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Heinse und Hölderlin
Seiner Tübinger Hymne an die Göttin der Harmonie von 1791 stellte Hölderlin ein leicht
verändertes Motto aus Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln voraus:
„Urania, die glänzende Jungfrau, hält mit ihrem Zaubergürtel das Weltall in tobendem
Entzücken zusammen.“ (StA 1, 130) 1 Im Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland
von 1797/99 zitiert Hölderlin den Ardinghello mehrfach; Heinses Musikroman Hildegard von
Hohenthal (1795/96) bestimmt seine Poetik. Die Elegie Brod und Wein von 1800 ist Heinse
gewidmet. Auch der Gesang Der Rhein sollte ihm zugeeignet sein; Heinses Tod 1803 machte
die Umwidmung auf Hölderlins besten Freund Isaac von Sinclair notwendig. Ein spätes
Fragment denkt noch an „dort drüben, in Westphalen, / Mein ehrlich Meister“ (StA 2, 252).
Ein solches Bekenntnis ist einmalig in Hölderlins Dichtung, denn zwar haben seine frühen
Hymnen deutlich Schillerschen Ton und lassen sich auf Zumsteegs Vertonungen vor allem
der Lieder aus den Räubern singen, aber nie hat er sich durch eine Widmung an Schiller ihm
zugesellt; im Gegenteil, den schmerzhaften Ablöseprozess von diesem großen Vorbild und
Zuchtmeister 2 markieren trotzige Anspielungen auf Schillersche Gedichte, mit denen
Hölderlin sich dem Meister gleichstellt.
Wer war Heinse? Johann Jakob Wilhelm Heinse wurde 1796 als Sohn des Stadtschreibers und
Organisten in Langewiesen bei Ilmenau in Thüringen geboren. Gymnasialbesuch, zunächst
Jurastudium in Jena von 1766 an; bald aber entwickelte er seine literarischen Interessen und
schließt sich dem Dozenten für Literatur und Philosophie Friedrich Justus Riedel an, dem er
1768 nach Erfurt folgte. Riedel hatte mit seiner Theorie der schönen Künste und
Wissenschaften (1767) eine relativistische Ästhetik vorgelegt, die für Heinse wichtig wurde:
Schönheit wohnt nicht, wie damals noch weithin behauptet wurde, den Gegenständen inne,
sondern ist ein Zustand des Verhältnisses zwischen einem empfindenden Subjekt und dem
Gegenstand; das Subjekt muss angeborenen und dann ausgebildeten Geschmack mitbringen,
um ein solches Verhältnis eingehen und mit sinnlichem Wohlgefallen den Gegenstand schön
finden zu können. So unklar diese Theorie ist – Herder hat Riedel in seinem 4. Kritischen
Wäldchen zu Recht gehörig gebeutelt – , so wichtig ist für Heinses spätere Gemälde- und
Musikbeschreibungen das von Riedel als ästhetische Grundstruktur angesetzte Verhältnis
1 Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke.Große Stuttgarter Ausgabe hrsg. von Friedrich Beißner. 8 Bde. Stuttgart
1943-1995 [StA]. Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe hrsg. von
Max L. Baeumer. Stuttgart 1975 [A], 270.
2 Vgl. Hölderlin Texturen 2, Das Jenaische Project, Wintersemester 1794/95, hrsg. von Ulrich Gaier u.a.,
Tübingen 1995, 134-147; dort auch Literaturangaben (Anm. 97).
zwischen individuellem Empfinden sinnlichen Wohlgefallens und dem gegebenen
Gegenstand. Die sinnliche Lust, mit der Heinse im Schweben zwischen exakter Beschreibung
und besitzergreifendem Empfinden Gemälde erfasst, war den Herausgebern lange Zeit zu
unverhohlen; erst jüngst sind sie vollständig erschienen. Von 1771 an suchte Heinse sich als
Reisebegleiter und Hauslehrer Brot zu verdienen, war von 1774-80 Mitherausgeber von
Johann Georg Jacobis Damenzeitschrift Iris und lebte im Haus der Brüder Jacobi in
Düsseldorf. Erste Übersetzungen und ein Roman Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse
erschienen anonym. Eine dreijährige Fußwanderung nach und in Italien von 1780-83 brachte
intensive Eindrücke und Tagebuchaufzeichnungen von der italienischen Kunst und Musik
sowie Übersetzungen der großen Epen von Tasso und Ariosto; in den Jahren 1783-1786, als
er wieder bei den Jacobis in Düsseldorf wohnte, arbeitete er den Roman Ardinghello oder die
glückseeligen Inseln. Eine italiänische Geschichte aus dem 16. Jahrhundert aus, der 1787
erschien, großes Aufsehen erregte und die erste genialische Darstellung der italienischen
Renaissance ist, deren glutvoller Geist Gobineau, Burckhardt, Isolde Kurz und andere
inspiriert hat. 1786 erhielt er eine Stelle als Vorleser beim aufgeklärten Kurfürsten und
Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal in Mainz und wurde 1788 Hofrat und
Bibliothekar des Kurfürsten. Vor den Franzosen floh er bei der Besetzung der Stadt 1792
zunächst wieder nach Düsseldorf und zog dann mit dem Kurfürsten nach Aschaffenburg,
seinem Hauptwohnsitz bis zum Tod 1803. 1795/96 erschien ein Musikroman Hildegard von
Hohenthal, kurz nach seinem Tod noch der Roman Anastasia und das Schachspiel. Briefe aus
Italien, vom Verfasser des Ardinghello. Während der Mainzer Zeit verkehrte Heinse viel in
Frankfurt, insbesondere bei seinem Freund Samuel Thomas Soemmerring, einem Anatomen
und Allgemeinarzt, der einmal auch Höldeerlin behandelte und eine von Heinse verteidigte
Lehre vom Sitz des Seelenorgans im Gehirn entwickelte, die für die auf Energiezuständen
basierende Musikästhetik Heinses und Poetik Hölderlins wichtig ist. Heinse verkehrte durch
Vermittlung von Frau Soemmerring, der Freundin Suzette Gontards, auch im Haus Gontard,
wo Hölderlin im Januar 1796 seine Stelle als Hauslehrer antrat und in den folgenden Monaten
vielleicht auch Heinse persönlich kennenlernte.
Hölderlin war aber schon zuvor in gewissem Sinne Heinses Schüler. Das Motto über der
Hymne an die Göttin der Harmonie, Zeugnis einer Lektüre des Ardinghello, besagt zunächst
noch wenig im Sinne eines engeren Verhältnisses, denn 1791, vier Jahre nach dem Erscheinen
des Ardinghello, gehörte Heinses Roman zu den meistgelesenen Werken in Deutschland:
Goethe, aus Italien zurückgekehrt, erschrak über den „Beifall, der jenen wunderlichen
Ausgeburten [Schillers Räubern und Heinses Ardinghello] allgemein, so von wilden
Studenten als von der gebildeten Hofdame gezollt ward[...]: denn wo war eine Aussicht, jene
Produktionen von genialem Wert und wilder Form zu überbieten? Man denke sich meinen
Zustand! Die reinsten Anschauungen suchte ich zu nähren und mitzuteilen und nun fand ich
mich zwischen Ardinghello und Franz Moor eingeklemmt.“ (A 576) Er überbot dann beide
Konkurrenten erfolgreich mit seinen Erotica Romana, den Römischen Elegien, in denen er die
freie Sinnlichkeit des Ardinghello in der klassischen Form der erotischen Elegie ausdrückte.
Hölderlins Motto aus Heinses Roman stellt deshalb noch kein außergewöhnliches Bekenntnis
dar; bemerkenswert im Sinne der späteren Poetik Hölderlins ist allerdings die Wahl dieses
Satzes, nach dem die Aphrodite Urania, nach Platons Symposion (180 d) die Schönheit der
kosmischen Ordnung, mit dem der sinnlichen Aphrodite zugehörigen Gürtel des Liebreizes
„das Weltall in tobendem Entzücken zusammen“ hält und damit die äußersten Extreme des
Tobens und der Ruhe, der wilden Unordnung und der harmonischen Ordnung, der geistigen
Harmonie und der sinnlichen Schönheit vereint – das ist gegen den Klassizismus der
Winckelmannschen Vorstellung von den griechischen Göttern, ihrer edlen Einfalt und stillen
Größe, eine dionysisch-apollinische Konzeption und im Blick auf Hölderlins Entwicklung ein
Vorgriff auf seine spätere Lehre von der Konfrontation widersprüchlicher Töne in der
sprachlichen Formulierung.
Dieser geistigen Berührung mit Heinse folgte 1796 die biografische. Hölderlin trat Anfang
1796 seinen Dienst als Hauslehrer in der Frankfurter Bankiers- und Kaufmannsfamilie
Gontard an und fand dort, von Heinse der Dame des Hauses persönlich gewidmet, den
zweiten Band des Musikromans Hildegard von Hohenthal vor. Über den Arzt und Anatomen
Soemmerring, mit dem er befreundet war, kannte Heinse die Gontards, kam öfter zu Besuch
und verehrte der „Madam Gondar“ seine Werke. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass
Hölderlin das Buch las und die darin ausgebreitete Musiktheorie studierte, war er doch selbst
hochmusikalisch, spielte Geige, Klavier und Flöte bis zur Virtuosität und schrieb, wie gesagt,
seine Tübinger Hymnen zum Singen nach bekannten Kompositionen.
Die indirekte Beziehung zu Heinse wandelte sich plötzlich zu einem zweimonatigen
Zusammenleben, als die Franzosen 1796 Frankfurt belagerten und die Familie Gontard mit
Hauslehrer und Erzieherin, aber ohne den Hausherrn am 10. Juli 1796 nach Kassel reiste, wo
Heinse, von Aschaffenburg kommend, am 25. Juli dazustieß. Man besuchte die
Sehenswürdigkeiten der Stadt und ihrer Umgebung, die Galerie und die Künstler (StA 6,
216). Der große Kunstkenner Heinse führte sicherlich die Gruppe, erklärte Statuen und Bilder
und stellte Vergleiche mit Italien an. Kassel war aber als neutrale Stadt von Flüchtlingen
überlaufen, deshalb zog die Reisegesellschaft weiter in das Kurbad Driburg, von wo sie erst
Ende September nach Kassel zurückkehrte. Nach Erich Hocks Forschungen 3 trennte man sich
am 6. Oktober, Heinse ging nach Aschaffenburg, die Gruppe um Susette Gontard nach
Frankfurt zurück. Hölderlin war also von Ende Juli bis Anfang Oktober 1796 täglich mit
Wilhelm Heinse zusammen. Dass die beiden einander nicht mieden, zeigt ein Brief Hölderlins
und das Tagebuch Heinses mit dem Bericht über eine Wanderung zum Ort der Schlacht im
Teutoburger Wald, zum Tal, „wo Hermann die Legionen des Varus schlug“, wie beide mit
identischem Wortlaut schrieben. 4 Klopstocks Bardiet Hermanns Schlacht hatte Heinse in
Hildegard von Hohenthal gerühmt und als Gegenstand einer geplanten Vertonung durch
Christoph Willibald Gluck dargestellt; Hölderlin erinnerte seinen Bruder, den Adressaten
seines Briefs, an eine gemeinsame Lektüre des Stücks an vaterländisch bedeutendem Ort, dem
Winkel von Hahrdt. Auch über dieses Stück, das Vaterland und die vaterländische Dichtung,
wohl auch über die spezifische Verssprache Klopstocks in diesem Stück und in andern
Dichtungen wird geredet worden sein, und über die sogenannte Wortfußtechnik Klopstocks,
mit der er seine Metrik begründete und zu der Heinse Klopstocks Liste von Beispielen in der
Hildegard von Hohenthal abgedruckt hatte. Klopstock war also für beide Dichter nicht nur
eine bekannte, sondern für die eigene Dichtung maßgebende Persönlichkeit, denn Hölderlin
hatte schon in seinen frühen Schülerdichtungen nach „Klopstoksgröße“ (StA 1, 28) sich
gesehnt und in Oden und Hexametergedichten seinen antikisierenden Metren nachgeeifert;
Klopstock blieb das wichtigste Vorbild für hymnisch erhabene Sprache auch da, wo Hölderlin
sich der Reimstrophen nach Schillerscher Manier für seine Hymnen bediente. Klopstock mit
seinen Hermann-Dramen und seiner Gelehrten-Republik ist für Heinse und Hölderlin
bedeutend als vaterländischer Dichter. In der Hildegard von Hohenthal schreibt Heinse,
Gluck könnte, wenn ihm die Vertonung der Hermanns Schlacht gelänge, „ein unsterbliches
vaterländisches Werk der höchsten Kunst hervorbringen“ (SW 5, 365). 5 Und für Hölderlin
war, wie gesagt, die Lektüre des Stücks „bei einem Kruge Obstwein“ ein vaterländischer Akt
(StA 6, 217); Klopstock war schon dem Schüler, aber auch noch dem späten Hölderlin ein
Vorbild vaterländischer Dichtung.
3 Erich Hock, „Dort drüben, in Westphalen“. Hölderlins Reise nach Bad Driburg mit Wilhelm Heinse und
Susette Gontard. Stuttgart und Weimar ²1995, 20.
4 Ulrich Gaier, „Mein ehrlich Meister.“ Hölderlin im Gespräch mit Heinse. In: Gert Theile (Hrsg.), Das Maß des
Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst. München 1998, 25-54; 26 f.
5 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, hrsg. von Carl Schüddekopf. Bd. 1-10 Leipzig 1908-1925 [SW].
Das Vaterländische als geschichts- und kulturphilosophische Kategorie für die vergleichende
Beschreibung der griechischen Antike und der neuzeitlichen Gegenwart hat offensichtlich in
den Gesprächen zwischen Heinse und Hölderlin eine bedeutende Rolle gespielt, denn es ist
Thema der großen geschichtsphilosophischen Elegie Brod und Wein, die Hölderlin 1800
Heinse widmete und die ein Gespräch zwischen beiden fingiert, vielleicht in Grundzügen ein
Gespräch zwischen beiden nachbildet, das tatsächlich stattgefunden hat. Beide Freunde
gestehen sich ein, dass die Gegenwart eine Zeit der Nacht, der Götterferne ist; der Heinse-
Figur wird die Vorliebe für den Tag und das Werden einer Kultur – die athenische ist deutlich
im Blick – unter dem Einfluss des gemeinsamen Geistes und des lebengebenden Vaters Äther
zugeordnet. Der Hölderlin-Figur dagegen kommt die Niedergeschlagenheit über die
Zerstörung dieser Kultur und die gegenwärtig herrschende dürftige Zeit der Götterferne und
der anscheinenden Sinnlosigkeit dichterischer Existenz und Tätigkeit zu:
So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (V. 121 f.)
Hier aber gibt die Heinse-Figur Rat: Dichter sind wie Dionysos-Priester, die schon in der
Antike den Gott verkündet haben. Brot und Wein, die Geheimnisse der Eleusinischen
Mysterien und des Dionysos-Kults wie auch die Gaben der christlichen Eucharistie, sind
Versprechen der Götter, zu rechter Zeit wiederzukehren. Dies unermüdlich vorherzusagen, die
Menschen darauf vorzubereiten, wie es die Elegie Hölderlins leisten will, ist Aufgabe der
Dichter in dürftiger Zeit. Das Vaterland, Land des himmlischen Vaters, gibt der dichterischen
Existenz und Rede ihren Sinn.
Mein ist
Die Rede vom Vaterland. Das neide
Mir keiner. (StA 2, 337)
So heißt es noch in einem späten Fragment Hölderlins. Hat er nun Heinse zu Unrecht die
Rolle als Dionysos-Priester zugeteilt? Sicher nicht, denn einer der Höhepunkte des
Ardinghello ist das Künstler-Bacchanal am Ende des Ersten Bandes, wo es heißt: „Es ging
immer tiefer ins Leben, und das Fest wurde heiliger; die Augen glänzten von Freudentränen,
die Lippen bebten, die Herzen wallten vor Wonne.“ (A 196) Und am Ende: „der höchste
bacchantische Sturm rauschte durch den Saal, der alles Gefühl unaufhaltbar ergriff, wie
donnerbrausende Katarakten, vom Senegal und Rhein, wo man von sich selbst nichts mehr
weiß und groß und allmächtig in die ewige Herrlichkeit zurückkehrt.“ (A 197) Das
Dionysische, mit dem man Heinse im Blick auf Nietzsche immer wieder verbunden hat 6 , ist
6 Z.B.Helmut Pfotenhauer, „Dionysos: Heinse, Hölderlin, Nietzsche.“ In: HJb 26, 1988/89, 38-59.
ei Heinse Ausdruck einer Lebensreligion, die eng mit dem spinozistischen Hen kai Pan und
dem dynamisierten Pantheismus Herders zusammenhängt. Diesen Pantheismus breitet
Demetri in seiner philosophischen Rhapsodie des Ardinghello aus, und wenn er zweimal den
Aristophanes zitiert mit „Unser Vater Äther, heiligster, aller Lebengeber!“ (A 267, 304), dann
lässt Hölderlin ihn in Brod und Wein dies wiederum an den Anfang der griechischen
Kulturentwicklung setzen:
Vater Äther! so riefs und flog von Zunge zu Zunge
Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wird’s ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt
Vater! heiter! Und hallt, so weit es gehet, das uralt
Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.
Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so
Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag. (V. 65-72)
Kulturentwicklung als gesellschaftliche Gestaltung des sich offenbarenden göttlichen Lebens,
das ist eine plausible Interpretation der Grundanschauung Heinses, der schrieb: „Form und
Wesen, und Wesen und Form! das sind die zwei Pole des Weltalls, um welche sich alles
herumdreht“ (A 304). Lebendes Dasein, gestaltlos, aorgisch, wie Hölderlin sagt, und sein
Hervorgehen in die Gestalt, das Organische in Hölderlins Ausdruck, das ist die Basis dieser
Kulturtheorie, die er Heinse in den Mund legt, wenn es auch sein mag, dass Heinse selbst
diese Kulturtheorie in den Driburger Gesprächen nicht formuliert hat. Zugrunde liegt bei
beiden, und das ist eine weitere gemeinsame Gesprächsbasis, Johann Gottfried Herders
Dynamisierung des Pantheismus, die insbesondere in der Schrift Gott. Einige Gespräche
(1787) dargelegt wird, die Heinse jedoch schon 1784 zur Kenntnis nahm. Herder schrieb am
6. Februar und im Dezember 1784 Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi, bei dem Heinse von
1783-1786 Hausgenosse war und sicherlich über die brisanten Briefe mitdiskutierte, die auch
Jacobis Position im sogenannten Pantheismusstreit beeinflussten. 7 Alle Grundbegriffe Heinses
wie „Wesen“, „Wesen der Wesen“ als Übersetzung von Spinozas ens entium , der
Genussbegriff als das sinnliche Schmecken des daseienden Göttlichen, sind in diesen Briefen
enthalten und bestimmen fortan Heinses Denken. Hölderlin seinerseits wurde seit 1788 durch
seinen Lehrer Carl Philipp Conz mit Herder vertraut gemacht, zitierte ihn schon in seiner
Magisterarbeit und entwickelte Herders System- und Organismustheorie weiter. Auch hier
war also nicht nur gemeinsamer Gesprächsstoff während der Wanderungen durch den
7
Johann Gottfried Herder Briefe, hrsg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. 10 Bde. Weimar 1984-2001.
Bd. 5, 27-29 und 89-91.
Teutoburger Wald, sondern eine gemeinsame Basis in der Interpretation des spinozistischen
Eins und Alles, des Offenbarungsverhältnisses zwischen dem Eins und dem Alles und des
Gedankens der Rückkehr zum ursprünglichen Eins, denn, nach Heinse: „Eines jeden Gefühl
muss ihm sagen, dass er etwas Getrenntes von einem Ganzen ist und dass er sucht, sich
wieder mit demselben zu vereinigen“ (A 268). Gerhard Kurz hat in seinem Buch Mittelbarkeit
und Vereinigung 8 die durchgängige Gültigkeit dieser neuplatonischen Denkfigur von
Beharrung, Hervorgehen und Rückwendung bei Hölderlin nachgewiesen.
Was sich wie bei Herder bei Heinse und Hölderlin unmittelbar aus der Überzeugung vom
Verhältnis zwischen Grund und Offenbarung ergibt, sind zwei Aufgaben der Dichtung:
erstens den Offenbarungscharakter, die Sprachlichkeit des Daseins in der Welt, des
Empfindens, Vorstellens, Denkens und aller Inhalte deutlich zu machen, sowie die Herkunft
aus und das Verschwinden dieser Welten und Sprachen in dem unbekannten zeichenlosen
Grund darzustellen, zweitens den Grund als solchen ohne Zeichen in seiner Lebendigkeit,
seinen Spannungen und Bewegungen fühlbar werden zu lassen. Beide Dichter gehen beide
Aufgaben an, wenn auch auf verschiedene, jedoch strukturell vergleichbare Weise. In den vier
Romanen Heinses, die ich vorhin genannt habe, entwickelt er jeweils eine besondere, aus
einem Weltzugang und der ihm adäquaten Vorstellungsart entstehende Diskurswelt. Laidion,
der Roman einer athenischen Hetäre, entfaltet die Diskurswelt des Körpers, der Sinne, des
leiblichen Genusses und der dazugehörigen Philosophie, anonym, ein gewagtes Buch 1774.
Goethe schrieb darüber:
Heinse den Sie aus der Übersetzung des Petrons kennen werden, hat ein Ding
herausgegeben des Titels: Laidion oder die eleusinischen Geheimnisse. Es ist mit der
blühendsten Schwärmerey der geilen Grazien geschrieben, und lässt Wieland und
Jakobi weit hinter sich, obgleich der Ton und die Art des Vortrags, auch die Ideen
Welt in denen sich’s herumdreht mit den ihrigen koinzidirt. 9
Der Ardinghello, wie gesagt, spielt in der italienischen Renaissance und entfaltet die Welt des
Auges. Ardinghello ist bildender Künstler und Maler, Heinse bringt ausführliche
Gemäldebeschreibungen und Kunstgespräche, das Romangeschehen selbst ist ein farbiges
Gemälde der Renaissance, und eine Philosophie der sich aus dem Lebensgrund, dem Vater
Äther offenbarenden Elemente und geometrischen Urkörper wird auf dem Dach des
8
Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei
Hölderlin. Stuttgart 1975.
9
Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe hrsg. von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe. ²Hamburg 1968,
Bd. I, S. 164.
ömischen Pantheons von dem Griechen Demetri rhapsodisch vorgetragen, wie auch das
Romangeschehen auf „glückseeligen Inseln“ der Ägäis endet. Die Hildegard von Hohenthal
spielt im zeitgenössischen Deutschland und endet in Italien; der Roman entfaltet die
Diskurswelt des Ohrs, das entsprechend in einer anatomischen Zeichnung auf dem Titelblatt
des Dritten Theils 1796 abgebildet ist. Musikbeschreibungen, Sängerin und Komponist in
einer asexuell erotischen Freundschaftsbeziehung, Musiktheorie werden in eine musikalisch
komponierte Handlung verwoben; während der Ardinghello für Hölderlins Tübinger Zeit
wichtig war, leitet die Hildegard von Hohenthal nach dem Gespräch mit Heinse eine neue
Epoche in Hölderlins Dichtung ein. Der letzte Roman Heinses, Anastasia oder das
Schachspiel (1803) entfaltet die Diskurswelt des Denkens in einer fast inexistenten Handlung
mit der Beschreibung von Schachpartien, von denen jede die metanarrative Verlaufsstruktur
unzähliger Ereignisse, Romane und Geschichten darstellt, damit wieder einen Grund von
Offenbarungen zum Bewusstsein bringt und im Nach-Denken der Spielzüge unmittelbar tätig
werden lässt. Hölderlins späte Formulierung vom gesetzlichen Kalkül, also der
Berechenbarkeit des poetischen Verfahrens in der Aufeinanderfolge verschiedener Logiken
(StA 5, 195.265), ist wohl auf diese Gedankengänge des späten Heinse zurückzuführen.
Heinse war Agnostiker, überzeugt, nichts in objektiver Wahrheit erkennen zu können:
Ich kann so wenig begreifen, wie ich einen Schritt vollbringe, als wie die Natur
unendlich ist. Jeder muß auf die letzt bloß glauben, daß etwas da ist, was sich von
selbst regt und wirkt vermöge seiner eigenthümlichen Kraft; und daß alles da ist und
sich regt und wirkt vermöge seiner eigenthümlichen Kraft; und daß es sich bindet und
löst und mancherley Erscheinungen macht vermöge seiner eigenthümlichen Kraft ohne
daß wir Anfang, Mittel und Ende weiter erklären können, als vielleicht durch Reiz der
Neuheit, Trieb zur Vollkommenheit oder Schönheit und Ekel dann am bekannten
Einerley, und wie die Worte etwa lauten dürften, womit sich leben umschreiben ließ;
und daß dieß ins Verborgne hineingeht, und sich weiter keine Ursache entwickeln läßt.
Dagegen sträuben sich nun die philosophischen Häupter, und bauen Zahlen auf wie
Gebürge, und bestürmen den unermeßlichen Himmel: aber sie liegen bald da mit ihren
Systemen und können nicht voran und weiter [...]: was wissen und erkennen wir
Tröpfe davon und von Ewigkeit? mit unsrer kleinen sehr endlichen höchsten halben
Kürbis Hirnschale von einer unermeßlichen Wirklichkeit die auf allen Seiten von oben
und unten, und von Osten, Westen, Süden und Norden in keinen leeren Raum sich
verlieren, auf die letzt ein unaufhörlicher Nebel gleichsam ohne alle Form seyn soll.
Lacht ihr Kinder über die Aristotelesse und Newtonen, sie sind eure Spielkameraden!
(SW 8.2, S. 87 f.)
Diesem Grund des Unbekannten einer spürbaren “unermeßlichen Wirklichkeit“ nähert der
Mensch sich mit einer bestimmten Vorstellungsart, wie die Romane sie in Reinform
präsentieren; es ist sogar wahrscheinlich, dass Heinse in der Abfolge der Romane antikes
Athen und Körper / Renaissance, Rom und Auge / Zeit um 1800, Deutschland und Ohr /
Zukunft, Europa und Denken ein kulturhistorisch geschichtsphilosophisches Programm der
diskursbildenden menschlichen Fähigkeiten und Vorstellungsarten verfolgte; das Gespräch
zwischen Heinse und Hölderlin in Brod und Wein mit seinen kultur- und
geschichtsphilosophischen Themen deutet darauf hin, dass Hölderlin den Meister so
verstanden hat. Bildung einer Vorstellung über ein wirkendes Unbekanntes, das sich in einem
unerklärlichen Ereignis manifestiert, heißt Mythos; insofern gehört Heinse zu den Denkern
von Hamann über Herder bis zu Friedrich Schlegel, Novalis und Schelling, die eine neue
Mythologie gefordert und zum Teil praktiziert haben. Heinses kulturhistorisches Verfahren,
mit den Diskurswelten des Körpers, Auges, Ohrs und Gehirns die Eigenschaften, Lebens- und
Denkformen sowie künstlerischen Schwerpunkte bestimmter Epochen der Realgeschichte zu
erklären, ist jedoch keine neue Mythologie etwa im Sinne Hamanns, der die mythische
Durchdringung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit Sinn gefordert hatte; Heinse bleibt
vielmehr Mythologe, Verfasser erster kulturhistorischer Romane über Diskurswelten als
leitender Mythen historischer Epochen. Man darf deshalb Heinse, den eher „schüchternen
Sonderling und Stubengelehrten“, wie Max Baeumer ihn genannt hat 10 , keinesfalls mit seinen
„Kernmenschen“ wie Ardinghello, Fiordimona, Hildegard identifizieren. Diese Haltung des
Historikers der Mythen lässt Heinse den modernen Zugang vernachlässigen, den er eigentlich
von seinem Lehrer Friedrich Just Riedel her kannte: die konstitutive Rolle des Subjekts bei
der Bildung einer Vorstellungsart, die von den zeitgenössischen Theoretikern der
Vorstellungsarten, etwa den Philosophen Karl Leonhard Reinhold oder Friedrich Heinrich
Jacobi, Heinses Freund, immer betont wurde 11 ; auch Hölderlin, obendrein als Kant-Schüler,
hatdie konstitutive Subjektivität in seine Mythostheorie, mithin seine Theorie der literarischen
Stoffe, als konstitutiv aufgenommen. Während bei Heinse die Diskurswelten und
Vorstellungsarten jeweils gegeben sind und auch von Theoretikern wie dem Philosophen
Demetri oder dem Komponisten Lockmann nicht als mythische Konstrukte reflektiert werden,
10
Max L. Baeumer: „Eines zu seyn mit Allem.“ Heinse und Hölderlin. In: Ders.: Heinse-Studien. Stuttgart 1966.
S. 49-91. Vgl. A , 696 f.
11
Vgl. Ulrich Gaier: Dialektik der Vorstellungsarten als Prinzip in Goethes Faust. In: Jane K. Brown, Meredith
Lee, Thomas P. Saine: Interpreting Goethe’s Faust Today. Columbia 1994, S. 158-171. Heinses Freund
Friedrich Heinrich Jacobi schrieb später die entscheidende theoretische Schrift über Vorstellungsarten (ebd.).
während also ihre mythische Beschaffenheit erst im Vergleich der vier Romane der
Kulturepochen und ihrer Diskurswelten hervortritt, geht Hölderlin in seiner Theorie der
Neuen Mythologie von der konstitutiven Rolle des Subjekts in seinem Verhältnis zu seiner
Lebenswelt oder „Sphäre“ aus. Kurz nach den Wanderungen mit Heinse im Teutoburger
Wald tritt er um den Jahreswechsel 1796/97 mit seinem Studienfreund Hegel, dem er in dieser
Zeit eine Hauslehrerstelle in Frankfurt hatte vermitteln können, in einen Dialog über die
Notwendigkeit und die Funktion einer neuen Mythologie. Hegel schreibt Anfang 1797 das
sogenannte Erste Systemprogramm des deutschen Idealismus auf, Hölderlin entwirft zur
selben Zeit den Aufsatz, den die Ausgaben als Fragment philosophischer Briefe / Über
Religion betiteln. Hölderlins Argumentation ist kurz folgende: Unser Alltag ist durch zwei
Zusammenhänge bestimmt, die objektive raumzeitliche Welt der physischen Gegenstände und
Ereignisse, die historisch und kausal zusammenhängen, und die subjektive geistige Welt der
rechtlichen, moralischen, intellektuellen Forderungen und Erkenntnisse, die ideell
zusammenhängen. Diese Zusammenhänge nötigen uns von beiden Seiten, ohne dass wir sie
vereinbaren können und ohne dass sie untereinander zusammenzuhängen scheinen (Kant hat
sich in seinen drei Kritiken mit dem Problem auseinandergesetzt). Nun gibt es Erfahrungen,
wir würden sie Epiphanien nennen, in denen ein höherer unendlicherer Zusammenhang
spürbar wird, Grund der physischen und intellektuellen Zusammenhänge, Erfahrung des einen
Seins, in dem die Differenz zwischen Subjekt und Objekt verschwindet, in dem das Physische
moralisch und die Ideen verwirklicht erscheinen. Die Beglückung durch diese Erfahrung
versucht der von der Epiphanie heimgesuchte Mensch durch Vorstellungen festzuhalten, die
ihm ermöglichen, sich an die vergangene Erfahrung zu erinnern, die Alltagswelt als
durchgängig von ihrer Präsenz bestimmt zu empfinden und mit dem Dank an die vorgestellten
Mächte ihre zukünftige Wirkung und Anwesenheit zu erbitten. Die einfachste, traditionelle
Form einer solchen „intellectuell historischen, d.h. mythischen“ (StA 4, 280) Vorstellung ist
die Personifikation. Nehmen wir als Beispiel die auch von Hölderlin verwendete
Personifikation der physischen Erscheinungen Blitz und Donner im Gewittergott Zeus oder,
wie noch bei unseren Urgroßmüttern, im Zorn Gottes. Daran kann man sich erinnern, davon
ist die ganze Welt durchwaltet und wird ermahnt, gestraft und gereinigt, dahin kann man
Dank, Gebet, Gelübde oder Bußversprechen richten, weil physisches Geschehen und
moralische Verpflichtung hier blitzartig verschmolzen sind und sich der Wille eines
persönlichen Gottes im raumzeitlichen Geschehen manifestiert. Hölderlins Verwendung des
Gewitters und des Gewittergotts ist jedoch gegenüber dieser einfachen Personifikation
metaphorisch: Gewitter sind ihm die großen historischen Ereignisse, die Kriege und
Veränderungen der Welt, wie es etwa in Friedensfeier vom erscheinenden Gott heißt:
Von heute aber nicht, nicht unverkündet ist er;
Und einer, der nicht Fluth und Flamme gescheuet,
Erstaunet, da es stille worden, umsonst nicht, jezt,
Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen.
Das ist, sie hören das Werk,
Längst vorbereitend, von Morgen nach Abend, jezt erst,
Denn unermeßlich braußt, in der Tiefe verhallend,
Des Donnerers Echo, das tausendjährige Wetter,
Zu schlafen, übertönt von Friedenslauten, hinunter. (StA 3, 534)
Indem er den bei Griechen und Christen eingeführten Mythos vom realen Gewitter als
Zeichen göttlichen Willens metaphorisch auf historisches Weltgeschehen anwendet, hält
Hölderlin getreu der Lehre Herders Vom neuern Gebrauch der Mythologie 12 , das Bewusstsein
der subjektiven Bildung dieser Vorstellung wach, die in der Tat nach seiner Argumentation
ganz individuell ist. Denn er kommt zu dem Schluss:
Und jeder hätte demnach seinen eignen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat,
in der er wirkt und die er erfährt, und nur in so ferne mehrere Menschen eine
gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d.h. über die Nothdurft
erhaben wirken und leiden, nur in so ferne haben sie eine gemeinschaftliche Gottheit.
(StA 4, 278)
Aufgabe des Dichters wird es deshalb für Hölderlin in der Ode, „jedem den eignen Gott“ zu
singen (StA 1, 62), oder in der Elegie zum Beispiel die gemeinschaftliche Gottheit Heinses
und Hölderlins zu beschwören, oder im Vaterländischen Gesang die gemeinschaftliche
Gottheit der Deutschen oder Abendländer überhaupt zu antizipieren. Diese Mythenbildung
und Mythenverwendung Hölderlins ist anders, theoretisch komplexer als die historisierende
Heinses, aber sie beruht auf der beiden gemeinsamen Struktur von Grund und Offenbarung,
von Hen und Pan, von Beharrung, Hervorgang und Rückwendung, die bei Hölderlin
unmittelbar nach den zwei Gesprächsmonaten mit Heinse erscheint.
Die zweite Aufgabe für beide Dichter, die sich aus der gemeinsamen prinzipiellen Struktur
von Grund und Offenbarung ergab, war, neben der mythischen, Aussage und Stoff der
Dichtung betreffenden vorstellenden Offenbarung des Verhältnisses von Grund und
12
Johann Gottfried Herder Werke in zehn Bänden, hrsg. von Günter Arnold u.a. Frankfurt am Main 1985-2002,
Band I, S. 432-453, bes. 447-453.
Offenbarung, den Grund in seiner Unfassbarkeit, Unvorstellbarkeit, Undenkbarkeit fühlbar zu
machen, also nicht nur an den Erscheinungsformen und Vorstellungen des Seins, Lebens,
Geistes hängen zu bleiben und mythisch über den Vater Äther zu reden, sondern ihn dem
Leser erfahrbar zu machen, mitzuteilen, zuzufügen, ihm durch das Lesen sein Existenzgefühl
zu erhöhen, ihn zu beleben und zu begeistern. Heinse schrieb deshalb Romane mit
„Kernmenschen“, starken Persönlichkeiten, mit denen Leser und Leserinnen sich
identifizieren konnten und die etwa als starke selbstbestimmte Frauen die Emanzipation der
Romantikerfrauen anleiteten und Friedrich Schlegel zu einem Roman wie Lucinde oder
Nietzsche zu seinem Renaissance-Immoralismus begeisterten. Dass Hölderlin in seinem
Hyperion keine solchen Kernmenschen, sondern gebrochene Charaktere zeichnete, kreidete
ihm Heinse an, aber Hölderlin verfolgt eine andere Methode, das Verhältnis von Lebensgrund
und Offenbarung an jeder Stelle des Textes unmittelbar als Spannungsverhältnis quasi
musikalisch spürbar zu machen: im Wechsel der Töne. Auch diese einschneidendste
Veränderung in Hölderlins Poetik vollzog sich offensichtlich unter dem Eindruck der
Gespräche mit Heinse und auf der Basis Herderscher Überlegungen. Ausgangspunkt war
sicher die Diskussion über Heinses Musiktheorie und metrische Ansichten im zweiten Band
der Hildegard von Hohenthal. Heinse hatte die antike Metrik, die Reimlosigkeit, die
Weiterentwicklung metrischer Ausdrucksmöglichkeiten durch Klopstock gerühmt. Hölderlin
gab schlagartig 1796/97 die Schillerschen Reimstrophen auf, wandte sich antiken Versmaßen
und Strophenformen zu – Hexameterhymnus, Distichon, Odenstrophen – und experimentierte
sogar unter Verwendung einer von Heinse zitierten Beispielformulierung Klopstocks aus
Hermanns Schlacht mit reimlosen metrenfreien Versen, wie sie seine späteren
Vaterländischen Gesänge auszeichnen. Diese neue Metrik ist aber nur eine der
Veränderungen, die Hölderlin aufgrund von Heinses Intervention vornimmt. In der Hildegard
legte Heinse eine Musiktheorie dar, die vollständig auf Energievorstellungen aufgebaut war.
In seinem Ersten Kritischen Wäldchen, Herrn Lessings Laokoon gewidmet (1769), geht
Herder auf die Unterscheidung ein, die Lessing zwischen Malerei und Poesie gemacht hatte:
die Zeichen der Malerei seien im Raum, die der Poesie in der Zeit; Malerei habe deshalb
ruhende Gegenstände, Poesie Handlungen abzubilden. Herder argumentiert, Lessing habe der
Poesie den falschen Platz, nämlich den der Musik zugewiesen:
Malerei wirkt im Raume, und durch eine künstliche Vorstellung des Raums. Musik,
und alle energische Künste wirken nicht bloß in, sondern auch durch die Zeitfolge,
durch einen künstlichen Zeitwechsel der Töne. 13
13 Ebd. Bd. 2, S.194.
Poesie nun „wirkt im Raume: dadurch, dass sie ihre ganze Rede sinnlich macht. [...] Man
kann also sagen, dass das erste Wesentliche der Poesie wirklich eine Art von Malerei,
sinnliche Vorstellung sei. Sie wirkt in der Zeit: denn sie ist Rede [...] vorzüglich, indem sie
durch die Schnelligkeit, durch das Gehen und Kommen der Vorstellungen, auf die Seele
wirkt, und in der Abwechselung teils, teils in dem Ganzen, das sie durch die Zeitfolge erbauet,
energisch wirket. [...] dass sie einer Abwechselung, und gleichsam Melodie der
Vorstellungen, und Eines Ganzen fähig sei, dessen Teile sich nach und nach äußern, dessen
Vollkommenheit also energesieret – dies macht sie zu einer Musik der Seele, wie sie die
Griechen nannten.“ 14 Für Herder vereinigt Poesie also das Räumliche der Malerei mit dem
Energischen der Musik und wirkt durch Kraft, d.h. Sinn.
In dem Musikroman Hildegard von Hohenthal geht es Heinse primär um Musik als
geordnetes Spiel der Energie und der Spannungszustände. Er macht das am Beispiel der
Stimmtöne eines natürlichen Sprechers und dann des Sängers klar, wobei „Ton“ immer von
tonus, Spannungszustand abgeleitet gedacht werden muss:
Die Aussprache im gemeinen Leben [...] richtet sich nach dem Ton von Vernunft und
Verstand; die Aussprache in der Musik richtet sich nach dem Ton der Leidenschaften.
[...] Warum erhöht man den Ton der Aussprache überhaupt; oder lässt ihn sinken?
Warum bleibt er gleich? Wenn ich einen Schluss der kalten Vernunft vortrage: so
brauch’ ich den Ton, der meiner Kehle und der ganzen Stimmung meiner Existenz der
natürlichste ist [...]. So bald aber Leidenschaft mein Wesen spannt, bekommt der Ton
auch mehr Gehalt. [...] Jeder Ton ist das Resultat unsrer momentanen Existenz. Bleibt
unsre Existenz im gewöhnlichen Zustand: so bleibt auch der Ton derselbe. Diesen Ton
der Stimme muss der Komponist von jedem Sänger und jeder Sängerin wohl fassen;
dieser ist ihr eigentliches C, alle andern Töne stehen damit in Kontrast. Was hinauf
oder hinuntersteigt, ist Leidenschaft, so bald es über Quarten und Quinten geht;
erhöhter oder erniedrigter Zustand. (SW 5, 238 f.)
Der natürliche, der erhöhte, der abgespannte Stimmton und damit der Zustand der Existenz
des Sprechers oder Sängers teilt sich nach Heinse über die Luft- und Körperschwingungen
dem Hörer physiologisch mit und hat damit unmittelbare Wirkung auf dessen Existenz (SW 5,
24 f.). Auch die Tonarten Dur und Moll geben volle bzw. mangelhafte Existenz wieder, der
übermäßige Dreiklang ist nur bei plötzlichem Übergang brauchbar (SW 5, 59 f.). Sogar
innerhalb des Dreiklangs werden die Spannungsunterschiede der Intervalle interpretiert:
14 Ebd. 195.
Alle drey Arten von Existenz entwickeln sich aus einem Grundton, und werden durch
die Melodie zu Leben und Handlung. [...] Die Terz ist gleichsam das Herz, der Sitz der
Leidenschaft; und die Quint der himmlische Geist, den der Schöpfer dem Menschen
einhauchte. (SW 5, 60)
Heinse legt die nicht-temperierte Stimmung der Tasteninstrumente zugrunde, wo die
Intervalle der Dreiklänge nur in einem Zentralbereich um C-Dur rein klingen und um so
schräger, zu hoch oder zu niedrig werden, je weiter im Quintenzirkel von C-Dur entfernt die
Tonart liegt, deren Dreiklang man spielt. Die Quinte, sagt Heinse, „verträgt gar wenig
Veränderung, wenn sie nicht aus einem Engel des Lichts zum Teufel, oder zur elenden
kranken Kreatur werden soll“ (SW 5, 60); die Terz drückt aus „die tiefste Angst und
Bangigkeit, die rührendste Zärtlichkeit, die Heiterkeit gesunden frohen Lebensgenusses, und
die höchste Süßigkeit, dann Muth und Tapferkeit bis zur Wuth, welche Batterien stürmt beym
wilden Schall der Kriegstrompete“ (SW 5, 60).
Hier ist die Grundlage für Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne, einer umfassenden
Poetik, die er zusammen mit einer plötzlichen Flut von Musikmetaphern 15 unmittelbar nach
der Rückkehr nach Frankfurt erstmals im Hyperion-Roman verwirklichte. Da werden,
entsprechend den Intervallen des Dreiklangs, eine normale Grundspannung – Hölderlin nennt
sie „naiv“ - , die Leidenschaft der Terz – Hölderlin: „heroisch“ - , der „himmlische Geist“ der
Quint – Hölderlin: „idealisch“ – unterschieden, jeder Aspekt der Dichtung ist, dem
Intervallcharakter gemäß, doppelt in Grundton oder Kunstcharakter oder Richtungston,
streckenweise noch mit drittem Wirkungston gestaltet. Die Abfolge der Tonkombinationen ist
in den Gattungen und Stilarten des Lyrischen, Epischen und Tragischen nach einem
„gesezlichen Kalkul“ geregelt, der den Modulationen und Kadenzen der musikalischen
Komposition entspricht. Diese Lehre bezieht sich aber nicht nur auf den phonetischmusikalischen
Aspekt der poetischen Sprache, sondern auf die Wahl des Ausdrucks, die
„Melodie der Vorstellungen“ nach Herders Formulierung, bis hin zur Konzeption der Figuren
des Romans und ihren Konstellationen. So lässt sich beispielsweise Diotima dem naiven
Toncharakter zuordnen; sie steht am Anfang in schöner Natürlichkeit im spannungslosen
Einklang mit ihrer Umwelt, während Hyperion schon im Vorwort Hölderlins als elegischer
Charakter bezeichnet wird, also die sehnsuchtsvolle trauernde Variante des idealischen Tons
repräsentiert. Alabanda, der kämpferische Typus, gehört dem heroischen Ton an. In ihren
Begegnungen nun verändern und modulieren einander die Figuren, nicht in ihrem inneren
15
Hans Joachim Kreutzer, Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der
Künste. Würzburg 1994, 93, 96.
Grundton, wohl aber in ihrem Richtungston, der ihr Verhalten und Handeln bestimmt. So
wird Diotima am Ende ganz in den ihr direktentgegengesetzten idealischen Ton
hineingetrieben und geht daran zugrunde. Ein Beispiel, wie Hölderlin schon im Mikrobereich
den sprachlichen Ausdruck behandelt, wähle ich vom Beginn der Ode Heidelberg: „Lange
lieb ich dich schon...“. Lieben, so etwa Hölderlins immanente Argumentation, ist ein Zustand,
in dem die Seele mit dem geliebten Gegenstand und mit sich selbst in natürlicher schöner
Harmonie steht und dem gemäß mit der erfahrenen Gegenwart des Hier und Jetzt zufrieden
und einig ist. Dagegen aber blickt der Sprecher mit dem umrahmenden „Lange...schon“ über
diese Gegenwart hinaus idealisch in eine weite Vergangenheit und überblickt mit dem
„schon“ auch noch die vergangene Zeitstrecke: damit wird die Fülle und Dichte des
gegenwärtigen Liebens tendenziell aufgelöst, der idealische Richtungston mit seinem Blick in
den weiten Zeithorizont hebt die schöne Zeitlosigkeit der hier und jetzt naiv erfahrenen Liebe
auf. Wir haben es hier mit dem naivIdealischen Anfang einer Dichtung in lyrischer Stilart zu
tun; die gleiche Tonkombination erscheint mehrfach in der ersten Strophe, z.B. in „Mutter
nennen“, wo das Nennen idealisch auf die freie Entscheidung weist, mit der der sonst in
natürlich gewachsenen Verhältnissen gebräuchliche Begriff „Mutter“ hier vergeben wird.
Oder „Vaterlandsstädte“, „ländlich schönste“ und so weiter. Die folgende Strophe weist dann
die zweite Tonkombination der lyrischen Stilart auf: heroischNaiv. „Wie der Vogel des Walds
über die Gipfel fliegt“ – Diese Strophe fängt mit einem expliziten Vergleich an; hier muss der
Hörer also zunächst eine Vorstellung bilden und diese anschließend auf die Brücke, den
eigentlich gemeinten Gegenstand übertragen. Was von der Vergleichsvorstellung bleibt, ist
nur das leichte und kräftige Schwingen über die Baumgipfel, das auf das Schwingen der
Brücke über den Strom anwendbar ist. Beseitigt wird die Vorstellung des Vogels, der Bäume,
der girlandenartige Flug, der eher der Spiegelung der Brücke gleicht als ihren Bögen selbst.
In diesem Zwang zur verändernden Arbeit an den Vorstellungen von Vogel und Brücke macht
sich der heroische Grundton bemerkbar, während das Bild des Vogels naiv gegen die
heroische, von Menschenhand künstlich gebaute Brücke steht.
Hölderlin komponiert hier mit Vorstellungen, ganz im Sinne Herders, der in der
Konstellation und Abfolge der Vorstellungen das räumlich-malerische und zeitlichmusikalische
Wirken der Poesie durch Kraft, den sinnlich-gedanklichen Sinngehalt der
Worte, verstanden hatte. Heinse ist in der Hildegard von Hohenthal vorrangig mit
Musiktheorie und Beschreibung musikalischer Ereignisse befasst, hat aber schon im
Ardinghello seinen Demetri die bildenden Künste gegenüber der Poesie abwerten lassen:
Poesie „ist das innre Leben der Seele: Bild von Farbe oder Stein bloß das Zeichen“ (A 182).
Denn „die beste Kunst ist ein bloßes Denkmal verflossnen Genusses oder Leidens für den
Künstler selbst, das ihm lediglich Anlass gibt, sich das Ganze wieder vorzustellen und in sein
Gedächtnis zurückzurufen. Welch ein Abstand von Poesie und ihrer Gewalt über die Herzen.“
(A 185) Ardinghello widerspricht hier noch dem Freund: das höchste Leben sei „das
schwerste in allen Künsten“ (A 186), aber er selbst wendet sich von der Malerei ab: sie sei
seine „Bestimmung nicht“, er habe sich „nur jugendlich getäuscht“ (A 230 f.). Abgesehen
vom heroischen Leben „in der lebendigen Natur und Gesellschaft der Menschen“ (ebd.)
wendet er sich der Kunstbeschreibung zu, einer im Zeitalter wachsenden Kunstinteresses bei
gleichzeitig ungenügender Reproduzierbarkeit von Gemälden und Skulpturen immer
wichtiger werdenden Disziplin, mit der Heinse sich nach Winckelmann mit seinen
Düsseldorfer Gemäldebriefen und dann eben mit den Gemälde-, Skulptur- und
Architekturbeschreibungen des Ardinghello größten Ruhm erwarb.
Was macht die Kunstbeschreibung für Ardinghello noch attraktiver als die Malerei selbst? Es
sind die „willkürlichen Zeichen“ der Sprache (A 171), die von Menschen in freier Handlung
gesetzt oder gewählt sind, um bestimmte Vorstellungen zu erwecken, während die Farben des
Gemäldes oder der Stein der Skulptur aus der Natur gewonnene Zeichen sind, die jeweils erst
in Vorstellungen übertragen werden müssen, an die sie als Denkmäler erinnern. Mit dem in
der Sprache gespeicherten Vorstellungsmaterial kann der Sprecher oder Schreiber frei
gestalten und damit im Herderschen Sinne eine „Melodie der Vorstellungen“ erzeugen.
Poetisch komponierte Sprache stellt also für Heinse das „innre Leben selbst“ dar und wirkt als
Gedanke, Vorstellung, grammatische Ordnung, Lautereignis unmittelbar auf das „innre
Leben“ des Hörers. Wird nun diesem sprachlichen Selbstgenuss noch die Beschreibung eines
schönen Gegenstandes aufgetragen – Gemälde, Skulptur, Bauwerk, Landschaft, menschliches
Verhalten und Handeln - , wird dieser Gegenstand durch die aufgerufenen Vorstellungen im
Heinseschen Sinne dargestellt, d.h. zum Erleben des Lesers oder Hörers gebracht, dann
verdoppelt sich der Genuss als Leben schöner Sprache und zum Leben erweckter schöner
Gegenstand. Und Heinse weiß:
Schönheit ist die freieste Wohnung der Seele. Schönheit erinnert die Seele an ihre
Gottheit, an ihre Schöpfungskraft, und dass sie über alle die Körperwelt, die sie
umgibt, erhaben ist.(A 179)
Schönheit der Natur oder der Kunst „gibt der Seele das lauterste Gefühl ihres Daseins“, der
alldurchwirkende Eros als Lust zum Schönen findet darin sein reinstes Ziel und sucht sich
damit zu vereinigen. Ardinghellos und Heinses Natur- und Kunstbeschreibungen sind Poesie,
vielgerühmt für ihr „Feuer und Leben“ (A 564), und leisten damit poetische Befreiung des
Menschen zu seinem reinsten göttlichen Daseinsgefühl.
Hölderlin hat das verstanden. Kunstbeschreibungen bringt er nicht, hat doch auch Heinse in
der Hildegard keine Kunstbeschreibungen, sondern weckt musikalische Ereignisse mit
derselben poetischen Kraft zum Leben. Hölderlins Landschaftsbeschreibungen aber sind
ebenso dicht und glutvoll wie die Heinses. Vor allem aber ist es die auf Energiezustände der
Existenz gegründete Musiktheorie, die Hölderlin mit seiner Poetik des Wechsels der
Spannungszustände auf die Dichtung überträgt und zum „gesezlichen Kalkul“ ausarbeitet. In
dieser Systematisierung geht der Schüler über den Lehrer oder Meister hinaus, denn ihm liegt
daran, dass die modernen Kunstwerke nicht „nach Eindrücken beurtheilt werden, die sie
machen, [sondern] nach ihrem gesezlichen Kalkul und sonstiger Verfahrungsart, wodurch das
Schöne hervorgebracht wird.“ (StA 5, 195) Nur der wahrhaft geniale inspirierte Dichter darf
wie Pindar oder Klopstock darauf vertrauen, das Schöne der Poesie gesetzlos
hervorzubringen. Deshalb ist es das schönste Lob, das der Schüler seinem ehrlichen Meister
„dort drüben, in Westphalen“ bringen kann, wenn er Heinse, dem der Rhein-Gesang zunächst
gewidmet war, so anredet:
Wem aber, wie dir,
Unüberwindlich die Seele
Die starkausdauernde ward,
Und sicherer Sinn
Und süße Gaabe zu hören,
Zu reden so, dass er aus heiliger Fülle
Wie der Weingott, thörig göttlich
Und gesezlos sie die Sprache der Reinesten giebt
Verständlich den Guten, aber mit Recht
Die Achtungslosen mit Blindheit schlägt
Die entweihenden Knechte, wie nenn ich den Fremden? (StA 2, 146)