Ecke bog, kamen ihm schon die<br />

letzten Polen von der Kirche her entgegen. Auch den Glöckner sah<br />

er heimeilen. Als Thomas den Kirchenberg hinaufstieg, sah er die<br />

Tür der Kirche weit geöffnet. Er konnte es nicht unterlassen, in<br />

725 entgegen. Liebkosend streichelte<br />

Thomas ihn und bedeutete<br />

den treuen Hund gefüttert und gestreichelt, dachte er. Der Herr<br />

Rektor Trantz hatte es mit der polnischen Vesper recht eilig<br />

725<br />

Cerberus – Höllenhund, der in der griechischen Mythologie den Eingang zur Unterwelt<br />

bewachte.<br />

456


das Gotteshaus zu gehen, um wenigstens die Stellen zu sehen,<br />

welche Esthers Fuß betreten hatte.<br />

ehen und vernahm gleich darauf eine andere<br />

ollte Thomas nicht zusammentreffen, am<br />

enigsten im Gotteshause. Thomas ging daher rechts die Treppe<br />

in die Höhe, welche auf das Orgelchor führte. Hier, wo er <strong>als</strong><br />

Knabe so oft gewesen, wo er jede Stelle kannte, wollte er<br />

abwarten, bis der Diakonus Schwindovius sich entfernt hätte,<br />

welchem, wie er vermutete, der Pfarrer Helwing nach der<br />

polnischen Vesper seine Kirche zeigen wollte. Thomas sah, wie die<br />

beiden Geistlichen in eifrigem Gespräch durch den Gang von der<br />

Sakristei in das Schiff der Kirche traten. Hinter ihnen kamen die<br />

Frau Kaplanin Nebin und - Esther.<br />

„Ich, an deiner Stelle“, hörte Thomas den Diakonus<br />

Schwindovius zu Helwing sagen, „würde das Brett in der Tür der<br />

Sakristei mit dem Axthieb des Pollacken oder Tataren wegnehmen<br />

und ein neues anschlagen lassen“.<br />

„Mein Schwiegervater und ich“, sagte Helwing, „haben es zum<br />

Andenken in der Tür der Sakristei gelassen, ebenso wie hier die<br />

angekohlte Stelle an den Frauenbänken. Lass’ unsere Kinder doch<br />

dadurch erinnert werden, wieviel ihre Voreltern von den Tataren<br />

zu leiden hatten. Sieh dort oben das Marienbild haben wir aus<br />

diesem Grund auch nicht aus der Kirche entfernen lassen“.<br />

„Na, das hätte ich denn doch an Deiner Stelle längst wegbringen<br />

lassen“, rief Schwindovius. „Wie gehört die mit ihrem<br />

Heiligenschein in eine lutherische Kirche?“<br />

„Das wäre ja auch geschehen“, sagte Helwing, „<strong>als</strong> die Kirche<br />

von dem Greuel der Verwüstung, den die Heiden an heiliger<br />

Stätte 726 “Lege Dich nieder, Cerber, und warte auf mich“, sagte Thomas.<br />

Gehorsam legte sich der Hund an der Ecke des Turms nieder.<br />

Thomas ging durch die Vorhalle, öffnete und schloss die Tür,<br />

betrat das Schiff der Kirche, da hörte er eine Männerstimme. Er<br />

blieb st<br />

Männerstimme, welche er <strong>als</strong> die des Diakonus Schwindovius<br />

erkannte. Mit ihm w<br />

w<br />

vollführt hatten, gereinigt wurde, wenn nicht das alte<br />

Bild, das noch aus katholischer Zeit herstammt, der Kirche ein<br />

Schutz gewesen wäre, wie ich Dir zuvor erzählte“.<br />

„Ist denn diese Kirche eine katholische gewesen?“ fragte<br />

Schwindovius. „In diesem Kirchengebäude“, erwiderte Helwing,<br />

„haben die Päpstler niem<strong>als</strong> ihre Abgötterei getrieben.<br />

Selbiges ist<br />

vor<br />

80 Jahren durch den damaligen Amtshauptmann Burggraf v.<br />

726 Bibelzitat: Matth. 24,15.<br />

457


Dohna, Anno 1605, zu bauen angefangen worden, welcher dam<strong>als</strong><br />

Verweser<br />

ßen am Turm gezeigt habe. Der Arbeitslohn für die<br />

wohl der erste lutherische Pfarrer in <strong>Angerburg</strong>?“<br />

„Nun, die ersten mögen im Schloss gepredigt haben“, sagte<br />

Helwing halb ärgerlich. „Wa weiß ich, denn unsere<br />

Kirchenre in einer<br />

ölzernen Kirche (oder Kapelle), welche 1608 mit der Stadt<br />

us. „Ich glaubte, die wären erst in späterer Zeit<br />

der Pfarrer Johann Gsimerski. Ich habe<br />

noch ein Rescript von 1572 gefunden, darin dem Amtshauptmann<br />

ngerburg verwiesen wird, dass er die Stelle bei der Kirchen<br />

727 des Amtes <strong>Angerburg</strong> war. Aber erst unter seinem<br />

Successor 728 Andreas v. Kreytzen ist die Kirche vollendet worden,<br />

daher sind auch die beiden in Stein gehauenen Wappenschilder 729 ,<br />

die ich Dir au<br />

Wappenschilder hatte 30 Mark gekostet. Als die Kirche fertig war,<br />

hat sie der Pfarrer Capellanus 730 Kaulperschke eingeweiht“.<br />

„Das war<br />

fragte Schwindovius. „O, nein“, erwiderte Helwing, „schon Anno<br />

1530 ist ein lutherischer Pfarrer hier gewesen. Dieser oder sein<br />

Nachfolger ist Anno 1537, weil er noch in seinem alten Irrtum des<br />

Papstums steckte, abgedankt worden. Nach ihm ist ein Pfarrer<br />

Batocki (Batotzki) von Insterburg hergekommen“.<br />

„Wenn aber erst vor 80 Jahren die Kirche erbaut wurde“, sagte<br />

Schwindovius zweifelnd, „wie können dann schon Pfarrer hier<br />

gewesen sein?“<br />

s<br />

chnungen gehen bis 1552 zurück, oder<br />

h<br />

abbrannte. Durch ein Rescript vom 14. Juni 1608 ist eine General-<br />

Collecte im ganzen Lande zur Erbauung der abgebrannten Kirche<br />

und Kirchengebäude in <strong>Angerburg</strong> ausgeschrieben“.<br />

„Die Collecten waren <strong>als</strong>o dam<strong>als</strong> schon an der Tagesordnung“,<br />

sagte Schwindovi<br />

in solcher Menge aufgekommen“.<br />

„Mein Vorgänger vor 100 Jahren“, fuhr Helwing nach dieser<br />

Unterbrechung fort, „war<br />

zu A<br />

habe besetzen lassen, ohne das Jus patronatus 731 der Herrschaft<br />

in Betracht zu ziehen. Gsmerski bekam einen Diakonum 1551. Der<br />

wurde verpflichtet, litauisch zu predigen. Mein Schwiegervater, der<br />

Magister Uriel Bertram hat <strong>als</strong> Diakonus hier noch jeden Sonntag<br />

litauisch gepredigt. Als er aber nach neun Monaten Pfarrer wurde<br />

727<br />

Stellvertreter des Amtshauptmanns.<br />

728<br />

successor [lat.] - Nachfolger<br />

729<br />

S. Bild S. 103<br />

730<br />

capellanus [lat.] – Hilfsgeistlicher. Urspr. Bezeichnung für den zweiten ordinierten<br />

Geistlichen an einer evang. Kirche, abgelöst durch die Bezeichnungen Diakon und Prediger.<br />

731<br />

ius patronatus [lat.] – Privileg des Schutzherrn.<br />

458


und der Diakonus Gembalowski nicht litauisch konnte, hat er alle 4<br />

Wochen eine litauische Predigt gehalten. Nach dem Einfall der<br />

Tataren, <strong>als</strong> so viele von den Kirchspielskindern erschlagen,<br />

weggeschleppt und an der Pest gestorben waren,<br />

habe ich in den<br />

ersten Jahren meines Dienstes hier, pro Jahr zweimal einen<br />

litauischen Gottesdienst gehalten. Später starben die wenigen<br />

Alten aus, und das junge Volk ist <strong>jetzt</strong> ganz polnisch geworden“.<br />

„War denn Dein Schwiegervater der Nachfolger des Pfarrers<br />

Gsimerski<br />

horrendo quatuor personarum<br />

732 ?“ fragte Schwindovius.<br />

„Nein, vor ihm war der Kofnatzki 733 , vor diesem der<br />

Kaulperska 734 , welcher diese Kirche geweiht hat, und dessen<br />

Vorgänger war der Pfarrer Elias Wolff 735 , der von Arnau 736 herkam.<br />

Der ist ein großer Blumenfreund gewesen. Mein Georg Andreas<br />

hat im Pfarrgarten noch immer nach den ausländischen Pflanzen<br />

gesucht, die der Wolff da gehabt hat“.<br />

„Muss ein gelehrter Mann gewesen sein, der Wolff“, sagte<br />

Schwindovius. „Hat er denn keine Schriften hinterlassen?“<br />

„Soviel ich weiß nicht“, erwiderte Helwing, „aber sein Vorgänger,<br />

der Pfarrer Vincentius Barfuß 737 , der ein Ungar gewesen, hat Anno<br />

1593 in Quarto drucken lassen unter dem Titel: Vincentii Barfuß -<br />

Vera historia de Calamitosa et<br />

interitu, qui accidit in pago Kehl Boruss-Dant. 1593 738 “.<br />

Anna hatte mit Esther dem Gespräche der beiden Geistlichen<br />

zugehört, <strong>als</strong> Pfarrer Helwing aber mit Latein anfing, wurde es der<br />

Frau Kaplanin zu langweilig. „Soll ich Ihr nicht, Jungfer Esther“,<br />

732<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1550-1574.<br />

733<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1624-1630.<br />

734<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1604-1624.<br />

735<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1594-1604.<br />

736<br />

Kirchdorf im Landkr. Königsberg.<br />

737<br />

Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> 1574-1593.<br />

Er wird bei Grossmann: Gesammelte Nachrichten der Stadt Schippenbeil (1778), S. 125 nur<br />

unter seinem Vornamen Vincentius bei den Diakonen genannt und soll nach derselben Quelle<br />

1572 „von hier weggekommen“ sein. Nach Quandt, der ihn in Schippenbeil nicht nennt, ist er<br />

ab 1577 (nachanderen Nachrichten war er schon 1574 dort) Pfarrer in <strong>Angerburg</strong> und bekam,<br />

da er 1 Jahr lang keinen Diakon hatte, aber dessen Arbeit verrichten musste, auch das Gehalt<br />

für diesen. Ein Gesuch von ihm vom 23.3.1577 ist bekannt. Er unterschrieb 1579 die<br />

Concordienformel und verfasste 1593 einen Bericht über 4 im Dorfe Kehl bei <strong>Angerburg</strong><br />

umgekommene Leute. Gest. in <strong>Angerburg</strong> 25.12.1593 [Altpr. Ev. Pfarrerbuch, Friedwald<br />

Möller,<br />

Sonderschrift Nr.11 des VFFOW].<br />

738<br />

„Wahre Geschichte<br />

des unglücklichen und schrecklichen Zugrundegehens vierer Personen<br />

im preussischen Ort Kehl…“.<br />

459


fragte sie, „die ausgenähten alten Tücher unserer Kirche in der<br />

Sakristei zeigen? Wir haben darunter sehr schöne und mühsame<br />

Stickereien. Ich denke, Sie interessiert sich für so etwas“.<br />

Beide gingen der Sakristei zu, während Pfarrer Helwing<br />

ausführlich von dem Gottesgericht erzählte, welches die vier<br />

Sabbatschänder in der Brachstube des Dorfes Kehlen vor mehr <strong>als</strong><br />

hundert Jahren getroffen habe.<br />

„Das müssen ja noch ganze Heiden gewesen sein“, sagte<br />

Schwindovios.<br />

„Das kann wohl sein“, sagte Helwing. „Hier unsere Kirche ist auf<br />

einem Hügel erbaut, auf dem die Prutener 739 ihre Toten<br />

begruben“.<br />

Die Kirche <strong>Angerburg</strong> auf dem Kirchberg (Zeichnung Behvmann 1931)<br />

„So, woher weißt du denn das?“ fragte Schwindovius.<br />

„Als mein Vater begraben wurde“, sagte Helwing, „fand man bei<br />

Verfertigung des Grabes eine mit einem Deckel versehene<br />

zinnerne Kanne mit Bier gefüllt, über das sich eine Haut gesetzt.<br />

739 Prussen, s. Bild S. 277<br />

460


Diese hatten die Prutener ihren Toten mitgegeben. Auch der Hügel<br />

am Amtskrug soll ein altes Heidenbegräbnis sein“.<br />

„Ach, lass doch die alten Heiden“, sagte Schwindovius. „Was<br />

habt Ihr für einen schönen Altar? Ich glaube kaum, dass der in der<br />

Domkirche in Königsberg schöner ist“.<br />

„Dieser ist schon der zweite Altar, eigentlich der dritte, den<br />

unsere Kirche hat“, sagte Helwing. „Anno 1632 wurde ein neuer<br />

Altar gekauft für 800 Gulden. Er war viel kleiner <strong>als</strong> dieser. Anno<br />

1651 ist der Altar für 500 Gulden nach Engelstein verkauft und im<br />

November abgeholt worden. Im folgenden<br />

Jahr wurde die<br />

Zimmermannsarbeit an unserem neuen Altar gemacht. Die<br />

schönen Figuren und Verzierungen<br />

wurden im Sommer 1652 von<br />

Königsberg gebracht und damit angefangen diese an den Altar zu<br />

setzen. Bis zum Herbst war die Vergoldung fertig. Vom alten Altar<br />

war noch der prachtvolle Umhang vorhanden mit gestickten<br />

Wappen v. Chamois tem Samt, den der Herr<br />

nd auch schön verziert“, sagte Schwindovius. „Bei<br />

Leinweber-Chor für 100 Gulden gemacht“.<br />

n“.<br />

1666 den 13. Decb.<br />

Helwing erzählte nun Verschiedenes von diesem Herrn<br />

Amtshauptmann, dem aber Schwindovius eben nicht viel<br />

740 in ro<br />

Amtshauptmann Hans v. Kreytzen der Kirche verehrt hat und die<br />

beiden silbernen Leuchter, von dem Ratsverwandten Michael<br />

Möller. Die ganze Kirche wurde dam<strong>als</strong> auch mit Fliesensteinen<br />

ausgelegt, von denen ein jeder 24 Gr. kostete“.<br />

„Die Chöre si<br />

uns in Lyck ist alles viel bescheidener“.<br />

„Das Kurfürstliche Chor“, sagte Helwing, „ist zu Zeiten des<br />

Amtshauptmanns v. Kreytzen Anno 1650 staffiert und bemalt.<br />

Genauso das Bäcker-Chor und die Taufe. Für’s Bäcker-Chor<br />

wurden 50 Taler bezahlt, für die Taufe 100 Gulden. Das Jahr<br />

darauf wurde auch das<br />

„Das scheint ein ganz neues Epitaphium zu sein“, meinte<br />

Schwindovius. „Ich kann die Inschrift wegen meiner Kurzsicht<br />

nicht lese<br />

„Es ist das Epitaph des Amtshauptmanns v. Wallenrodt 741 . Die<br />

Inschrift lautet: Martin v. Wallenrodt. Seiner Kurfürstlichen<br />

Durchlaucht zu Brandenburg Oberster über ein Regiment zu Pferde<br />

u. Hauptmann zu <strong>Angerburg</strong>. Geboren 1620 den 11. Decembris,<br />

gestorben im Jahre des Herrn<br />

740<br />

Bräunlich-gelber Farbton.<br />

741<br />

S. FN 496<br />

461


Aufmerksamkeit schenkte. Er unterbrach dessen Redestrom und<br />

fragte:<br />

„Wie spricht es sich denn von Eurer Kanzel? Heute Vormittag<br />

habe ich deinen Diakonum nicht immer verstanden“.<br />

Hochaltar und Kanzel der <strong>Angerburg</strong>er Kirche (Aufn. 2008)<br />

„Nun“, sagte Helwing etwas ärgerlich, unterbrochen zu werden,<br />

„den Text wirst du doch wohl verstanden haben: Sei willfährtig<br />

deinem Widersacher bald, dieweil du mit ihm noch auf dem Wege<br />

bist 742 . Sonst spricht sich’s eben nicht schwer, die Akustik ist ganz<br />

gut. Hier sind noch einige Leichensteine, auf dem des Pfarrers<br />

Koffnatius sind in Stein gehauen zwei kreuzweise gelegte Degen“.<br />

„Da wirst du dich denn doch wohl irren“, meinte Schwindovius,<br />

„es wird ein liegendes Kreuz sein. Undenkbar, dass ein<br />

lutherischer Geistlicher auf seinen Grabstein zwei Schwerter haben<br />

sollte. Es wird der Grabstein eines anderen Mannes sein. Du hast<br />

gewiss nicht recht gelesen“.<br />

„Komm und<br />

sieh selbst“, sagte Helwing halb ärgerlich, „der<br />

Grabstein liegt in der Sakristei, da kannst Du, trotz Deiner<br />

Kurzsicht, auch die Inschrift entziffern“. Er ging voran<br />

und<br />

Schwindovius folgte ihm zweifelnd und kopfschüttelnd.<br />

742 Bibelzitat: Matth. 5,25.<br />

462


Anna und Esther verließen eben die Sakristei und stellten sich<br />

auf den Platz vor dem Hochaltar, der von den Strahlen der im<br />

Westen sich neigenden Sonne hell beleuchtet war. Es war Thomas<br />

noch nie so aufgefallen, welch eine schöne graziöse Gestalt Esther<br />

hatte, <strong>als</strong> <strong>jetzt</strong>, da er sie neben<br />

seiner etwas kleineren und<br />

korpulenteren Schwester stehen sah.<br />

„Einen so schön gemalten und vergoldeten Altar haben wir in<br />

Lyck nicht“, hörte Thomas Esther sagen. „Aber sage Sie mir doch,<br />

Frau Kaplanin, wessen Stand ist denn hier links vom Altar?“<br />

„Das ist der Ratsstand“, antwortete Anna, „der ist nur für<br />

Bürgermeister, Ratsverwandte und Richter“.<br />

„War Sie denn heute nicht in der deutschen Kirche?“ fragte<br />

Esther weiter.<br />

„Heute konnte ich leider nicht in die Kirche gehen“ erwiderte<br />

Anna, „denn mein Mann hatte den ganzen Tag Kirchendienst, da<br />

musste ich schon zu Hause bleiben“.<br />

Als Esther in Erfahrung gebracht hatte, dass Frau Anna nicht in<br />

der deutschen Kirche gewesen war und sie ihren Vater und den<br />

Pfarrer Helwing in der Sakristei beschäftigt wusste, setzte sie sich<br />

auf die Stelle der Bank rechts vom Altar, wo Thomas am<br />

Vormittag während des Gottesdienstes gesessen hatte. Thomas<br />

sah es mit Entzücken.<br />

Sie sagte: „Im Ratsstand waren<br />

heute Vormittag nur fünf<br />

Männer: Ein großer breitschultriger Herr, der beim Gesang das<br />

Gesangbuch weit von sich streckte…“<br />

„Das war der Bürgermeister Egidius Pech<br />

hemia. Hier<br />

743 “, sagte Anna.<br />

„…Neben ihm“, fuhr Esther fort, „saß ein alter Mann mit ganz<br />

weißem Haar, hoher Stirne und mildem Gesichtsausdruck. Er hatte<br />

ein schwarzes Käppchen auf und einen Kragen mit Fuchs“.<br />

„Das ist unser Vater gewesen“, fiel Anna ein. „lch wundere mich,<br />

dass Sie nicht meinen Bruder Thomas gesehen hat. Sollte er nicht<br />

in der Kirche gewesen sein? Er pflegt doch sonst nicht leicht zu<br />

fehlen“.<br />

Esther antwortete nicht, sondern stand auf und besah die<br />

Verzierungen der Taufe.<br />

Anna folgte ihr: „Hier bin ich und alle meine Geschwister<br />

getauft“, sagte sie, „und auch meine kleine Eup<br />

daneben unter diesem Stein ruht meine Familie“.<br />

743 Aegidius Perk (Pech) ?<br />

463


Die beiden Geistlichen kamen aus der Sakristei. „Du hast doch<br />

Recht, Andreas“, sagte Schwindovius. „Ich hätte es dir früher<br />

geglaubt, wenn du mir die Inschrift gesagt hättest, die ich mir der<br />

Merkwürdigkeit wegen in mein Journal verzeichnet habe.<br />

Andreas Koffnatzki - natus 1572, mort. 1630. Lector scire cupis<br />

nomen cum stemma cubantis. Insigne inspicias nobile Koffnacii En<br />

gladium binum fern verbique prehendit, Hic pietatis honos,<br />

nobilitatis is est“.<br />

„Nun, man kann mit ihm zufrieden sein“, sagte Helwing. „Früher<br />

soll ein ausgezeichneter Musiker namens Fischer hier angestellt<br />

ein, wie ich mir habe sagen lassen, denn er lebte lange<br />

lt denn Euer Kantor in Lyck so schlecht die<br />

744<br />

„Kannst mir immer glauben, alter Georg“, sagte Helwing, „wenn<br />

auch die Beweise nicht wie hier in Stein geschrieben sind. Doch<br />

wir wollen zur Orgel gehen, es wird sonst noch zu dunkel“.<br />

Gemeinsam kam er mit Schwindovius den Mittelgang<br />

hinabgeschritten. Thomas konnte sich nicht mehr ungesehen<br />

entfernen, da fiel ihm das Türchen ein, durch das er <strong>als</strong> kleiner<br />

Junge mit dem alten Kantor Horning in das Innere des<br />

Orgelwerkes gestiegen war und ihm Orgelpfeifen zugereicht hatte,<br />

wenn an diesen etwas auszubessern war. Richtig, das Türchen war<br />

unverschlossen und Thomas schlüpfte in das Gehäuse, <strong>als</strong> die beiden<br />

Geistlichen die Chortreppe heraufkamen.<br />

„Ist ein schön verziertes Werk“, hörte Thomas den Diakonus<br />

Schwindovius sagen.<br />

„Hat auch einen guten vollen Ton. Kommt auf 1000 Taler zu<br />

stehen“, sagte Helwing. „Ich kam aus den Ferien von Tilsit, <strong>als</strong> die<br />

Orgel Anno 1648 eben fertig geworden war. Sie hat 25 klingende<br />

Stimmen und ist Anno 1651 von Johann Großmann<br />

durchgearbeitet worden“.<br />

„Dein Kantor scheint aber auch ein guter Musiker zu sein, ein<br />

besserer <strong>als</strong> unser Adamcovius in Lyck“, meinte Schwindovius,<br />

„der spielte gut die Orgel und hatte die Responsorien 745 gut<br />

eingeübt“.<br />

gewesen s<br />

vor meiner Zeit. Spie<br />

Orgel?“<br />

744<br />

Leser, du willst dessen Namen wissen, der dam<strong>als</strong> unter dem Kranz ruhte. Du erkenntest<br />

den ausgezeichneten und edlen Namen Koffnacius. Er ergriff das zweifache Schwert,<br />

des Eisens und des Wortes. Dieses ist eine Auszeichnung von Frömmigkeit, jenes des adligen<br />

Standes.<br />

745<br />

Kirchlicher Wechselgang.<br />

464


„Wir haben gar keine“, sagte Schwindovius. „Nein, sein Gesang<br />

ist nicht besonders“.<br />

Die Orgel hergestellt 1648 (Aufn. 2008)<br />

Die Uhr auf dem Turm schlug drei.<br />

„Eure Glocke hat einen lauten, schönen vollen Klang“, sagte<br />

Schwindovius. „Ich glaube kaum, dass eine der Glocken in<br />

Königsberg, die größte Glocke im Dom vielleicht ausgenommen, so<br />

voll klingt“.<br />

„Das haben viele schon bemerkt“, sagte Helwing. „Ich kann<br />

mich noch besinnen, <strong>als</strong> die Glocke von Königsberg gebracht<br />

wurde.<br />

465


Ich war ein kleiner Junge von 8 Jahren. Besonders merkwürdig<br />

war es mir aber, dass die Glocke 746 im Winter, wo jeder Mensch<br />

mit Schlitten fuhr, auf einem Frachtwagen mit 6 Pferden bespannt,<br />

nach <strong>Angerburg</strong> kam. Auch das Aufhängen der Glocke gefiel mir so<br />

sehr, dass ich darüber das Mittagessen vergaß und endlich,<br />

nachdem um 1 Uhr zum ersten Mal geläutet wurde und ich ganz<br />

steif gefroren nach Hause kam, gab’s tüchtig Hiebe. Wollen wir<br />

nicht auf den Turm gehen?“ 747<br />

Die große Glocke, hergestellt 1638, repariert 1652 (Aufn. 2008)<br />

746<br />

Inschrift dieser Glocke: DURCH DAS FEUER BIN ICH GEFLOSSEN, MICHEL<br />

DORNMAN IN KONIGESBERG, HAT MICH GEGOSSEN, ANNO SALUTIS 1638. HERR<br />

HAUBTMAN HANS V KREUTZEN, HANS SCHULTZ CONSUL, JACOB DUNCKEL<br />

JUDEX, JOACHIM WEDIKE NOTARIUS, THOMAS MENTZLER, JOHANNES<br />

WIEDERBORT, CHRISTOF MAUS, MELCHER MOLLER.<br />

O GOTT LAS DIER BEFOLEN SEIN, DIE GLOCK UND AUCH DIE KIRCHE DEIN, DAS<br />

VIEL KOMMEN NACH IHREM KLANG ZUR KIRCHEN ZU DEINEM LOB UND<br />

DANCK. FUR GROSR GEFAHR SIE AUCH BEWAHR, AUF VIELE ZEIT UND LANGE<br />

JAHR.<br />

ANNO 1652 - URIEL BERTRAM PASTOR, DEN 6 OCTOBRIS REPARIRET, ALBERTUS<br />

GEMBALOVIYS DIA., CHRISTOF FÜRICK, DAVID WÜLSSON, KIRCHEN<br />

VORSTEHER.<br />

747<br />

Im <strong>Angerburg</strong>er Kirchturm hängen heute noch neben der o.g. zwei weitere Glocken aus<br />

der Zeit<br />

nach 1945 und eine kleine Glocke, etwa aus dem 15. oder 16. Jhdt. Ihre Aufschrift<br />

lautet: SANCTA, JESUS<br />

NAZARENUS, REX, JUDEORUM.<br />

466


„Verschone mich mit dem Treppensteigen“, sagte Schwindovius.<br />

„Nun, dann muss ich dir doch noch das neue Epitaphium des<br />

Stadtschreibers Bartholdi zeigen“, sagte Helwing. „Es befindet sich<br />

auf dem Kirchhof gleich an der Haupttür. Die lateinische Inschrift<br />

ist von mir“.<br />

„Das muss ich mir doch ansehen“, sagte Schwindovius.<br />

Die beiden Geistlichen gingen die Treppe des Orgelchors hinab<br />

und verließen die Kirche.<br />

Eben wollte Thomas das Gehäuse der Orgel, in das er sich bei<br />

ihrer Annährung geflüchtet hatte, verlassen, <strong>als</strong> seine Schwester<br />

und Esther die Treppe zur Orgel hinauf stiegen.<br />

„Hier vom Orgel-Chor kann Sie so recht die Schönheit unserer<br />

Kirche sehen“, hörte Thomas seine Schwester sagen. „Da sieht Sie<br />

den schönen Altar im Ganzen. Das wird Ihr vielleicht besser<br />

gefallen <strong>als</strong> die alten Tücher in der Sakristei, wo Sie immer nur<br />

das eine mit dem Kruzifix in der Hand hatte und kein Wort sagte.<br />

Das neuste seidene Tuch, das mein Bruder Thomas vor drei<br />

Wochen sich aus Königsberg kommen ließ und das oben auflag,<br />

hat Sie kaum eines Blickes gewürdigt. Sie hatten ihm ein anderes<br />

geschickt. Mir gefiel’s eigentlich besser. Es hatte hellere Farben.<br />

Thomas schickte es aber zurück und wollte genau so eines haben,<br />

wie das, welches er vor Weihnachten gekauft hatte. Na, das<br />

seidene Tuch kam auch an. Ich musste es ihm, weil Schwester<br />

Barbara keine Zeit hatte, besäumen und er wartete darauf, bis ich<br />

fertig war. Am 3. Sonntag nach Epiphanias ging Thomas mit den<br />

Eltern zum heiligen Abendmahl. Da hat er es der Kirche geschenkt<br />

und bestimmt, es sollte immer nur bei der Frühmette auf das<br />

Altar-Pulpet<br />

ganzen Schule begraben und in die Kirche getragen wurden. Ich<br />

lte dann gewöhnlich zu Hause bleiben und der Mutter helfen,<br />

748 gedeckt werden“.<br />

Esther hatte sich auf ein Bänkchen an der Brüstung des Orgel-<br />

Chors gesetzt und schaute schweigend in das Schiff der Kirche<br />

hinab. „Sie sitzt gerade auf dem Bänkchen“, sagte Anna, „auf dem<br />

mein Bruder Thomas <strong>als</strong> Schüler immer saß. Er hatte <strong>als</strong> Knabe<br />

eine wunderschöne Stimme. Er war immer herauszuhören, wenn<br />

die Jungen mehrstimmig sangen. Der Kantor ließ ihn aber auch<br />

ganz allein singen, besonders bei großen Leichen 749 , die mit der<br />

sol<br />

748 Altartisch<br />

749 Bedeutende verstorbene Persönlichkeiten<br />

467


aber ich bat so lange, bis sie mir entweder in die Kirche zu gehen<br />

erlaubte oder eine Ohrfeige gab. Es war aber auch ganz rührend,<br />

wenn Thomas mit seiner silberhellen Stimme, wie vom Himmel<br />

herab, tröstend sang: Gehabt Euch wohl, Ihr meine Freunde. Aber<br />

was ist Ihr denn, Jungfer Esther? Die Tränen fallen Ihr ja auf die<br />

Brüstung des Chors“.<br />

„Ach, das wurde in unserer Kirche gesungen, <strong>als</strong> sie meine liebe<br />

Mutter beerdigten“, sagte Esther. „Wie fehlt<br />

mir doch das treue<br />

Mutterherz. Ich habe auf Erden keinen Menschen, dem ich’s<br />

klagen kann, was mich seit der letzten Stunde des vergangenen<br />

Jahres so schwer drückt. Wie habe ich der Mutter Rat und Trost<br />

schmerzlich vermisst. Nun muss ich mein Leid allein tragen“. Sie<br />

trocknete ihre Tränen und stand auf.<br />

„Thomas und ich“, sagte Anna, „wir haben unsere Mutter schon<br />

in der frühesten Kindheit verloren, aber Gott hat uns eine gute<br />

Stiefmutter gegeben. Doch wir wollen in’s Pfarrhaus<br />

hinübergehen“.<br />

Thomas hörte, wie Esther, anfangs mit etwas belegter Stimme,<br />

dann aber mit innigem Gefühl sagte: „Gehabt Euch wohl, ihr<br />

meine Freunde, ihr, die aus Liebe um mich weint. Inzwischen lebet<br />

alle wohl, seid hoffnungslieb und glaubensvoll“. Ihre Stimme<br />

verhallte.<br />

Das war ihr Abschied von mir, dachte Thomas, verließ das<br />

Orgelgehäuse und ging die Treppe hinab. Als er die<br />

Verbindungstür zwischen Kirche und Turmhalle öffnete, hörte er<br />

Esthers Stimme:<br />

„Cerber, Cerber,<br />

wo kommst Du denn her? Kommst Du mich<br />

begrüßen?“ Sie streichelte liebkosend den Hund, der ihr mit allen<br />

Zeichen der Freude die Hände leckte.<br />

„Kennt Ihr denn den Hund?“ fragte Anna.<br />

„Das ist ja mein treuer Reisegefährte“, erwiderte Esther.<br />

„Hatte es ganz vergessen“, sagte Anna, „aber wo mag der Hund<br />

hergekommen sein? Er treibt sich doch sonst nie in der Stadt<br />

umher. Der Bruder Wilhelm wird ihn wohl mitgenommen haben.<br />

Komm mit, Cerber“.<br />

Der Hund leckte der Frau Anna und Esther nochm<strong>als</strong> die Hände<br />

und legte sich dann in die Ecke an der Außenseite des Turms<br />

nieder, welche Thomas ihm angewiesen hatte.<br />

„Wird die Kirchtür nicht geschlossen?“ fragte Esther.<br />

„Ich hörte den Herrn Pfarrer, <strong>als</strong> wir nach der polnischen Vesper<br />

eintraten, zum Glöckner sagen, er soll erst nach Sonnenuntergang<br />

468


die Kirche zuschließen“, sagte Anna und ging mit Esther dem<br />

Pfarrhaus zu.<br />

Thomas reinigte sich in der Vorhalle so gut es ging von dem<br />

Staub, der aus dem Innern der Orgel in großer Menge an seinen<br />

Kleidern hängen geblieben war. Cerber stand auf den Steinstufen<br />

vor dem Eingang des Turms und wartete ungeduldig, bis sein Herr<br />

hinauskam. Dann aber sprang er mit Freudensprüngen auf ihn zu,<br />

umtanzte ihn, leckte ihm die Hände und konnte sich vor Freude<br />

mal<br />

für ein fremder Herr gewesen sein, der heute mit<br />

at“ sagte Nebe sinnend.<br />

e 750 nicht lassen. Thomas streichelte den Hund.<br />

„Ruhig, Ruhig, Cerber“, sagte Thomas und ging dann mit dem<br />

Hund über den Kirchhof in die Kaplanei zum Schwager Nebe.<br />

Diesen fand er über Hennenbergers Preußische Landtafel gebeugt.<br />

„Heute musst du schon bei mir, wie bei einem Junggesellen<br />

vorlieb nehmen“, sagte Nebe nach der Begrüßung. „Die Anna<br />

musste zu Pfarrers hinüberkommen. Den ganzen Nachmittag kam<br />

ein Bote nach dem anderen, um sie einzuladen. Sie schlug mich<br />

richtig breit, dass ich es ihr endlich erlaubte. Nun lass sie sich<br />

vergnügen“.<br />

„Die Anna war ja erst gestern hinübergegangen“, meinte<br />

Thomas, um etwas darauf zu sagen.<br />

„Das hab’ ich ihr auch gesagt, aber sie bat so sehr, dass ich<br />

nachgab“, sagte Nebe.<br />

„Was mag das<br />

dem Herrn Amtshauptmann zusammen in der Kirche auf dem<br />

Kurfürstlichen Chor war? Er sah mir sehr bekannt aus, ich kann<br />

mich aber nicht an ihn besinnen“.<br />

„Ich weiß es auch nicht“, erwiderte Thomas. „Der Schloss-<br />

Schmied, der hinter mir in der Kirche saß, nannte ihn den Herrn<br />

Hofgerichtsrat - und der Schmied sollte es wohl wissen, weil er auf<br />

der Schlossfreiheit wohnt und jeden sieht, der da im Schloss ausund<br />

eingeht“.<br />

„Der Hofgerichtsrat - der Hofgerichtsr<br />

„Haha, nun weiß ich, wer der Herr ist. Es ist ein alter Bekannter<br />

aus meiner Studienzeit. Aber so was, ich konnte mich gar nicht<br />

besinnen, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Es ist mein alter<br />

Doktor Michael Preuck , der Hof-H<strong>als</strong>richter, er hat nun den<br />

Titel Hofgerichtsrat“.<br />

750<br />

Der Hofgerichtsrat Dr. Michael Preucke, Sohn eines Gastwirts vom Rossgarten, in<br />

Königsberg geb. 1641, starb 29.Juli 1704.<br />

469


„Wie bist Du mit ihm so bekannt geworden?“ fragte Thomas. „Er<br />

muss doch, wie es mir scheint, eine ganze Reihe Jahre älter sein<br />

<strong>als</strong> du“.<br />

„Ja, ja, so an 10 oder 12 Jahren wird der Preucke wohl älter sein<br />

<strong>als</strong> ich“, meinte Nebe. „Als ich auf die Universität kam, fand ich<br />

ihn schon <strong>als</strong> Professor juris extraordinarius 751 , er war Anno 1673<br />

in Basel juris utrisque 752 Doktor geworden, wie auch Beisitzer im<br />

Samländschen Konsistorio“.<br />

„Du hast gewiss ein Colleg 753 bei ihm gehört und daher stammt<br />

die Bekanntschaft?“ fragte Thomas.<br />

„I, nein, das nicht“, antwortete Nebe, „aber Preucke suchte<br />

dam<strong>als</strong> die Materialien zu einem großen juristischen Werk, das er<br />

über die verschiedenen Rechte in unserem Preußen schreiben<br />

wollte, und da trafen wir uns, wie auf Verabredung, jeden<br />

Mittwoch und Sonnabend nachmittags auf der Schlossbibliothek<br />

für den Preucke gefunden, sowie auch er<br />

gleich nach Hause, sondern<br />

754<br />

und Dienstags und Freitags auf der Wallenrodtschen Bibliothek 755<br />

zusammen, wo ich den kirchlichen Antiquitäten nachspürte. Hab’<br />

da auch zuweilen etwas<br />

für mich. Im Sommer gingen wir nach dem Schluss der<br />

Bibliotheken in der Regel nicht<br />

spazierten vor’s Tor. Dabei bin ich mit dem Doktor Preucke gut<br />

bekannt geworden“.<br />

„Ich wundere mich aber doch“, sagte Thomas, „dass ein<br />

Professor, wenn er auch Hofgerichtsrat ist, so ohne weiteres zur<br />

Abhaltung eines Termins nach <strong>Angerburg</strong> geschickt werden kann.<br />

Der Mann hat doch seine Collegien zu lesen“.<br />

„Ach“, unterbrach ihn Nebe, „der Preucke hat ja schon 1679<br />

seine Professur niedergelegt, <strong>als</strong> er Hofgerichtsrat wurde“.<br />

Vor der Stubentür wurden im Hausflur Stimmen laut. Die Tür<br />

öffnete sich und die Magd bat in gebrochenem Deutsch jemanden<br />

einzutreten. Neugierig gespannt sahen die beiden Schwäger nach<br />

751<br />

Außerordentlicher Professor.<br />

752<br />

Beider Rechte<br />

753<br />

Vorlesung<br />

754<br />

Die von Herzog Albrecht angelegte und im Königsberger Schloss aufgestellte Bibliothek<br />

bildete den Grundstock der späteren Staats-u.Universitätsbibliothek Königsberg.<br />

755<br />

Diese seit 1650 in zwei Räumen des Königsberger Doms aufgestellte Bibliothek ist von<br />

Martin v. Wallenrodt (1570 – 1632), Kanzler des Hzt. Preußen seit 1619, begründet worden.<br />

Von seinem Sohn Johann Ernst v. Wallenrodt (1615 – 1697), preußischer Landhofmeister seit<br />

1660, wurde der Bestand vermehrt und die Bibliothek zur öffentlichen Benutzung freigegeben.<br />

470


dem Eintretenden. Es erschien die große, korpulente Gestalt des<br />

Hofgerichtsrats Preucke.<br />

Nebe sprang auf und eilte auf ihn zu, reichte ihm beide Hände<br />

und rief: „Bin sehr erfreut, dass der Herr Doktor mir die Ehre<br />

seines Besuches schenkt. Legt ab, Herr, setzt Euch nieder, Ihr<br />

findet meinen Schwager Thomas hier“. Die Herren begrüßten sich.<br />

„Ihr kamt mir in der Kirche heute Vormittag gleich sehr bekannt<br />

vor, Herr Diakonus, und ich fragte den Herrn Amtshauptmann<br />

nach Eurem Namen“, sagte der Hofgerichtsrat, nachdem er sich<br />

niedergelassen<br />

hatte.<br />

„Ja, ja, es ist eine ganze Schnur Jahre her, <strong>als</strong> wir zusammen<br />

die alten Bücher und Schriften in den Bibliotheken Königsbergs<br />

durchstöberten“.<br />

„Ihr habt gewiss, Herr Doktor, schon längst das große Werk<br />

drucken lassen, zu dem ihr dam<strong>als</strong><br />

so emsig das Material<br />

gesammelt habt“, sagte Nebe.<br />

„Ach, lieber Freund“, sagte mit einem Seufzer Preucke, „das<br />

Material liegt verstaubt und unbenutzt. Seitdem ich in’s Hofgericht<br />

gekommen, ist es mir vor dringenden Arbeiten gar nicht gelungen,<br />

auch nur einen Federstrich daran zu tun. Das muss für spätere<br />

Zeit bleiben“.<br />

Thomas war an’s Fenster getreten und sah über den<br />

verschneiten Garten des Diakonus hinüber nach dem erleuchteten<br />

Fenster im Giebel des Pfarrhauses, an dem zuweilen<br />

der Schatten<br />

einer Person sichtbar wurde. Dort ist Esther, dachte er. Ach, leider<br />

nicht meine Esther. Wie gern wäre ich an der Stelle meiner<br />

Schwester Anna dort. Er versank in schmerzliches Sinnen.<br />

Aus diesem wurde Thomas durch Nebe aufgeschreckt, der die<br />

Hand auf seine Schulter legend, ihm halblaut in’s Ohr sagte: „Geh<br />

doch schnell in die Küche und sage der Lotte, dass sie uns etwas<br />

zu essen bringt. Die<br />

Anna hat ihr alles gegeben und ihr erklärt,<br />

wie sie es machen soll“. Nebe wendete sich wieder zum Tisch.<br />

Bald kehrte Thomas zurück und setzte sich zu ihnen, nachdem er<br />

seinen Auftrag ausgerichtet hatte.<br />

„Aber wie kommt es denn, Herr Doktor“, fragte Nebe, „dass Ihr<br />

Euch des ruppigen Kerls wegen herbemühen müsst?“<br />

„Ja, eigentlich habe ich die Lehnsachen beim Hofgericht zu<br />

bearbeiten“, sagte Preucke, „aber der Herr Kanzler meinte, ich<br />

wäre am geschicktesten, hier die Sache zu führen, bei der sich der<br />

Herr Landrichter v. Pilkowski so gründlich verfahren hat. Um die<br />

Wahrheit zu sagen,<br />

handelt es sich vorzugsweise um die<br />

Kriegskasse der Schweden, an deren Erlangung sehr viel gelegen<br />

471


ist, denn es scheint gewiss zu sein, dass es der einzige<br />

Kassenwagen gewesen ist, den die Schweden hatten und in dem<br />

eine große Summe Geldes sich befunden haben muss. Ich habe<br />

mich so genau wie möglich zu informieren versucht. Über die<br />

Memel ist kein Kassenwagen gekommen. Wenn nur darüber nicht<br />

inzwischen schon an die 9 Jahre vergangen wären“.<br />

„Woraus schließt Ihr denn aber, Herr Doktor“, fragte Thomas,<br />

sich in das Gespräch mischend, „dass die Kriegskasse der<br />

Schweden so gefüllt gewesen sei, wenn man fragen darf? Die<br />

Rechnungsbücher werden die Schweden wohl nicht unserm<br />

gnädigsten Kurfürsten zugeschickt haben!“<br />

„Das will ich Euch sagen“, erwiderte Preucke. „Die Herren<br />

756<br />

Schweden haben es von jeher verstanden, Contributiones<br />

einzutreiben, und der General Horn<br />

etzt<br />

en Tag vor Silvester rückte er aus Berlin, war<br />

, den 17. Januar in Labiau. Da meldeten die Spione,<br />

itern<br />

weiter <strong>als</strong> 3 Meilen von Tilsit<br />

757 war darin nicht blöde. Er<br />

hatte die drei besten Ämter Tilsit, Ragnit und Insterburg bes<br />

und überall auf gut Schwedisch gewirtschaftet. Es ist <strong>als</strong>o gutes<br />

preußisches Geld gewesen, das in dem Kassenwagen war. Die<br />

Schweden wären auch damit aus dem Land gekommen, wenn der<br />

gnädigste Kurfürst ihnen nicht so schnell auf die Schliche<br />

gekommen wäre. D<br />

den 10. Januar 1679 schon in Marienwerder, den 16. Januar in<br />

Königsberg<br />

dass die Schweden nicht weit von Tilsit wären. Sogleich schickte<br />

unser gnädigster Kurfürst den General Görtzke 758 mit 4300 Re<br />

und den alten Derfflinger 759 mit 1000 Dragonern dorthin, um sie<br />

aufzuhalten. Der gnädigste Kurfürst selbst mit allem Fußvolk und<br />

den übrigen Reitern setzte sich zu Schlitten und fuhr übers Haff,<br />

was die Pferde laufen konnten. Am 19. Januar gegen Abend kam<br />

er nach Gilge 760 , und den 20. Januar ganz früh bei größter Kälte<br />

nach Kukernese 761 . Dort mussten sich nun die abgematteten<br />

Pferde und die von Frost erstarrten Menschen etwas erwärmen<br />

und ausruhen. Da kamen etliche von den Treffenfeldschen an,<br />

denn Kukernese ist nicht viel<br />

756<br />

[lat.] Abgaben, Beiträge<br />

757<br />

Gemeint ist hier der schwed. General Gustav Horn (1592-1657).<br />

758<br />

Joachim Ernst v. Görzke (1611-1682). Seit 1656 in den brandenb. Diensten. Er nahm u.a.<br />

an der Schlacht von Fehrbellin (1675) teil und schlug im Winter 1678/79 die Schweden unter<br />

Gen. Horn bei Splitter.<br />

759<br />

S.FN 606<br />

760<br />

Fischerdorf am Gilgefluß, in der Nähe seiner Mündung in das Kurische Haff.<br />

761<br />

Kuckerneese,<br />

Ort im Memeldelta zwischen Gilge und Russ, 24 km Nordwestl. von Tilsit.<br />

472


entfernt. Die erzählten, dass beim Dorf Splitter 762 , ½ Meile von<br />

Tilsit, 6 schwedische Kompanien Dragoner und ein Regiment, die<br />

ihnen zu Hilfe gekommen, geschlagen, die meisten getötet und die<br />

übrigen gefangen wären. Der gnädigste Kurfürst befahl nun gleich<br />

aufzubrechen, um der schwedischen Armee den Rückzug<br />

abzuschneiden. In dem Stiemwetter aber traf er sie nicht, denn<br />

torbenen Vorgänger Stadtschreiber<br />

Hofgerichtsrat einen großen Brief.<br />

eses und<br />

tweder<br />

ich noch morgen Abend die scharfe<br />

inierung zu gewarten<br />

. Assauen 764 die Schweden flohen die ganze Nacht hindurch über Coadjuthen<br />

den 16/26<br />

763<br />

aus dem Land“.<br />

„Da gab mir“, sagte Nebe, mein zukünftiger Schwager, der<br />

Stadtschreiber Vogel, vor einigen Tagen das Original-Schreiben<br />

des Kriegs-Comissarii der Schweden, namens Schnerkschild,<br />

welches er Anno 1679 an die Stadt <strong>Angerburg</strong> schickte. Vogel hat<br />

den Brief von seinem vers<br />

Bartholdi. Wollt Ihr, Herr, es Euch einmal ansehen?“ mit diesen<br />

Worten reichte Nebe dem<br />

Dieser las:<br />

„Wohlehrenfeste und Wohlweise Herren Bürgermeister und<br />

Ratsverwandte und Einwohner der Stadt <strong>Angerburg</strong>! Nachdem<br />

mahlen ihre Königliche Majestät zu Schweden, meines<br />

allergnädigsten Herrn Armee unter Kommando des<br />

Feldmarschallen Heinrich Horn, Excel. jetzo dieser Orten stehet,<br />

und nicht mehr <strong>als</strong> billig, dass auch Eure Stadt, gleich den andern,<br />

zu Bezeugung ihrer Schuldigkeit, sich allhier bei der Königlichen<br />

Armee durch ihre Deputirte einfinde, und die gebührende<br />

Brandschätzung abtrage. Wenn aber solches bishero nicht<br />

geschehen, so hat man hiedurch auch erinnern und ernstlich<br />

andeuten sollen, dass solches straks nach Empfang di<br />

noch durch die Nacht von Euch in’s Werk gerichtet und Eure<br />

Deputirte ohnfehlbar morgen frühe zu Nordenburg bey mir sein<br />

mögen, und ein resonabel Stück Geldes und Proviant en<br />

selbsten mitbringen, oder sich allererst dadurch auslösen lassen. -<br />

Versehe mich an Euch guter Willfertigkeit, widrigenfalls aber, und<br />

da sie durch ihr Ausbleiben sich ungehorsam erzeigen würden,<br />

sollen sie unausbleibl<br />

militairische Execution und gänzliche Ru<br />

haben. Wonach Sie sich zu richten, und vor Schaden zu hüten.<br />

Gott empfohlen. Dat: im Haupt Quartier<br />

762<br />

Stadtteil von Tilsit, benannt nach der Ordensburg Splitter, erwähnt 1365, am<br />

Zusammenfluss von Memel und Tilze.<br />

763<br />

Koadjuthen, Kirchort 25 km nördl. von Tilsi t, heute in Litauen.<br />

764<br />

Wohl Assaunen, Kr. Gerdauen<br />

473


Januar Anno 1679. Ihrer Königliche Majestät von Schweden,<br />

meines Allergnädigsten Königs und Herrn, bestellter Assistens-Rat<br />

und Ober-Kriegs-Comissarius Jacob Schnerkschild“.<br />

„Das ist ja ein wichtiges Schriftstück! Könnt Ihr, Herr Diakonus,<br />

es mir nicht mitgeben? Ich will‘s mir zu den Akten abschreiben<br />

lassen. Ich bringe es Euch selbst unversehrt zurück“.<br />

„Nehmt es mit, Herr“, sagte Nebe. „Wenn es mein wäre, würde<br />

ich Euch gern das Original schenken“.<br />

„Da könnten<br />

sie ja aber ihre Kriegskasse mitgenommen und in<br />

Sicherheit gebracht haben“, warf Nebe ein.<br />

„Ich habe aber ermittelt“, sagte Preucke, „dass das nicht der Fall<br />

war. Die Niederlage bei Splitter<br />

geraubten<br />

emelstrom<br />

eichnet, da muss eine Wüstenei sein“.<br />

ederlage der Schweden<br />

dieser Münze geprägt sein“,<br />

765 erweckte bei den Schweden<br />

eine so große Bestürzung, dass viele der Offiziere ihre<br />

Sachen den Priestern und anderen Einwohnern in der Stadt Tilsit<br />

zurück gaben und sich in der Dunkelheit über den M<br />

davon machten. Viele Mörser, Stücke 766 , sämtliche Bagage: 680<br />

Wagen an der Zahl, und allen Proviant ließen sie zurück. Die<br />

Kriegskasse muss sich <strong>als</strong>o noch in Preußen befinden“.<br />

„Lässt sich hören“, meinte Nebe, „aber wo ist sie zu finden? Hier<br />

auf der Hennebergerschen Landtafel ist von lnsterburg bis Tilsit<br />

kein Ort verz<br />

„Habt Ihr, Herr“, fragte Preucke, nie die Gedenkmünze gesehen,<br />

die der gnädigste Kurfürst auf diese Ni<br />

Anno 1679 hat prägen lassen?“<br />

Da beide verneinten, zog Preucke eine ziemlich große Münze<br />

hervor. Auf der einen Seite der Münze zeigte sich Merkur 767 mit<br />

seinem Flügelstab und einem Beutel in der Hand, und um ihn<br />

herum große lateinische Buchstaben regellos durcheinander. Auf<br />

der andern Seite stand: Wer sagen kann, wo blieben sind die<br />

Liefländschen Soldaten, dem geben wird Mercurius den Beutel mit<br />

Dukaten.<br />

Nebe und sein Schwager rieten hin und her, bis endlich Preucke<br />

sie auf einzelne durcheinandergewürfelte, auf beiden Seiten der<br />

Münze befindliche Buchstaben aufmerksam machte, welche<br />

zusammengesetzt die Antwort ergaben: In Preußen.<br />

„Es müssen nur wenige Stücke von<br />

meinte Thomas. „Ich hätte sie sonst wohl in Danzig oder Elbing zu<br />

Gesicht bekommen“.<br />

765<br />

S. FN 762<br />

766<br />

Kanonen<br />

767<br />

Röm. Handelsgott<br />

474


„Habt Ihr denn Hoffnung, den störrischen Kerl zum Reden zu<br />

bringen, Herr Doktor?“ fragte Nebe.<br />

„Ich habe den Scharfrichter aus Rastenburg herkommen<br />

lassen“, antwortete Preucke, „der ja der Stadt <strong>Angerburg</strong> zu<br />

Diensten sein muss, weil er von ihr sein jährliches Salarium<br />

bekommt. Außerdem habe ich mich etwas in den Kriminalakten<br />

umgesehen und glaube darin einen, wenn auch schwachen,<br />

Anhaltspunkt gefunden zu haben“.<br />

„Vor mehreren Decennien<br />

, eine Menge grausamer Mordtaten verübt. Dort<br />

bestand, die Pracher<br />

Bettelorden treu zu sein und<br />

ph,<br />

in den<br />

nen grindigen Kopf,<br />

eiber, 8 Männer erschlagen<br />

768 wurden hier in Preußen, im<br />

Oberland 769<br />

wurden die Landstraßen und besonders die Waldwege unsicher.<br />

Man konnte der Täter lange Zeit nicht habhaft werden. Endlich<br />

gelang es, einige zu ergreifen, und so kam man allmählich hinter<br />

die Wahrheit. Es bestand schon seit Jahren ein geheimer<br />

770<br />

Bettelorden, der aus mehr <strong>als</strong> 48 Personen<br />

wurden nach dem Kartenspiel genannt, z.B. Herzkönig, Schellen,<br />

Gras usw., sie mussten geloben, dem<br />

den Oberen zu gehorchen. Wer den Orden annahm, wurde mit<br />

Bier getauft, dann gehänselt. Dann wurde ihm ein lahmes Bein,<br />

ein Geschwür auch Falke genannt, gesetzt oder es wurde ihm ein<br />

anderer Schaden, zur Erregung des Mitleids, beigebracht. Jeder<br />

musste geloben, keinen Menschen, den er überwältigt hatte, am<br />

Leben zu lassen. Außer den Kartennamen bekamen die Pracher,<br />

die aufgenommen waren, noch Beinamen, wie Berndt Weißko<br />

langer Gregor, Thomas Kesselflicker, Schraggel-Peter, Thomas<br />

Schorfkopf, Hans Plattkopf, Daniel Biskeschuster und ähnliche.<br />

Hans Plattkopf war Brotschneider gewesen, wurde während seiner<br />

Arbeit auf dem Königsberger Schloßplatz von einem der Bären, die<br />

dam<strong>als</strong> auf dem Schlossplatz an der Kette lagen, stark verwundet.<br />

Im Spital geheilt, bettelte er 2 Jahre und ging dann<br />

geheimen Bettelorden. Nach seinem Geständnis hat er 6 Weiber<br />

und 4 Männer erschlagen und von einem Knaben das Herz<br />

verzehren helfen. Thomas Schorfkopf hatte ei<br />

hat sein Leben lang geprachert, 6 W<br />

und 2 Knabenherzen verzehrt. Daniel Biskeschuster war der<br />

Schusterwerkstatt entlaufen“.<br />

768<br />

Jahrzehnten<br />

769<br />

Wald- und seenreiche Höhenlandschaft, westlich der Passarge gelegen, auf dem Gebiet der<br />

prussischen Gaue Pogesanien und Pomesanien.<br />

770<br />

Bettler<br />

475


„Aber Herr Doktor“, unterbrach ihn Nebe, „was hat das alles mit<br />

unserem Delinquenten zu tun?“<br />

„Nun“, erwiderte Preucke, „hat der Kerl nicht unter dem<br />

Vorwand eines lahmen Beines gebettelt? Hat er nicht ebenso wie<br />

jene seinen Beinamen? Wenn dam<strong>als</strong> auch ein Teil der Bande<br />

gehängt wurde, wer kann schon sagen, dass nicht noch einige der<br />

Schufte übrig blieben, die ihr Handwerk weiter treiben, wenn sie<br />

es auch nicht so grob machen wie füher. Sie scheinen ihr Feld<br />

<strong>jetzt</strong> aus dem Oberland weiter nach Osten<br />

verlegt zu haben aber“,<br />

unterbrach er sich, „ich rede und rede und setze voraus, dass die<br />

Herren mit dem interessanten Fall so vollständig vertraut sind wie<br />

ich, der die Akten gelesen. Ihr habt sicher nur ganz im<br />

Allgemeinen etwas davon vernommen“.<br />

Nebe schlug ein helles Gelächter<br />

auf und auch Thomas konnte<br />

sich nicht enthalten, ein wenig zu lächeln. Verdutzt schaute<br />

Preucke den einen und den andern an, da er es durchaus nicht<br />

lächerlich finden konnte, was er gesagt.<br />

„Na, das ist wirklich spaßhaft!“ rief Nebe. „Hier mein Schwager<br />

ist es ja eben, der von den Strolchen auf der Landstraße<br />

überfallen ist. Sein Bruder Wilhelm war es, der den Schieler hier<br />

bei dem Amtswachtmeister Lemke fand. Hier unter dem Tisch liegt<br />

der Hund Cerber, der auch das Seinige zur Ergreifung des Kerls<br />

beigetragen hat und da soll man nicht lachen? Ha, ha, ha, verzeiht<br />

meine Unhöflichkeit, alter Freund, es war mir aber gar zu<br />

spaßhaft“, endete Nebe, über den Tisch dem Hofgerichtsrat die<br />

Hand reichend.<br />

„Das konnte ich aber alles doch nicht wissen“, sagte Preucke mit<br />

gerunzelter Stirn. „Die Schuld liegt vorzugsweise bei mir“, sagte<br />

Thomas aufstehend und sich verbeugend. „Ich hätte mich dem<br />

Herrn Doktor vorstellen<br />

sollen. Verzeiht, Herr, meine<br />

Vergesslichkeit!“<br />

„Mir ist es sehr lieb“, sagte Preucke, „dass ich mit Euch, Herr,<br />

vor dem Termin noch privatim spreche. Da will ich Euch doch<br />

gleich fragen, ob Ihr mir vielleicht sagen könnt, ob der Diakonus<br />

Schwindovius aus Lyck mit seiner Jungfer Tochter, welcher in<br />

dieser Angelegenheit nach <strong>Angerburg</strong> zitiert worden, morgen hier<br />

erscheinen wird“.<br />

„I, der ist schon seit vorgestern Abend hier“, rief Nebe. „Dachtet<br />

Ihr, Herr Doktor, dass er nicht kommen würde?“<br />

„Seht“, sagte Preucke, „es ist ihm eine Vorladung für morgen <strong>als</strong><br />

Zeuge in <strong>Angerburg</strong> zugestellt, die schon im Dezember anni<br />

praeteriti<br />

ausgeschrieben. Diese kommt vor circa 4 Wochen zurück<br />

476


mit einem Brief des Amtsschreibers Nietzki aus Lyck des Inhalts,<br />

der Kaplan kommt nicht zum Termin. Nun heißt es in der<br />

Hofgerichts-Ordnung § 7: „Die Citationes und Ladungsbriefe sollen<br />

dem Part, der geladen wird, ungefähr 4 Wochen durch den<br />

geschworenen Gerichtsboten persönlich unsäumlich zugeschicket<br />

werden. Auch soll in der Ladung mit Summarischem Bericht und<br />

ausdrücklicher Meldung der Ursach, klärlich, deutlich und<br />

verständlich angezeiget werden“. Nun der Diakonus dam<strong>als</strong><br />

refusiret<br />

vius erschienen ist. Doch nun erzählt<br />

en“.<br />

onus Nebe<br />

seine Gäste zu einem frugalen Imbiss.<br />

fforderte, nach Doben zum Herrn v. Tettau begleitet<br />

st nicht besser<br />

nz ordentlich zu,<br />

771 nach <strong>Angerburg</strong> zu kommen, hätte sich darauf berufen<br />

können, dass ihm der Ladungsbrief nicht persönlich durch den<br />

geschworenen Boten übergeben worden. Es ist mir sehr lieb zu<br />

hören, dass der Schwindo<br />

mir, Herr, doch genauer, wie es sich eigentlich mit dem Überfall<br />

verhalten, denn wenn ich auch Eure Aussagen in den Akten<br />

gelesen, so sind sie doch nur kurz, und ich möchte über Manches<br />

genauere Auskunft hab<br />

Thomas berichtete nun ausführlich die oft erzählte Reise und<br />

wurde öfters von dem Hofgerichtsrat unterbrochen, der über<br />

mancherlei Einzelheiten eingehenderen Bericht verlangte und sich<br />

in seinem Journal einige Notizen machte. Dem Diak<br />

wurde die Sache allmählich langweilig und er begab sich hinaus,<br />

um das Abendessen zu beschleunigen. Nach längerer Zeit erschien<br />

er wieder und bat<br />

„Müsst schon sehr vorlieb nehmen, Herr Doktor“, wendete sich<br />

Nebe an den Hofgerichtsrat, „ich bin heute Strohwitwer und…“<br />

„Macht doch keine Redensarten“, unterbrach ihn Preucke. „Hätte<br />

ich ein herrlich Mahl genießen wollen, so bräuchte ich ja nur heut‘<br />

Nachmittag den Herrn Amtshauptmann, wie er mich dazu<br />

772<br />

dringend au<br />

haben. Mir lag es aber daran, Euch, mein alter Freund,<br />

aufzusuchen“.<br />

Nebe konnte sich immer noch nicht zufriedengeben, dass er<br />

einen so seltenen, so vornehmen, so lieben Ga<br />

aufnehmen und bewirten könne. Preucke erwiderte wenig,<br />

sondern sprach den Speisen und dem Tranke ga<br />

während Thomas sich bemühte, den Schwager in den<br />

771<br />

Geweigert<br />

772<br />

Doben, [1419 Dobelyn genannt] Gut und Dorf am westlichen Ufer des Doben-Sees, 6 km<br />

südlich von Rosengarten<br />

bis zum Tatareneinfall im Besitz der Familie Schenk zu Tautenburg,<br />

war zwischenzeitlich verkauft worden, ehe es 1740 wieder von den Tautenburgs<br />

zurückgekauft wurde.<br />

477


Obliegenheiten des Wirtes zu unterstützen. Nach dem Abendessen<br />

wurde noch ein Stündchen geplaudert und gegen 9 Uhr empfahlen<br />

sich der Hofgerichtsrat und Thomas. Als sie zusammen bis zur<br />

Kirche gegangen<br />

waren, sagte Preucke:<br />

„Es tut mir doch leid, dass ich nicht meinen Diener<br />

mitgenommen oder wenigstens ihn mit einer Laterne<br />

nachkommen lassen habe. Freilich wusste ich nicht, dass ich so<br />

lange bleiben würde“.<br />

„Wenn ihr erlaubt, Herr Doktor“, sagte Thomas, „so begleite ich<br />

Euch die kurze<br />

Strecke bis zum Schloss, es hat gefroren.<br />

Gestattet, Herr, dass ich vorangehe und Euch den Weg zeige“.<br />

Preucke gestattete es gern und Thomas führte ihn durch das<br />

Städtchen zur Schlossfreiheit ar keine große<br />

icht. Die beiden Männer<br />

ze<br />

nurren hören.<br />

ts um das Schloss gehen. In<br />

trat er vorsichtig den Fußsteig links von der Brücke, um<br />

ervorstürzte, mit<br />

voller Wucht gegen den Hofgerichtsrat rannte und ihn zu Fall<br />

brachte. Preucke wäre den Abhang hinab auf das Eis der Angerapp<br />

gerollt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich am Zaun<br />

773 . Alles war still. Es w<br />

Kälte, und die schwache Mondsichel des letzten Viertels<br />

verbreitete nur ein ganz zweifelhaftes L<br />

näherten sich dem Schloss. Thomas ging einige Schritte voran und<br />

hatte Cerber an das H<strong>als</strong>band gefasst, damit er nicht unnüt<br />

Händel mit den Schlosshunden beginnen möchte. Plötzlich blieb<br />

der Hund stehen und ließ ein tiefes K<br />

„Herr Doktor“, wendete sich Thomas an den nachfolgenden Rat.<br />

„Herr Doktor, bleibt bitte auf der Schlossbrücke einige Minuten<br />

stehen, es scheint da etwas nicht ganz richtig zu sein. Ich möchte<br />

mit dem Hund einmal hier rech<br />

wenigen Minuten komme ich auf diesem Fußpfad, der um das<br />

Schloss dicht an der Mauer herumführt, hier links wieder zu Euch<br />

auf die Brücke zurück“.<br />

„Geht, lieber Freund“, sagte Preucke, „ich muss mich sowieso<br />

von dem Gang etwas verpusten“.<br />

Thomas ging nun schnell über den Fußsteig rechts von der<br />

Brücke wepter. Nach kurzer Zeit hörte Preucke das Anschlagen<br />

des Hundes. Ein wütendes Gebell und Menschenstimmen. Voller<br />

Neugier be<br />

Thomas entgegenzugehen. Er ging am ersten angebauten<br />

Strebepfeiler vorbei, überkletterte einen niedrigen Zaun von<br />

wenigen Brettern und war nur noch einige Schritte vom zweiten<br />

Strebepfeiler entfernt, <strong>als</strong> hinter diesem hervor ein Mensch in<br />

schnellstem Lauf mit vorgestrecktem Kopf h<br />

773 Gelände in Schlossnähe, das nicht der Stadt <strong>Angerburg</strong>, sondern dem Landesherrn gehörte.<br />

478


festzuhalten. Dabei schrie er aus vollem H<strong>als</strong> um Hilfe. Nach<br />

wenigen Augenblicken war Cerber bei ihm, welchem gleich darauf<br />

Thomas folgte. Dieser half dem schweren korpulenten Mann, der<br />

Hut und Perücke verloren hatte, auf die Beine.<br />

„Seid Ihr überfallen,<br />

Herr“, fragte Thomas, vom schnellen<br />

Laufen außer Atem, „dass Ihr so mörderlich nach Hilfe schreit? Wo<br />

sind denn Eure Angreifer?“<br />

„Ein verfluchter Kerl rannte mir mit dem Kopf gegen den Bauch,<br />

dass ich niederstürzte. Dort ging er über den Zaun, der Hund<br />

hinterher“ rief Preucke.<br />

„Dann haben wir keinen von den Spitzbuben“, rief Thomas<br />

ärgerlich, „den anderen hat Cerber auf meinen Befehl losgelassen,<br />

<strong>als</strong> ich mit ihm Euch zu Hilfe eilte, denn ich glaubte, Ihr hättet es<br />

mit mehreren zu tun, weil Ihr so brülltet. Doch nun<br />

kommt, Herr<br />

Doktor, ich helfe Euch über den Zaun. Eure Perücke habe ich in<br />

der Hand. Setzt hier den Hut auf. Ihr seid doch nicht schwer<br />

verletzt?“<br />

„Das Kreuz tut mir weh“, sagte Preucke, „und den Hinterkopf<br />

habe ich mir tüchtig auf der gefrorenen Erde geschlagen“.<br />

Stöhnend kletterte er mit Thomas’ Hilfe über den Zaun, stützte<br />

sich auf dessen Arm und erreichte bald neben der Brücke und<br />

durchs Tor gehend den Schlosshof.<br />

„Wo habt Ihr, Herr Doktor, Eure Stube?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Hier gleich links zu ebener Erde hat der Herr Amtshauptmann<br />

mich untergebracht. Die Tür meiner Gaststube und die Tür der<br />

Amtsstube sind auf einem Flur“, antwortete Preucke.<br />

Die Haustür sowie die der Gaststube waren unverschlossen. Kein<br />

Mensch war<br />

zu sehen, alles finster.<br />

„Setzt Euch hier in den Lehnstuhl, Herr Doktor“, sagte Thomas,<br />

der in der Dunkelheit einen Sessel gefunden hatte. Ich werde<br />

sogleich Licht besorgen<br />

und Euren Diener rufen“.<br />

Mit diesen Worten eilte er hinaus und über den Schlosshof in<br />

den gegenüberliegenden Flügel des Schlosses zur Wohnung des<br />

Amtsschreibers Michael Witt. Er fand die Frau Amtsschreiberin<br />

allein bei der Lampe sitzen.<br />

„Verzeiht, Frau Nachbarin“, sagte Thomas nach höflicher<br />

Begrüßung, „dass ich so spät noch störe. Wo finde ich den Herrn<br />

Amtsschreiber?“<br />

„Mein Mann ist mit dem Herrn Kanzelisten, den der Herr<br />

Hofgerichtsrat mitgebracht hat, in die Stadt zu einem Bier<br />

gegangen“, antwortete<br />

die Frau.<br />

479


„Seid so gut und gebt mir Eure Magd mit einer Laterne mit, der<br />

Herr Hofgerichtsrat sitzt drüben im Finstern. Sein Diener ist auch<br />

nicht zu finden“.<br />

„Ach, der ging noch vor Sonnenuntergang mit dem Jäger<br />

Blitzstein zur Stadt“, sagte die Frau Amtsschreiberin, während sie<br />

die Laterne vom Nagel nahm und anzündete und ihre Magd<br />

gerufen hatte.<br />

Dankend nahm Thomas die Laterne und eilte, gefolgt von der<br />

Magd, über den Schlosshof in die Gastkammer des Doktors, der<br />

steif aufgerichtet in seinem Lehnstuhl saß, zündete eine der auf<br />

dem Tisch stehenden<br />

Kerzen an und beleuchtete den Hinterkopf<br />

Preuckes. Zwischen dem kurz geschorenen Haare zeigte sich ein<br />

wenig Blut. Thomas tauchte ein Handtuch in das Waschbecken<br />

wand es aus und legte es auf die wunde Stelle.<br />

„Ihr habt Euch den Kopf ein wenig blutig geschlagen“, sagte er.<br />

„Hoffentlich hat es keine größere Auswirkung. Annorte“, wendete<br />

er sich in polnischer Sprache zu der<br />

Magd, „Du hast gesehen, wie<br />

ich dem Herrn das nasse Handtuch ausgewunden und aufgelegt<br />

habe. Wenn es trocken ist, so legst Du es ihm erneut auf. Wirst<br />

Du das so machen,<br />

wie Du es von mir gesehen hast?“<br />

Die Magd bejahte und machte sich an die aufgetragene Aufgabe.<br />

„Ist der Hinterkopf sehr verletzt?“ fragte Preucke ängstlich.<br />

„Seht selbst, Herr“, sagte Thomas, ihm das Handtuch vor Augen<br />

haltend, „es ist hier kaum noch ein kleiner rötlicher Fleck zu<br />

sehen. Doch gestattet, dass ich mich nach Eurem Diener, und den<br />

anderen Mannschaften, umsehe“. Damit nahm er die Laterne, um<br />

sich zu entfernen.<br />

„Was war denn eigentlich dort hinter dem Schloss?“ fragte<br />

Preucke.<br />

„Ich berichte Euch alles genau, wenn ich wiederkomme“, rief<br />

Thomas schon von der Tür und eilte mit der Laterne hinaus.<br />

Der Schlosshof lag still und finster, nur das Fenster der<br />

Kammer, aus der Thomas kam, und eins in der Wohnung des<br />

Amtsschreibers waren erleuchtet. Die Türen waren verschlossen,<br />

die des Pferdestalles offen, doch kein Mensch in ihm zu sehen.<br />

Thomas eilte aus dem Schloss nach der Freiheit, trat in’s Haus des<br />

Amtswachtmeisters Lemke, der zu Bett gehen wollte. Thomas bat<br />

ihn mit fliegenden Worten,<br />

sich schnell auf die Stadtwache zu<br />

begeben, von Amtswegen von dort einige Bürger zu requirieren<br />

und aufs Schloss zu schicken.<br />

480


„Was ist denn da los?“ fragte Lemke, „Wir brauchen die<br />

Spießbürger 774 nicht, wir haben innen zwei und außen zwei<br />

Wachtposten bei dem Delinquenten“.<br />

„Die beiden sind nicht da“, rief Thomas, „ich fand, <strong>als</strong> ich mit<br />

dem Hofgerichtsrat ums Schloss gegangen, nicht einen. Dafür<br />

aber mehrere Kerle, die sich am Kellerberg des Gefängnisses im<br />

Turm zu schaffen machten. Schnell, Herr Amtswachtmeister, es ist<br />

Gefahr im Verzug.<br />

Wir müssen die Bürger zur Bewachung haben,<br />

dass der Kerl nicht entwischt“.<br />

„Das wär’ der Deiwel“, rief Lemke und eilte<br />

nach der<br />

Bürgerwache.<br />

Thomas klopfte den Schlossschmied heraus und bat ihn, sich<br />

schnell bewaffnet auf das Schloss zu begeben. Dann ging er zu<br />

Preucke zurück. Dieser hatte die Magd weggeschickt, sich die<br />

Perücke aufgestülpt und wartete ungeduldig, in der Kammer<br />

umhergehend,<br />

auf Thomas.<br />

„Was war denn eigentlich?“, rief er ihm entgegen, „das Schloss<br />

scheint wie ausgestorben“.<br />

„Als ich mit dem Hund um die Ecke des Schlosses rechts von der<br />

Brücke kam“, berichtete Thomas,<br />

„war der Hund nicht mehr zu<br />

halten. Mit wütendem Gebell rannte er mir voraus. Ich lief ihm<br />

nach und sah, in die Nähe des Turms<br />

gekommen, wie sich<br />

mehrere Männer vor dem Luftloch<br />

des Gefängnisses, wo der<br />

Schieler sitzt, aufrichteten. Der Hund warf sich sogleich auf einen<br />

der Kerle und kollerte mit ihm zusammen den kleinen Abhang<br />

hinunter aufs Eis. Als ich mich schnell dem Turm näherte, rannte<br />

ein Mann am Schloss entlang und verschwand um die<br />

Ecke, ich<br />

ihm nach, da hörte ich Euer Hilfegeschrei, dachte Ihr wäret mit<br />

mehreren Kerlen zusammen getroffen, und rief, leider, den Hund<br />

von dem ersten Kerl fort, mit dem er auf das Eis rollte“.<br />

„Aber während wir hier reden, kann unser Delinquent<br />

entfliehen“, rief Preucke. „Es müssen doch Männer im Schlosse<br />

sein. Ohne Bewachung können wir ihn doch nicht lassen“.<br />

„Es scheinen sich nur Weiber im Schloss zu befinden“, sagte<br />

Thomas. „Die Türme sind verschlossen, die Dienerschaft hat sich<br />

wohl die Abwesenheit der Herrschaft zu Nutze gemacht und ist in’s<br />

Städtchen gegangen“.<br />

774<br />

Die Bezeichnung geht zurück auf die im Mittelalter in der eigentlichen Stadt wohnenden<br />

Bürger, im Gegensatz zu den in der Vorstadt lebenden Pfahlbürgern. Später wurden auch<br />

ärmere<br />

Bürger so genannt, die nur mit einem Spieß bewaffnet, bei den städtischen Fußtruppen<br />

dienten.<br />

481


„Aber der Amtsschreiber“, rief Preucke.<br />

„Der ist mit Eurem Herrn Kanzelisten zu einem Bier gegangen,<br />

ebenso wie Euer Diener“, sagte Thomas.<br />

„Ich wundere mich“, sagte Preucke, „dass die Schlosshunde, die<br />

sonst unaufhörlich bellen, sich so ganz ruhig verhalten“.<br />

„Ach, die Hunde haben mit den Spitzbuben gewiss Brüderschaft<br />

gemacht“, sagte Thomas, „die werden den Hunden wohl<br />

Stillschweigen auferlegt haben“.<br />

„Das mag wohl sein“, sagte Preucke, „aber ist es denn hier nicht<br />

so, wie in andern Ämtern, dass der Amtshauptmann vom<br />

Amtsschreiber, und wenn dieser auch nicht da ist, vom<br />

Kornschreiber vertreten wird?“<br />

„Der Kornschreiber<br />

ur auf den Steinfliesen gehört,<br />

t<br />

das Kellerloch.<br />

Schmied machte auf den<br />

775 müsste doch wenigstens hier sein!“<br />

Eilige Schritte wurden im Hausfl<br />

die Tür wurde aufgerissen, und die riesige Gestalt des<br />

Schloßschmiedes erschien in derselben, mit einem Knebelspicke<br />

bewaffnet.<br />

„Gut, Meister, dass Ihr kommt“, rief ihm Thomas entgegen,<br />

„unser Gefangener, den Ihr dam<strong>als</strong> in’s Schloss brachtet, will<br />

entfliehen. Die Mannschaften, die ihn bewachen sollen, sind nich<br />

da. Kein Diener ist im Schloss, auch der Jäger nicht“.<br />

„Ach, der sitzt im Amtskrug mit dem fremden Diener aus<br />

Königsberg, sie brüllen Jagdlieder“, rief der Schmied.<br />

„Ich habe den Herrn Amtswachtmeister gebeten, schnell von der<br />

Bürgerwache einige Mannschaften zu holen“, sagte Thomas.<br />

„Wenn Ihr wollt, Meister, so gehen wir mit einer Laterne um das<br />

Schloss und Ihr oder ich bleiben vorläufig <strong>als</strong> Wache am Turm vor<br />

dem Kellerloch, bis Lemke ankommt und die Bürgerwache<br />

mitbringt“.<br />

Mit diesen Worten zündete Thomas die auf dem Tisch von der<br />

Magd zurückgelassene Laterne an.<br />

„Ich begleite Euch“, rief Preucke, seinen Degen ergreifend.<br />

Die 3 Männer gingen zum Schlosstor hinaus und rechts an der<br />

Mauer auf dem Fußsteig um den Flügel. Es zeigte sich nichts<br />

Verdächtiges. Preucke beleuchtete mit der Laterne<br />

Von außen war mit einer Brechstange, die noch am Boden lag, an<br />

dem Mörtel der dicken Mauer gearbeitet, doch schien diese Arbeit<br />

noch wenig Erfolg gehabt zu haben. Der<br />

an einem Strebepfeiler zertrampelten Schnee aufmerksam. Als<br />

775<br />

Beamter, der Eingang, Lagerung und Verkauf des Getreides auf dem Amtsspeicher<br />

überwacht.<br />

482


man mit der Laterne dahin leuchtete, zeigten sich Spuren wie von<br />

einem geschleppten Sack den Abhang hinunter, und, da man<br />

diesen vorsichtig folgte, fand man die beiden Wachen, schwer<br />

besoffen und ihrer Piken beraubt, auf dem Eis an einem<br />

Weidengebüsche in tiefstem Schlaf.<br />

„Ich denke, Herr Hofgerichtsrat“, sagte der Schmied, „wir lassen<br />

die Schweinigel<br />

der Brücke kam<br />

hen wollen. Nur von dem<br />

schon folgen.<br />

„unser Freund Schieler will<br />

b mir<br />

wollen, Meister Iwarow?“<br />

776 hier liegen. Ich werde hier am Kellerloch <strong>als</strong><br />

Wache bleiben. Raus soll mir der Kerl lebendig nicht kommen.<br />

Wenn der Herr Amtswachtmeister kommt, dann lasst mich<br />

ablösen“.<br />

Preucke war zufrieden und ging mit Thomas zurück, unterwegs<br />

schimpfend über die verwahrloste Wirtschaft. Auf<br />

ihnen Lemke mit erhitztem Kopf von der Stadt her entgegen. Ein<br />

Bürger, der Meister Iwarow folgte ihm widerwillig. Die anderen<br />

hätten, wie Lemke erzählte, nicht gehorc<br />

Herrn Bürgermeister und dem Rat hätten sie sich befehlen zu<br />

lassen.<br />

„Ich werde zu meinem Schwager dem Stadtschreiber Vogel<br />

laufen, Herr Hofgerichtsrat, dann werden die Bürger<br />

Vorläufig habt Ihr genug Männer“, rief Thomas und eilte zur Stadt.<br />

„Vogel“, rief Thomas, an die Fensterlade des Stadtschreibers<br />

klopfend, „mach mir schnell die Tür auf“<br />

„Was willst du denn bei nachtschlafender Zeit“, antwortete<br />

Vogel, „ich wollte eben einschlafen“.<br />

„Zieh dich schnell an“, rief Thomas,<br />

entfliehen. Die Wachen von der Landmiliz sind sinnlos betrunken,<br />

die Bürger von der Stadtwache weigern sich, den Dienst zu<br />

übernehmen, der sie nichts angehe. Du musst auf die<br />

Bürgerwache gehen, dir werden sie dort schon gehorchen. Gi<br />

auch mein Feuerrohr, das ich dir vor 3 Wochen lieh, und die<br />

Ledertasche mit der Munition. Ich kann’s vielleicht brauchen“.<br />

Vogel zündete Licht an, öffnete die Haustür. Während er sich<br />

anzog, erzählte ihm Thomas alles, lud dabei sein Feuerrohr und<br />

beide verließen das Haus. Während sich Vogel zur Wache begab,<br />

eilte Thomas zum Schloss zurück. Er fand den Herrn<br />

Hofgerichtsrat mit dem Amtswachtmeister Lemke in Verlegenheit.<br />

lwarow wollte nicht den Wachtposten am Turm beziehen.<br />

„Ich übernehme freiwillig den Wachtposten am Turm“, sagte<br />

Thomas, „dann werdet Ihr doch mit mir zusammen dort stehen<br />

776<br />

Schimpfwort<br />

483


„I, dann ja“, sagte dieser gedehnt.<br />

„Nun, da redet Ihr doch endlich ein vernünftiges Wort“, sagte<br />

Thomas, „doch ich denke, Herr Hofgerichtsrat, wenn Ihr nichts<br />

dagegen habt, so gehen wir zuerst in’s Gefängnis. Wer weiß, ob da<br />

vor der Gefängnistür die Wachen ihre Pflicht und Schuldigkeit<br />

tun“.<br />

„Da habt Ihr recht“, sagte Preucke, „der handfeste Schmied<br />

wird<br />

ja wohl ein Viertelstündchen allein die Wache hier draußen<br />

versehen“.<br />

Lemke übernahm die Führung, ihm folgte<br />

der Hofgerichtsrat mit<br />

gezogenem Degen und Thomas schloss mit lwarow den Zug. Als<br />

man den Keller vor dem Gefängnis betrat, war dort kein Licht zu<br />

sehen, Lemke leuchtete umher. Da lagen die Wachen im tiefsten<br />

Schlaf, die geleerte Branntweinkruke<br />

leuchtete<br />

n die Laterne müsst<br />

e fuhr auf den<br />

777 umgestürzt daneben. Der<br />

Amtswachtmeister wetterte und fluchte.<br />

„Schimpft nachher“, sagte Preucke, die Hand ihm auf die<br />

Schulter legend, „öffnet vor allen Dingen die Gefängnistür. Am<br />

Ende bewachen wir einen leeren Käfig“.<br />

Lemke nahm einem der Betrunkenen den Schlüsselbund ab,<br />

schloss die Tür auf, nahm die Laterne von der Erde und<br />

in das Gefängnis. Da hing der Schieler mit beiden Händen an den<br />

Eisenstäben des Fensterrahmens, wie ein wildes Tier und<br />

versuchte hinauszusehen.<br />

„Noch haben wir ihn fest“, rief Lemke, die Tür wieder<br />

schließend. „Er ist an die Wand geschlossen, und ich werde hier<br />

vorläufig <strong>als</strong> Wache bleiben. Doch Herr Rat, sorgt dafür, dass ich<br />

bald abgelöst werde und Licht bekomme, den<br />

Ihr mitnehmen“.<br />

Thomas führte den Hofgerichtsrat zurück, und lwarow folgte. Als<br />

sie auf den Schlosshof traten, kamen ihnen durch das Schlosstor<br />

der Herr Amtsschreiber und der Herr Kanzelist, beide ziemlich<br />

schwankenden Schrittes, langsam entgegen. Preuck<br />

Kanzelisten los und donnerte ihn mit Worten vom Umhertreiben,<br />

Besaufen, Dienst versäumen, Wegjagen usw. an. Nachdem die<br />

Schale des Zorns sich über das Haupt des Schreibers ergossen<br />

hatte, wendete sich der Hofgerichtsrat an den Amtsschreiber:<br />

„Sorgt dafür, Herr“, rief er, „dass Licht in das Gefängnis kommt<br />

und lasst die Ketten des Gefangenen untersuchen. Ich mache<br />

Euch verantwortlich“.<br />

777 Flasche / Steinkrug<br />

484


„Kommt, Meister Iwarow“, sagte Thomas, sein Faustrohr<br />

schulternd, „kommt, wir müssen den Schloßschmied ablösen und<br />

ihn dem Herrn Amtsschreiber schicken. Ohne den, so scheint es,<br />

wird er wohl wenig von allein ausrichten, was der Herr Rat ihm<br />

aufträgt“.<br />

Iwarow wollte noch einige Einwendungen machen, folgte aber<br />

doch dem vorausschreitenden Thomas, indem er sich dicht an ihn<br />

herandrängte. Der Schmied stand mit gespreizten Beinen, sich auf<br />

den Spieß stützend, vor dem Kellerloch.<br />

„Meister, wir kommen, Euch ablösen“, sagte Thomas, „Wie<br />

steht’s mit dem Gefangenen?“<br />

„Vor einer Weile hörte ich von innen am Gitter Kettengeklirr, er<br />

muss hinaufgeklettert gewesen<br />

sein. Da habe ich die halb<br />

zerbrochene Stalltür, die dort am Turm im Winkel lag, <strong>als</strong><br />

Fensterlade vorgestellt“.<br />

„Beeilt Euch, Meister, zum Herrn<br />

Amtsschreiber zu kommen, der<br />

hat schon geladen. Ihr müßt ihm schon behilflich sein, alles das<br />

auszuführen, was der Herr Rat von ihm verlangt.<br />

Besonders sorgt<br />

dafür, dass wir Männer bekommen. Der Amtswachtmeister Lemke<br />

muss schon innen an der Gefängnistür Posten stehen.<br />

Die Wachen<br />

sind dort auch besoffen“.<br />

„Ich werde nach Hause laufen“, rief der Schmied, seinen Spieß<br />

schulternd, „und meine beiden Gesellen rufen, der Kujek ist<br />

gewiss schon heimgekommen. Es hat schon lange 10 geschlagen“.<br />

Damit eilte er davon.<br />

„Nun, Meister Iwarow“, sagte Thomas zu seinem Gefährten, der<br />

dicht neben ihm stand, „Ihr wärt wohl lieber im warmen Bett, <strong>als</strong><br />

<strong>jetzt</strong> auf Posten? Ihr klappert ja mit den Zähnen vor Frost und<br />

habt doch einen Pelz an. Dabei ist es nicht sehr kalt“.<br />

„Ach, Herr Thomas“, sagte lwarow zitternd,<br />

„die Kälte ist es<br />

nicht. Ich hätte doch nicht mit Euch mitkommen sollen.<br />

Hier ist es<br />

nicht geheuer“.<br />

„Redet doch nicht so, Meister“, unterbrach ihn Thomas, „hier ist<br />

doch vor uns nur freies Feld und Wiesen mit etwas Weidenstrauch.<br />

Es ist auch nicht sehr finster. Wir können ziemlich weit sehen,<br />

wenn sich jemand nähern sollte. Schämt Euch, Meister, Ihr seid<br />

ein Kerl wie ein Haus<br />

und werdet Euch so fürchten. Was ängstigt<br />

Euch so?“<br />

„Eigentlich sollte man in der Geisterstunde so was gar nicht<br />

reden“, sagte lwarow, „denn wegen der Gespenster haben die<br />

Wachen hier vor Angst genug ausstehen müssen. Ihr werdet<br />

gewiss<br />

auch davon gehört haben, Herr Thomas“.<br />

485


„Jasch wollte mir davon erzählen“, sagte Thomas, „aber ich<br />

gebot ihm zu schweigen. Solch dummes Zeug“.<br />

„Ach, das ist kein dummes Zeug“, unterbrach ihn lwarow, „die<br />

Brautleute, manche sagen auch es wären Bruder und Schwester,<br />

die in der Stadtmauer Tor vermauert sind, gehen<br />

te Iwarow, „hier soll vor Jahren im<br />

chloss eine Kapelle gewesen sein und unter ihr, wo <strong>jetzt</strong> der<br />

Gefangene sitzt, die Totengruft. Die armen Brautleute wollen<br />

wenigstens eine Stunde von 11 bis 12 ihre Ruhe haben. Wäre ich<br />

doch nicht mit Euch mitgegangen!“ schloss er mit den Zähnen<br />

klappernd.<br />

„Ich wünschte auch“, sagte Thomas, „Ihr Hasenfuß wäret<br />

weggeblieben. Wenn Ihr wollt, dann haut doch ab, Meister. Ich<br />

werde meinen Posten hier schon allein versehen“.<br />

„Allein fürchte ich mich zu gehen“, jammerte Iwarow, „begleitet<br />

mich doch wenigstens bis in die Stadt“.<br />

„Ich werde doch Eurer Narrheit wegen meinen Posten nicht<br />

verlassen“, rief Thomas ärgerlich und wendete sich von ihm ab.<br />

Ein leichter Wind hatte sich erhoben und jagte die Wolken an<br />

der schmalen Mondsichel vorüber.<br />

Iwarow lehnte mit gesenktem Haupt, ganz zusammengesunken,<br />

auf seinem Spieß. Plötzlich hob er den Kopf und rief: „Ach Gott,<br />

Herr Thomas, hört Ihr nicht das Stöhnen aus der Totengruft? Da<br />

rufen schon wieder die Geister!“<br />

Thomas lauschte gespannt, wirklich vernahm er ein dumpfes<br />

Geräusch. „Mir kommt es so vor, <strong>als</strong> ob jemand schnarcht“, sagte<br />

er nach der Stelle gehend, von wo der Ton her zu kommen schien.<br />

Iwarow wollte nicht allein bleiben und folgte mit wankenden<br />

Knien. Das Geräusch verstärkte sich.<br />

„Da seht ihr Euren Spuk“, rief Thomas, an dem Strebepfeile<br />

angekommen. „Da liegen die be en Wachen besoffen unten auf<br />

em Eis und schnarchen. Das Bett mag ihnen wohl etwas kalt<br />

werden“<br />

778 am polnischen<br />

hier um. Darum saufen sich die Wachen auch immer erst halb voll,<br />

ehe sie hier auf Posten gehen“.<br />

„Was haben denn aber die Brautleute hier am Turm zu suchen?“<br />

rief Thomas.<br />

„Ja, die Leut’ sagen“, erwider<br />

S<br />

r<br />

id<br />

d<br />

.<br />

778 „Eine Stadtmauer hat <strong>Angerburg</strong> nie gehabt. Als Befestigungen wurden lediglich im 17.<br />

Jahhundert an einzelnen Stellen Schanzen aufgeworfen und ein Palisadenzaun errichtet...An<br />

den Ausfallstraßen befanden sich Tore, das Königsberger, das Polnische und das Litauische<br />

Tor“. [Der Kreis <strong>Angerburg</strong>, 1971, E. Pfeiffer, S.94]<br />

486


Noch nicht lange hatten Thomas und sein zitternder Begleiter<br />

schweigend am Turm gestanden, <strong>als</strong> der Wind die tiefen<br />

abgemessenen Glockentöne der elften Stunde über das stille<br />

Städtchen trug. Nach dem letzten Schlag hörte das Summen nicht<br />

auf. „Was ist das?“ fragte Thomas verwundert.<br />

„Ach Gott, ach Gott, nun hingen sie schon“, schlotterte Iwarow.<br />

Seht dort! Von der Stadtmauer her, da kommen sie über das Eis<br />

geschwebt“.<br />

Wirklich sah Thomas zwei weiße Gestalten sich langsam dem<br />

Turm nähern.<br />

„Seht, wie die Sterbegewänder ihnen nachflattern. Alle guten<br />

Geister!“<br />

„Steht, oder<br />

ich schieße!“ rief Thomas laut, sein Faustrohr<br />

anlegend. Die weißen Gestalten kamen langsam näher. „Ich zähle<br />

eins, zwei, drei!“<br />

„Um Gottes willen, schießt nicht“, rief Iwarow,<br />

ihm in den Arm<br />

fallend. Der Schuss ging los, und sogleich verwandelten sich die<br />

weißen Gespenster in zwei dunkle Gestalten, welche in höchster<br />

Eile über die Wiesen zum Mauersee hin entflohen.<br />

„Ach Gott, Ihr werdet unglücklich sein“, jammerte Iwarow, „es<br />

ist ein Wunder, dass die Kugel nicht auf Euch zurückflog“.<br />

„Ihr seid ein Narr mit Eurer Gespensterfurcht“ schalt Thomas,<br />

indem er, so gut es in der Dunkelheit gehen wollte, sein Faustrohr<br />

lud. „Eine Schrotladung hätte dem frechen Gesindel nicht<br />

geschadet. Nun greift Euch die Kerle. Wie kommt Ihr dazu, mir in<br />

den Arm zu fallen? Ich kann den Posten<br />

hier nicht verlassen und<br />

den Strolchen nachlaufen“. So schalt Thomas, während Iwarow<br />

den Kopf hängen ließ und etwas murmelte.<br />

Da wurden Schritte hörbar, die sich schnell näherten. Ein<br />

Lichtschein kam um die Ecke, und es eilten Lemke und der<br />

Schlossschmied, gefolgt vom Schmiedegesellen Kujek, herbei.<br />

„Was war denn hier, weshalb habt Ihr geschossen?“ rief Lemke<br />

atemlos.<br />

„Die Gespenster wollten dem Schieler aus dem Gefängnis helfen<br />

und sind nach meinem Schusse dort über’s<br />

Eis entflohen“,<br />

antwortete Thomas.<br />

„Habt ihr wenigstens getroffen?“ fragte Lemke. „Der<br />

jämmerliche Kerl hier, der Iwarow fiel mir in<br />

den Arm. Darum ging<br />

der Schuss zu hoch“, antwortete Thomas. „Lasst einen von den<br />

Leuten hier mit dem Meister lwarow <strong>als</strong> Wache. Wir anderen<br />

wollen<br />

den Strolchen nachsetzen. Weit können die beiden Kerle<br />

noch<br />

nicht sein“.<br />

487


„Hier bleib’ ich nicht“, rief lwarow voller Angst.<br />

„Dann geht nach Hause, Ihr miserabler Kerl“, schrie Lemke ihn<br />

an. Der Kujek wird auch allein das Loch hier von außen<br />

bewachen“.<br />

„Raus kommt er nicht“, rief der Schmiedegesell.<br />

Die übrigen Männer eilten mit<br />

der Laterne zu der Stelle des<br />

Eises, an der die Gespenster verschwunden waren. Da lagen zwei<br />

lange Piken und daneben zwei reingewaschene<br />

ungemangelte<br />

Laken.<br />

„Ho, ho“, rief Lemke, „das sind ja die Piken von unserer<br />

Landmiliz, und die Laken sind hier vom Schloss gestohlen von der<br />

Leine, da ist noch das Zeichen“.<br />

„Hier führen die Spuren weiter im Schnee“, sagte Thomas, die<br />

Laterne senkend. „Wenn ich nur meinen Cerber hier hätte. Wer<br />

weiß, wo der Hund steckt? Das Umhertreiben ist sonst nicht seine<br />

Gewohnheit“.<br />

Lemke <strong>als</strong> alter Soldat übernahm die Führung. Er ordnete an,<br />

dass alle hinter ihm gehen sollten, um die Spuren nicht zu<br />

verwischen. Iwarow war mit Seelenzagen den Männern gefolgt, da<br />

er allein zur Stadt zu gehen nicht wagte. Er hatte die Hoffnung,<br />

dass sie bald umkehren würden. Jetzt blieb ihm nichts Anderes<br />

übrig, <strong>als</strong> ihnen weiter zu folgen.<br />

„Der ist auf Paretzken<br />

alles in Ordnung sei. Der verfluchte Kerl hatte beinahe<br />

und den Ring<br />

en. Jetzt wird er wohl Ruhe halten,<br />

779 gegangen“, rief der Schlossschmied.<br />

„Dort ist er eingebrochen, da ist ein fauler Graben. Nehmt Euch da<br />

nur in Acht“.<br />

„Es war gut, dass Ihr, Meister, so schnell bei uns wart, sagte<br />

Thomas. „Wie kam es, dass Ihr so geschwind kamt?“<br />

„Ich war mit den beiden Gesellen zu Lemke gegangen, um ihn<br />

abzulösen. Wir 4 Mann gingen in’s Gefängnis, um zu untersuchen,<br />

ob auch da<br />

schon den Ring durchgefeilt, an den er angekettet war. Als wir die<br />

Ketten weiter untersuchten, schlug er um sich, und wir 4 hatten<br />

zu tun, dass wir ihn unterkriegten<br />

zusammenschlagen konnten. Die Feile nahmen wir ihm aus dem<br />

Ärmel, auch ein langes Messer. Das müssen die Kameraden ihm<br />

durch das Luftloch gesteckt haben. Na, eine ordentliche Belehrung<br />

haben wir ihm gegeb<br />

besonders, da Licht im Gefängnis brennt. Der Jeschawitz blieb <strong>als</strong><br />

Wache, und ich ging mit Lemke und Kujek wieder auf den<br />

779 Abgetretene Schuhe, auch abgeschnittener Strumpf.<br />

488


Schlosshof, da hörten wir Euren Schuss und liefen an den Turm“.<br />

Die Spur führte deutlich sichtbar in einigen Windungen weiter.<br />

„Was ist das?“ rief Lemke, stehen bleibend. „Da ist ja auch<br />

nebenbei eine Wolfsspur„<br />

„Ach Gott! Ach Gott! Herr Wachtmeister!“ wimmerte Iwarow,<br />

„geht nicht weiter, das ist ein Warwulf<br />

ck.<br />

ch nur in Acht“, sagte Lemke zu dem tapfer<br />

Etwa 300 Schritte vor der Gesellschaft zeigten sich die<br />

mmten Umrisse eines größeren Weidengebüsches, aus dem<br />

780 gewesen“.<br />

„Haltet Euer Maul, Ihr Hans Narr“, rief Lemke, indem er<br />

sorgfältig der Spur folgte. Hinter einem Weidengebüsche machte<br />

die Spur eine scharfe Biegung und führte dann ziemlich gerade<br />

aus. nach kurzer Zeit schrie Iwarow:<br />

„Leut’, Leut, seid doch nicht doll, Ihr geht ja geradezu nach dem<br />

verwünschten Schloss, Ihr werdet doch nicht in der<br />

Geisterstunde… Hört Ihr, wie die armen Seelen in der Erde<br />

jammern?“<br />

„Na, da geh’ ich denn doch nicht mit“, meinte Kujek stehend<br />

bleibend. Sogar der Schlossschmied wich zurü<br />

„Ihr dummer Mensch hättet auch zu Hause bleiben können“, rief<br />

Lemke.<br />

„Was machen wir, Herr Thomas? Die Kerls kommen wirklich<br />

nicht nach, wir beide allein können dort nichts machen“, flüsterte<br />

er seinem Nachbarn zu, während die 3 anderen zurückweichen<br />

wollten.<br />

Thomas eilte auf lwarow zu. „Da habt Ihr, Meister, ein Stück<br />

Neujahrswachs, nun kann Euch kein Spuk etwas anhaben“, sagte<br />

er, indem er dem zitternden einen kleinen Gegenstand, der in<br />

Papier gewickelt war, reichte.<br />

„Gebt mir auch davon“, rief Kujek.<br />

„Mir auch“, sagte der Schlossschmied.<br />

Jeder erhielt sein Papierchen.<br />

„Nun begreife ich auch“, sagte Iwarow, „warum Ihr, Herr<br />

Thomas, Euch nicht fürchtet. Nun vorwärts!“ Er fasste seine Pike<br />

fest und war schnell neben dem Amtswachtmeister, der<br />

verwundert die Verwandlung nicht begreifen konnte.<br />

„Nehmt Eu<br />

voranschreitenden lwarow, „dass ihr nicht in einen der faulen<br />

Gräben geratet. Doch was ist das für ein Ton? Er scheint aus der<br />

Erde zu kommen, schweigt stille und steht“.<br />

unbesti<br />

die schwachen, langgezogenen, klagenden, halb erstickten Töne<br />

780 Werwolf<br />

489


zu kommen schienen. Die frische Spur im Schnee führte rechts ab,<br />

und <strong>als</strong> man ihr behutsam folgte, war das Eis gebrochen und das<br />

schwarze Moorwasser sichtbar.<br />

„Das ist wieder einer von den Gräben im Morast“, sagte Lemke,<br />

„aber hinüber müssen wir. Gebt einmal die Piken her, gut, dass<br />

wir die der beiden Gespenster auch mitgenommen haben“.<br />

4 Piken wurden über eine Stelle gelegt, wo das Eis noch nicht<br />

gebrochen war. Thomas ging mit einer Pike in der Hand über die<br />

improvisierte Brücke und reichte das Ende des Spießes den<br />

nachfolgenden Leuten, die ohne einzubrechen herüberkamen.<br />

Jetzt gings vorsichtig weiter, immer der Spur folgend. Schließlich<br />

kam man an ein Stück Mauerwerk. Deutlich wurde das Geheul<br />

gehört.<br />

„Wenn mich nicht alles täuscht“,<br />

sagte Thomas, „so ist das die<br />

Stimme meines Cerber. Der muß hier irgendwo in einem Keller<br />

oder Loch stecken. Cerber, Cerber!“ rief Thomas und pfiff gellend.<br />

Ein Freudegebell<br />

antwortete ihm. „Nun helft mir suchen, wo der<br />

Hund eingesperrt ist“, rief Thomas. „Wenn wir den erst befreit<br />

haben, so wird er uns bald auf die Spur der Strolche bringen“.<br />

Man kletterte vorsichtig weiter.<br />

„Das sind die Spuren Eures Werwolfs, Meister Iwarow“, sagte<br />

Thomas, „die sind ganz frisch und rühren von meinem Cerber her,<br />

<strong>als</strong> er die Spitzbuben verfolgte, nachdem ich sie des Abends<br />

verjagt hatte. Wenn hier nur nicht alles von Erlen und<br />

Weidengestrüpp vollgewachsen wäre. Aber seid einmal alle still<br />

und steht, damit wir genau hören können,<br />

wo der Hund steckt“.<br />

Alle blieben horchend stehen. Aus dem dichtesten Gebüsch kam<br />

das Wimmern des Hundes. Sich durch Strauchwerk windend, kam<br />

man bei dem Gemäuer an. „Hier scheint die Schlossküche<br />

gewesen zu sein. Da steht noch ein Stück des eingestürzten<br />

Schornsteins, da befindet sich der Hund. Aber wie kommen wir<br />

hinein? Wir wollen rund herumgehen,<br />

vielleicht zeigt sich ein<br />

Eingang“. Oft einbrechend, die Weiden zurückbiegend, kam man<br />

endlich zu einer niedrigen Mauer. Da hörte man das Jammern des<br />

Hundes ganz nahe. Ein platter ziemlich großer Stein<br />

wurde<br />

weggeschoben und dahinter fand sich, dicht an der Erde, ein<br />

ziemlich großes Loch in dem Fundament der Steinmauer. Thomas<br />

kniete nieder und leuchtete mit der Laterne hinein, soweit der Arm<br />

reichte. Es zeigte<br />

sich ein tiefer Keller unten voller Wasser, das<br />

gefroren war. Der Hund konnte nicht heraus, obgleich er<br />

mehrm<strong>als</strong> nach dem Ausgang in die Höhe sprang.<br />

490


„Leuchtet, Herr Amtswachtmeister“, sagte Thomas, diesem die<br />

Laterne reichend. „Und Ihr, Meister lwarow, gebt mir Eure<br />

Hellebarde, die hat einen Widerhaken“.<br />

Thomas fasste nun mit dem Haken das H<strong>als</strong>band des Hundes<br />

und zog ihn halb erwürgend aus dem Loch. Cerber hustete und<br />

schnupfte einige Zeit, bis er wieder zu Atem kam. Der arme Hund<br />

war jämmerlich geprügelt, wie aus den Striemen auf seinem Fell<br />

zu sehen war. Ein Ohr war ihm halb abgerissen und blutete.<br />

Thomas bestrich ihm dasselbe mit Öl, das er in seiner<br />

Munitonstasche fand, nahm ihn dann an die Leine und sagte:<br />

„Jetzt lasst dem Hund seinen Willen. Sind die Kerle hier<br />

versteckt, so findet er sie sicher“.<br />

Cerber ging mit der Nase an der Erde schnell durch Trümmer<br />

und Gesträuch, dass die Männer ihm kaum folgen konnten. Unter<br />

einem Bogen fanden sich Kohlen, Scherben und einige Lumpen, an<br />

einer andern Stelle zusammengetragenes Stroh und mehrere<br />

gerissene Pferdedecken.<br />

„Die Kerle haben sich hier eine ganze Zeit aufgehalten, wie es<br />

scheint“, sagte Lemke. „Wo mögen sie stecken?“<br />

Frische Spuren zeigten sich im Schnee, denen Cerber eifrig<br />

folgte. Sie führten im Bogen um<br />

ein Gebüsch und dann auf die<br />

gefrorenen Sumpfwiesen am Mauersee.<br />

„Da sind die Rackers ausgerückt“, rief Lemke. „Jetzt müssen wir<br />

uns beeilen, ihnen nachzukommen. Wir haben uns in ihrem<br />

Schlupfwinkel viel zu lange aufgehalten. Hütet Euch nur,<br />

dass Ihr<br />

nicht einbrecht und geht nicht in einem Klumpen“.<br />

Dem Hunde immer folgend war man auf die gefrorene Fläche<br />

des Mauersees gekommen. Hier gesellte sich zu der ersten<br />

menschlichen Spur eine zweite. Man war schon, denselben<br />

folgend, eine weite Strecke auf dem Eis vorgeschritten, <strong>als</strong> man<br />

auf den großen Winterweg kam, der über den Mauersee nach<br />

Süden führte. Der Hund blieb stehen.<br />

„Ja, was machen wir nun?“ fragte Lemke, die Laterne senkend,<br />

„da sind so viele Pferde-, Menschen- und Schlittenspuren, auch so<br />

viel Pferdemist und Stroh, dass man nicht erkennen kann, wohin<br />

der Paretzkenträger 781 mit seinen Kameraden gegangen ist.<br />

„Zurück nach <strong>Angerburg</strong> werden die Banditen wohl kaum<br />

gegangen sein“, meinte Thomas. „Mein Vorschlag ist, wir folgen<br />

der Straße weiter nach Süden und achten zu beiden Seiten darauf,<br />

ob eine Spur rechts oder links abführt“. Weil die anderen nichts<br />

781 S. FN 779<br />

491


Besseres vorzuschlagen wussten, ging man langsam weiter. Da<br />

teilte sich die Straße. Zweifelnd blieben alle am Scheidewege<br />

stehen und wussten nicht, wohin sie weitergehen sollten. Thomas<br />

machte auf einen Lichtschein im Süden aufmerksam, der sich zu<br />

nähern schien. Nach einiger Zeit unterschied man mehrere Lichter,<br />

die schnell näher kamen. Bald zeigten sich einige Reiter, die mit<br />

Fackeln in den Händen mehreren Schatten vorausritten oder ihnen<br />

nachfolgten.<br />

„Es ist der Herr Amtshauptmann“, sagte Lemke, „der mit seiner<br />

Begleitung von Doben zurückkommt. Er mag nun befehlen, was<br />

wir weiter tun sollen“. Der erste Schlitten kam heran. Der Herr<br />

Amtshauptmann Gottfried v. Perband saß allein in demselben und<br />

ließ halten, <strong>als</strong> er die Bewaffneten zu sehen bekam.<br />

„Lemke“, rief der Amtshauptmann, <strong>als</strong> er seinen<br />

Amtswachtmeister erkannte, „warum treibt Ihr Euch in der Nacht<br />

mit Bewaffneten auf dem See herum?“<br />

„Euer Gnaden zu dienen“, antwortete Lemke mit abgezogener<br />

Pelzmütze an den Schlitten tretend. „Gestern Abend wollten zwei<br />

Spitzbuben den Schieler befreien, sie wurden von Herrn Thomas<br />

Anderson verjagt. Wir haben die Kerle bis hierher verfolgt, aber<br />

auf der Winterbahn ist ihre Spur nicht mehr zu finden“.<br />

„Ihr werdet sie <strong>jetzt</strong> in der Nacht nicht bekommen“, sagte der<br />

Amtshauptmann, „dort weiter führen überall Bahnen nach Kehlen,<br />

Steinort, Stobben, Pristanien und an die Fischereistellen. Kehrt nur<br />

zurück, und Ihr, Herr Thomas, setzt Euch zu mir in den Schlitten<br />

und erzählt mir unterwegs, wie die Sache sich verhielt!“<br />

Thomas stieg ein, und im schnellen Trab ging es über das Eis<br />

des Sees und der Angerapp zum Schloss. Lemke, die beiden<br />

Schmiede und Iwarow hatten sich noch auf die anderen beiden<br />

Schlitten setzen oder stellen können und konnten so auch<br />

mitgefahren. Als der erste Schlitten durch das Schlosstor gefahren<br />

war und am Haupteingang des Schlosses hielt, kam der<br />

Hofgerichtsrat Preucke sogleich herbeigeeilt.<br />

„Gut, dass Ihr kommt, gnädiger Herr“, sagte er nach<br />

respektvoller Begrüßung. „In Eurer Abwesenheit wäre der<br />

Gefangene uns beinahe entflohen. Seit zwei Stunden ist der Herr<br />

Stadtschreiber Vogel mit etlicher Mannschaft aus der Stadt hier,<br />

da haben wir die Flucht verhindern können aber…“<br />

„Ich danke Euch, Herr Rat“, unterbrach ihn der Amtshauptmann<br />

aussteigend. „Herr Thomas hat mir unterwegs<br />

genau berichtet,<br />

was sich zugetragen hat. Ich danke Euch nochm<strong>als</strong>, dass Ihr<br />

meine Stelle vertreten habt. Euch“, wendete er sich an Thomas,<br />

492


der mit der Verbeugung sich entfernen wollte, und reichte ihm die<br />

Hand, „Euch, mein Freund, danke ich noch ganz besonders, dass<br />

Ihr so umsichtig gehandelt habt. Ich werde es Euch gedenken,<br />

doch <strong>jetzt</strong> geht nach Hause“.<br />

„Kommt doch morgen, Herr Thomas“, sagte Preucke, „etwas<br />

früher aufs Schloss zu mir, so etwa um 8. Ich möchte vor dem<br />

Termin noch mit Euch sprechen“.<br />

Thomas sagte zu, pfiff seinen Cerber und ging über die Brücke<br />

zur Freiheit<br />

Vaterhauses fand Thomas zu seiner<br />

wärest mit Deinem<br />

einem Bruder beim Ablegen seiner<br />

782 . Er konnte es nicht unterlassen, trotz des Umweges,<br />

am Giebel des Pfarrhauses vorbeizugehen, wo seine Esther schlief.<br />

Die Haustür des<br />

Verwunderung unverschlossen, und <strong>als</strong> er den Hausflur betrat,<br />

schien ihm der helle Lichtschein durch das runde Fensterchen in<br />

der Tür der Wohnstube entgegen. Er ging auf sie zu, erstieg die<br />

Stufen und öffnete. Am Tische saß bei der Lampe der Bruder<br />

Wilhelm, von Büchern umgeben, der bei dem Geräusch der<br />

geöffneten Türe aufsah.<br />

„Bist Du endlich heil und gesund heimgekehrt?“ rief er dem<br />

Bruder mit gedämpfter Stimme entgegen. „Der Vater wartete bis<br />

gegen Mitternacht auf Dich.<br />

„Jetzt hat die Uhr schon drei geschlagen“, sagte Thomas,<br />

„warum bist Du nicht schlafen gegangen?“<br />

„Der Vater befahl, ich sollte auf Dich warten und ihn wecken,<br />

wenn Du gekommen wärest“, antwortete Wilhelm.<br />

„Er und wir alle waren Deinetwegen recht in Sorge, weil Vogel<br />

mir im Vorbeieilen vor der Tür sagte, Du<br />

Faustrohr aufs Schloss gelaufen, da das Gesindel den Gefangenen<br />

befreien wolle. Als ich aufs Schloss kam, warst Du schon mit<br />

Lemke und andern Leuten fort. Da blieb uns nun nichts übrig, <strong>als</strong><br />

hier auf Dich zu warten. Die Zeit ist mir bei meinen Büchern gar<br />

nicht lang geworden. Ich komme so selten dazu, mich ungestört<br />

so lange mit ihnen zu beschäftigen“.<br />

Inzwischen hatte Wilhelm s<br />

Waffen, Stiefel und Oberkleider geholfen.<br />

„Was fehlt denn dem Cerber?“ fragte Wilhelm.<br />

„Der arme Hund hat viel aushalten müssen“, antwortete<br />

Thomas. „Schmiere ihm das verwundete Ohr mit der Heilsalbe, die<br />

auf dem Schrank steht. Willst Du denn nicht den Vater wecken?“<br />

782 Schlossfreiheit<br />

493


„Ich denke, wir lassen ihn schlafen“, erwiderte Wilhelm. „Der<br />

Schlaf tut ihm wohl, weil er noch immer nicht ganz gut zu Kräften<br />

gekommen ist“.<br />

„Thomas“, ertönte die Stimme des Vaters durch die angelehnte<br />

Tür der Schlafkammer. „Bist Du unbeschädigt zurückgekommen?“<br />

„Wacht Ihr, lieber Vater?“ antwortete Thomas, die Tür öffnend.<br />

„Dem Alter fehlt der Schlaf, den man in der Jugend jederzeit<br />

findet“, sagte der Alte. „Doch setz Dich einige Minuten an mein<br />

Bett und erzähl mir ganz kurz, wie es Dir ergangen ist“.<br />

Thomas brachte einen Stuhl, ergriff des Vaters Hand, die er<br />

küsste und berichtete sein Abenteuer.<br />

„Gott Lob“, sagte der Vater, „dass alles so abging. Doch <strong>jetzt</strong><br />

geh’ schlafen, mein lieber Sohn“.<br />

Wilhelm hatte in der Tür stehend zugehört und dabei seine<br />

Doktorei an Cerber vollendet. Beide Brüder gingen zu Bett, um<br />

noch einige Stunden zu ruhen.<br />

Stadtkirche <strong>Angerburg</strong>. Zeichnung um 1900<br />

494


34. Das Verhör des Schielers und der Zeugen<br />

Als am anderen Morgen, Montag, den 9. Februar, Thomas die<br />

Wohnstube betrat, fand er den alten Vater schon in seinem<br />

Hauspelz bei der Lampe sitzen. Bald darauf kam die Mutter mit<br />

den anderen Hausgenossen. Die Morgenandacht wurde gehalten<br />

und dann sogleich das Frühstück eingenommen. Der Wintertag<br />

brach eben an. Jeder ging an seine Arbeit. Thomas blieb bei dem<br />

Vater allein.<br />

„Ich muss mich bald zurechtmachen, um auf’s Schloss zu<br />

gehen“, sagte Thomas. „Der Herr Hofgerichtsrat sagte mir in der<br />

Nacht, dass er mich noch vor dem Termin sprechen wolle“.<br />

„Mein Sohn“, sagte der Alte, „ich meine, der Gang wird bei dir<br />

heute sauer ankommen. Ich habe die Esther gestern in der Kirche<br />

gesehen und kann es wohl begreifen, dass dein Herz sich sträubt,<br />

der holden Jungfrau zu entsagen. Es muss aber sein. Du wirst sie<br />

auf dem Schloss vielleicht gar nicht sehen. Sollte es aber<br />

geschehen, so wappne dich mit Mut und<br />

betrachte sie <strong>als</strong> eine<br />

Fremde“.<br />

„Ach, mein Vater“, sagte Thomas seufzend. „Ich glaube, ganz<br />

bestimmt zu wissen, dass die Jungfrau mir gar nicht abgeneigt ist.<br />

Nur der Vater in seiner unbegreiflichen…“<br />

„Vergiss nicht, mein Sohn“ unterbrach ihn der Alte sehr ernst,<br />

„des Vaters Segen baut den Kindern Häuser<br />

brigens über Esthers Vater nicht richten, denn der Mensch<br />

, sich an den Bruder wendend.<br />

783 . Eine ungehorsame<br />

Tochter wird ihrem Mann niem<strong>als</strong> ein Segen sein. Mit dem Fluch<br />

des Vaters kannst du ein Weib nicht in dein Haus führen. Wir<br />

dürfen ü<br />

sieht was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an 784 “.<br />

„Ihr habt Recht wie immer“, sagte Thomas, „aber das Herz lässt<br />

sich nicht so leicht bezwingen“.<br />

Die Tür wurde schnell geöffnet und eilig mit kurzem Morgengruß<br />

kam Anna, die Frau Kaplanin, hinein.<br />

„Mein Gott, Thomas“, rief sie<br />

„Was ist denn geschehen? Ich höre eben, du bist die ganze Nacht<br />

auf Spitzbubenjagd gewesen“.<br />

„Wer hat denn das erzählt?“ fragte Thomas.<br />

„Ach, unsere Lotte hat’s von Pfarrers Hanne gehört“, sagte<br />

Anna. „Die lwarowsche hat frische Fische zum Verkauf gebracht.<br />

In der Küche hat sie es der Frau Pfarrerin erzählt. Die Esther ist<br />

783<br />

Bibelzitat: Sirach 3,11.<br />

784<br />

Bibelzitat: 1. Samuel 16,7.<br />

495


auch dabei gewesen, und die Hanne hat jedes Wort gehört. Der<br />

lwarow soll sehr tapfer vorangegangen sein“.<br />

„Nun, der Vater wird dir alles erzählen, wie es sich wirklich<br />

begeben hat“, sagte Thomas. „Setze dich her, ich muss mich<br />

umziehen und dann aufs Schloss gehen“.<br />

Mit diesen Worten entfernte er sich und fand, <strong>als</strong> er mit Hut und<br />

Mantel zurückkehrte, die Hausgenossen um den Vater stehen, der<br />

Thomas’ Abenteuer erzählte.<br />

Thomas hatte dieselbe Kleidung angelegt, die er auf der Fahrt<br />

von Königsberg im Oktober 1687 getragen. Er trat auf den Vater<br />

zu, um sich zu verabschieden.<br />

„Nun Gott geleite dich, mein Sohn“, sagte der Vater, „und<br />

vergiss nicht, was ich dir gesagt habe“.<br />

Thomas küsste Vater und Mutter die Hand und ging dem Schloss<br />

zu. Auf dem Weg dahin wurde er mehrm<strong>als</strong> von Bekannten<br />

angehalten, die Auskunft über sein Abenteuer haben wollten. Nur<br />

mit Mühe konnte er sich losmachen. Auf dem Schlosshof war es<br />

nicht mehr so still wie am Abend vorher. Das Schlosstor war<br />

bewacht, die Wachen von der Miliz, die am Abend vorher so<br />

schlecht ihre Pflicht erfüllt hatten, wurden über den Schlosshof<br />

in’s<br />

Gefängnis geführt.<br />

Der Amtswachtmeister Lemke kam auf Thomas zu: „Guten<br />

Morgen, Herr“, sagte er, „Ihr habt wohl schön ausschlafen<br />

können.<br />

Ich habe kein Auge zugemacht. Die niederträchtigen Kerle hatten<br />

unsere Wachen besäuft. Nun wird’s ihnen schlecht gehen“.<br />

„Was haben denn die Wachen ausgesagt?“ fragte Thomas.<br />

„Sie sagten, sie hätten eine große Kruke voll Schnaps draußen<br />

am Kellerloch stehen gefunden. Die beiden anderen sagen, es<br />

hätte eine solche mit einem langen Band am Henkel dicht an der<br />

Gefängnistüre gestanden.<br />

Die müssen die Kerls von draußen dem<br />

Schieler durchs Kellerloch hinuntergelassen haben und der hat sie<br />

dann wieder durch das Schubfensterchen in den Vorkeller<br />

hinuntergelassen.<br />

Es war nun gut, dass schon um 6 Uhr morgens<br />

der Wildnisbereiter<br />

er“, sagte Thomas, da Lemke<br />

785 Christoph Forkert mit frischer Mannschaft<br />

ankam“.<br />

„Erlaubt, Herr Amtswachtmeist<br />

noch weiter alle Maßregeln auseinandersetzen wollte, „ich muss<br />

zum Herrn Hofgerichtsrat hineingehen“.<br />

785<br />

Jagdbeamter, der ein größeres Waldrevier beaufsichtigt. Später <strong>als</strong> Förster bzw.<br />

Oberförster bezeichnet.<br />

496


„Sagt mir doch wenigstens noch“, unterbrach ihn Lemke, „was<br />

habt Ihr gemacht, dass der lwarow in dieser Nacht, so wie man die<br />

Hand umkehrt, aus einem jämmerlichen Waschlappen ein ganz<br />

tüchtiger Kerl wurde?“<br />

„Ja seht“, antwortete Thomas, „Aberglauben muss mit<br />

Aberglauben vertrieben werden. Ich gab ihm ein Stück ganz<br />

echtes Neujahrswachs, das ich zum Abreiben des Schaftes meines<br />

Faustrohrs in der Ledertasche hatte. Doch ich muss zum Herrn<br />

Hofgerichtsrat“.<br />

Als Thomas den Hausflur betrat, war die Tür der Amtsstube weit<br />

geöffnet. Ein großer bedeckte r Tisch stand mit mächtigen<br />

Tintenfässern versehen, in der Mitte, doch war das Zimmer noch<br />

leer. Thomas ging <strong>als</strong>o a n die Tür nebenan, die in die Gastkammer<br />

des Rates führte. Der Diener kam eben heraus und<br />

sagte Thomas,<br />

dass der Rat dort allein wäre. Thomas öffnete die<br />

Tür, die nach<br />

innen aufschlug,<br />

nachdem der Diener ihn angemeldet hatte.<br />

Preucke saß im Lehnstuhl am Tisch, vor sich eine Menge Akten.<br />

Die<br />

beiden Kerzen auf dem Tisch waren tief herabgebrannt und<br />

schienen eben ausgelöscht zu sein. Das<br />

Gesicht des<br />

Hofgerichtsrats<br />

sah bleich und übernächtigt aus.<br />

„Guten Morgen, Herr Doktor“, sagte Thomas, sich verneigend.<br />

„Ihr scheint schlecht geschlafen zu haben“.<br />

„Mein Bett ist unberührt“ sagte Preucke, „Ich war die ganze<br />

Nacht auf. Zuerst nahm mich der Herr Amtshauptmann in<br />

Beschlag. Der ärgerte sich, dass er nicht länger, wegen des<br />

heutigen Termins, in Doben hatte bleiben können, wo sein<br />

Bruder 786 der Amtshauptmann von Rastenburg und viele von<br />

seinen Freunden und Bekannten zusammen gewesen wären. Als<br />

der Herr Amtshauptmann mich endlich entlassen hatte, finde ich<br />

hier an der Tür den Amtswachtmeister Lemke auf mich warten.<br />

Der bringt mir die Feile und das Wasser, das er und die Schmiede<br />

dem Delinquenten 787 des Nachts im Gefängnis abgenommen<br />

hatten. Als ich das Messer aus der Scheide ziehe, fallen zwei<br />

Kartenblätter heraus, ein Schellen Daus und eine Schellen<br />

Zehn 788 . Was mag das zu bedeuten haben?“<br />

„Nach meinem Dafürhalten“, antwortete Thomas, „haben die<br />

Kameraden des Gefangenen diesem dadurch die Stunde der<br />

786<br />

Es bleibt unklar, ob es sich hier um eine Aufzählung handelt oder ob der Rastenburger<br />

Amtshauptmann ein Bruder des <strong>Angerburg</strong>er Amtshauptmanns war.<br />

787<br />

[lat.] - Übeltäter<br />

788<br />

Spielkarten im Deutschen Blatt.<br />

497


Befreiung zu wissen tun wollen. 10 und 1 sind 11 und gestern, um<br />

11 Uhr nachts, am Abend um Glock’ Elf näherten sie sich dem<br />

Kellerloch“.<br />

„Wird wohl richtig sein“, sagte Preucke, „ich habe gleich in der<br />

Nacht den Amtswachtmeister und die Schmiede selbst zu Protokoll<br />

vernommen, denn mein<br />

Kanzlist war ganz und gar abgefallen.<br />

Heute Morgen, <strong>als</strong> der Tag graute, ging der Wildnisbereiter Forkert<br />

mit seiner Mannschaft, unter der Führung des Schlossschmieds<br />

zum Schlupfwinkel der Spitzbuben. Vielleicht bringen die Leute mir<br />

etwas, was mich auf die Spur leiten kann. Jetzt möchte ich Euch,<br />

Herr Thomas, über Eure Wache von gestern Abend zu Protokoll<br />

nehmen. „Daniel“, rief er dem Diener zu, „gehe doch noch einmal<br />

in die Kammer des Kanzelisten, den du schon mehrm<strong>als</strong> geweckt<br />

hast, und siehe, wie es um ihn steht. Es ist ein reines Elend mit<br />

dem Menschen, er ist gescheit und sehr brauchbar, wenn nur das<br />

verfluchte Saufen nicht wäre“.<br />

„Wie steht es mit Eurer Kopfwunde, Herr Doktor?“ fragte<br />

Thomas.<br />

„Ich habe nicht Zeit gehabt, daran zu denken“, sagte Preucke,<br />

„der Kopf ist<br />

mir ganz wüst“.<br />

„Ihr solltet Euch noch ein wenig niederlegen, Herr Doktor“,<br />

meinte Thomas, „Euer Herr Kanzlist könnte mich ja zu Protokoll<br />

nehmen“.<br />

„Ich kann doch nicht schlafen“, sagte Preucke, „nicht einmal das<br />

Frühstück schmeckt mir, das steht noch unberührt“.<br />

Der Kanzlist trat ein, nicht mehr so rosig angehaucht wie am<br />

Abend vorher. Er wurde von Preucke ziemlich barsch empfangen<br />

und machte sich gleich an das Geschäft, das Protokoll zu<br />

schreiben, das der Doktor diktierte. Er wurde von dem Diener<br />

unterbrochen: Der Henker aus Rastenburg<br />

sei da und ließe den<br />

Herrn Hofgerichtsrat gehorsamst fragen, wo er seine<br />

Folterinstrumente aufstellen soll.<br />

„Zeige ihm die Kammer neben der Amtsstube“, sagte Preucke,<br />

„dort soll er mit seinem Gerät bleiben, bis ich ihn rufen lasse. Er<br />

soll sich still verhalten. Die Verbindungstür zur Amtsstube darf<br />

nicht offen stehen und höre! Verstellt nicht die Tür, die aus der<br />

Wohnung des Herrn Amtshauptmanns in die Amtsstube führt, mit<br />

dem Tisch oder mit Stühlen“.<br />

Daniel entfernte sich und Preucke fuhr fort, weiter zu diktieren.<br />

Im Hausflur nebenan hörte Thomas Schritte und erkannte die<br />

Stimme<br />

des Amtswachtmeisters<br />

Lemke:<br />

498


„Kommt hier über den Schlosshof zur anderen Tür, Herr<br />

Diakonus mit der Jungfer Tochter. Des Herrn Amtshauptmanns<br />

Gnaden hat befohlen, Euch, wenn Ihr kommt, in seine Wohnung<br />

zu bringen“.<br />

Lemke führte die<br />

Lycker über den Schlosshof. Thomas sah durch<br />

das Fenster das feine Profil Esthers und folgte mit den Augen ihrer<br />

schlanken Gestalt, bis sie<br />

hinter der Haustür verschwunden war.<br />

Wahrscheinlich sah er sie zum letzten Mal. Als Preucke sein Diktat<br />

beendet hatte und die Schrift von Thomas unterzeichnet worden<br />

war, kam der Wildnisbereiter Forkert in Begleitung des<br />

Amtswachtmeisters Lemke hinein. Er war eben von seiner Suche<br />

zurückgekehrt und erzählte weitschweifig seine Taten. Den<br />

Schlupfwinkel in den Ruinen hätte man, wie zu erwarten gewesen,<br />

leer gefunden an einer Stelle, wo mehrere Menschen und viele<br />

Hundespuren im Schnee zu sehen gewesen. Auch ein dicker Stock<br />

mit eingedrückten Spuren von Zähnen hätte dort gelegen. Man<br />

hätte ein Stück von einem blauen Friesrock gefunden, das ganz<br />

frisch abgerissen gewesen sei und auch noch den Biss eines<br />

Hundes zeige. Stock und Lappen bringe er mit. Während der<br />

Erzählung des Wildnisbereiters war der Amtsschreiber eingetreten<br />

und bot <strong>jetzt</strong> dem Herrn Hofgerichtsrat seine gehorsamen Dienste<br />

an. Preucke sendete seinen Diener zu dem Herrn Amtshauptmann,<br />

um diesem anzuzeigen, dass sämtliche Zeugen anwesend wären<br />

mit der gehorsamsten Anfrage, ob des Herrn Amtshauptmanns<br />

Gnaden mit dem Verhör beginnen wollten.<br />

Nach kurzer Zeit kam Daniel mit dem Bescheid<br />

zurück, der Herr<br />

Hofgerichtsrat möchte nur anfangen. Der Herr Oberst würde sich<br />

später im Amtszimmer einfinden.<br />

„Bringt den Gefangenen herauf!“ sagte Preucke, seine Perücke<br />

zurechtsetzend, zu Lemke und Forkert, „und Euch, Herr<br />

Amtsschreiber, ersuche ich, meinem Kanzlisten behilflich zu sein.<br />

Der polnische Dolmetscher hat sich schon gemeldet“.<br />

Die beiden letzteren ergriffen die Aktenbündel. Der Diener war<br />

ihnen behilflich. Preucke schritt voran und ordnete, in der<br />

Amtsstube angekommen, an, wie sich jeder zu setzen habe. Er<br />

selbst nahm am oberen Ende des Tisches Platz. Neben ihm rechts<br />

musste für den Herrn Amtshauptmann ein Lehnstuhl leer bleiben,<br />

sowie an der Längsseite des Tisches ein anderer. Dann setzte sich<br />

der Herr Kanzlist<br />

neben dem Herrn Amtsschreiber und steckte die<br />

Federn<br />

hinter das Ohr. Dem Doktor gegenüber,<br />

an der unteren<br />

Seite des Tisches, wurde dem polnischen Dolmetscher sein Platz<br />

angewiesen. An der anderen langen Seite der Amtsstube stand an<br />

499


der Wand, die keine Fenster hatte, eine lange Bank, die von den<br />

Zeugen benutzt werden sollte. Jasch und Joseph waren schon<br />

zugegen. Hinter den beiden Schreibern stand zwischen den zwei<br />

Fenstern ein Repositorium 789 . Außer der Tür vom Hausflur, durch<br />

die man eingetreten war, befand sich in jeder der schmalen Seiten<br />

der Stube eine Tür. Thomas setzte sich in die Ecke des Zimmers<br />

und hatte Muße genug, diese Einzelheiten zu betrachten.<br />

Es dauerte ziemlich lange, bevor man von dem Gefangenen<br />

etwas vernahm. Preucke wurde ungeduldig. Endlich wurden im<br />

Hausflur Stimmen laut. Da brachten Lemke, Forkert, der<br />

Schlossschmied und andere Männer den sich sträubenden<br />

Gefangenen, mehr getragen <strong>als</strong> geführt. Noch in der Tür des<br />

Amtszimmers machte er einen Versuch, sich gegen die Schwelle<br />

zu stemmen und am Pfosten zu halten. Die Gesichter aller waren<br />

vom Kampf und der Anstrengung gerötet. Endlich wurde der<br />

Delinquent über die Schwelle gestoßen und an die untere<br />

Schm<strong>als</strong>eite des Tisches gebracht. Die Männer stellten sich neben<br />

und hinter ihn an den Tisch, dem Hofgerichtsrat gegenüber, und<br />

trockneten den Schweiß. Dem Schieler wurden, obwohl er<br />

Handschellen an den Handgelenken und Ketten an den Füßen<br />

hatte, noch die Hände mit Stricken auf der Brust<br />

zusammengebunden. Da stand er, mit gesenktem Haupt, die<br />

Augen von den buschigen Brauen ganz bedeckt, und rührte kein<br />

Glied. Nur die Brust arbeitete keuchend nach dem fruchtlosen<br />

Ringen. Der Hofgerichtsrat<br />

fing nun an, ihn zu befragen und auf<br />

ihn einzureden, doch Schieler machte so, <strong>als</strong> ob er völlig taub und<br />

stumm wäre. Da wurde Preucke ärgerlich und befahl dem Zeugen<br />

Joseph Sydwogrodtzki vorzutreten. Joseph wuchs ordentlich, <strong>als</strong><br />

sein Name gerufen wurde. Nachdem er seine Personalien<br />

angegeben, sah er sich den Delinquenten mit Kennermiene an,<br />

schwieg eine Zeit lang und sagte in polnischer Sprache:<br />

„Den Kerl hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen!“ Der Dolmetscher<br />

übersetzte die Worte und Thomas sah, dass es, wie ein Blitz, einen<br />

Augenblick in den Augen Schielers aufleuchtete. Doch kein Muskel<br />

seines Gesichts<br />

zuckte. Preucke winkte dem Joseph abzutreten<br />

und berief den Johann Podlesny. Jasch trat vor, besah sich den<br />

Gefesselten von vorn und hinten, machte sein allerpfiffigstes<br />

Gesicht und sagte in gebrochenem Deutsch:<br />

„Dieser scheint mir der Kerl zu sein, der mit dem Blaurock und<br />

noch<br />

einem Kameraden auf der Landstraße nach Rastenburg, nicht<br />

789<br />

Büchergestell,<br />

Aktenschrank<br />

500


weit von Bartenstein, an meinem Wagen war. Sie gingen dann alle<br />

drei auf dem Fußsteig neben der Landstraße eine ganze Strecke<br />

vor mir her. Dieser war der hinterste von den Dreien. Er sah sich<br />

mehrm<strong>als</strong> nach meinem Wagen um, da hingen ihm die buschigen<br />

Augenbrauen über die Augen, so wie <strong>jetzt</strong>“.<br />

Ob dieser derselbe sei, der bei dem Überfall auf der Landstraße<br />

vor Rastenburg dabei gewesen wäre, fragte der Hofgerichtsrat.<br />

Das wisse er nicht, war Jaschs Antwort nach einigem Besinnen.<br />

Jasch musste gleichfalls abtreten.<br />

Thomas sagte<br />

aus, der anwesende Delinquent hätte Ähnlichkeit<br />

mit<br />

dem lahmen Bettler, welcher nicht weit hinter Bartenstein auf<br />

der Landstraße die auf dem Wagen des Herrn Diakonus<br />

Schwindovius fahrenden Reisenden angebettelt. Doch schiene ihm<br />

der Bettler kleiner gewesen zu sein. Bei dem Überfall im Hohlweg<br />

des Wäldchens hätte er einen Menschen unter seinem Hunde<br />

liegen gesehen. Dieser wäre aber zu schnell in den Wald<br />

entwischt, <strong>als</strong> dass er bei der Dunkelheit seine Gestalt hätte<br />

erkennen können.<br />

„Ich lasse den Herrn Diakonum Schwindowium und seine<br />

Jungfer Tochter bitten einzutreten“, sagte Preucke zu dem<br />

Amtswachtmeister Lemke. Dieser eilte durch die Seitentür im<br />

Rücken des Hofgerichtsrats. Nach kurzer Zeit kam durch dieselbe<br />

der alte Oberst, Amtshauptmann Gottfried v. Perband, mit dem<br />

alten Schwindovius. Nach verschiedenen Komplimenten,<br />

Redensarten und gegenseitigen Verbeugungen gelang es dem<br />

Herrn Amtshauptmann, den Diakonus zuerst durch die Tür in die<br />

Amtsstube zu bitten. Beim Eintritt des Amtshauptmanns standen<br />

sämtliche Anwesenden auf und verbeugten sich tief. Preucke<br />

schob seinen Stuhl zurück, ging bis zur Tür entgegen und nötigte<br />

die Herren, sich auf den leer gelassenen Lehnstühlen an seiner<br />

rechten Seite niederzulassen. Schwindovius kam neben dem<br />

Kanzlisten<br />

an der Längsseite des Tisches, der Amtshauptmann<br />

an<br />

der<br />

schmalen Seite neben Preucke zu sitzen.<br />

Thomas sah Esther hinter den Männern eintreten, sie blieb auf<br />

der Schwelle stehen. Eine Flamme schlug über ihr Gesicht, <strong>als</strong> sie<br />

Thomas am anderen Ende der Amtsstube in der Ecke stehen sah.<br />

Ihre und Thomas Blicke trafen sich. Da wendete sich Preucke an<br />

Esther und bat sie höflich, da auf jener Seite kein Platz mehr<br />

wäre, sich an seiner linken Seite auf einen Lehnstuhl, den er<br />

heranschob, niederzulassen.<br />

„Nun, hat der Kerl <strong>jetzt</strong> etwas bekannt?“ fragte der<br />

Amtshauptmann den Rat, <strong>als</strong> er neben ihm saß.<br />

501


„Bis <strong>jetzt</strong> noch nicht, gnädiger Herr“, antwortete Preucke, „wir<br />

werden ihn aber schon dazu bringen. Zuerst möchte ich, wenn<br />

Euer Gnaden es nicht anders bestimmen, die sämtlichen Zeugen<br />

vernehmen“.<br />

Oberst v. Perband nickte die Erlaubnis zu. Der Diakonus<br />

Schwindovius sollte nun zuerst seine Personalien angeben, was<br />

auch geschah. Bei der Frage, ob er mit dem Delinquenten<br />

verwandt sei, fuhr er auf und schrie:<br />

„Der Satan mag mit dem Kerl verwandt sein, aber nicht ich“.<br />

Nachdem Schwindovius sich etwas beruhigt hatte, gab er an, dass<br />

er durchaus sich nicht besinnen könne, die Person des<br />

gegenwärtigen Kerls gesehen zu haben. Ein Andenken an die<br />

Rückreise von Königsberg hätte er noch an seinem beschädigten<br />

Fuß. Den Ärger, den die Reise ihm verursacht habe, würde er sein<br />

Lebenlang nicht vergessen und wenn er hundert Jahre alt würde.<br />

So fuhr Schwindovius noch eine ganze Zeit lang fort, seinem Ärger<br />

Luft zu machen,<br />

bis der Hofgerichtsrat ihn bat, sich<br />

niederzulassen, und er brummend sich in seinen Sessel setzte.<br />

Jetzt wurde Esther aufgefordert, ihre Aussage über den<br />

Gefangenen abzugeben. Sie stand auf und sagte mit klarer<br />

Stimme aus, dass der vor ihr stehende Mann derselbe sei, den der<br />

Hund Cerber im Hohlweg des Wäldchens<br />

vor Rastenburg bei dem<br />

Überfall niedergeworfen. Sie erkenne ihn ganz bestimmt. Es fehlen<br />

ihm, wie jeder sehen könne, an der linken Hand die beiden letzten<br />

Finger und sie hätte ganz genau bei dem Schein der Laterne<br />

gesehen, dass dem Mann, der unter dem Hund auf der Straße<br />

gelegen habe, die beiden letzten Finger der linken Hand, die er in<br />

die Höhe gehoben, gefehlt hätten. Alle Anwesenden waren,<br />

während Esther sprach, totenstill und sahen auf die über der Brust<br />

zusammengebundenen Hände des Gefangenen. Thomas lauschte<br />

der Stimme seiner Esther. Es kam ihm vor, <strong>als</strong> ob Schieler, <strong>als</strong> sie<br />

geendet hatte, ein wenig mit dem Fuß stampfte. Sein Gesicht<br />

verriet nichts<br />

und blieb unbeweglich. Der Protokollführer schrieb<br />

Esthers Aussage nieder.<br />

Preucke stand auf und nahm unter einem auf dem Tisch<br />

liegenden Tuch einen zerrissenen farbigen<br />

Lappen hervor.<br />

„Jetzt, Jungfer Esther“, sagte er, indem er ihr denselben reichte,<br />

„gebt uns Auskunft, ob Ihr in diesem Fragment einen Teil des<br />

Tuches wiedererkennt, das Ihr dem lahmen Bettler, der Euch auf<br />

der Landstraße hinter Bartenstein anbettelte, geschenkt<br />

habt“.<br />

Esther nahm den zugereichten Fetzen, schob ihren Stuhl zurück<br />

und prüfte genau die<br />

Naht des Saumes sowie die Art, wie an der<br />

502


Ecke die Säume zusammengestoßen waren. Lautlose Stille<br />

herrschte in dem Raume.<br />

„Das Zeugnis der Jungfer wird ihm <strong>jetzt</strong> wohl den H<strong>als</strong> brechen“,<br />

sagte halblaut der Hofgerichtsrat zu dem neben ihm sitzenden<br />

Amtshauptmann. Dieser nickte schweigend und wartete mit den<br />

übrigen gespannt auf den Ausspruch Esthers.<br />

Plötzlich vernahmen die Anwesenden ein unterdrücktes Geheul,<br />

sahen den Schieler auf Esther zuspringen, hörten einen schweren<br />

Fall und erblickten Esther ohnmächtig, von Thomas’ Armen<br />

aufgefangen, bevor sie niederfiel. Der Stuhl, von dem sie vorhin<br />

aufgestanden war, stürzte mit Gepolter zur Erde. Schieler lag mit<br />

blutendem Gesicht auf den Ziegeln des Fußbodens und versuchte,<br />

sich aufzurichten. Alle schrieen durcheinander, Lemke, Forkert und<br />

einige andere Männer warfen sich auf<br />

den Schieler. Die Rufe des<br />

Amtshauptmanns wurden nicht beachtet, ebensowenig das<br />

Geschrei des alten Schwindovius. Thomas erhob sich von den<br />

Knieen und trug die ohnmächtige<br />

Esther aus dem Getümmel durch<br />

die angelehnte Tür in den Hausflur. Der schöne Kopf lag auf<br />

seinen Schultern, die Haare hatten sich bei dem Fall gelöst. Der<br />

Diener des Hofgerichtsrats stand im Hausflur und klopfte den<br />

Mantel seines Herrn.<br />

„Daniel“, rief Thomas, „öffnet die Tür der Gaststube und lauft<br />

schnell zur alten Haushälterin! Bittet sie sogleich herzukommen.<br />

Die Jungfer ist in Ohnmacht gefallen“ .<br />

Der Diener stieß die Tür der Gaststube auf<br />

und eilte fort.<br />

Thomas legte seine süße Last in den großen Lehnstuhl. Der Kopf<br />

hing hinten über, die Hände fielen nieder. Durch die offenen Türen<br />

schallte das Durcheinander der Stimmen und das Toben der<br />

Kämpfenden. Thomas spritzte der Ohnmächtigen Wasser in’s<br />

Gesicht. Nichts regte sich, die Augenlieder blieben geschlossen.<br />

Das Antlitz war wie<br />

das einer Toten. Nochm<strong>als</strong> spritzte ihr Thomas<br />

Wasser in’s Gesicht und beobachtete mit angehaltenem Atem den<br />

Erfolg.<br />

„Mein Gott! Mein Gott!“, seufzte Thomas, „soll sie unter meinen<br />

Händen sterben?“ Er fasste Esthers Hand, um zu fühlen, ob der<br />

Puls noch nicht zu schlagen beginne.<br />

„Lasst die Hand meines Kindes los“, hörte Thomas hinter sich<br />

die harte Stimme des Diakonus. „Ihr habt keinen Teil an ihr. Geht<br />

und überlasst sie den Weibern“.<br />

Außer Atem kam die alte Schließerin angelaufen. Sie brachte<br />

mehrere Flaschen. Hinter ihr kam die Frau Amtsschreiberin,<br />

gefolgt von ihrer Annorte, die beide Medikamente herbeitrugen.<br />

503


Thomas drängte sich durch die Frauen, nachdem er noch einen<br />

Blick auf Esther geworden hatte, und schloss die Tür. Im Hausflur<br />

kamen<br />

ihm der Amtshauptmann und Preucke entgegen, denen es<br />

endlich gelungen war, wie vorher dem Diakonus, hinter dem Tisch<br />

hervor über die umgestürzten Stühle und durch die mit Schieler<br />

ringenden Männer hinauszugelangen.<br />

„Wo ist denn die Jungfer?“ fragte der Amtshauptmann.<br />

„Ich habe sie hier nebenan in die Gastkammer des Herrn<br />

Hofgerichtsrats<br />

getragen“, antwortete Thomas. Euer Gnaden<br />

Schließerin ist mit anderen Frauen um die Ohnmächtige<br />

beschäftigt“.<br />

„Wenn die alte Röckertin dabei ist, so ist die Jungfer in guten<br />

Händen“, sagte der Amtshauptmann. „Aber sagt doch, wie kam es<br />

eigentlich, dass Ihr mit dem Schieler auf einmal an der Erde lagt?“<br />

Thomas erzählte nun, er hätte in der Ecke nicht weit von dem<br />

Schieler auf der Bank gesessen, während die Jungfer Esther das<br />

Tuch genau untersuchte. Da hätte er bemerkt, dass der Schieler,<br />

<strong>als</strong> der Herr Hofgerichtsrat sagte, dies Zeugnis würde ihm den<br />

H<strong>als</strong> brechen, zusammenzuckte und sich wie ein Raubtier bückte.<br />

Er, Thomas, wäre schnell zugesprungen, hätte den Schieler<br />

aber<br />

nicht packen können. Es wäre ihm dann doch gelungen, auf die<br />

Kette zu treten und ihn so zu Fall zu bringen. Er wäre aber dabei<br />

selbst auf die Knie niedergerissen worden. Die Jungfer Esther<br />

hatte sich bei dem Geräusch gewendet, wäre kreidebleich<br />

geworden und mit geschlossenen Augen langsam umgesunken. Er<br />

hätte sie nur so eben vor dem Fall bewahren können.<br />

„Das müsst Ihr mir, Herr,<br />

zu Protokoll geben“, rief Preucke, „wir<br />

wollen in die Amtsstube gehen“.<br />

Eine der Mägde kam aus der Tür der Gaststube.<br />

„Wie steht’s mit der Jungfer?“ fragte v. Perband.<br />

„Die kam bald wieder zu sich“, antwortete die Magd. „Als wir sie<br />

aufs Bett gelegt und aufgeschnürt hatten. Sie fragte zuerst, ob der<br />

Herr Thomas erschlagen wäre. Ihr Vater sagte: Ach, der hat Dich<br />

hinausgetragen,<br />

dem fehlt nichts. Da fing sie an zu weinen. Die<br />

Schließerin schickt mich nach getrocknetem Herzgespann<br />

in“.<br />

790 , das<br />

soll gut dagegen se<br />

Der Amtshauptmann befahl, seinen Schlitten anzuspannen und<br />

den Diakonus aus Lyck mit seiner Tochter nach dem Pfarrhaus zu<br />

fahren.<br />

790<br />

Heilpflanze, die <strong>als</strong> Tee zubereitet, gegen Herzbeschwerden, Magenkrämpfe und<br />

Atembeschwerden helfen sollte.<br />

504


Als der Amtshauptmann mit Preucke und Thomas wieder die<br />

Amtsstube betraten, legte der Henker aus Rastenburg dem<br />

Schieler die Daumschrauben an.<br />

„So, alter Freund“, sagte der Henker, <strong>als</strong> er damit fertig war,<br />

„<strong>jetzt</strong> sollst du mir die Freudensprünge schon unterwegs lassen.<br />

Wie könnt<br />

Ihr aber auch“, wandte er sich an die ihm<br />

zuschauenden Männer, „ihm die Hände mit einem Strickchen<br />

zusammenbinden? Für so einen ist das gar nichts“.<br />

„Geht in Eure Kammer“, rief Preucke dem Henker zu, „und<br />

wartet, bis ich Euch rufen lasse“.<br />

Thomas wurde nun vernommen und, nachdem er seine<br />

Aussage<br />

unterschrieben hatte, entlassen. Als er in die Haustür trat, sah er<br />

eben den alten Schwindovius, der finster aussah, und Esther noch<br />

recht bleich, den Schlitten des Amtshauptmanns besteigen.<br />

Esther<br />

wendete den schönen Kopf noch einmal nach Thomas um, dann<br />

entschwand der Schlitten in dem finsteren Schlosstor.<br />

Wappen von <strong>Angerburg</strong><br />

gestiftet 4. April 1571<br />

von Herzog Albrecht Friedrich v. Preußen<br />

505


35. Ein glückliches Ende<br />

„Was ich für Ärger habe“, sagte am Nachmittag desselben Tages<br />

der alte Schwindovius zum Pfarrer Helwing, indem er in dessen<br />

Studierstube auf und abging. „Was ich hier für Ärger habe. Muss<br />

sie noch zuletzt dieser Mensch, der Thomas, vor allen Leuten in<br />

den Arm nehmen<br />

und hinaustragen? Solche Weibsleute<br />

erschrecken aber auch gleich und fallen in Ohnmacht. Nun fällt<br />

meine Esther in der Leute Mäuler und wird mit diesem Menschen<br />

zusammen in einem Atemzug genannt. Es<br />

ist nur gut, dass ich<br />

nicht länger hier bleiben darf, morgen früh fahren wir ab. Hab’<br />

dem Joseph schon gesagt, dass er alles zurecht machen soll“.<br />

„Du musst aber erst wieder, wie du mir sagtest, am Sonnabend<br />

zur polnischen Beichte in Lyck sein“, meinte Pfarrer Helwing. „Aber<br />

sag’ einmal, Georg, was hast du denn eigentlich gegen den<br />

Thomas, dass du ihn nicht <strong>als</strong> Schwiegersohn<br />

annehmen willst?<br />

Ich dachte, du würdest mir, <strong>als</strong> deinem alten Freund, dein<br />

Vertrauen schenken, aber du wichst immer aus,<br />

wenn ich vom<br />

Thomas<br />

anfing“.<br />

„Was weißt du denn davon?“ fragte<br />

Schwindovius, verwundert<br />

stehen bleibend.<br />

„Vielleicht mehr, <strong>als</strong> du denkst“, antwortete Helwing. „Aber was<br />

hast du gegen ihn?“<br />

„Er ist ein Calvinist!“ fuhr es Schwindovius heraus.<br />

„Woher weißt Du denn das?“ fragte Helwing. „Hast du ihn nicht<br />

selbst<br />

gestern in unserer Kirche beim Gottesdienst gesehen?“<br />

„Gewiss, zu meinem Ärger“, erwiderte Schwindovius, „aber wir<br />

Lutheraner<br />

schmeißen keinen aus unseren Gotteshäusern hinaus.<br />

Ich<br />

kann doch <strong>als</strong> Priester des Herrn keinen Calvinisten in mein<br />

Haus<br />

aufnehmen!“<br />

„Wer hat dir’s denn gesagt, dass Thomas ein Calvinist ist?<br />

Glaubst du mir nicht, so sieh’ doch einmal hier unser <strong>Angerburg</strong>er<br />

Taufregister an. Da findest Du, dass alle Kinder des Wilm<br />

Anderson von meinem Schwiegervater und von mir getauft sind.<br />

Hier Anno 1649 den 4. November Georgius, das ist der jetzige<br />

Pfarrer in Rosengarten. Hier, Anno 1655 den 29. Mai Anna, das ist<br />

die Frau unseres <strong>Angerburg</strong>er Diakonus Nebe. Hier Anno 1659 12.<br />

September Agneta, die ist gestorben. Dann hier die jüngeren<br />

Kinder: Wilhelm Anno 1666, der Freund meines Sohnes Georg<br />

Andreas. Wenn Du willst, kann ich Dir alle Kinder aufsuchen“.<br />

506


Schwindovius hatte die Brille aufgesetzt und las die Urkunden<br />

it Helwing zusammen, dann sagte er:<br />

„Ja aber, ich habe selbst manche Kinder von Calvinisten<br />

etauft“.<br />

„Nun, wenn di nder lutherisch<br />

getauft sind“, sagte Helwing, „h r unser Confitenten-Register 791 m<br />

g<br />

r das noch nicht genügt, dass die Ki<br />

ie<br />

.<br />

Wir wollen die früheren Jahrgänge nicht durchsuchen, hier steht<br />

Anno 1687: Dom 1 Adventus: Wilm Anderson<br />

und Barbara, uxor -<br />

Thomas, filius - Barbara, filia. Hier Anno 1688 Dom. III. post<br />

Epiphanias, den 25.Januar: Wiliam Anderson - Barbara uxor -<br />

Thomas filius - Wilhelm filius. Glaubst du <strong>jetzt</strong> endlich, dass der<br />

Thomas kein Calvinist ist? Und um deiner Hirngespinste willen<br />

wolltest du dein Kind um sein Lebensglück bringen und zwei gute<br />

Menschen unglücklich machen?“<br />

Schwindovius ging, der eingetretenen Dämmerung<br />

wegen, nahe<br />

an das Fenster und starrte mit immer größer werdenden Augen<br />

auf das Buch. Endlich sagte er:<br />

„Dass der Thomas kein Calvinist ist, glaube ich schon, aber er ist<br />

ein Mensch ohne alle Religion, ein Spötter unsers heiligen<br />

Glaubens. Er hat mir selbst die Grundsätze des Apostaten<br />

Glücklicherweise kann ich’s dir<br />

en<br />

792<br />

Prätorius und dessen Tuba pacis 793 zugeschickt und<br />

hineingeschrieben: Zum fleißigen Gebrauch, zur Erbauung der<br />

Kirche und zu meinem Seelenheile“.<br />

„O, du Tor“, sagte Helwing, „wie kannst du ohne alle Überlegung<br />

einen Menschen verdammen?<br />

besser sagen“.<br />

„Na, da bin ich doch neugierig“, sagte Schwindovius, seine Brille<br />

in die Höhe schiebend.<br />

„Es war uns Allen aufgefallen“, erzählte Helwing, „dass der<br />

Thomas nach seiner Heimkehr von der Reise nach Lyck, bald nach<br />

Neujahr, so still und traurig umherging. Man meinte, es käme von<br />

der überstandenen Lebensgefahr auf dem See. Da kam Thomas,<br />

wie Du eben im Confitenten-Register gesehen hast, vor 14 Tag<br />

mit den Seinigen zur Beichte. Dass ihm das heilige Abendmahl<br />

nicht ein bloßes opus operatum 794 war, ersah ich daraus, dass er<br />

nach dem Admonitum 795 mir im Beichtstuhl anvertraute, er könne<br />

791<br />

Register der Beichtenden<br />

792<br />

Abtrünnigen<br />

793<br />

Friedenstrompete<br />

794<br />

eine nur zum äußeren Schein unternommene Handlung<br />

795<br />

Warnung, Erinnerung<br />

507


in seinem Herzen die Bitterkeit gegen einen seiner Mitchristen<br />

nicht<br />

verwinden, und doch wäre es ihm nicht gelungen, denselben<br />

zu<br />

versöhnen. Auf näheres Befragen erzählte er mir: Um dich zu<br />

erfreuen,<br />

hätte Thomas, da du so sehr über den Verlust des<br />

Buches Tuba pacis gejammert, in Königsberg<br />

dir das Buch kaufen<br />

wollen. Er hatte sich den Titel Tuba pacis wohl gemerkt.<br />

Meiner<br />

Meinung<br />

nach aber verwechselte er es mit einem anderen Buch,<br />

welches Du auch unterwegs gelesen, es sehr gelobt und ihm viel<br />

daraus erzählt hast“.<br />

„Das ist Dr. Sam. Schelwings Schriftmäßige Prüfung des<br />

Papstthums gewesen“, sagte Schwindovius.<br />

„Das wird’s wohl gewesen sein“,<br />

fuhr Helwing fort. „Thomas<br />

suchte<br />

die Tuba pacis, den Titel hatte er sich in seinem Journal<br />

notiert. Ich muss schon etwas weitläuftiger erzählen, sonst glaubst<br />

Du mir nicht. Thomas ging <strong>als</strong>o zu den Buchhändlern in<br />

Königsberg. Zuerst ging er zu Heinrich Boje, bei dem, hatte<br />

Thomas’ Geschäftsfreund Krahl gemeint,<br />

würden die neu<br />

herausgekommenen<br />

Bücher zu finden sein, weil er erst Anno 1683<br />

das Privilegium erhalten hätte. Boje hatte das Buch aber nicht.<br />

Darauf ging Thomas zum alten Martin Hallervord<br />

as<br />

den, zierlich in rot gebunden mit weißen<br />

chweinsledernen Ecken und Rücken mit rotem glänzenden<br />

sich <strong>als</strong> Unterbibliothekar auf der<br />

Schlossbibliothek, und in der Bude war nur ein junger Mensch.<br />

n diesem erbat sich Thomas nun Tinte und Feder, um dir eine<br />

796 , welcher schon<br />

über 40 Jahre, wie du weißt, mit Büchern handelt. Da war d<br />

Buch auch nicht vorhanden. Thomas wurde nun zum Buchführer<br />

Paul Nicolai 797 geschickt, der den Buchladen der Akademie vor<br />

dem Schloss innehat. Hier war nur ein einziges Exemplar der Tuba<br />

pacis vorhan<br />

s<br />

Schnitt“.<br />

„Ja ja, das kenne ich“, unterbrach ihn Schwindovius, „Nicolai<br />

hatte im Herbst nur zwei Exemplare, das billigere kaufte ich ihm<br />

im Herbst selbst ab“.<br />

„Der Buchführer Nicolai“, erzählte Helwing weiter, „war nicht in<br />

der Bude 798 , er befand<br />

Vo<br />

Widmung einzuschreiben. Er hatte auch schon angefangen, <strong>als</strong> er<br />

mit seinem Latein am Ende war. Er fragte <strong>als</strong>o den jungen<br />

Menschen, was man wohl in solch ein geistliches Buch<br />

796<br />

Der Rostocker Buchhändler Johann Hallervord gründete um 1645 eine Filiale in<br />

Königsberg. Diese wurde von seinem Sohn Martin (gest. 1693) fortgeführt.<br />

797<br />

Er ist für die Jahre 1658/94 in Königsberg nachzuweisen.<br />

798<br />

Kleines Ladengeschäft<br />

508


einschreiben könne. Der wusste es auch nicht, besann sich aber,<br />

dass in einem der vorrätigen alten Bücher eine Dedication<br />

usammengeklebten Blätter auseinanderzerren, um sie zu lesen“.<br />

seine<br />

fallen und verließ, ohne<br />

Helwing sah ihm verwundert<br />

ach, wollte ihn aber nicht stören, sondern ihm Zeit zum<br />

er lief vor einer Weile hinaus ohne Mütze“.<br />

„Mein Gott, mein armer Vater, er wird sich in den Tod erkälten!“<br />

799<br />

eingeschrieben wäre und holte dieses hervor. Nun war aber die<br />

gedachte Dedication nicht für eine, sondern für mehrere Personen<br />

bestimmt. Thomas machte sich dieselbe <strong>als</strong>o, so gut er konnte,<br />

zurecht und schrieb sie auf die Innenseite des Deckels, packte<br />

gleich beim Buchführer das Buch, ein Tuch und andere Sachen ein<br />

und übergab sie am selben Tag dem alten Schotten Bell zum<br />

Versand nach Lyck. Das für dich gekaufte Exemplar hat er sicher<br />

nicht gelesen“.<br />

„Das ist richtig“, sagte Schwindovius, „der rote Schnitt war so<br />

blank wie ein Spiegel. Mit der größten Mühe musste ich die<br />

z<br />

„Und das andere Exemplar der Tuba pacis lag auf der<br />

Landstraße im wilden Wald. Thomas’ einziger Fehler ist gewesen,<br />

dass er mehr auf deine Esther <strong>als</strong> auf deine Worte geachtet hat,<br />

<strong>als</strong> du ihm auf der Reise die Schändlichkeiten in dem Buch<br />

erzähltest. Das hättest du alles lesen können, denn Thomas hat’s<br />

Dir wahrheitsgetreu geschrieben, aber du nahmst seinen Brief<br />

nicht an“.<br />

Plötzlich ließ Schwindovius das Confitenten-Register und<br />

Brille, die er in den Händen hielt, zur Erde<br />

ein Wort zu sagen, die Studierstube.<br />

n<br />

Nachdenken geben. Da Schwindovius aber nach einiger Zeit nicht<br />

wiederkam und der Abend sich immer dunkler auf die Erde senkte,<br />

öffnete der Pfarrer die Tür des Nebenzimmers, in welchem Frau<br />

Katharina und Esther saßen und sagte:<br />

„Ich weiß nicht, was meinem alten Freund Schwindovius<br />

widerfahren ist,<br />

rief Esther aufspringend, ergriff schnell des Vaters Pelzmütze und<br />

eilte hinaus.<br />

799 Widmung<br />

509


<strong>Angerburg</strong> nach einem Stich von C. Hartknoch 1684<br />

Thomas war wie betäubt mit gesenktem Haupte vom Schloss<br />

heimgegangen. Er kam nicht zur Mahlzeit, sondern blieb in seiner<br />

Kammer, wo er sich umgekleidet hatte. Der alte Vater verbot den<br />

Seinigen, ihn zu stören. Thomas saß auf seinem Bett und<br />

streichelte Cerber. Dann ging er auf den Hof und in den Stall. Hier<br />

trat ihm Jasch entgegen und erzählte <strong>als</strong> Neuigkeit, dass sein<br />

Freund Joseph eben weggegangen wäre. Er hätte von ihm<br />

Abschied genommen, da morgen in der Frühe die Rückreise nach<br />

Lyck angetreten werden solle. Also unwiederbringlich verloren,<br />

dachte Thomas. Er wollte wenigstens den Schatten von Esthers<br />

Gestalt noch einmal sehen, solange sie in seiner Vaterstadt weilte.<br />

Er ging <strong>als</strong>o mit Cerber zur Wohnung des Schwagers Nebe. Als er<br />

die Tür des Studierstübchens öffnete, war es leer. Das<br />

Dienstmädchen kam hinein und<br />

sagte, der Herr Kaplan wäre zu<br />

einem Kranken gerufen und die Frau Kaplanin<br />

mit der Kleinen vor<br />

einem Weilchen zu ihren Eltern gegangen.<br />

„Ich werde den Herrn Kaplan erwarten“, sagte Thomas, und<br />

stellte sich an das Fenster. Lange hatte Thomas am Fenster<br />

gestanden und in der Dämmerung über den Garten des Diakonus<br />

nach den Fenstern des Pfarrhauses hinübergesehen. Als die<br />

Schatten des Abends sich niedersenkten, raffte er sich auf, rief<br />

Cerber, ging langsamen Schrittes,<br />

mit gesenktem Haupt, die<br />

510


Pelzmütze über die Stirn gerückt, an der Schule vorbei und den<br />

Kirchenberg hinab. Dem Cerber war der Schritt zu langsam und er<br />

lief voran um die Ecke des Rathauses. Plötzlich hörte Thomas<br />

hinter sich schnelle Schritte und eine Stimme rief zitternd vor<br />

Aufregung:<br />

„Ach, lieber Mann“, habt Ihr nicht einen alten Herrn barhaupt<br />

her vor<br />

ich, die des Vaters Mütze in der Hand hielt und heftig erschrak,<br />

Mütze aus der<br />

elt:<br />

„Hier nebenan aus der Tür des Pfarrhauses“, sagte Esther.<br />

iefen Schnee und<br />

etete:<br />

as, „es ist ja mein innigster<br />

Herzenswunsch, Euer Sohn zu werden. Regt Euch doch nicht noch<br />

mehr auf, Ihr zittert ja wie Espenlaub“.<br />

An der Ecke des Kirchturms kamen der Pfarrer Helwing 801 hier vorbeieilen sehen?“<br />

Thomas wendete sich und sah in der Dämmerung Est<br />

s<br />

<strong>als</strong> sie sich Thomas gegenüber sah.<br />

„Gebt, Jungfer Esther“, sagte Thomas, ihr die<br />

Hand nehmend, pfiff seinem Cerber, der sogleich herbeisprang,<br />

und dem er das Innere der Pelzmütze vor die Nase hi<br />

„Von wo ist Euer Vater ausgegangen?“<br />

Thomas führte den Cerber an die Schwelle und deutete ihm, die<br />

Spur zu suchen. Sogleich legte der Hund die Nase an den Boden<br />

und folgte den Spuren, die hinter die Kirche führten. Thomas und<br />

Esther folgten, so schnell sie konnten. In der Ecke hinter der<br />

Sakristei kniete der alte Schwindovius im t<br />

b<br />

„Ach Herr, Herr, gehe nicht mit mir in’s Gericht, vor dir ist kein<br />

Lebendiger gerecht<br />

, seine<br />

800 . Um deiner Ehre willen, o Herr, habe ich<br />

erzwungen, was mir mein Herz sagte“.<br />

Thomas näherte sich ihm und legte sanft die Hand auf seine<br />

Schulter. Esther kam ihm sogleich nach und fasste die Hand des<br />

Vaters. Schwindovius sah verwundert auf, ließ sich aber geduldig<br />

aufrichten und von Thomas und Esther zurückführen.<br />

„Mein lieber Sohn“, sagte er zu Thomas mit erstickter Stimme,<br />

„mein lieber Sohn, ich habe Euch ein großes Unrecht abzubitten.<br />

Vergebt einem alten Mann, der mit Unverstand geeifert“.<br />

„Ach Herr!“ rief Thom<br />

Frau und die beiden Mägde mit Laternen, um den Diakonus zu<br />

800 Bibelzitat: Psalm 143,2.<br />

801 Der Pfarrer Andreas Helwing (geb. 1.1.1630 in <strong>Angerburg</strong>) und seit 1658 dort Pfarrer,<br />

hatte 1691 einen Schlaganfall. Ihm wurde deshalb sein Sohn Magister Georg Andreas Helwing<br />

adjungirt. Der alte Helwing starb am 31.8.1705. Seine Frau Katharina, Tochter des<br />

<strong>Angerburg</strong>er Pfarrers Magister Uriel Bertram starb am 7.10.1712. Das restaurierte Epitaph von<br />

511


suchen. Er wurde in’s Pfarrhaus geführt und in einen Lehnstuhl<br />

gesetzt. Er war ganz wie umgewandelt. Esther kniete zu seinen<br />

Füßen und breitete einen warmen Pelz um die Kniee des Vaters.<br />

„Mein liebes Kind“, sagte der Alte, ihr die Hand auf’s Haupt<br />

legend,<br />

„ich Unmensch wollte dein Lebensglück hindern“. Dabei<br />

reichte er Thomas die andere Hand.<br />

„Wie werden wir aber nur Thomas’ Vater umstimmen?“, fragte<br />

Pfarrer Helwing, sein Mützchen hin und her schiebend. „Das wird<br />

so leicht nicht sein“.<br />

„Ach, Du musst mit ihm reden, Andreas“, sagte Frau Katharina.<br />

„Das will ich ja gern“, meinte Helwing, „Gott gebe nur, dass es<br />

helfen möchte. Mein alter Schwindovius hat aber die Familie zu<br />

schroff, geradezu feindlich behandelt. Hätte Nebe seinem<br />

Schwiegervater nur nicht alles so haarklein erzählt. Nun ich will<br />

tun, was ich vermag. Kommt mit, Herr Thomas, wir wollen<br />

zusammen unser Heil versuchen“.<br />

Er ging in die Nebenstube zu seinem Mantel.<br />

„Möge es der Jungfer nie gereuen“, sagte Thomas zu Esther, ihr<br />

die Hand zum Abschied reichend. Sie erhob sich von den Knieen<br />

und sah Thomas mit einem solchen Blicke voll Liebe an, dass er<br />

beglückt die Holde umarmte und den ersten Kuss auf ihre Lippen<br />

drückte.<br />

Sprechen konnten beide nicht, so fand sie Pfarrer<br />

Helwing.<br />

“Nun kommt, Thomas“, sagte er, „es fehlt Euch noch der Segen<br />

Eures Vaters“.<br />

„Gott wolle Deine Worte segnen, mein treuer Freund“, sagte<br />

Schwindovius mit Tränen in den Augen zu Helwing, indem er ihm<br />

die Hand reichte. „Ich liege hier wie auf der Folter - culpa mea 802 -<br />

culpe mea!“<br />

Pfarrer Helwing und Thomas<br />

fanden den Vater des letzteren im<br />

Lehnstuhl hinter dem Tisch in seinem Stübchen am Kamin sitzend,<br />

eine aufgeschlagene Bibel vor sich. Die Tochter Anna saß<br />

daneben. Mit freundlichem Ernst empfing der Alte die beiden<br />

Ankömmlinge und bat den Pfarrer sich zu setzen. Anna wollte sich<br />

entfernen.<br />

„Bleib’ Sie nur sitzen, Frau Kaplansche“, sagte der Pfarrer, „Sie<br />

kann alles hören, was ich mit dem Vater zu reden habe“. Helwing<br />

Andreas Helwing mit lateinischer Inschrift, das sich ursprünglich auf dem Kirchhof vor dem<br />

Pfarrhaus befand, hängt heute an einer Wand im Hauptschiff der <strong>Angerburg</strong>er Kirche.<br />

802 [lat.] – meine Schuld<br />

512


machte keine langen Umwege, sondern kam sogleich auf den<br />

Zweck seines Kommens und erzählte den Grund von dem<br />

rätselhaften Benehmen des alten Schwindovius, der erfolgten<br />

Aufklärung am heutigen Abend durch eine wunderbare Fügung<br />

Gottes, und der Reue des Alten.<br />

Der alte Wilm hörte aufmerksam mit gefaltenen Händen zu.<br />

Lange schwieg er, <strong>als</strong> Helwing geendet. Thomas unterbrach das<br />

Schweigen und bat mit bewegenden Worten um des Vaters<br />

Einwilligung.<br />

Anna half von der anderen Seite bitten.<br />

„Nun“, sagte der alte Wilm endlich, „weil das Lebensglück<br />

meines braven Thomas davon abhängt, so will ich alter Mann, der<br />

nahe am Grab steht, mich überwinden und ihm nicht weiter<br />

entgegensein. Doch das bedinge ich mir aus: Der Diakonus<br />

muss<br />

in aller Form vor Zeugen widerrufen, was er gesagt hat. Sagt ihm<br />

das, nur unter der Bedingung willige ich ein, dass Esther des<br />

Thomas Weib werde“.<br />

„Vater“, sagte Thomas, dem Alten beide Hände küssend. „Vater,<br />

das werden ich und Esther Euch nie vergessen und Euch auf<br />

Händen tragen“.<br />

Schon hatte er seine Mütze ergriffen und eilte in das Pfarrhaus.<br />

Er fand Schwindovius,<br />

unruhig in der Stube auf- und abgehen.<br />

Frau<br />

Katharina saß mit Esther auf der Ofenbank und redete ihr<br />

friedlich<br />

zu.<br />

„Wie steht’s?“ rief Schwindovius, hastig auf Thomas zueilend,<br />

„was<br />

bringt Ihr?“<br />

„Versöhnung“, rief Thomas atemlos vom schnellen Lauf. „Der<br />

Vater verlangt aber von Euch, Herr, vollständigen Widerruf<br />

und<br />

Abbitte“.<br />

„Gott Lob“, rief Schwindovius, „das will ich mit Freuden sehr<br />

gern<br />

und mit ganzem Herzen. Meinen Mantel, meine Mütze“.<br />

Es g ing ihm alles nicht schnell genug. Er wollte nicht warten,<br />

bis<br />

Frau Katharina und Esther ihre Spreiztücher umnahmen. Thomas<br />

führte<br />

den alten Mann, der mit wankenden Knieen vorwärts<br />

strebte.<br />

Thomas’ Vater stand auf, <strong>als</strong> sein Sohn den Diakonus<br />

hineinführte. Dieser eilte auf ihn zu:<br />

„Ach Herr“, sagte er mit<br />

zitternder Stimme, beide Hände entgegenstreckend,<br />

„könnt Ihr<br />

mir alten Mann verzeihen, dass ich<br />

aus<br />

Unverstand geeifert und<br />

Euch und Eure Familie so schwer<br />

gekränkt?<br />

Ich bitte“.<br />

513


„Sei willfährig deinem Widersacher bald, so lange du mit ihm auf<br />

ir sind beide alte Männer“,<br />

onus ergreifend.<br />

lgt von der Frau Katharina. Jetzt<br />

äherte sich Esther mit zögernden Schritten:<br />

rsame Tochter annehmen,<br />

fragte sie mit tränenden<br />

Aug ilm.<br />

„M ch, „ich habe dich in der<br />

Kirc <strong>als</strong> Du glaubst. Gott segne<br />

Dich reichsten Segen. Mein Sohn,<br />

imm hi si b sei, und möge der Herr,<br />

r ein solches Glück dir<br />

sch wigten Mutter in Gnaden<br />

bes<br />

A Esther freigab, fiel ihr um den<br />

Hal in den wenigen Tagen eine liebe<br />

Sch h mich, dass du uns so<br />

ahe stehen wirst. Ich danke Euch, Herr“, wendete sie sich zu<br />

Eure liebe Esther gebt“.<br />

A dovius’ Kommen nach ihrem<br />

Man nüber zu kommen. Nebe<br />

trat ehen, wie Schwindovius seine<br />

Frau tte und ihr einen Kuss auf die<br />

Stir bemerkte die Wolke auf<br />

sein<br />

„Wunderliche Geschichten, Herr Sohn“, rief er ihm entgegen.<br />

„Der Herr Schwindovius ist hergekommen, um Euch in aller Form<br />

Abb n wegen der bösen unbedachten Worte, die er gegen<br />

Euch ausgestoßen“.<br />

Schwindovius wendete sich um: „Herr Bruder“ - sagte er<br />

zerknirscht, „ich bitte Euch von ganzem Herzen um Vergebung,<br />

dass ich Euch in der Hitze…“<br />

, alter Freund, doch morgen früh nicht dem<br />

indovius 804 dem Wege bist, sagt der Heiland<br />

die Hand reichend.<br />

803 . W<br />

sprach Wilm, beide Hände des Diak<br />

Esther kam durch die Tür, gefo<br />

n<br />

„Wollt Ihr mich, Herr, <strong>als</strong> Eure geho<br />

die Fremde, die Ihr gar nicht kennt?“<br />

en und küsste die Hand des alten W<br />

ein liebes Kind“, sagte dieser wei<br />

he gesehen und kenne dich besser,<br />

und meinen Thomas mit seinem<br />

n n die Esther, dass e dein Wei<br />

unser Gott, in seiner Barmherzigkeit in ih<br />

enken, wie er es mir und deiner vere<br />

cheret hat“.<br />

nna trat hinzu, <strong>als</strong> Thomas seine<br />

s und sagte: „Du bist mir<br />

wester geworden. Wie sehr freue ic<br />

n<br />

Schwindovius, „dass Ihr meinem Bruder<br />

nna hatte gleich nach Schwin<br />

n gesendet um ihn bitten lassen, hi<br />

nun ein und war erstaunt zu s<br />

bei beiden Händen gefasst<br />

ha<br />

n drückte. Nebes Schwiegervater<br />

er<br />

Stirn:<br />

itte zu tu<br />

„Herr Bruder“, unterbrach ihn Nebe, „ich habe Euch in der<br />

furchtbaren Sturmnacht schon von Herzen vergeben und freue<br />

mich um so mehr, dass Ihr, Herr, einseht, dass Ihr mir unrecht<br />

getan habt“.<br />

„Nun wirst du<br />

Thomas seine Esther entführen wollen“, sagte Pfarrer Helwing,<br />

dem Schw<br />

803 Bibelzitat: Matth. 5,25.<br />

514


„ Ich bleibe“, erwiderte dieser, „wenn Ihr mich nur behalten<br />

wollt, so lange ich irgend k ann. Ich bin <strong>jetzt</strong> ein anderer Mensch<br />

geworden. Ganz leicht ist mir’s ums Herz. Du glaubst gar nicht,<br />

Andreas, wie ich gekämpft und gerungen habe. Immer zog es<br />

mich zum Thomas, dem ich so viel Dank schulde. Dir, Andreas,<br />

muss ich ganz besonders danken, dass…“<br />

„Lass uns gemeinsam dem Herrn danken“, unterbrach<br />

ihn<br />

Helwing, „der alles so wundersam gefügt hat“.<br />

Ende<br />

804 Der Diakon Georg Schwindovius starb 1705. Sein ältester Sohn Georg Schwindovius<br />

wurde 1689 Rektor in Lissewen und nach 34jährigem Schuldienst im Dezember 1723 Pfarrer<br />

in Wittichwalde im Amte Hohenstein, Inspektion Saalfelden, aber nach 11 Jahren 1732<br />

removirt. - Esther Schwindovius heiratete noch 1688 den Rats-Verwandten Thomas Anderson<br />

in <strong>Angerburg</strong>. Die jüngere Tochter Marie Schwindovius heiratete 1688 den Pfarrer Johann<br />

Albrecht Cibulcovius in Neuhoff, der 1699 Pfarrer in Kutten wurde, wo er 1708 gestorben ist.<br />

Der jüngste Sohn Bernhardus Schwindovius wurde 1698 aus der Provinzi<strong>als</strong>chule zu Lyck<br />

entlassen und kam am 10.1.1699 zur Universität Königsberg, starb a.d.Pest. [Eduard Anderson:<br />

Fernere Schicksale der in dieser Familiengeschichte vorkommenden Personen]<br />

515


Nachtrag von Eduard Anderson<br />

Die Hochzeit des Thomas Anderson und der Esther Schwindovius<br />

wurde am 24. Oktober 1688 gefeiert.<br />

Der alte Wilhelm Anderson durfte<br />

sich nicht mehr lange Zeit des<br />

Glückes seiner Kinder erfreuen, da aber die Toten-Register der<br />

Stadt <strong>Angerburg</strong> bis 1696 verloren gegangen<br />

sind und in den<br />

Aufzeichnungen des Thomas Anderson die Blätter aus den ersten<br />

90 Jahren ausgeschnitten wurden, so kann der Todestag des alten<br />

Wilhelm Anderson nicht angegeben werden. Seine Frau Barbara<br />

überlebte ihn und starb noch vor 1696.<br />

Von Wilhelm Andersons Kindern übernahm Thomas die<br />

Handlung des Vaters in <strong>Angerburg</strong>.<br />

Georg Anderson, der Pfarrer in Rosengarten, starb 1706. Seine<br />

Ehe scheint kinderlos gewesen zu sein. Das Tauf-Register der<br />

Kirche Rosengarten ist sehr lückenhaft, das Toten-Register bis<br />

1716 gar nicht vorhanden. Die Frau des Pfarrers Georg Anderson<br />

kommt im Gedenkbuch des Thomas 1698 d. 17.Januar <strong>als</strong> Pate bei<br />

einem der Zwillingspärchen desselben vor. Anna, die Frau des<br />

Diakon Nebe in <strong>Angerburg</strong>, starb wie ihr Mann 1710 an der Pest<br />

(55 Jahre alt, geb. 29.5.1655).<br />

Wilhelm Anderson kam 1690 am 20.März auf die Universität<br />

Königsberg. Nach seiner Studienzeit kam er <strong>als</strong> Rektor nach<br />

Goldap, wurde am 30.März 1699 (Montag nach Lätare) <strong>als</strong><br />

polnischer Diakon in Rastenburg an der Schlosskirche ordiniert<br />

und am Palmsonntage d. 12.April 1699 in Rastenburg introduciert.<br />

Der Name seiner Frau ist nicht angegeben. - Wilhelm Anderson<br />

starb am 2.1.1704. Sein Sohn Wilhelm Anderson, geb. in<br />

Rastenburg, ist am 23.Novbr. 1717 in Königsberg introduciert.<br />

Johann Anderson, geb. 13.2.1671, wurde Kaufgesell in<br />

Königsberg, kam Freitag, d. 30.August 1697 nach <strong>Angerburg</strong>, fuhr<br />

d. 31.8. mit seinem Bruder Thomas auf den Jahrmarkt nach<br />

Goldap, erkrankte und starb 14.9.1697. Rektor und Kantor wollten<br />

die Leiche nicht mit der ganzen Schule zu Grabe geleiten, was<br />

ihnen eine scharfe Verfügung des Kurfürsten Friedrich III. vom<br />

5.12.1697 zuzog. Barbara starb 1709, bald darauf auch ihr Mann,<br />

der Stadtschreiber Jacob Vogel am 28. Dez.<br />

516


Anhang 1<br />

Aus Thomas Anderson’s Gedenk-Buch 805<br />

Anno 1689, Dienstag nach Kreuz Erhöhung 806 , d 16 t September ist<br />

mein Sohn ein in diese mühsehlige Welt geboren und am 21 t<br />

September getauffet [auf] den Namen Wilhelm – Die Pathen seynd<br />

gewesen: Herr Michael Rohr – Herr Andreas Winckler – Herr<br />

Gisevius. (vergl. Pag. 652. 789.).<br />

Anno 1693 am Montag, den 10 t Augusti, hat der Herr mein Weib<br />

erlöset und uns eine Tochter geschenket. Die Pathen waren:<br />

Herr Jacob Nebe, Diakon aus <strong>Angerburg</strong> – Herr Samuel Gisevin<br />

Den Namen erhielt sie Esther. (P. 674).<br />

Anno 1696 d 14 t Januarii am Sonntag nach der deutschen Predigt<br />

<strong>als</strong> die Frau nach Hause gekommen, ist mein Sohn zur Welt<br />

geboren und [hat] den Namen Johann Georg bekommen.<br />

Die Pathen seyend gewesen: Herr Amtsschreiber Christian<br />

Salomon – Herr Rektor Samuel Ahl – Herr Kantor Andreas<br />

Zdorovius – Frau Kaplanin Nebin – Frau Schosseinnehmerin<br />

Grützlerin 807 .<br />

Anno 1696 ist mein jüngster Sohn Johann Georg Seelig in dem<br />

Herrn entschlaffen an den bösen Pocken undt zwar den 26<br />

Novembris am Montag auf die Nacht zwischen 10 und 11 Uhr. Auf<br />

den Montag ist der Katharinen Tag Eingefallen habe ihn auf den<br />

Freitag darauff an welchem des Apostels Andreä Tag gefeiert<br />

worden, begraben lassen.<br />

Anno 1697 d 30 Augusti ist mein Seeliger Bruder Johann, ein<br />

Kauffgesell von Königsberg zu mir gekommen, undt den folgenden<br />

Tag darauf auf den Goldapschen Aegidi Markt gefahren, <strong>als</strong> er<br />

805<br />

Abschrift aus dem Kirchenbuch, korrigiert und ergänzt nach einer Kopie des Original-<br />

Gedenkbuchs von Thomas Anderson und seinen Söhnen. Der Text wurde in Auszügen<br />

(vermutlich von Eduard Anderson) in das älteste <strong>Angerburg</strong>er Kirchenbuch (1605-1709)<br />

übertragen. Dieses Kirchenbuch ist lediglich <strong>als</strong> Verfilmung (LDS-Filmnr. 1198173/1198174)<br />

erhalten geblieben.<br />

806<br />

Das Kreuz, an dem Christus starb, wurde nach einem Bericht des Chronikon paschale am<br />

14. September 320 von der heiligen Helena, Kaiserin und Mutter Konstantins des Großen, in<br />

Jerusalem aufgefunden. Zum Andenken an dieses Ereignis feiert die Kirche an diesem Tag das<br />

Fest der „Erhöhung des heiligen Kreuzes“, kurz „Kreuzerhöhung“ genannt.<br />

807<br />

Der Name steht nur im Gedenkbuch, nicht aber in der Übertragung im Kirchenbuch.<br />

517


aber mit mir nach Hause gekommen den 4 t September nach 3 Uhr<br />

gegen den Abend von dem allerhöchsten Gott mit der schweren<br />

Krankheit heimgesucht, hat dieselbe 8 mal hintereinander gehabt<br />

biß man den Feldscheer dazu genommen, hat er ihm wieder die<br />

Krankheit was eingegeben, hat sie ihn verlassen doch aber ist er<br />

sehr schwach geworden, dass er den 14 t Septembris, an welchem<br />

Kreutz Erhebung gewesen, des Morgens zwischen 5 und 6 Uhr<br />

Seelig in dem Herrn Entschlafen seines Alters 26 Jahr 6 Monat. 808<br />

Anno 1698 d 17 Januarii und zwar am Freitag Abends um 9 Uhr<br />

hat der Liebe Gott mein Weibchen erlöset und uns mit einem Paar<br />

Söhnchen erfreuet, seind am Montag <strong>als</strong> den 20sten getaufet. Die<br />

Pathen sein gewesen, Herr Bürgermeister Ägidius Pech – Herr<br />

LandtKämmerer u. Kirchenvorsteher<br />

Matthis Quassowski, Herr<br />

Friedrich Döbsch, Mälzenbräuer – Herr Johann Schleusing, Adl.<br />

Gerichts Schreiber – Frau Richterin Wollweberin des Bruders von<br />

Rosengarten Pfarrerrn Frau – Frau Wachtmeisterin Lemkin.<br />

Der Name ist ihm gegeben in der Tauffe:<br />

Thomas, dem ersten. (vergl. P. 704)<br />

D 31 Martii 1698, am Ostermontage ist der jüngste welcher den<br />

Namen Christian in der hl. Tauffe empfangen, des Morgens<br />

zwischen 4 undt 5 Uhr, Seelig in dem Herrn entschlaffen, seines<br />

Alters 10 Wochen 2 Tage. Gott verleihe dem Körper in der Erden<br />

eine sanfte Ruhe undt am jüngsten Tage eine Fröhliche<br />

Auferstehung.<br />

Anno 1699 d 8 July, Mittwoch des Morgens bey anbrechendem<br />

Tage hat der liebe Gott mein Weibchen erlöset und uns einen<br />

jungen Sohn bescheret, derselbe auch d 10 July, <strong>als</strong> Freitag darauf<br />

die heilige Tauffe empfangen mit dem Nahmen Bernhard. Die<br />

Pathen sein gewesen Herr Stadtschreiber Jacob Vogel, H. Michael<br />

Kretschman, H. Merkisch, Fr. Jordansche, Sattlersche, Fr.<br />

Heysersche, die Junge. (P. 714)<br />

Anno 1703 d 15. Martii bin ich von der gantzen Löblichen<br />

Bügerschaft zu dem Bürgermeisterlichen Ambte erwählet und von<br />

Sr. Excellence Herrn General Feldzeugmeister von Tettau darzu<br />

confirmiret, zwar mit großer Bestürzung, E[ines]. L[öblichen].<br />

808<br />

Es folgt auf S.785 unten und 786 des Kirchenbuchs ein Rescript des Kurfürsten Friedrich<br />

III vom 15. December 1697<br />

518


Raths, welche viel darin gearbeitet haben, undt mir zuwider<br />

gewesen, haben auff den Richter H. Casper Wolweber gehalten;<br />

mir aber dieses Ambt nicht mit meinem Willen auffgeleget ist. Gott<br />

gebe seine Gnade und Beystandt dasselbe wol zu führen undt<br />

glücklich demselben fürzustehen, so lange es dem Allerhöchsten<br />

Gott gefällig und mir seelig ist. (P. 25)<br />

Anno 1704 d 1 January am Dienstage ist der Neue Jahrestag<br />

gewesen, auff die Nacht gegen den Mittwoch um 1 Uhr ist mein<br />

lieber Bruder Wilhelm Anderson, Diakon bey der polnischen<br />

Gemeine in Rastenburg, seelig in dem Herrn entschlaffen.<br />

Nachdem er in dieser Welt gelebet 36 Jahre 8 Monat 809 . Gott der<br />

Allerhöchste verleihe dem Cörper in der Erden eine sanfte Ruhe,<br />

und am jüngsten Tage eine fröhliche Auferstehung; uns aber wolle<br />

der Höchste Gott bedenken lernen, dass wir Alle sterblich sind und<br />

sterben müssen. (P. 482)<br />

Anno 1705 d 18 Dicembris, des Morgens um 6 Uhr, ist mein liebes<br />

Weibchen nachdeme sie der liebe Gott mit einer jungen Tochter<br />

erlöset hat, von dem höchsten Gott aus dieser Welt abgefordert<br />

und die Seele in sein Reich versetzet. Der liebe Gott gebe ihr eine<br />

sanfte Ruhe in der Erden und am jüngsten Tage eine fröhliche<br />

Auferstehung; uns aber wolle der Herr bedenken lernen, dass wir<br />

alle sterbligch sind u. sterben müssen.<br />

Nachdeme sie mit mir in vergnügter Ehe gelebet 17 Jahre 1 Monat<br />

24 Tage. Die hinterlassene Tochter ist denselben Tag getaufft und<br />

hat den Namen Maria Elisabeth in der heiligen Tauffe empfangen.<br />

Die Pathen seind gewesen:<br />

H. Kornschreiber Johann Bergk – Hr. Gisevius - Herr Matthes<br />

Trantz - Frau Amtsschreiberin jüngste Schwester – Frau Kaplahnin<br />

Nebiin, - Fr. Naporin.(P. 587)<br />

Anno 1707 d 22 Martii 810 in der Nacht vom Dienstage auff den<br />

Mittwoch zwischen 11 und 12 Uhr ist ein Feuer bey dem<br />

Amtswachtmeister Lemke entstanden und sind in 1 ½ Stunden 24<br />

Mälzenbräuerhäuser, 5 Hakenbuhden, 17 gemeine Buden<br />

809<br />

Hier haben sich Th.A. und Ed.A. verrechnet. Wilhelm ist am 18.4.1666 getauft worden.<br />

Demnach ist er 37 J und 7 1/2 M alt geworden<br />

810<br />

im Gedenbuch heißt es „December“., darüber von Ed. A. vermerkt:Martii. Martii vermerkt<br />

auch Helwing im Kirchenbuch.<br />

519


jämmerlich eingeäschert; nebst 25 Scheunen und vielem Vieh und<br />

Pferden.<br />

Gott wende dergleichen Unglücksfälle in Gnaden ab von unser<br />

armen Stadt und behüte ferner das gantze Land.- (P.815)<br />

Anno 1710 d 15 Julii ist meine liebe Tochter Maria Elisabeth seelig<br />

in dem Herrn entschlafen zum großen Leidwesen.<br />

Gott gebe dem Cörper in der Erde eine sanffte Ruhe und am<br />

jüngsten Tage eine fröhliche Auferstehung.<br />

[Neue Handschrift im Gedenkbuch, Sohn Wilhelm Anderson]<br />

Anno 1710 d 21 Augusti ist die Frau Bürger Meisterin von der<br />

anderen Ehe Barbara Seelig 811 in dem Herren entschlaffen an der<br />

grassirenden Contagion und ist des folgenden Tages bey Haltung<br />

einer Leichen Predigt zur Erde bestätiget. Der Text ist: Christus ist<br />

mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. (P.841)<br />

Anno 1710 d 24 Augusti ist H. Bürger Meister Thomas Anderson,<br />

leider Gottes an der grassirenden Contagion 812 umb 12 Uhr<br />

Abendts Seelig in dem Herrn entschlaffen. Gott gebe ihm eine<br />

sanffte Ruhe in der Erden und am jüngsten Tage eine fröhliche<br />

Auferstehung. Worauff er folgenden Tags bey Haltung einer Leich<br />

Predigt zur Erde bestätiget worden. Der Text: Hiob 19 Cap V. 25.<br />

Ich weiß das mein Erlöser lebt und er wirdt mich hernach aus der<br />

Erde aufferwecken. Und werde ich darauff mit dieser meiner Haut<br />

Umbgeben werden. Und werde in meinem Fleisch Gott sehen.<br />

Denselbigen werde ich mir sehen und meine Augen werden ihn<br />

Schauen und kein Fremder.<br />

Gott wolle uns Betrübte Waisen und Angehörige mit Gnädigen-<br />

Augen in dieser bößen Plage ansehen, und uns bedenken lernen,<br />

dass wir alle sterblich sind.<br />

Anno 1710 d 8 September ist der H. Gordon, welcher vor einen<br />

Gesellen beym Hn. Bürgermeister treulich gedienet, nebst meinem<br />

Bruder Thomas von 13 Jahr alt in einem Tage beyde zugleich an<br />

811 Der Name Barbara steht nicht im Gedenkbuch. Diesen Vornamen hat Ed.A. in seinem<br />

Auszug hinzugefügt, weil er die auf dem Mikrofilm des Kirchenbuchs fast nur noch zu<br />

erahnende Heiratseintragung gelesen hat. Thomas Anderson heiratete danach in 2.Ehe am<br />

26.8.1707 Barbara, verw. Basilius, Witwe des Stadtkämmerers, Großbürgers und<br />

Mälzenbräuers Albrecht Basilius in <strong>Angerburg</strong>. Ihr Mädchen-/Geburtsname ist nicht bekannt.<br />

812 Die große Pest in den Jahren 1709 – 1710.<br />

520


der grassirenden Contagion in dem Herren seelig entschlaffen und<br />

sind dieselbe in diesem Hause zuletzt gestorben, da der liebe Gott<br />

durch seine Gnade die Contagion allmählich abgewendet.<br />

Derselbe verleyhe ihnen in der Erden eine sanffte Ruhe und<br />

erwecke sie am jüngsten Tage, damit die Seele sich <strong>als</strong>dann mit<br />

dem Leibe vereinigen, und der ewigen Herrlichkeit genießen möge<br />

vollkommen. Uns aber lehre der Herr bedenken, dass wir sterben<br />

müssen und unser Leben ein Ziel hat.-<br />

Anno 1711 zwey Wochen vor Ostern haben wir nach seeligem<br />

Ableben unserer lieben Eltern die Verlassenschafft unter uns<br />

getheilet und sind unser 4 Erben gewesen [Wilhelm, Bernhard,<br />

Esther, Anna Barbara], nachdem schon 4 vorher verstorben.<br />

Anno 1711 d 10 Februarii hat meine Schwester Esther sich<br />

verehelicht<br />

mit Tit: Herrn George Christoph Boretio, Diakono zu<br />

Lötzen.<br />

(P. 12 XIV)<br />

Anno 1713. In diesem Jahre habe ich mein Väterliches [Erbe]<br />

angenommen<br />

und darinnen die Wirthschaft angefangen zu treiben.<br />

Der höchste Gott gebe mir seinen Seegen hiezu!<br />

Hibey so habe kürtzlich meinen Lebenslauff erstlich von meiner<br />

Jugend an hersetzen wollen:<br />

Anno 1689 d 11. September bin ich auff diese Welt geboren. Mein<br />

Vater Thomas An derson ist ein Bürgermeister in <strong>Angerburg</strong>, wie<br />

auch<br />

ein Kauff- und Handelsmann gewesen. Meine Mutter Esther<br />

war eine geborene<br />

Schwindovin, Diakoni Tochter aus Lyck, so wie<br />

n bin ich gezeuget,<br />

m gutten geführet,<br />

1703 t vorn zu lesen ist. Von diesen Christlichen Elter<br />

dieselbe haben mich von Jugendt auff zu alle<br />

und mich getreulich zur Schulen gehalten.- Im Jahre haben<br />

sie mich nach Königsberg in die Altstädtsche<br />

Schule gegeben,<br />

allwo ich 3 Jahr lang unter den M. Hoynovio Rektore frequentiret,<br />

hernach unter dem Pro Rektore Academiae<br />

M. Paulo Raaben <strong>als</strong><br />

ein Civis Academicus angenommen bin, da ich denn auch 6 Jahr<br />

auf der Academie<br />

auffgehalten. Allein der liebe<br />

Gott nahm mir meine liebe Eltern<br />

aus dieser Welt allzu geschwind<br />

hinweg, nehmlich<br />

meine seelige Mutter starb in Kindesnöthen<br />

Anno 1705, <strong>als</strong> ich noch in die Schule frequentirte, mein seeliger<br />

Vater aber 1710 d 25 Augusti an der grassirenden Contagion und<br />

habe ich mich nothwendig resolviren müssen, mein Väterliches zu<br />

besitzen. –<br />

521


In diesem 1713 ten Jahre habe ich<br />

mich mit der Jungfrauen<br />

Catharina Loisa, einer Tochter des M. Georg Andr. Helwings,<br />

Pfarrherrn zu <strong>Angerburg</strong>, verheirathet. Der Herr seegnet<br />

uns und,<br />

denn an seinem Seegen ist alles immerdar gelegen –<br />

Anno 1717 d 3 April, ist Wilhelm Anderson, mein<br />

Bruder seelig<br />

entschlaffen in dem Herrn, im Ehestande hat derselbe gelebet 4<br />

Jahr. Seines Alters 28 Jahr –<br />

Die Wittwe ist nach seinem Tode in die Widdem bey<br />

ihre Eltern<br />

gezogen, das Kind, welches Er nachgelassen<br />

ist nach einem Jahr<br />

auch gestorben – Geschrieben<br />

sein jüngster Bruder Bernhard<br />

Anderson.<br />

Anhang 2<br />

Übertragung der plattdeutschen<br />

Texte<br />

2a:<br />

Die Verse VI – VII und X – XII (S.185-186)<br />

des Gedichts<br />

„Der Erbsenbauer“ in’s Hochdeutsch übertragen.<br />

VI Holla, fing er an zu bitten,<br />

Kinder, kommt doch auf die Gasse !<br />

Hier sind Erbsen aus Polkitten<br />

Gelb wie eine (gewunge Waß) ?<br />

Sie sind (unter Maate feet) ?<br />

wie gekochte Ferkelfüße!<br />

VII Ich will Euch die Großen geben,<br />

die mir Gott gegeben hat,<br />

Euch <strong>als</strong> Nachbarn nicht verlieren,<br />

Wer einen Scheffel von mir kauft,<br />

dem will ich sie spottbillig (?)<br />

lassen für eine halbe Mark.<br />

522


X Fresst den Tod in euren Magen! 813<br />

Hat mich denn nun der Pikulls 814<br />

Hier nach Schippenbeil getragen ?<br />

Nicht umsonst schlug mir der Puls,<br />

Als ich aus dem Dorf rausfuhr<br />

Und den linken Schuh 815 verlor.<br />

XI<br />

Ich habe heute noch nichts genossen<br />

Außer meinem<br />

Gesing und Gedichte<br />

Bin ich denn nun ganz begossen<br />

Heute mit itel(?) Eulen Gicht 816<br />

Oder hat mein linkes Bein<br />

Wahrhaftig eine alte Hexe gesehen!<br />

XII Ach, wie geht es doch mir Armen!<br />

Ei, wie wird mein liebes Weib<br />

Ihm die schönen Erbsen grämen(?)<br />

Ich wollte,<br />

dass in eurem Leib<br />

Jede Erbse wird so groß<br />

Wie ein Litauisches Pfennigbrot 817<br />

2b:<br />

Berichte von Paskarbait in’s Hochdeutsche übertragen<br />

(S.311 ff.)<br />

„Ist das eine Art, vom Wassertor hereinzukommen?“ “Nun, Alter<br />

sagte Thomas „wenn ich mit des Herrn Amtshauptmanns Gnaden<br />

813<br />

Es handelt es sich offenbar um eine Fluchformel, die zu einer sprichwörtlichen Redensart<br />

geworden ist.<br />

814<br />

Pikollus ist einer der Götter der Preußen und Litauer, der zusammen mit Perkunos an dem<br />

Heiligtum Romove verehrt wurde. Dieses wird von einigen Forschern in der Nähe von<br />

Schippenbeil vermutet.<br />

815<br />

Schlorren sind eigentlich Hauslatschen. Das Verlieren des linken Schuhs deutete wohl<br />

Unglück an.<br />

816<br />

Offenbar abergläubische Anklänge an volkstümliche Vorstellungen aus heidnischer<br />

Zeit<br />

817<br />

Dittchen waren zwar die kleinste Münzeinheit, man bekam dafür aber<br />

wohl ein ziemlich<br />

großes<br />

Brot.<br />

523


zu tun habe, so muss ich doch wohl auf’s Schloss kommen, wo er<br />

wohnt.<br />

Doch nun sagt mir, wie ich zu ihm gelangen kann“.<br />

“Was werde ich Euch noch viel sagen“.<br />

Ein großer Junge mit<br />

einem Stallbesen, durch das laute Reden des Alten herbeigezogen,<br />

trat in die<br />

Tür des Pferdestalles. „Mit dem alten bärbeißigen<br />

Manne<br />

ist gar nicht gut zu reden“, wendete sich Thomas in polnischer<br />

Sprache an ihn. „Du wirst mir wohl freundlicher Auskunft<br />

geben,<br />

mein Junge“.<br />

„Der alte Torwart Paskarbait ist nur ärgerlich, dass Ihr, Herr,<br />

nicht auf der Brücke zum Schloss gefahren seid. Er murrt, dass<br />

ihm sein Sperrgroschen entgangen ist“, sagte der Junge.<br />

„Wer wird aber auf der langen Brücke mit dem Schlitten fahren“,<br />

sagte Thomas. „Es ist ja auf derselben gar kein Schnee! Doch dem<br />

Alten soll deshalb sein Sperrgeld nicht entgehen. Kommt her, alter<br />

Stelzfuß, und nehmt das Torgeld“.<br />

Der Alte war sogleich an Thomas Seite. Sein Gesicht verklärte<br />

sich, <strong>als</strong> dieser ihm eine Silbermünze reichte. „Nun, Alter, sagte<br />

Thomas lächelnd, „vielleicht könnt Ihr mir <strong>jetzt</strong> die Auskunft<br />

geben, wo ich den Herrn Amtshauptmann finde“.<br />

„Ach, gnädiger Herr“, sagte der Stelzfuß, immer noch den Hut in<br />

der Hand, „verzeiht meine Unhöflichkeit, des Herrn<br />

Amtshauptmanns Gnaden ist nicht zu Hause. Seine Gnaden ist<br />

zum Fest nach Junkerken zu seinem Bruder, dem Leutnant<br />

Christoph v. Troschke gefahren und bis dato noch nicht<br />

zurückgekommen“.<br />

„Das hättet Ihr, alter Esel, mir aber doch gleich sagen können.<br />

Ist denn nicht der Amtsschreiber zu Hause?“<br />

„Herr Amtsschreiber Nietzke ist mit seiner Frau mit Schlitten in<br />

die deutsche Kirche nach Lyck gefahren, wird aber bald<br />

zurückkommen. Die deutsche Kirche ist schon lange aus. Er ist nur<br />

noch bei dem Herrn Bürgermeister und den deutschen Ratsherren,<br />

um diesen zu Neujahr Glück zu wünschen“, erwiderte der<br />

Torwächter.<br />

„Dann will ich auf den Herrn Amtsschreiber<br />

warten“, entschied<br />

Thomas. „Doch sagt einmal Alter, Ihr dient wohl schon lange hier<br />

<strong>als</strong> Torwart auf dem Schlosse?“ „Nach meiner Rechnung sind es im<br />

Herbst 32 Jahre, dass mich der selige Herr Amtshauptmann hier<br />

annahm, <strong>als</strong> mein Fuß wieder heil war“, sagte der Torwächter.<br />

„Wo habt ihr aber Eueren Fuß verloren, seid Ihr vom Fuder<br />

gefallen oder übergefahren?“ fragte Thomas.<br />

„Was denkt Ihr Euch!“<br />

erwiderte jener. “Zerschossen haben ihn<br />

mir<br />

die verfluchten Pollaken!“<br />

524


„Aber ihr scheint doch, nach Eurer Sprache zu urteilen, nicht aus<br />

dieser Gegend zu sein“, sagte Thomas.<br />

“Das ist wahr, Herr“, entgegnete der Alte. Ich bin eigentlich<br />

geborener Litauer aus Schirren, zwischen Wehlau und Tilsit. Habe<br />

<strong>als</strong> Jung’ schon ein bisschen Deutsch gelernt. Nun hatte ich einmal<br />

einen Hauptauer (wir sagen: Sturmbras) geschossen und es<br />

bekam das der Oberjägermeister zu hören. Man wollte mich<br />

aufhängen. Da rannte ich weg und ließ mich bei den Soldaten<br />

einschreiben. Da kamen die Schweden in’s Land, und wir wurden<br />

nach Wehlau geschickt. 400 Mann waren wir dort. Wir hatten ein<br />

ganz gutes Quartier, und ich dachte mir, die Schweden werden<br />

nicht an die Stadt herankommen können. Der Pregel und Sümpfe<br />

lagen davor. Na, es dauerte bis ein paar Wochen vor Weihnachten,<br />

der Pregel und die Wiesen waren <strong>jetzt</strong> eine blanke Eisfläche. Nach<br />

kurzer Zeit waren die Schweden da und belagerten die Stadt. Sie<br />

schickten Trompeter, wir sollten uns gefangen geben. Die Offiziere<br />

steckten die Köpfe zusammen, redeten hin, redeten her. Was war<br />

das Ende vom Lied, wir mussten uns gefangen geben! Wurden<br />

unter schwedische Regimenter gesteckt. Die meisten von uns<br />

kamen zu den Riederhelmschen Hakenschützen. Von den<br />

Schweden konnten manche ganz gut Deutsch, aber die armen<br />

Litauer unter uns, die verstanden nichts. Da gab es viel Prügel! Es<br />

war da unser Wachtmeister Pasternaci, ein ganz guter Mann sonst,<br />

aber Schimpfen und Fluchen konnte der! Wer ihn nicht kannte,<br />

musste denken, er frisst alles lebendig. Er war ein sehr stolzer<br />

Mann und bildete sich darauf etwas ein, dass er mit dem Kanzler<br />

Ossekoop oder Ochsestern verwandt war. Das wird wohl das 10te<br />

Wasser vom Kisseel gewesen sein, wie wir Litauer sagen. Na, der<br />

Mann musste sich sehr ärgern, dass die litauischen Leute nichts<br />

verstanden. Nun war ich bei ihm Dolmetscher und belehrte die<br />

Leute. Es dauerte nicht lange, da mussten wir Hakenschützen<br />

nach Königsberg marschieren. Es ging immer vorwärts, die<br />

Schweden hatten keine Angst vor Kälte, bis vor Königsberg. Da<br />

lagen wir vor der Stadt. Bald kam ein großer Pulk von Reitern aus<br />

der Stadt geritten – unser Wachtmeister meinte so an die 600. Sie<br />

ritten auf die befrornen Wiesen mit unbeschlagenen Pferden,<br />

stürzten, bekamen Feuer und wollten sich noch wehren. Ja, es<br />

ging nicht. Sie wurden totgeschlagen oder gefangen genommen.<br />

Ein paar kamen durch.<br />

Eines Tages, was kam da an? Viele Reiter und Fahnen – alle<br />

Offiziere zu Pferd! Unsere Offiziere ritten entgegen. Andere<br />

Offiziere ließen die Mannschaft antreten. In einem Schlitten kam<br />

525


der Schwedenkönig angefahren. Die Pferde hatten Federpuscheln<br />

auf<br />

den Köpfen und trugen schönste Decken. Trabanten mit roten<br />

Röcken<br />

kamen, auf dem Rücken mit Gold verziert. Trompeter<br />

bliesen, Trommler trommelten. Wir mussten<br />

„Vivat! “ schreien.<br />

Am anderen Tag mussten wir nach Königsberg<br />

marschieren – auf<br />

blankem Eis. Wir dachten, die Stadt wird gestürmt,<br />

aber wir<br />

bekamen Order, wir sollten zurück. Es war schlecht liegen,<br />

draußen im Winter! Es dauerte nicht lange,<br />

da wurde vorgelesen:<br />

Der Schwedenkönig hat sich mit dem Großen Kurfürsten<br />

vertragen,<br />

und sie ziehen zusammen nach Polen. Es war gut, dass<br />

wir Hakenschützen nicht mitziehen mussten. Wir<br />

hatten im<br />

Ermland ganz gute Quartiere. Gegen Herbst hieß es, der Pollak will<br />

in Preußen einfallen. Wir bekamen Order, gleich an die Grenze zu<br />

marschieren. Immer drauflos! Unterwegs gab es wenige Ruhetage,<br />

nicht einmal hier in Lyck. Wir mussten gleich wieder hinter<br />

Ostrokollen, an der Grenze war nur wenig Landmiliz. Wir mussten<br />

am Lyckfluss Schanzen bauen. Ein Bauer kriegte Prügel, er musste<br />

helfen, Schanzen zu graben und zu karren. Der alte Wachtmeister<br />

Pasternaci sagte: „Dummes Zeug. Der Wall ist viel zu niedrig, wird<br />

nicht was helfen“. Stand da bei Prostken ein gemauerter Pfeiler.<br />

Wir Hakenschützen lagen hier unter unserem Generalmajor<br />

Riederhelm, Oberst Rosen fragte, wer von den Hakenschützen<br />

Reiten kann und Deutsch versteht. Ich meldete mich. Der Oberst<br />

gab mir seinen Fuchs zum Reiten. Ich sollte nach Lyck zu Oberst<br />

Auer (ich erzählte dem Mann von dem Sturmbras) und fragen, ob<br />

er Nachrichten von General Waldeck hat. Ich blieb nicht auf der<br />

großen Straße, das war mir zu gefährlich. Ich kam ganz gut dort<br />

hin, immer am Wasser entlang. Das Schloss war von Auers Leuten<br />

besetzt. Sie brachten mich zu ihm hier auf die große Stube. Er<br />

fragte mich aus und sagte, General Waldeck wird bald kommen<br />

und wir sollen keine Angst vor dem Pollakenvolk haben. Der<br />

Oberst Rosen schickte eine Ordonanz nach der anderen aus. Sie<br />

sollten so schnell reiten, wie die Pferde laufen können, damit der<br />

Graf v. Waldeck bald ankommen möchte.<br />

Die Pollaken sollen nicht mehr weit von der Grenze sein. Wir<br />

hatten schweren Dienst, immer Patrouillen. Na, da kamen ein paar<br />

Regimenter an. Zuerst die Reiter unter dem General Wallenrodt.<br />

Der Herzog von Weimar lag im Dorf Ostrokollen, der Oberst<br />

Brunnet in Prostken. Weiß´ Gott - man wurde nicht recht klug,<br />

wer der richtige Kommandeur war. Bald kam einer, bald der<br />

andere. Die Oberoffiziere ritten an der Grenze herum und stritten<br />

526


sich untereinander. Es dauerte nicht lange, da kam Nachricht aus<br />

Polen.<br />

Die schwedischen Hakenschützen verstanden nicht recht, mit<br />

Pferden umzugehen. Ich wurde deshalb zu Oberst Rosen<br />

kommandiert. Er hatte 4 schöne Pferde: 1 schönen Fuchs,<br />

Wullensteen,<br />

und 3 Braune. Ich hatte dort leichten Dienst. Es<br />

waren<br />

gute Pferde, und ich fütterte sie gut. Oberst Rosen schenkte<br />

mir 1 Taler. Ich hatte auch gutes Essen.<br />

Es kam auch Artillerie an. Es waren 6 Doppelhaken sagte der<br />

Offizier<br />

von der Artillerie.<br />

Von einem Doppelhaken war dicht bei der<br />

Stadt Lyck ein Rad<br />

zerbrochen. General v. Waldeck fluchte. Es wurde gleich eine<br />

Ordonanz hingeschickt, sie sollen den Doppelhaken auf das<br />

Schloss bringen. Ein Stellmacher und ein Schmied sollen Tag und<br />

Nacht arbeiten, und den Doppelhaken zurechtmachen.<br />

Am anderen Tag war Sonntag. Die Trompeter bliesen schon<br />

ganz früh. Wir mussten antreten. Der Feldprediger stand auf der<br />

Trommel und hielt eine Predigt. Gegen Tag kam unsere<br />

Reiterpatrouille angejagt, so schnell auch nur die Pferde laufen<br />

konnten. Die Offiziere ihr gleich entgegen, trafen sich nicht weit<br />

von uns. Man meldete, dass hinter dem Berg alles schwarz von<br />

Pollaken ist, alles Reiter. Die Trompeter mussten gleich blasen, wir<br />

stellten uns auf, die Landmiliz kam an den Fluss – die Artillerie war<br />

nicht weit davon. Wir Hakenschützen und Fußvölker, ein langer<br />

schmaler Streifen. Offiziere ritten im Galopp die Linie herunter.<br />

„Paß auf, Jurray“, sagte Wachtmeister Pasternaci zu mir, rief mich<br />

immer mit Vornamen und ich heiße Jurris. „Taugt nix“- werden<br />

Linie durchbrechen!“ Es dauerte nicht lange, kamen wie der Teufel<br />

über den Berg die Tataren angeritten. Der Oberst kommandierte:<br />

„Gabel einstecken! Hakenbüchse auflegen! Lunte hoch!“ Schnell<br />

wie der Blitz war das Heidenvolk am Fluss. Unsere Landmiliz<br />

schoss. Es half nichts, rein in’s Wasser, schwammen sie rüber.<br />

Immer mehr Volk rauf auf die Schanze. Die Pferdchen kletterten<br />

wie Katzen und waren bald oben zwischen unserer Landmiliz.<br />

Kommandiert Oberst Rosen: „Paßt auf, Hakeschützen!<br />

Luntenfeuer!“ Es fielen auch welche, aber es half nichts. Die<br />

Tataren, sie ritten unsere Landmiliz über den Haufen. Wir hatten<br />

wieder die Hakenbüchsen geladen. Der Oberst kommandierte:<br />

„Rottenfeuer!“ Jeder schoss so geschwind, wie er nur konnte. Aber<br />

schieß´ du man! Schosst du einen von den schwarzen Teufeln tot,<br />

waren schon an seiner Stelle 20 andere. Sie ritten auf uns los, und<br />

das Rackerzeug verschoss unversehens die Pfeile wie Hagel. Da<br />

527


sollst du Mensch nun schnell laden! Einen traf es am Kopf, einen<br />

an der Brust, einen an den Füßen. Und dann waren die Teufel<br />

auch schon da. Wir wehrten uns, so gut wir konnten. Aber das<br />

ging nicht lange. Der Oberst war tot, die Hauptleute waren tot.<br />

Ich hatte einen Pfeil im Arm, und das linke Bein war mir ganz<br />

zerschossen. Der Wachtmeister hatte einen Pfeil im Rücken und<br />

war am Kopf verwundet. Wir lagen nicht weit voneinander. Es<br />

kamen immer mehr von den verfluchten Tataren, griffen sich die<br />

Pferde und die Menschen. Dann kamen noch die Pollaken mit ihren<br />

Schnauzbärten und strammen Decken. Es ist ein Wunder, dass sie<br />

mich nicht totgetrampelt haben. So lagen wir bis nachmittags. Der<br />

Wachtmeister erholte sich etwas und setzte sich hin. Er nahm ein<br />

Tuch und wollte es um den Kopf binden. Ich sagte:„Wachtmeister,<br />

lebt er noch?“ Er sagte: „ Jurray, verfluchter Schweinshund, komm<br />

her und hilf mir auf!“ Ich kroch zu ihm hin, es tat mir sehr weh.<br />

„Zieh’ doch den Pfeil<br />

aus deinem Arm“, sagte er, packte an und<br />

riss ihn heraus. „Nun verbind’ mir den Kopf“, sagte er. „Er tut mir<br />

sehr weh, aber verbind’ ihn! “ Nun machte er sich an mich heran,<br />

riss mir die beiden Pfeile aus dem Fuß, aber einer brach ab. „Was<br />

machen wir <strong>jetzt</strong>?” fragte er. „Gehen können wir nicht und liegen<br />

bleiben können wir auch nicht. Die niederträchtige verfluchte<br />

Kanaille wird<br />

wohl bald hier sein und uns totschlagen und<br />

ausziehen. Probier’ doch mal, Jurray, ob du nicht etwas zum Essen<br />

findest“. Ich kroch zu den Toten. Richtig, da fand ich Brot und<br />

Wurst, auch Wein, und brachte ihm davon auch. Als wir aßen, was<br />

sahen wir da: Mein Wullensteener kam angerannt, der Fuchs des<br />

totgeschlagenen Obersten Rosen. Ganz schwitzig und wild, den<br />

Sattel unter dem Bauch. Sie müssen ihn wohl gehörig<br />

herumgesprengt haben. Aber nun greif’ einer den man! Es dauert<br />

nicht lange, da ist mein Fuchs bei den toten Hakenschützen,<br />

immer mit der Schnauze auf der Erde. Ich pfiff, er kannte das, und<br />

fing gleich an, mit den Ohren zu spielen. „Wullensteener! “ rief ich.<br />

Aha, nun kam er angerannt und ließ sich von mir greifen. Ich<br />

streichelte und beklopfte ihn. Er<br />

erkannte mich. Ich fütterte ihn<br />

mit Brot und machte ihm den Gurt los. In der Satteltasche fand<br />

ich noch eine Tennflasche mit Wein.<br />

„Nun Wachtmeister, sagte ich, kommt! Jetzt können wir<br />

vielleicht doch noch wegkommen und werden nicht<br />

totgeschlagen“. Ich half dem Wachtmeister aufs Pferd. Das war<br />

ein schwieriges Stück Arbeit, denn er war ein schwerer Mann.<br />

Dann stieg ich auch auf den Fuchs, und nun ritten wir beide ganz<br />

528


langsam zu den Erlen. Wir sahen, wie das große Dorf Prostken<br />

brannte und auch Ostrokollen.<br />

Ich sagte:„Wachtmeister, was meint er, wir reiten auf dem Weg<br />

zum Schloss Lyck, auf dem ich Mittwoch hergeritten bin“. „Reit’,<br />

wohin Du willst, Du Himmelshund“, sagte er und stöhnte. Er hatte<br />

mich angefasst und hielt sich am Kammhaar. Nun ließ ich dem<br />

Fuchs seinen Willen. Er kannte ganz gut den Weg, auf dem ich<br />

geritten war und brachte uns richtig bis vor das Tor an der<br />

Zugbrücke. Das Schloss war gut besetzt. Sie riefen uns zu, wollten<br />

schießen. Da stieg mein Wachtmeister vom Pferd und schrie, sie<br />

sollen die Brücke herunterlassen. Es war einer am Tor, der mich<br />

zum Herrn Oberst Auer gebracht hatte. Der kannte mich und den<br />

Fuchs und rief einen Offizier. Dieser befahl, die Brücke<br />

herunterzulassen. Nun wurden wir ausgefragt, es waren vielleicht<br />

etwa drei Mann, sie hatten den Feuerschein gesehen. Ich erzählte.<br />

Der Wachtmeister war halb tot. Er hatte viel Blut verloren. Sie<br />

brachten mich zum Oberst Auer, der noch im Bett lag. Ich musste<br />

ihm berichten. Er heraus und geschwind in die Kleider!“<br />

Thomas hatte mit steigendem Interesse der Erzählung des Alten<br />

gehorcht. „Wo blieb denn der Herr Wachtmeister Pasternaci?“<br />

fragte er. „Oh, dem ging es gut“, antwortete Paskarbait, „er wurde<br />

ganz ausgeheilt und kriegte beim Amtshauptmann in Rhein einen<br />

guten Posten. Im Dorf Joviorken, nicht weit von Rhein, heiratete<br />

er in einen guten Krug ein. Er starb vor 4 Jahren. Sein Sohn, der<br />

David, wohnt noch dort im Krug. Er ist Dorfschulze, und es geht<br />

ihm gut.<br />

Inzwischen war Thomas mit dem redseligen Alten durch den<br />

Schlosshof gegangen. Hier zeigte der Torwart ihm die Gebäude,<br />

die Wohnung des Amtshauptmanns, des Amtsschreibers,<br />

die<br />

Brauerei, den Amtsspeicher, Scheunen und andere<br />

Wirtschaftsgebäude. So waren sie allmählich auf die alte Mauer<br />

gekommen, die nach der Stadtseite zu mit ihren teilweise noch<br />

wohlerhaltenen Zinnen und dem dahinter liegenden<br />

Verteidigungsgange aus der Ordenszeit stammte. Von hier aus<br />

hatte Thomas in der hellen Nachmittagssonne eine sehr weite<br />

Aussicht fast über den ganzen See und einen weiten Strich des<br />

Ufers, das mit seinen Dörfern, Höfen, Wäldern und Hügeln eine<br />

anmutige Winterlandschaft zeigte.<br />

Der Alte machte Thomas auf die einzelnen Dörfer, die zu sehen<br />

waren, aufmerksam, und nannte deren Namen, hatte aber eben<br />

keinen<br />

sehr aufmerksamen Zuhörer. Thomas sah nach der Uhr<br />

und<br />

meinte: „Nun Alter,<br />

es wird nicht lohnen, dass ich länger auf<br />

529


den Herrn Amtsschreiber warte“. „Ach Herr“, sagte der Alte, „da<br />

kommt schon der Schlitten von unserem Amtsschreiber aus der<br />

Stadt, und es wird nicht lange dauern, bis er hier ist“.<br />

Thomas stieg über den Schutthaufen in den Schlosshof zurück.<br />

„Aber sagt einmal, Paskarbait oder Jurras oder wie Ihr sonst heißt,<br />

Euer Schloss ist ja wie ausgestorben, außer Euch und dem<br />

Pferdejungen habe ich keinen Menschen gesehen“, sagte Thomas.<br />

„Das kommt daher, Herr“, erwiderte jener, „heute ist Feiertag und<br />

deshalb ist alles polnische Dienstvolk in die Stadt gegangen und<br />

kommt erst gegen Abend wieder. Da kommt der Schlitten!“<br />

Ein einfacher Schlitten, auf dem ein alter...<br />

Anhang 3<br />

Quellen zum Tartareneinfall 1656/57<br />

3a:<br />

Pfarrer Uriel Bertram<br />

Beschreibung des Überfalls, geschrieben 1657 in das<br />

<strong>Angerburg</strong>er Kirchenbuch 818<br />

(S.14)<br />

… „Dieses haben die Pohlen geraubet auß der<br />

Kirchen, nach dem sie<br />

die Thüre aufgehauen<br />

und waß sie an Geld gefunden, hinweg genommen<br />

den 11 Febr Ao 1657. Kirchengeld über<br />

tausend Mk; Stadgeld etliche hundert Mk<br />

sampt der silbernen Kannen und Schilden.<br />

(S.15)<br />

Anno 1657 den 11 February<br />

Am Fastnacht Sontag nach zwey Uhr<br />

des mittages geschah der unverhoffte plötzliche Einfall<br />

von Pohlen in <strong>Angerburg</strong> welche die Stadt angezün-<br />

818 Die von Eduard Anderson im Manuskript dargestellte Lesevariante ist aufgrund mehrerer<br />

Lesefehler ersetzt worden. Die hier dargestellte Version ist während der Überarbeitung des<br />

Romans aus der Verfilmung 1198173/74 des <strong>Angerburg</strong>er Kirchenbuch-Origin<strong>als</strong><br />

abgeschrieben worden. Vorab werden von Bertram auf S. 14 mehrere Geschenke (Geld und<br />

Abendmahl-Utensilien) vom 29.Okt. 1656 an die Kirche aufgelistet.<br />

530


det und in den Brand gesätzt dass nur etliche Hüttchen<br />

und gärtnerwohnungen überblieben, wie auch die<br />

Kirche nach dem sie gantz ausgeplündert an Geld<br />

und wath dam<strong>als</strong> durch gödliche Errbahrmung<br />

sampt der Widdem und Schule noch überblieben,<br />

daher der höchste God sey gelobet zu aller Zeit und<br />

Bewahr sie vor fernerem leid <strong>als</strong> ein Vater<br />

der Barmhertzigkeit.<br />

In der Zeit sind viel Bürger und landvolck zu<br />

tode nieder<br />

gehauen, auch viel Menschen und Vieh verbrannt.<br />

Des morgens dentag ist die Stad Drengfurt auch verbrannt<br />

und<br />

darinnen alles niedergemacht.<br />

Ahm nachmittage sind die dorfschafften unsers Kirchspils<br />

abgebrant von den Pohlen: Reußen, Stulichen,<br />

Olßowen, Wensowken, Pawlowken, Wentzken<br />

(und) andere unzehlige dörffer <strong>als</strong> da ist<br />

Thirgarten, Engelstein, Prinofen, Jacunofen,<br />

Budren, Grunden, der hoff Popiollen, Banikheim<br />

der hoff Sperling. Uffen andertag den 12 Febr.<br />

dass städlein Koldap, sampt umbliegende<br />

dörffern.<br />

Dass städlein Lötzen ist den 10 Febr. dentag<br />

vor der angerburgischen einäschrung abgebrannd<br />

worden sampt umbliegenden dörfferei. Und<br />

was vor gekommen alles mit der Sebel<br />

nieder gehauen: O des erbärmlichen Jammers<br />

da fast dass gantze Land, durch Krieg verzehret<br />

verhäret zerstöret und gesätzt in den Brand!“<br />

531


3b:<br />

Ludewig Reinhold v. WernerTPT<br />

TPT<br />

Gesamelte Nachrichten zu Ergäntzung<br />

der preußisch-märckisch- und polnischen Geschichte.<br />

Historische Nachricht von der Stadt <strong>Angerburg</strong> und<br />

derselben Wapen, 1751, S.15/17<br />

„Anno 1656 fielen die Polen und Tartaren in die Gegend ein, ob<br />

nun gleich einige Trouppen ihnen entgegen geschicket wurden, so<br />

konnten selbe doch wider die Menge nichts ausrichten, wie denn<br />

ihnen nicht nur alle Bagage und 6 Stücke weggenommen, sondern<br />

auch die beyden Generäle Bogislaus Radzivil und Israel<br />

Riederhelm von den Tartaren gefangen wurden. Der General<br />

Waldeck aber retirirte sich mit der übrigen Mannschafft nach<br />

<strong>Angerburg</strong>.<br />

Besiehe hievon Uhsens Leben und Thaten Friedrich Wilhelms<br />

p.326.327. bey meinem Exemplare stehet beygeschrieben:<br />

Chronodist. Magna ClaDes prVssIae, worinnen die Jahreszahl 1656<br />

enthalten. Insonderheit haben die Tartaren dadurch grossen<br />

Schaden gethan, daß sie viele Leute mit sich weggeschleppet, <strong>als</strong><br />

wodurch mancher Ort wüste geworden.<br />

Anno 1657 musste diese gute Stadt allerhand Trübsal erdulden:<br />

Denn am Sonntage Esto mihi fielen die Pohlen abermahl ein, und<br />

brannten fast den gantzen Ort aus.<br />

Die Kirche blieb dennoch stehen, welches dahero gekommen seyn<br />

soll. Es war ein Marien=Bild, so man noch jetzo siehet, in der<br />

Kirche vorhanden, da dieses der Pohle, welcher dieselbe anstecken<br />

wollen gesehen, hat er von seinem Vorsatze ab, und die Kirche<br />

ohnversehrt gelassen.<br />

Oberdem so wütete die Pest in der Stadt, woran unter andern<br />

die beyden Prediger M. Uriel Bertram [den 21.Oktober] und Daniel<br />

Nebe gestorben sind“.<br />

819 Ludwig Reinhold v. Werner wurde 1726 auf dem Gut Brasnicken im Samland geboren<br />

und verstarb dort 1756. Er arbeitete <strong>als</strong> Kriegs-u. Domänenrat ab 1745 bei der Kammer in<br />

Gumbinnen, später bei der in Küstrin. Er war ein bekannter Historiker u. Topograph<br />

Ostpreußens. Hauptwerke: „Poleographia Regni Prussiae“, 1753 (mit Beschreibungen ostpr.<br />

Städte) sowie das o.g. Werk “Gesammelte Nachrichten zur Ergänzung..“. (1755).<br />

Der <strong>Angerburg</strong> betr. Teil dieses Sammelwerkes erschien bereits 1751.<br />

532<br />

819


3c:<br />

Georg Christoph PisanskiTPT<br />

TPT<br />

Nachricht von dem im Jahre 1656 geschehenen<br />

Einfalle der Tartarn in Preußen.<br />

Königsberg 1764, S.107-108<br />

Nach der Schlacht bei Prostken (8.Oktober 1656) flüchtete der<br />

komandirende General Graf v. Waldeck, der eine leichte Wunde<br />

empfangen hatte, nach <strong>Angerburg</strong>, „…der Herzog von Weimar war<br />

im Rücken von einem Pfeile gefährlich verwundet, welcher ihm in<br />

<strong>Angerburg</strong> musste ausgeschnitten werden … um daselbst die unter<br />

dem General Steenbock und Obersten Sparre anrückende<br />

Verstärkung zu erwarten…“ (S.96) Nach wenigen Tagen<br />

vereinigten sie sich in Lötzen, zogen Gonsiewki nach und schlugen<br />

ihn den 21.Okober bei Philippowa. „Ein zahlreicher Schwarm<br />

Tataren überschwemmte im Jahr 1656 das Hauptamt <strong>Angerburg</strong>.<br />

Man hatte sich zu einiger Gegenwehr angeschicket, die jedoch<br />

unzulänglich war, den barbarischen Anlauf abzuhalten. Der Graf v.<br />

Waldeck ließ vor der Stadt <strong>Angerburg</strong> einige Verschanzungen<br />

aufwerfen; die aber nicht schienen zur Vollkommenheit gekommen<br />

zu sein, und wovon man noch <strong>jetzt</strong> (1756) Überbleibsel sieht. Die<br />

Brücken über den Fluß wurden abgeworfen und in der Eil eine<br />

Wagenburg errichtet. Die Tataren hingegen erfuhren von einem<br />

Bauern, den sie durch allerlei Marter dazu gezwungen hatten,<br />

einen Ort im Strom, wo sie durchreiten konnten; und drungen<br />

durch diesen Weg in die Stadt hinein. Ein Teil der Einwohner<br />

gewann noch Zeit, im Schlosse, welchen der Feind nicht<br />

beikommen konnte, seine Zuflucht zu finden; die übrigen wurden<br />

820 Anmerkung von E. Anderson: Katharina Louise geb. Helwing, die Mutter Christoph<br />

Pisanski’s, war seit 1714 mit Wilhelm Anderson, dem ältesten Sohn des Bürgermeisters<br />

Thomas Anderson verheiratet. Als ihr Mann 1717 starb, zog sie mit ihrem einzigen Kinde zu<br />

ihrem Vater dem Probst G. A. Helwing. Ihr zweiter Mann war Christoph Pisanski, der Vater<br />

des 1725 geborenen Konsistorialrats Ur. Pisanski.<br />

George Christoph Pisanski wurde 1725 in Johannisburg geboren u. verstarb 1790 in<br />

Königsberg. Während seiner Schulzeit in <strong>Angerburg</strong> wurde er von seinem Großvater, dem<br />

Probst u. Naturforscher Andreas Helwing sowie seinem Onkel, Rektor Karl Friedrich Helwing<br />

gefördert. Seit 1742 trieb Pisanski an der Universität Königsberg theol., philos. u. naturwiss.<br />

Studien. 1759 wurde er Rektor der Domschule u.lehrte auch an der Universität. Pisanski<br />

verfasste 108 gelehrte Schriften. Sein Hauptwerk, die „Preußische Literärgeschichte“ erschien<br />

erst nach seinem Tode. Sie ist bis weit in das 19. Jhdt. hinein die beste landschaftliche<br />

Literaturgeschichte gewesen.<br />

533<br />

820


ein Raub des Schwertes und der Bande. Der größte Teil der Stadt<br />

ward in die Asche gelegt und nur wenige Häuser blieben stehn.<br />

Die Kirche hatte das Glück, verschont zu bleiben. Ein<br />

mitgekommener polnischer Pfaff soll schon im Begriff gewesen<br />

sein, Feuer an dieselbe zu legen; ein dortiger Bürger aber, der in<br />

der Nähe stand, solches bemerkt und ihn erschossen haben, allein<br />

auch von den herzu geeilten Tataren in den nah gelegenen Garten<br />

des Diakon in Stücken gehauen sein. In der Kirche zeigt man noch<br />

<strong>jetzt</strong> (1756) an der Tür der Sakristei das Merkmal eines<br />

gewaltsamen Hiebes, den, dem Vorgeben nach, ein Tatar in<br />

dieselbige getan; welchen aber ein vornehmer polnischer<br />

Befehlshaber von weiteren Gewalttätigkeiten soll abgehalten und<br />

der Kirche sowohl <strong>als</strong> der Schule und Widdem eine Schutzwache<br />

zugeordnet haben; welches er aus Erkenntlichkeit dafür getan,<br />

dass er einstm<strong>als</strong> bei einer Durchreise durch diese Stadt, <strong>als</strong> er<br />

nirgend zur Herberge unterkommen konnte, von dem damaligen<br />

Pfarrer in seiner Behausung willig war beherbergt worden. Das<br />

Jahr darauf (1657) musste <strong>Angerburg</strong>, welches sein voriges<br />

Unglück noch lange nicht verschmerzt hatte, schon ein neues<br />

empfinden. Ein Haufen Polen und Tataren fiel den 11.Februar am<br />

Sonntag Esto mihi in die Stadt ein, brannte die wenigen Häuser,<br />

so noch standen, ab, und kehrte mit der geraubten Beute zurück.<br />

Bei diesem plötzlichen Überfall sind aberm<strong>als</strong> viele aus der<br />

Bürgerschaft und dem Landvolke, welches eben zur Kirche<br />

gekommen war, teils erbärmlich niedergesäbelt, teils, nebst dem<br />

Vieh, verbrannt, sodass man nach einer schriftlichen Urkunde an<br />

200 Erschlagene gezählet, die in ihrem Blut auf den Gassen<br />

gelegen und deren Leichname, weil keiner da war, der sie<br />

begraben konnte, von den Hunden und Säuen gefressen sind.<br />

Indessen entging die Kirche auch diesesmal den Flammen. Ein<br />

Marienbild soll ihr Schutz gewesen sein. Denn <strong>als</strong> der Pol, welcher<br />

sie anzünden wollte, selbiges erblicket, soll er von seinem Vorsatz<br />

abgelassen haben. Es wurde aber der Kirche an Geld 1000 Mark<br />

nebst den silbernen Kannen, sowie von dem vorrätigen Stadtgeld<br />

einige 100 Mark und die silbernen Schilde geraubt. Noch an<br />

demselben Tage, nachmittags sind die zu diesem Hauptamte<br />

gehörigen Kirchdörfer Engelstein und Benkheim, sowie die Höfe<br />

Popiollen und Sperling, nebst mehr <strong>als</strong> 12 anderen Dörfern in die<br />

Asche gelegt worden“.<br />

534


3d:<br />

Hermann SchmidtTPT<br />

TPT<br />

Der <strong>Angerburg</strong>er Kreis<br />

In geschichtlicher, statistischer u. topographischer<br />

Beziehung.<br />

<strong>Angerburg</strong>, 1860, S.70<br />

1656 Einfall der Polen und Tataren:<br />

„Hier bei <strong>Angerburg</strong> hatte zwar der Graf v. Waldek einige<br />

Verschanzungen aufwerfen, die Brücke über die Angerapp<br />

abbrechen und eine Wagenburg errichten lassen; aber durch eine<br />

Furth, die den Tataren ein Bauer, durch Martern gezwungen,<br />

entdeckt hatte, drangen diese in die Stadt, und nur diejenigen<br />

Einwohner wurden gerettet, welchen es noch möglich war, sich in<br />

das hiesige Schloss zu flüchten. Von der Stadt blieben nur wenige<br />

Häuser übrig. Die Kirche blieb verschont. Zwar soll ein polnischer<br />

Pfarrer sie schon haben anstecken wollen, aber darüber von einem<br />

Bürger <strong>Angerburg</strong>s erschossen sein; doch auch diesen sollen die<br />

aus Rache hinzueilenden Tataren in dem nahen Garten des<br />

Diakons getötet haben. In der hiesigen Kirche zeigte man noch<br />

lange an der Tür der Sakristei die Spur eines gewaltsamen Hiebes,<br />

den ein Tatar angeblich auf dieselbe geführt hat; ein polnischer<br />

Befehlshaber soll aber den Tataren von seiner Absicht<br />

zurückgebracht und die Kirche, Schule und Widdem durch eine<br />

Wache geschützt haben, aus Dankbarkeit dafür, dass er einst bei<br />

einer Durchreise durch <strong>Angerburg</strong>, <strong>als</strong> er nirgend eine Herberge<br />

finden konnte, von dem Pfarrer willig in sein Haus aufgenommen<br />

war. Den 21. Februar, am Sonntage Esto mihi 1657 fiel aberm<strong>als</strong><br />

ein Haufe Polen und Tataren in die Stadt, brannte die noch übrigen<br />

Häuser ab und tötete oder verbrannte mit dem Vieh die Bürger<br />

und viele von dem eben nach der Stadt zur Kirche gekommenen<br />

Landvolke, so dass man nach einer schriftlichen Urkunde an 200<br />

Erschlagene zählte, deren Leichname von Hunden und Schweinen<br />

gefressen wurden, da niemand zu ihrer Beerdigung da war. Die<br />

Kirche blieb auch diesmal verschont, indem der Anblick eines<br />

Marien-Bildes einen Polen, der sie anzünden wollte, von seiner<br />

Absicht zurückhielt; doch wurden aus ihr an Geld 1000 Mark nebst<br />

den silbernen Kannen geraubt, sowie aus dem vorrätigen<br />

Stadtgelde einige 100 Mark. Die Kirchdörfer Engelstein und<br />

Benkheim, sowie die Höfe Sperling und Popiollen nebst mehr <strong>als</strong><br />

821 S. Anhang 4<br />

535<br />

821


anderen 12 Dörfern wurden an demselben Tage (11.Februar)<br />

nachmittags vom Feinde niedergebrannt“.<br />

Anhang 4:<br />

Der <strong>Angerburg</strong>er Landrat Hermann Carl Schmidt<br />

Biografischer Abriss<br />

Zu den Landräten des Kreises <strong>Angerburg</strong> aus dem 19.<br />

Jahrhundert, dessen Nachruhm in historisch interessierten Kreisen<br />

bis in die Gegenwart wirkt, gehört ohne Zweifel Hermann Carl<br />

Schmidt. Der Grund dafür liegt nicht so sehr auf dem kommunalen<br />

Sektor und Schmidts Leistungen für die Entwicklung <strong>Angerburg</strong>s<br />

während seiner Amtszeit, sondern ist vorrangig durch sein 1860<br />

im Verlag von F.J. Priddat veröffentlichtes Werk: „Der <strong>Angerburg</strong>er<br />

Kreis in geschichtlicher, statistischer und topographischer<br />

Beziehung“ begründet worden. Dieses Werk mit einem Umfang<br />

von über 300 Seiten ist heute nur noch in ganz wenigen<br />

Exemplaren erhalten, zählt aber nach wie vor zu den<br />

Standardwerken der <strong>Angerburg</strong>er Kreisgeschichte. Schon bald<br />

nach seiner Veröffentlichung wurde es <strong>als</strong> vorbildlich gerühmt, weil<br />

es auf der Auswertung archivalischer Quellen basiert und auch<br />

Vorgänge aus der Amtszeit des Verfassers geschickt und<br />

sachkundig in die Darstellung einzubeziehen versteht. Nachdem<br />

durch Kriegsgeschehen und Vertreibung der überwiegende Teil der<br />

lokalen <strong>Angerburg</strong>er Aktenüberlieferung vernichtet worden war TPT<br />

war die Darstellung von Schmidt, die einzige Sekundärquelle, die<br />

detaillierte Ausführungen über geschichtliche Abläufe im Kreis<br />

<strong>Angerburg</strong> bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts enthielt. Und auf<br />

dieses Werk ist denn auch sehr häufig zurückgegriffen worden,<br />

nicht zuletzt auch in starkem Maße von Erich Pfeiffer bei der<br />

823<br />

Abfassung seiner Monographie über den Kreis <strong>Angerburg</strong>TPT<br />

TPT. Über<br />

Schmidt selbst war hingegen bisher nur wenig bekannt, obwohl<br />

bereits in dem von Walter Hubatsch hrsg. Grundriss zur deutschen<br />

822<br />

Der weitaus überwiegende Teil der 1944/45 aus dem <strong>Angerburg</strong>er Kreisgebiet verlagerten<br />

Akten hat das Kriegsende nicht überdauert. Nur die ältere Aktenüberlieferung aus dem<br />

Kreisgebiet, die lange vor 1944 schon in das Königsberger Staatsarchiv gelangt war, konnte<br />

zum größeren Teil gerettet werden und ist heute im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz in Berlin benutzbar.<br />

823<br />

Pfeiffer, Erich: Der Kreis <strong>Angerburg</strong>. Ein ostpreußisches Heimatbuch. Kreisgemeinschaft<br />

<strong>Angerburg</strong>, 1973.(2. Auflage noch lieferbar).<br />

536<br />

822<br />

TPT,


Verwaltungsgeschichte (1815-1945) und zwar in dem 1975<br />

vorgelegten Band über die Verwaltungsgeschichte von Ost- und<br />

824<br />

WestpreußenTPT<br />

TPT darauf hingewiesen wurde, dass die Personalakte<br />

von Carl Hermann Schmidt erhalten ist und sich heute im<br />

Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in<br />

825<br />

Berlin befindet.TPT<br />

TPT<br />

Dieser Akte sind zwar keine ausführlichen biographischen<br />

Angaben über Schmidt und sein Lebensumfeld zu entnehmen, sie<br />

gibt aber einzelne Hinweise auf Schmidts Karriere <strong>als</strong> preußischem<br />

Beamten. Diese war keineswegs nur mit dem <strong>Angerburg</strong>er Kreis<br />

verbunden.<br />

Hermann Carl Schmidt wurde am 25. Februar 1821 in<br />

Königsberg geboren. Es ist zu vermuten, dass er Kindheit und<br />

Jugend sowie die Ausbildungsjahre ebenfalls in der Residenzstadt<br />

des Königreichs Preußen verbrachte. Dem Militär hat er nicht<br />

angehört.<br />

1843 wurde Schmidt <strong>als</strong> Referendar bei der Königsberger<br />

Regierung vereidigt. Nach seiner vor der Königlichen Hohen Ober-<br />

Examinations-Kommission in Berlin abgelegten Prüfung wurde er<br />

1848 zum Regierungsassessor ernannt und mit der<br />

kommissarischen Verwaltung des Landratsamtes in <strong>Angerburg</strong><br />

betraut. Der Osteroder Landratsposten, auf den er sich auch<br />

beworben hatte, war kurz vorher mit einem anderen Aspiranten<br />

besetzt worden. Schmidts Ernennung zum Landrat in <strong>Angerburg</strong><br />

erfolgte im Jahre 1850, und er übte diese Funktion bis 1861 aus.<br />

Über Einzelheiten seiner Tätigkeit im Kreis <strong>Angerburg</strong> enthält die<br />

oben zitierte Akte keine näheren Hinweise, wohl aber wird<br />

mehrfach hervorgehoben, dass die vorgesetzten Behörden mit<br />

824 Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte. 1815-1945. Reihe A: Preußen, hrsg. von<br />

Walther Hubatsch. Bd.1: Ost-und Westpreußen, bearb. von Dieter Stüttgen. Marburg 1975.<br />

825 GStA Berlin, Hauptabt. I, Rep.77, Nr.2448 (Min. d. Inneren, Beamtensachen,1848-1887).<br />

(In den Reposituren 77 und 90 sind außerdem Akten über die folgenden <strong>Angerburg</strong>er Landräte<br />

enthalten: 77/Nr.913: Erich Julius Feige (Landrat v.1861-1867);77/ Nr.2214: Staudy(1867-<br />

1869); 77/Nr. 2214: Frh. v. Salmuth (1869-1875); 90/Nr.1031, Bd.I: Köhn v. Jaski (1875-<br />

1883); 90/Nr.1031, Bd.I: Ernst v. Kannewurff (1884-1892); 90/Nr.1031, Bd.I: Dr. Beeckmann<br />

(1893-1906); 90/Nr.1031, Bd.I: Heyl (1907-1915); 90/Nr.1031, Bd.I: Dr. Kurt Wiechert<br />

(1915-1920); 90/Nr.1032, Bd.II: Wilhelm Ellinghaus (1929-1930); 90/Nr.1032, Bd II: Franz<br />

Rudnitzki (1930-1933.)<br />

537


seinen Leistungen sehr zufrieden waren. Im Jahre 1856 wurde er<br />

deshalb mit dem Roten Adlerorden (IV.Klasse) ausgezeichnet. Die<br />

positive Beurteilung seiner <strong>Angerburg</strong>er Tätigkeit führte wohl auch<br />

dazu, dass er zu Anfang des Jahres 1861 für eine kommissarische<br />

Beschäftigung beim Preußischen Innenministerium in Berlin<br />

herangezogen wurde.<br />

Aus personaltechnischen Gründen währte dieses<br />

Arbeitsverhältnis in Berlin nicht lange, führte aber dazu, dass der<br />

damalige preußische Innenminister, Graf v. Schwerin, Schmidt für<br />

eine Tätigkeit bei der Königsberger Regierung in Vorschlag<br />

brachte. Graf v. Schwerin schrieb: „Ich habe durch die<br />

Beschäftigung des Landraths Schmidt, der schon <strong>als</strong> Landrath sich<br />

den Ruf besonderer Tüchtigkeit erworben hat, die Überzeugung<br />

gewonnen, dass er auch in einem Regierungs-Collegium sehr<br />

826<br />

ersprießliche Dienste leisten würde“.TPT<br />

TPT Nach Abstimmung mit dem<br />

preußischen Finanzminister wurde der Königsberger Regierung<br />

empfohlen, Schmidt zu übernehmen und ihn später zum<br />

Regierungsrat zu befördern. Die Weisung aus Berlin stimmte mit<br />

dem Wunsch des Ostpreußischen Oberpräsidenten Eichmann<br />

827<br />

überein, der „sich den Schmidt erbeten hat“.TPT<br />

TPT Schmidts<br />

Ernennung zum Regierungsrat erfolgte am 15.1.1862. Seine<br />

Besoldung betrug 1000 Thaler/jährlich.<br />

Von den <strong>Angerburg</strong>er Kreiseingesessenen verabschiedete sich<br />

Schmidt mit herzlichen Worten, die auch im <strong>Angerburg</strong>er<br />

Kreisblatt (2.9.1861) abgedruckt wurden. Er versicherte u.a.:<br />

Auch von Königsberg aus „werde ich die Geschicke meines lieben<br />

<strong>Angerburg</strong>er Kreises… mit meiner wärmsten Teilnahme begleiten“.<br />

Für Schmidts Verabschiedung von <strong>Angerburg</strong> wurde eigens eine<br />

Festkommission gebildtet, welche die Gutsbesitzer Girod<br />

(Siewken), v. Jaski (Langbrück), Kiehl (Angerhof), Vogel<br />

(Jakunowen) sowie August Thesing, Direktor des Kreisgerichts,<br />

angehörten. „Es soll ihm durch ein Festmahl im Gasthoffbesitzer<br />

Keil’schen Lokale unsere Achtung und Liebe bethätigt werden,“<br />

verlautete im Kreisblatt vom 13.9.1861. „Das Couvert kostet<br />

exclusive Wein 1 Thlr. 15 Sgr“. Und interessierte Teilnehmer<br />

wurden gebeten, sich umgehend zu melden. Landrat Schmidt<br />

826 Rep.72, Nr.2248, Bl.20<br />

827 Rep.72, Nr.2248, Bl.21<br />

538


ereitete indessen seinen Umzug vor und inserierte im Kreisblatt<br />

(16.9.1861) „Am Mittwoch den 25. September von 9 Uhr<br />

vormittags ab beabsichtige ich in meiner Wohnung mein Mobiliar,<br />

bestehend in verschiedenen Mahagoni- und Eschenmöbeln,<br />

Küchengeräth, ferner einen Verdeck, einen offenen Wagen,<br />

Schlitten, Pferdegeschirr u.m.dgl. im Wege der Auktion zu<br />

verkaufen“. Offenbar waren die Kosten für einen Transport von<br />

<strong>Angerburg</strong> nach Königsberg dam<strong>als</strong> so hoch, dass für Schmidt nur<br />

ein Verkauf in Betracht kam. Und die Übernahme von<br />

Umzugskosten war abgelehnt worden, weil Schmidt zunächst nur<br />

kommissarisch beschäftigt und noch nicht in eine Planstelle<br />

eingewiesen worden war. Über Schmidts konkretes Arbeitsfeld bei<br />

der Königsberger Regierung fehlen detaillierte Angaben. Bekannt<br />

ist nur, dass er u. a. auch <strong>als</strong> „Kgl. Kommissarius bei den<br />

Geschäften der Ost- und Westpreußischen Landarmen-Direction“<br />

mitwirkte.<br />

1869 war eine weitere Ordensverleihung fällig: der Kronen-<br />

Orden (IV. Klasse).<br />

Am 19. Juli 1870 wurde Schmidt zum Ober-Regierungsrat<br />

ernannt. Ihm wurde <strong>jetzt</strong> die Dirigentenstelle der Abt. für die<br />

Kirchenverwaltung und das Schulwesen bei der Regierung zu<br />

Magdeburg übertragen. Sein bisheriges Gehalt von jährlich 1400<br />

Reichstalern wurde durch eine Dirigentenzulage von 300<br />

Reichstalern/jährlich aufgestockt. Nach sechsjähriger erfolgreicher<br />

Tätigkeit in Magdeburg erhielt er erneut eine Auszeichnung: den<br />

Roten Adlerorden (III.Klasse) mit Schleife. Kurz danach wurde er<br />

an die Regierung in Breslau versetzt und blieb auch hier der<br />

Kirchen-und Schulverwaltung zugeordnet Im Jahre 1887 bat<br />

Schmidt nach einer 44-jährigen Dienstzeit um die Versetzung in<br />

den Ruhestand. Sein „Nervenleiden“, an dem er seit längerer Zeit<br />

laboriere, sowie die Verschlechterung seiner Sehkraft (grauer<br />

Star) hätten ihm die Erfüllung seiner Dienstpflichten aufs Äußerste<br />

erschwert. Das Regierungspräsidium in Breslau kam Schmidts<br />

Bitte nach, der auf eine „ehrenvoll zurückgelegte<br />

Dienstzeit…zurückblicken“ könne, „in welcher er in wirklich<br />

828<br />

seltener Weise in seinen Hauptobliegenheiten völlig aufging“TPT<br />

TPT<br />

Wie seinem Amtsvorgänger in Breslau wurde Carl Eduard Schmidt<br />

828 Rep.72, Nr.2248, Bl.63v<br />

539


ei seiner Verabschiedung aus dem aktiven Dienst der Rote<br />

Adlerorden (II. Klasse) mit Eichenlaub verliehen. Sein Ruhegehalt<br />

wurde auf 5544 Mark festgesetzt. Über die weiteren<br />

Lebensumstände Hermann Carl Schmidts und sein Todesdatum<br />

liegen keine Angaben vor.<br />

<strong>Angerburg</strong>er Stadtsiegel 1572 nach v. Werner.<br />

540

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