Maria Montessori und die ... - Th-hoffmann.eu
Maria Montessori und die ... - Th-hoffmann.eu
Maria Montessori und die ... - Th-hoffmann.eu
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Pädagogische Hochschule<br />
R<strong>eu</strong>tlingen<br />
<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Geistigbehindertenpädagogik<br />
Hauptseminararbeit in der 1. sonderpädagogischen Fachrichtung<br />
Geistigbehindertenpädagogik<br />
WS 2004/2005<br />
Seminar: T. Hoffmann,<br />
Ideen- <strong>und</strong> Institutionsgeschichte der Geistigbehindertenpädagogik<br />
Doris Odenwälder<br />
Semester 1 / So.Päd.<br />
Matr. Nr.: 4565593
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Einleitung ............................................................................................................ 2<br />
2. Kurzbiographie <strong>Montessori</strong>s ............................................................................... 3<br />
3. Anthropologische Sichtweise .............................................................................. 4<br />
4. Gr<strong>und</strong>sätze ihrer Methode .................................................................................. 6<br />
5. <strong>Montessori</strong>s n<strong>eu</strong>e Erziehung .............................................................................. 8<br />
6. Die Wurzeln ihrer Methode bei Itard <strong>und</strong> Séguin ................................................. 9<br />
-1-<br />
Seite<br />
6.1 Jean Marc Gaspard Itard .............................................................................. 10<br />
6.2 Séguins physiologische Methode ................................................................. 11<br />
7. <strong>Montessori</strong>s Arbeit mit geistig behinderten Kindern ........................................... 13<br />
8. Kritische Betrachtung der Sicht <strong>Montessori</strong>s von geistig behinderten Kindern .. 15<br />
9. Weiterentwicklung der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik für Geistigbehinderte h<strong>eu</strong>te ....... 18<br />
10. Diskussion .......................................................................................................... 20<br />
11. Literaturverzeichnis ............................................................................................ 23
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
1. Einleitung<br />
In der folgenden Arbeit beschäftige ich mich mit der Pädagogik <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>s<br />
<strong>und</strong> ihrem Bezug zur Geistigbehindertenpädagogik. Allgemein bekannt ist ihre n<strong>eu</strong>e<br />
Erziehung, ihre Pädagogik, doch dass sie ihre ersten Erfahrungen in der Pädagogik<br />
mit geistig behinderten Kindern machte, geht oft aus den Augen verloren. Daher<br />
erschien es mir interessant, mich mit <strong>die</strong>sem <strong>Th</strong>ema näher auseinanderzusetzen <strong>und</strong><br />
zu schauen, ob <strong>und</strong> inwiefern ihre Erfahrungen im sonderpädagogischen Bereich<br />
n<strong>eu</strong>e Erkenntnisse mit sich bringen.<br />
Die Arbeit kann gedanklich in zwei Teile gegliedert werden:<br />
Der erste Abschnitt befasst sich mit <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>s Leben <strong>und</strong> Werk.<br />
Zunächst erschien es mir wichtig, einen kurzen Überblick über ihr Leben zu geben,<br />
um einzelne Daten besser einordnen zu können. Anschließend gebe ich ihre<br />
anthropologische Sichtweise wieder, <strong>die</strong> zum Verständnis ihrer Pädagogik<br />
unumgänglich ist. Auch <strong>die</strong> Erklärung der wichtigsten Gr<strong>und</strong>sätze ihrer Pädagogik<br />
erscheint mir wichtig, um daran anschließend einen Einblick in das N<strong>eu</strong>artige ihrer<br />
Erziehung zu bekommen.<br />
Im zweiten Teil stelle ich ihre Beziehungen zur Sonderpädagogik dar. Zunächst<br />
werden <strong>die</strong> französischen Ärzte Itard <strong>und</strong> Séguin vorgestellt, an deren Arbeiten<br />
<strong>Montessori</strong> sich bei ihrem Einstieg in <strong>die</strong> Pädagogik orientierte. Daran anschließend<br />
beschreibe ich ihre eigene Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Nach <strong>die</strong>sem<br />
Überblick stelle ich ihre Sicht von geistig behinderten Kindern kritisch dar. Schließlich<br />
möchte ich aufzeigen, wie sich <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik bis h<strong>eu</strong>te im<br />
sonderpädagogischen Bereich entwickelt hat. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich<br />
auf Hellbrügge <strong>und</strong> sein Modell der integrativen Erziehung nach <strong>Montessori</strong> in<br />
München.<br />
Abschließend wird der Frage nach <strong>Montessori</strong>s Beitrag für <strong>die</strong><br />
Geistigbehindertenpädagogik nachgegangen <strong>und</strong> ihr Werk reflektiert.<br />
Die Literatur zu <strong>Montessori</strong> ist sehr vielfältig <strong>und</strong> umfangreich, doch zum <strong>Th</strong>ema in<br />
Bezug auf <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik wird meist nur sehr verstr<strong>eu</strong>t berichtet.<br />
Dementsprechend umfangreich wurde <strong>die</strong> Literaturliste sowie <strong>die</strong> Anzahl der<br />
Fußnoten.<br />
-2-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
2. Kurzbiographie <strong>Montessori</strong>s<br />
<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle in Italien geboren. Ihr<br />
Vater war in allen Bereichen Anhänger der konservativen Schule, ihre Mutter<br />
hingegen, vor allem was <strong>die</strong> Bildung betraf, aufgeschlossen. Nach der Gr<strong>und</strong>schule<br />
konnte sich <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> daher mit der Unterstützung ihrer Mutter zum Besuch<br />
einer technisch-naturwissenschaftlichen Schule durchsetzen, wohingegen ihr Vater<br />
eine Lehrerinnenlaufbahn für sie vorgesehen hatte. Anschließend schrieb sie sich<br />
sogar zum Studium an der Universität für Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften ein,<br />
wo sie den medizinischen Vorkurs abschloss. Darauf setzte sie sich als erste Frau<br />
Italiens zum Medizinstudium durch. Dieses schloss sie erfolgreich ab <strong>und</strong> war ab<br />
dem Jahr 1896 Assistenzärztin in der Kinderabteilung der psychiatrischen Klinik der<br />
Universität Rom. 1<br />
Diese Zeit prägte ihr späteres Leben <strong>und</strong> Wirken entscheidend mit: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong><br />
machte dort Beobachtungen von „schwachsinnigen“ Kindern, <strong>die</strong> mit Brotkrumen<br />
spielten. Entgegen der Meinung der Aufseher, <strong>die</strong> Kinder würden sich auf <strong>die</strong><br />
Brotkrümel stürzen um sie aufzuessen, kam <strong>Montessori</strong> zu dem Schluss, dass <strong>die</strong><br />
Kinder nach Beschäftigung „hungerten“. Je mehr sie <strong>die</strong> „schwachsinnigen Kinder“<br />
beobachtete <strong>und</strong> sich mit ihnen beschäftigte, desto „mehr vermutete sie in der<br />
geistigen Minderwertigkeit ein pädagogisches Problem, kein medizinisches...“ 2 . Bei<br />
ihren folgenden Recherchen stieß sie schließlich auf <strong>die</strong> Schriften der französischen<br />
Ärzte Jean Itard <strong>und</strong> Edouard Séguin, <strong>die</strong> sich ebenfalls mit der Erziehung<br />
„Zurückgebliebener“ beschäftigt hatten. So wandte sie sich erstmals von der Medizin<br />
zur Pädagogik. In der Folge richtete sie eine Schule für geistig behinderte Kinder ein,<br />
an der sie auch Lehrer für <strong>die</strong>se Kinder ausbildete.<br />
Das Jahr 1907 wird oft als <strong>die</strong> eigentliche Geburtsst<strong>und</strong>e ihrer Pädagogik bezeichnet.<br />
Sie übernahm <strong>die</strong> Leitung des sogenannten Casa d’ei bambini (Kinderhaus) im<br />
römischen Stadtteil San Lorenzo, wo vernachlässigte Kinder betr<strong>eu</strong>t werden sollten.<br />
Diesen „normalen“ Kindern bot sie Arbeitsmaterialien an, <strong>die</strong> sie bisher bei ihrer<br />
Arbeit mit den geistig behinderten Kindern verwendet hatte. 3 Der Erfolg war enorm<br />
1 Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S. 11 f.<br />
2 Standing, E. M.: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. Stuttgart o.J., S.26.<br />
3 Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 18.<br />
-3-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
<strong>und</strong> so entwickelte sie nach <strong>und</strong> nach ihre Methode. Diese verbreitete sie auf ihren<br />
Reisen durch verschiedene Länder, hauptsächlich in den USA, In<strong>die</strong>n, England <strong>und</strong><br />
Holland. In den 20er Jahren gab es weltweit <strong>Montessori</strong>-Einrichtungen. Auch nach<br />
der Ausmerzung während des 2. Weltkrieges führte <strong>Montessori</strong> ihre Arbeit fort <strong>und</strong><br />
setzte sich für Kinder <strong>und</strong> ihre Rechte ein.<br />
<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> starb im Mai 1952. 4<br />
3. Anthropologische Sichtweise<br />
<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>s anthropologischer Ansatz ist sehr vielschichtig. Er umfasst<br />
Aussagen zum Menschen als ein Geschöpf Gottes, als Lebewesen <strong>und</strong> als ein<br />
intelligentes, den Tieren überlegenes Wesen, das auf Sozialität angewiesen <strong>und</strong><br />
ausgerichtet ist. Als eine ihrer Gr<strong>und</strong>thesen wird ihre Annahme beschrieben, dass<br />
der Mensch von Natur aus gut sei – eine d<strong>eu</strong>tliche Anlehnung an Rousseau. Jegliche<br />
Abweichungen sieht sie als von der Natur verursacht.<br />
Gr<strong>und</strong>legendes Moment in all ihren <strong>Th</strong>esen ist ihre stark religiös geprägte Haltung.<br />
So sieht sie den Menschen als Endglied der Evolution, der durch göttlichen Willen<br />
mit Geist ausgestattet wurde. Daraus ergeben sich seine zu erfüllenden Aufgaben im<br />
kosmischen Schöpfungsplan <strong>und</strong> seine Verantwortung gegenüber der Schöpfung. 5<br />
Diese Annahme der Welt als kosmische Einheit ist ein zentraler Punkt in ihrer<br />
Erziehung (vgl. kosmische Erziehung).<br />
Durch <strong>die</strong> Sonderstellung des Menschen, der im Gegensatz zu den Tieren nicht mit<br />
vorherbestimmten Instinkten ausgestattet ist, schreibt <strong>Montessori</strong> ihm eine gewisse<br />
Handlungsfreiheit zu, <strong>die</strong> eine Selbstverwirklichung ermöglicht. Dazu muss der<br />
Mensch jedoch von Anfang an er selbst sein können <strong>und</strong> dürfen.<br />
Dies weist schon auf eine weitere zentrale <strong>Th</strong>ese in ihrer Anthropologie hin, nämlich<br />
<strong>die</strong> Annahme, „dass das menschliche Individuum bereits im Stadium der<br />
mikroskopischen Zelle in seiner Persönlichkeit determiniert [sei].“ 6 Daraus ergibt sich<br />
ihre pädagogisch-anthropologische Sichtweise, nämlich dass <strong>die</strong> Wurzeln jeglicher<br />
4<br />
Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S. 28 ff.<br />
5<br />
Vgl. ebda, S. 37 f.<br />
6<br />
Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 124.<br />
-4-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Entwicklung des Individuums im Inneren liegen, dass <strong>die</strong> Umwelt somit zwar<br />
beeinflussen, nicht aber erz<strong>eu</strong>gen kann. 7<br />
Dies entspricht wiederum ihrer Annahme von den sensiblen Perioden, <strong>die</strong> jedes<br />
Kind in sich trägt. Sie spricht von dem Kind als einem „inneren Baumeister“, denn sie<br />
meint, „es wäre absurd anzunehmen, dass gerade der Mensch ... keinen seelischen<br />
Entwicklungsplan in sich tragen sollte.“ 8 Sie geht also davon aus, dass sich das Kind<br />
selbst aufbaut („In Wirklichkeit trägt das Kind den Schlüssel zu seinem rätselhaften<br />
individuellen Dasein von allem Anfang an in sich“ 9 ) <strong>und</strong> seine Entwicklung in der<br />
Abfolge der sensiblen Perioden geschieht. Diese können als eine spezielle<br />
Empfänglichkeit beschrieben werden, <strong>die</strong> für den jeweiligen Entwicklungsschritt<br />
zuständige Region des Nervensystems ist dann gewissermaßen vorbereitet für<br />
bestimmte Lernprozesse. Z.B. für das Sprechen- oder Laufenlernen beim Kleinkind,<br />
<strong>die</strong> Entwicklung der Feinmotorik beim Kindergartenkind, Interesse für<br />
Naturerscheinungen beim Schulkind, Entwicklung von Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Menschenwürde beim Jugendlichen etc. 10 <strong>Montessori</strong> geht davon aus, dass jeder<br />
Entwicklungsabschnitt nicht wiederholt werden kann, bzw. nur noch unter enormer<br />
Anstrengung, <strong>und</strong> dass bei einem störenden Eingriff in den Ablauf <strong>die</strong> nachfolgende<br />
Entwicklung beeinträchtigt ist.<br />
Daraus leitet sich konsequenterweise ihre den Erwachsenen zugetragene Aufgabe<br />
ab, nämlich „nicht <strong>die</strong> großen Gesetze der Natur zu verderben <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anstrengung,<br />
<strong>die</strong> in jedem Kind ist.“ 11 Also das Kind in seiner Entwicklung nicht zu behindern,<br />
sondern ihm lediglich entsprechende Hilfen zukommen zu lassen. Diese Position in<br />
ihrer anthropologischen Sichtweise, <strong>die</strong> Überz<strong>eu</strong>gung vom eigenen, aktiven Wesen<br />
des Kindes, das seine Lernprozesse selbstständig st<strong>eu</strong>ert, zieht sich wie ein roter<br />
Faden durch ihr gesamtes pädagogisches Denken <strong>und</strong> bestimmt all ihr Denken <strong>und</strong><br />
Handeln.<br />
Ein weiterer sehr zentraler Punkt ist ihr Prinzip der Freiheit. Dies leitet sich wiederum<br />
aus ihrer n<strong>eu</strong>en Sicht des Kindes <strong>und</strong> dessen Achtung <strong>und</strong> Würdigung ab. Darauf<br />
7 Vgl. ebda, S. 125.<br />
8 <strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Kinder sind anders. 20. Auflage. München 2004, S. 40.<br />
9 Zit. in: Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 126.<br />
10 Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S.45 ff.<br />
11 Zit. in: Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 126.<br />
-5-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
baut auch ihr viel zitierter Gr<strong>und</strong>satz auf: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Sie will dem Kind<br />
<strong>die</strong> Freiheit geben, sich selbst aufzubauen, es zur Selbstständigkeit führen (vgl. <strong>die</strong><br />
wörtliche Übersetzung aus dem Schwedischen „Hilf mir, mich selbst zu finden“ 12 ).<br />
Diese dem Kind gegebene Freiheit birgt für <strong>Montessori</strong> keine Gefahr (z.B. im Hinblick<br />
auf Disziplinlosigkeit), denn sie sieht <strong>die</strong> Freiheit des Kindes im Zusammenhang mit<br />
der verantwortlichen Einbindung in den Kosmos <strong>und</strong> mit sozialen Verhaltensweisen,<br />
<strong>die</strong> sich durch <strong>die</strong> Normalisierung des Kindes von selbst ergeben. Sie betrachtet den<br />
Menschen also immer als eine Leib-Seele-Einheit.<br />
4. Gr<strong>und</strong>sätze ihrer Methode<br />
Um <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>s Pädagogik zu verstehen, ist es wichtig, ihre Gr<strong>und</strong>positionen<br />
zu kennen.<br />
Ein wichtiger Gr<strong>und</strong>begriff ihrer Pädagogik ist <strong>die</strong> Normalisierung. Praktisch kann<br />
man <strong>die</strong> Normalisierung im Sinne <strong>Montessori</strong>s als eine Rückbildung von „Macken“,<br />
also Hemmungen oder irgendwelchen Abwegigkeiten, bezeichnen, als ein<br />
Angleichen an eine Norm. Norm bed<strong>eu</strong>tet in <strong>die</strong>sem Fall aber nicht „das Übliche“,<br />
sondern <strong>Montessori</strong> versteht darunter eine Norm, <strong>die</strong> von der Natur vorgegeben ist.<br />
Ein normalisiertes Kind ist also ein Kind, dass sich gemäß seinen natürlichen<br />
Wachstumsimpulsen entwickeln konnte <strong>und</strong> in seiner Entwicklung demnach nicht<br />
behindert ist. Die Normalisation äußert sich in innerem Gleichgewicht <strong>und</strong> Harmonie.<br />
Kennzeichen sind ein stabiles Arbeits- <strong>und</strong> Sozialverhalten, unter anderem<br />
Konzentration, Selbstständigkeit, Disziplin. 13<br />
Zentrales Element der Normalisierung ist <strong>die</strong> Polarisation der Aufmerksamkeit.<br />
Darunter versteht man <strong>die</strong> "Bündelung aller leib-seelischen Kräfte, <strong>die</strong> dazu führt,<br />
dass man sich selbstvergessen in eine Arbeit versenkt." 14 Das auslösende Ereignis,<br />
wodurch <strong>Montessori</strong> zu <strong>die</strong>sem Prinzip gelang, geschah in ihrem Kinderhaus. Dort<br />
beobachtete sie ein kleines Mädchen, das im Spiel mit Holzblockzylindern völlig<br />
versunken war <strong>und</strong> sich durch nichts ablenken ließ. Als es aufhörte, war es völlig mit<br />
sich <strong>und</strong> der Welt zufrieden <strong>und</strong> ausgeglichen. Diese Beobachtung widersprach<br />
allem, was man bei Kindern bisher als „normal“ betrachtet hatte, nämlich Unruhe,<br />
12 Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S. 41.<br />
13 Vgl. Standing, E. M.: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. Stuttgart o. J., S. 167 ff.<br />
14 Steenberg, Ulrich (Hrsg.): Handlexikon zur <strong>Montessori</strong>-Pädagogik. Ulm 1997, S. 162.<br />
-6-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Unordnung etc. Daher sprach <strong>Montessori</strong> auch von der Entdeckung des Geistes<br />
bzw. des Kindes.<br />
„Und von nun an war es [ihr] Streben, Übungsgegenstände zu suchen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
Konzentration ermöglichten; <strong>und</strong> ferner stu<strong>die</strong>rte [sie] gewissenhaft, welche<br />
Umgebung <strong>die</strong> günstigsten äußeren Bedingungen für <strong>die</strong>se Konzentration<br />
[bot]. So begann sich [ihre] Methode aufzubauen.“ 15<br />
Wesentliche Bedingung für das Zustandekommen der Polarisation der<br />
Aufmerksamkeit ist allerdings <strong>die</strong> vorbereitete Umgebung. Wie bereits beschrieben<br />
suchte <strong>Montessori</strong> nach ihrer Entdeckung der Polarisation der Aufmerksamkeit nach<br />
den günstigsten Bedingungen dafür. Sie fand <strong>die</strong>se in einer vorbereiteten<br />
Umgebung, <strong>die</strong> elementare Bedürfnisse des Kindes erfüllt, Bedürfnisse, welche <strong>die</strong><br />
Bereiche Körper, Geist <strong>und</strong> Seele umfassen. So z.B. Ernährung, Bewegung, Stillen<br />
des Wissensdurstes, Übernahme von Verantwortung, Liebe, soziales Mitgefühl <strong>und</strong><br />
Schlaf. Sie meint also praktisch einen Gestaltungsspielraum für den Umgang mit<br />
anderen, mit Gegenständen <strong>und</strong> mit sich selbst. Der Gr<strong>und</strong>satz ist dabei <strong>die</strong><br />
Anpassung an das jeweilige Entwicklungsniveau des Kindes, entsprechend seinen<br />
Sensibilitäten. Prinzipien sind unter anderem eine einfache Struktur in allen<br />
Bereichen, also z.B. eine klare Gliederung des Klassenraumes; <strong>die</strong> Förderung<br />
maximaler Selbstständigkeit, d.h. eine Einrichtung, <strong>die</strong> den Proportionen des Kindes<br />
entspricht; Schönheit <strong>und</strong> Ästhetik, z.B. Blumen <strong>und</strong> der Einsatz von Farben; freie<br />
Wahl <strong>und</strong> Bewegung, um den Kindern <strong>die</strong> Möglichkeit zu spontanem Arbeiten zu<br />
geben. 16<br />
Ein weiterer ihr eigener Begriff ist der des absorbierenden Geistes, eine beim<br />
Kleinkind sehr spezifische Lernart. Darunter versteht <strong>Montessori</strong> eine nicht<br />
willentliche „Geistesform“, <strong>die</strong> vor allem bis zu einem Alter von drei Jahren von<br />
Bed<strong>eu</strong>tung ist. Solch ein absorbierender Geist ermöglicht ein ganzheitliches<br />
Aufnehmen der Umwelt, das Kind wird praktisch eins mit ihr. 17 Es ist vergleichbar mit<br />
einem Schwamm oder einem Fotoapparat, wobei alles erst einmal aufgesogen <strong>und</strong><br />
aufgenommen wird.<br />
15<br />
Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik. 19.<br />
Auflage. Freiburg 2004, S. 22.<br />
16<br />
Vgl. Bacher, Kerstin/Egouli, Kerstin: „Jedes Kind ist anders!“ Donauwörth 2000, S.9 f.<br />
17<br />
Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S. 94.<br />
-7-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
5. <strong>Montessori</strong>s n<strong>eu</strong>e Erziehung<br />
Ausgehend von ihren anthropologischen Vorstellungen übt <strong>Montessori</strong> heftige Kritik<br />
an den bisher üblichen Erziehungsmethoden. Sie sieht das Kind als Unterdrückten,<br />
als Sklaven der Erwachsenen, <strong>die</strong> das Kind als unvollkommenen, ja geradezu als<br />
einen halben Menschen betrachten. Die Kindheit ist in damaliger Sicht nur ein<br />
Durchgangsstadium auf dem Weg zum Erwachsenenleben, ohne eigenen Wert. Es<br />
ist also <strong>die</strong> Unterdrückung des Kindes in der Erziehung, <strong>die</strong> sie anprangert. Das<br />
Kernproblem in der Erziehung ist für sie somit kein erzieherisches, sondern ein<br />
soziales, welches den Umgang, <strong>die</strong> Beziehung zwischen Kind <strong>und</strong> Erwachsenem<br />
betrifft, <strong>die</strong> aus ihrer Sicht zwei völlig verschiedene Menschen sind. 18 Der<br />
Erwachsene sieht das Kind in ihren Augen gar nicht richtig, er unterwirft es seinen<br />
eigenen Vorstellungen vom Leben, ohne zu erkennen, dass das Kind ganz eigene<br />
Bedürfnisse hat. Daher fordert sie für <strong>die</strong> Erziehung des Kindes „das Schaffen n<strong>eu</strong>er<br />
Beziehungen ... , eine Haltungsänderung des Erwachsenen dem Kind gegenüber.“ 19<br />
Notwendig dafür ist <strong>die</strong> zweite Forderung, <strong>die</strong> sie stellt, nämlich <strong>die</strong> Erkenntnis, dass<br />
sich das Kind auf schöpferischer Mission befindet, seine sittliche Persönlichkeit zu<br />
bilden 20 , also ihr bereits erwähntes Prinzip des inneren Baumeisters.<br />
Ein zentrales Anliegen ist es demnach, <strong>die</strong> tra<strong>die</strong>rte Erzieherrolle des Erwachsenen,<br />
mit der er sich in einer Machtposition befindet, <strong>die</strong> der natürlichen Entwicklung des<br />
Kindes nicht förderlich ist, umzuwandeln. Nach seiner n<strong>eu</strong>en Rolle ist der Lehrer<br />
nicht mehr jemand, der dem Kind vorschreibt, was es zu tun hat, sondern jemand,<br />
der das Kind dabei unterstützt, seinen eigenen Weg zu gehen. Er soll ihm also <strong>die</strong><br />
Umgebung schaffen, in der das Kind findet, was es „jetzt“ braucht. Dabei ist jegliche<br />
Überheblichkeit, Wut oder Zorn des Lehrers fehl am Platz, sondern <strong>Montessori</strong><br />
fordert eine ausgeglichene Beziehung, <strong>die</strong> von Achtung <strong>und</strong> Würde <strong>und</strong> dem<br />
Vertrauen des Erwachsenen in <strong>die</strong> kindlichen Fähigkeiten gezeichnet ist. Dabei<br />
wurde sie vielfach für ihre Forderung kritisiert, der Erwachsene solle dem Kind<br />
„Demut“ entgegenbringen, was eine zu arge Verdrehung der Verhältnisse <strong>und</strong> keinen<br />
gegenseitigen Respekt bed<strong>eu</strong>ten würde. Es kann aber davon ausgegangen werden,<br />
18 Vgl. Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik.<br />
19. Auflage. Freiburg 2004, S. 26.<br />
19 Ebda, S. 36.<br />
20 Vgl. ebda.<br />
-8-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
dass <strong>Montessori</strong> damit wohl einfach provozieren <strong>und</strong> so auf <strong>die</strong> Missstände<br />
aufmerksam machen wollte. Der h<strong>eu</strong>te nicht mehr zeitgemäße Begriff der Demut<br />
kann wohl auch interpretiert werden als Engagement des Lehrers für <strong>die</strong> Belange<br />
des Kindes, ohne dass damit Unterwerfung gemeint ist. 21<br />
Die Erziehung bei <strong>Montessori</strong> fordert also keine Defizitzuschreibung mehr an das<br />
Kind, keine ständige Verbesserung von Fehlern, sondern eine Orientierung des<br />
Lehrers an den momentanen Entwicklungsständen des Kindes, um ihm so<br />
Hilfestellung <strong>und</strong> Unabhängigkeit zu geben. Diese Hilfestellung äußert sich allerdings<br />
nicht in Aktivität, sondern gerade in der Passivität des Lehrers. Er soll sich<br />
zurückhalten, damit das Kind von sich aus tätig wird. Die einzige Lehreraktivität ist<br />
es, eine Beziehung zwischen dem Kind <strong>und</strong> seiner Umwelt zu schaffen <strong>und</strong> vor<br />
allem: <strong>die</strong> Beobachtung. Darin besteht auch ein wichtiger Punkt der n<strong>eu</strong>en Autorität<br />
des Lehrers, <strong>die</strong> sich zwar anders äußert, sich aber auf einer höheren Ebene<br />
befindet. Denn so kann er sich viel mehr den kindlichen individuellen Bedürfnissen<br />
widmen <strong>und</strong> wird zum vertrauensvollen Ansprechpartner statt zum gefürchteten<br />
Tyrann. 22<br />
Ihre n<strong>eu</strong>e Erziehung fordert vom Erzieher also praktisch <strong>die</strong> Befreiung des<br />
„verborgenen Menschen“, <strong>die</strong> Hilfe, Mensch zu werden, eine Persönlichkeit zu<br />
entwickeln, denn „aus einem Kinde, das seine Entwicklung in der Form des<br />
Sklaventums durchgemacht hat, wird kein Erwachsener werden, der große Werke<br />
vollbringt.“ 23<br />
6. Die Wurzeln ihrer Methode bei Itard <strong>und</strong> Séguin<br />
Wie bereits beschrieben, stößt <strong>Montessori</strong> nach ihren ersten Erfahrungen mit geistig<br />
behinderten Kindern auf <strong>die</strong> Schriften der französischen Ärzte Itard <strong>und</strong> Séguin.<br />
Dabei orientiert sie sich vor allem an Edouard Séguin, doch dessen Vorbild war Jean<br />
Itard, weshalb auch er erwähnt werden soll.<br />
21 Vgl. Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001, S. 56.<br />
22 Vgl. Standing, E. M.: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. Stuttgart o. J., S. 273.<br />
23 Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik. 19.<br />
Auflage. Freiburg 2004, S. 44.<br />
-9-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
6.1 Jean Marc Gaspard Itard<br />
Der Franzose Jean Itard (1774-1838) war Arzt am Pariser Taubstummeninstitut <strong>und</strong><br />
nahm sich acht Jahre lang dem sogenannten „Wilden von Aveyron“ an, Victor, einem<br />
Jungen, der völlig auf sich allein gestellt in den Wäldern von Aveyron gelebt hatte<br />
<strong>und</strong> dadurch mehr tier- als menschenähnlich war. Itard setzte es sich zum Ziel, den<br />
Jungen zu erziehen bzw. ihn zu zivilisieren, entgegen der Meinung der übrigen<br />
Fachwelt, dass <strong>die</strong>s unmöglich wäre. Im Gegensatz zu damaligen Psychiatern<br />
glaubte er (zunächst), dass der Junge kein unheilbarer Idiot wäre, sondern nur durch<br />
seine bisherige Isolation <strong>und</strong> seinen Mangel an Sinneseindrücken in seiner<br />
Entwicklung behindert. Er stellte ein Programm zusammen, das fünf<br />
Hauptgesichtspunkte enthielt:<br />
- Ihn an das soziale Leben gewöhnen, indem man es ihm angenehmer als bisher<br />
macht<br />
- Die Sensibilität seiner Nerven durch Stimulationen wecken<br />
- Seinen Gedankenkreis erweitern durch das Wecken n<strong>eu</strong>er Bedürfnisse<br />
- Ihn zum Gebrauch der Sprache bringen, bzw. durch Notwendigkeit zwingen<br />
- Seinen Geist wecken durch Übungen mit ihm vertrauten Gegenständen, was<br />
dann auf allgemeinen Entwicklungsstoff ausgedehnt wird 24<br />
Zentraler Punkt war bei ihm als einem Anhänger des Sensualismus <strong>die</strong> Entwicklung<br />
des Geistes durch Sinnesschulung bzw. <strong>die</strong> Stimulation der Sinne mit<br />
physiologischen Mitteln. Auch der Entwicklung der Sprache legte er große<br />
Bed<strong>eu</strong>tung bei. Doch sein Erziehungsprogramm scheiterte, so dass er den Jungen<br />
nach acht Jahren aufgab.<br />
Dennoch hatte er, auch wenn er es selbst nicht erkannte, einen wichtigen Beitrag für<br />
<strong>die</strong> Pädagogik geleistet. <strong>Montessori</strong> sagte über ihn: „Man muss zugeben, dass <strong>die</strong><br />
minutiösen Beschreibungen von Itard <strong>die</strong> ersten Versuche einer experimentellen<br />
Pädagogik gewesen sind.“ 25 Und auch zeitgenössische Ärztekollegen sahen in ihm<br />
24 Vgl. Malson, Lucien / Itard, Jean / Mannoni, Octave: Die wilden Kinder. Frankfurt am Main 1972, S.<br />
124.<br />
25 Zit. in ebda, S. 110.<br />
-10-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
„den Urheber der Erziehung Schwachsinniger.“ 26 Er war zumindest einer der ersten,<br />
welche <strong>die</strong> Idiotie als ein Problem der Entwicklung körperlicher <strong>und</strong> geistiger<br />
Fähigkeiten d<strong>eu</strong>teten <strong>und</strong> der versuchte, dem mit einer Schulung der Sinne<br />
entgegenzuwirken.<br />
Doch es gibt auch genügend Kritiker, <strong>die</strong> seine (vor allem von ihm selbst) so<br />
gerühmte Erziehungsmethode als „Dressur“ bezeichnen, <strong>die</strong> der eines Tieres gleicht.<br />
Sie werfen Itard außerdem vor, er habe aus seinen gescheiterten Versuchen<br />
keinerlei Lehren gezogen, d.h. er kam zu keiner ausgereiften <strong>Th</strong>eorie (z.B. im<br />
Bereich der Sprache), sein Erziehungsversuch kann wohl eher als ein großes<br />
Experiment betrachtet werden. Ihm fehlte <strong>die</strong> Selbstreflexion über seinen Umgang<br />
<strong>und</strong> seine Methoden mit Victor, er war stark auf sich selbst fixiert <strong>und</strong> interessierte<br />
sich nur wenig für <strong>die</strong> Äußerungen des Jungen, vor allem dann nicht, wenn sie nicht<br />
in sein vorab gefertigtes Erziehungsprogramm passten. 27<br />
Doch seine Schulung der Sinne fand in pädagogischen Kreisen Beachtung. So<br />
spielte sie für <strong>die</strong> spätere Weiterführung seiner Verfahren durch Séguin <strong>die</strong><br />
wichtigste Rolle.<br />
6.2 Séguin <strong>und</strong> seine physiologische Methode<br />
Edouard Séguin (1812-1880) war Arzt am Hospice de Bicêtre, einer Pariser<br />
Irrenanstalt. Er interessierte sich sehr für Pädagogik <strong>und</strong> hatte sich schon während<br />
seiner Ausbildung intensiv mit dem Problem der Behandlung <strong>und</strong> Erziehung von<br />
Idioten befasst. 1837 startete er auf der Gr<strong>und</strong>lage von Itards Erfahrungen den<br />
Versuch, geistig behinderte Kinder zu bilden, wobei es ihm gelang, seinem ersten<br />
Zögling innerhalb von 18 Monaten Sprechen, Schreiben <strong>und</strong> Rechnen<br />
beizubringen. 28 Diese ersten Lehrversuche geistig Behinderter dokumentierte er in<br />
seinem 1846 veröffentlichten Buch „Traitement moral, hygiène et éducation des<br />
idiots“ („Moralische Behandlung, Ges<strong>und</strong>heitspflege <strong>und</strong> Erziehung der Idioten“) 29 ,<br />
das als erstes systematisches Lehrbuch der Geistigbehindertenpädagogik<br />
bezeichnet werden kann. <strong>Montessori</strong> sprach Séguin sogar den Ver<strong>die</strong>nst zu, „ein<br />
26 Zit. in ebda.<br />
27 Vgl. ebda, S. 223 ff.<br />
28 Vgl. Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 74 f.<br />
-11-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
wirkliches <strong>und</strong> vervollständigtes Erziehungsprogramm für geistig zurückgebliebene<br />
Kinder entwickelt zu haben...“ 30 Nach seinem Vorbild in Bicêtre wurden nach <strong>und</strong><br />
nach vielerorts Schulen für geistig behinderte Kinder gegründet.<br />
Sein Interesse für Pädagogik wurde wie gesagt vor allem durch <strong>die</strong><br />
Erziehungsversuche von Itard an dem „jungen Wilden“ geweckt. Séguin sah dessen<br />
Ver<strong>die</strong>nst jedoch weniger in dem Versuch, den Jungen zu erziehen, sondern vor<br />
allem in Bezug auf <strong>die</strong> Ergebnisse für <strong>die</strong> physiologische Erziehung. Er setzte sich<br />
mit Itards Methoden auseinander <strong>und</strong> erweiterte sie in seinem Sinne. Er orientierte<br />
sich dabei zunächst an dessen erweiterten Erziehungsprogrammpunkten (nach<br />
dessen Einsicht, mit Victor doch einen Idioten vor sich zu haben) <strong>und</strong> modifizierte<br />
<strong>die</strong>se für seine Sinnesphysiologie lediglich leicht:<br />
Die Entwicklung der Sinne<br />
¡ Die Entwicklung der intellektuellen Funktionen<br />
¡<br />
Die Entwicklung der Gemütsfähigkeiten 31<br />
Sein Gr<strong>und</strong>prinzip kann folgendermaßen dargestellt werden: Bildung des Intellekts<br />
durch eine Schulung der Sinne. Wichtige Bezugsperson in seiner Sinnesphysiologie<br />
war außerdem der Taubstummenlehrer Jacob-Rodrigues Pereire (1715-1780).<br />
Dieser war der Ansicht, dass jegliche Sinne lediglich eine Modifizierung des<br />
Tastsinns wären, was Séguins Hervorhebung der Sinnesschulung stark beeinflusste.<br />
Er warb seine physiologische Methode als eine sich an den „Eigenarten des Idioten<br />
<strong>und</strong> dessen Verfall der Fähigkeiten‘“ 32 orientierende Erziehung. Wichtig war für ihn<br />
dabei <strong>die</strong> Behandlung des Menschen als eine Einheit, wobei <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>legenden<br />
Lebenserscheinungen <strong>die</strong> Aktivität (im Zusammenhang mit dem Gefühl), <strong>die</strong><br />
Intelligenz (mit dem Geist) <strong>und</strong> der Wille (mit der Moral) darstellten. Dem Idioten als<br />
einem in <strong>die</strong>sen drei Lebensäußerungen kranken Menschen stellte er daher seine<br />
physiologische Erziehung gegenüber, welche <strong>die</strong> hygienische (im Sinne von<br />
Ges<strong>und</strong>heitserziehung) <strong>und</strong> <strong>die</strong> moralische Komponente beinhaltete <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
29<br />
Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 30 f.<br />
30<br />
<strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage, Freiburg 1994, S. 29.<br />
31<br />
Vgl. Hänsel, Dagmar: Die „physiologische Erziehung“ der Schwachsinnigen. Freiburg 1974, S. 26 f.<br />
32 ebda, S. 51.<br />
-12-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Wiederherstellung der drei Gr<strong>und</strong>funktionen zum Ziel hatte. 33 Dabei sprach er auch<br />
von der „allgemeinen Erziehung“, welche <strong>die</strong> Muskel-, Nachahmungs-, Nerven- <strong>und</strong><br />
Reflexfunktionen umfasste, wobei <strong>die</strong> Nachahmung einen wichtigen Stellenwert<br />
hatte. 34 Geholfen hat ihm in seiner Überz<strong>eu</strong>gung <strong>die</strong> Lehre Saint-Simons, bzw. der<br />
Saint-Simonismus, dessen Gr<strong>und</strong>satz <strong>die</strong> gleiche Behandlung aller Menschen aus<br />
ethisch-moralischen Gründen war. Seine Anhänger betrachteten als erste soziale<br />
Aufgabe <strong>die</strong> Verbesserung des Lebens der Ärmsten auf der Gr<strong>und</strong>lage christlicher<br />
Nächstenliebe. 35<br />
Dabei hatte Séguin nie <strong>die</strong> Heilung der Idiotie im Auge, sondern seine Behandlung<br />
sollte <strong>die</strong> Idioten sozial <strong>und</strong> gesellschaftlich machen <strong>und</strong> in ihren Fähigkeiten<br />
fördern. 36<br />
Auch wenn seine Methode sich nicht in großem Maße ausbreitete, leben seine<br />
Erziehungsgr<strong>und</strong>sätze, wie z.B. Lernen durch Erfahrung, Ganzheitlichkeit etc. bis<br />
h<strong>eu</strong>te weiter <strong>und</strong> schufen für spätere Pädagogen, wie eben <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>, eine<br />
wichtige Basis.<br />
7. <strong>Montessori</strong>s Arbeit mit geistig behinderten Kindern<br />
Wie zu Beginn bereits kurz erwähnt, waren <strong>Montessori</strong>s erste Erfahrungen mit geistig<br />
behinderten Kindern während ihrer ärztlichen Tätigkeit in der psychiatrischen Klinik<br />
der Universität Rom Ausgangspunkt für ihre spätere pädagogische Arbeit. Angetan<br />
von den vernachlässigten Verhältnissen <strong>und</strong> dem „pädagogischen Missstand“ 37 , in<br />
dem <strong>die</strong> Kinder sich befanden, entschloss sie sich, sich intensiver mit der<br />
Heilpädagogik <strong>und</strong> später mit der allgemeinen Pädagogik zu befassen.<br />
Besonders fasziniert war sie von den Sinnesmaterialien Séguins, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser im<br />
Rahmen seiner physiologischen Erziehungsmethode angewandt hatte. Im Rahmen<br />
einer Stu<strong>die</strong>nreise nach London <strong>und</strong> Paris, wo sie sich intensiv über <strong>die</strong> dort<br />
angewandten Methoden der Schwachsinnigenerziehung informierte, hatte sie im<br />
33<br />
Vgl. ebda, S.52.<br />
34<br />
Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 32.<br />
35<br />
Vgl. Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 75.<br />
36<br />
Vgl. Hänsel, Dagmar: Die „physiologische Erziehung“ der Schwachsinnigen. Freiburg 1974, S.199 f<br />
37<br />
Bacher, Kerstin / Egouli, Kerstin: „Jedes Kind ist anders!“. Donauwörth 2000, S. 6.<br />
-13-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Institut Bourneville <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Materialien von ihm kennenzulernen. 38 Sie<br />
beließ es jedoch nicht dabei, sondern suchte auch in anderen Ländern nach<br />
Erziehungsmethoden für geistig zurückgebliebene Kinder, so auch in D<strong>eu</strong>tschland<br />
<strong>und</strong> Österreich. Sie trat national <strong>und</strong> international für Hilfen für <strong>die</strong>se Kinder ein <strong>und</strong><br />
forderte 1898 auf dem Pädagogenkongress <strong>die</strong> Eingliederung von geistig<br />
Behinderten in den Gesellschaftsprozess als deren gutes Recht. Außerdem<br />
engagierte sie sich in der Liga für <strong>die</strong> Erziehung behinderter Kinder, von wo aus sie<br />
international viele Vorträge hielt. Sie sprach von der Pflicht des Staates,<br />
Sonderschulen einzurichten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Lehrer besonders „für <strong>die</strong> Erziehung <strong>die</strong>ser<br />
Unglücklichen“ 39 auszubilden. Nach einer Reihe von Vorträgen über <strong>die</strong> Erziehung<br />
abnormaler Kinder wurde ihr <strong>die</strong> Leitung der ersten Ausbildungsstätte für<br />
Sonderschullehrer angeboten, der Scuola Magistrale Ortofrenica, wo sie von 1898<br />
bis 1900 ausbildete. Die ersten Sonderschulen entstanden bald mit ihrer<br />
Unterstützung. Im Gegensatz zu Itard <strong>und</strong> Séguin stieß sie mit ihren Forderungen<br />
<strong>und</strong> Ideen also nicht auf taube Ohren. Im Gegenteil: ihr Einsatz für behinderte Kinder<br />
entsprach dem damaligen Gedanken, für medizinische Probleme pädagogische<br />
Hilfen hinzuzuziehen. 40<br />
Ihre ersten Arbeiten mit geistig behinderten Kindern führte sie also mit dem<br />
übernommenen <strong>und</strong> erweiterten Material Séguins durch. Die Sinnesschulung war<br />
damit auch bei ihr ein zentraler Punkt. Doch im Rahmen ihrer Arbeit mit behinderten<br />
Kindern maß sie dem Material gar nicht <strong>die</strong> Bed<strong>eu</strong>tung zu, wie sie es in ihrer<br />
späteren Arbeit mit „normalen“ Kindern tat. Ihrer Meinung nach reichte das Material<br />
alleine nicht aus, vielmehr waren ihre Erfolge mit den Schwachsinnigen auf ihre<br />
„Stimme“ zurückzuführen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kinder anrief <strong>und</strong> weckte, das didaktische Material<br />
zu benutzen. In gewisser Weise huldigte sie sich selbst, wenn sie von ihrem großen<br />
Respekt <strong>und</strong> ihrer Liebe zu <strong>die</strong>sen unglücklichen Kindern sprach. 41 Dennoch muss<br />
man ihr zugestehen, dass sie mit viel Geduld <strong>die</strong> Erziehung der behinderten Kinder<br />
nach einer eigenen Methode voran brachte. So gelang es ihr, einigen ihrer geistig<br />
zurückgebliebenen Schülern Lesen <strong>und</strong> Schreiben in Schönschrift beizubringen, so<br />
38<br />
Vgl. Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 46.<br />
39<br />
Zit. in: ebda, S. 48.<br />
40<br />
Vgl. ebda.<br />
41<br />
Vgl. <strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage, Freiburg 1994, S. 31.<br />
-14-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
dass <strong>die</strong>se Kinder in einer öffentlichen Schule mit normalen Kindern eine Prüfung<br />
ablegen konnten <strong>und</strong> auch bestanden. 42<br />
Auch wenn einiges dafür spricht, kann man nicht sagen, dass sie ihre Methode<br />
einfach von Séguin übernommen hat. Die Komplexität ihrer n<strong>eu</strong>en Erziehung wurde<br />
ja bereits d<strong>eu</strong>tlich beschrieben. Ich denke, man kann sagen, dass <strong>Montessori</strong> viel<br />
von Séguin übernommen hat <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen kleinen Teil dann in ihr komplexes<br />
Erziehungskonzept eingebaut hat, in dem <strong>die</strong> besondere Sicht über <strong>die</strong> kindliche<br />
Entwicklung <strong>die</strong> bed<strong>eu</strong>tendste Rolle spielt. Sie selbst schreibt über Séguin, dass ihr<br />
<strong>die</strong> „Stimme Séguins ... wie <strong>die</strong> des Rufers in der Wüste [erschien] <strong>und</strong> in Gedanken<br />
erfasste [sie] <strong>die</strong> ungeh<strong>eu</strong>re Bed<strong>eu</strong>tung eines Werkes, das Schule <strong>und</strong> Erziehung<br />
hätte reformieren können.“ 43<br />
Beachtet werden muss dabei, dass <strong>Montessori</strong>s Arbeit mit behinderten Kindern ja vor<br />
der Entwicklung ihrer Methode stattfand. Die Erfahrungen mit geistig behinderten<br />
Kindern waren ja lediglich der Ausgangspunkt für ihr weiteres Erziehungsmodell,<br />
welches also auf <strong>die</strong> Erziehung der „normalen“ Kinder ausgerichtet war. Man kann<br />
also bei ihrer Arbeit mit geistig behinderten Kindern noch nicht von der <strong>Montessori</strong>-<br />
Methode sprechen, sondern wohl eher von dem Versuch <strong>und</strong> dem Einsatz, <strong>die</strong>sen<br />
Kindern pädagogisch zu helfen. Sie selbst probierte ihre später entwickelte komplette<br />
Methode leider nie mit behinderten Kindern aus <strong>und</strong> konnte so folglich nie <strong>die</strong><br />
Wirkung ihres Gesamtkonzeptes auf <strong>die</strong>se Kinder feststellen. Schade, denn so<br />
wandte sie sich von ihrem eigenen Ausgangspunkt ab.<br />
8. Kritische Betrachtung <strong>Montessori</strong>s Sicht von geistig behinderten<br />
Kindern<br />
Es sind nicht viele Aussagen <strong>Montessori</strong>s über das geistig behinderte Kind zu finden.<br />
Dennoch hat sie sich einige Male vor allem zum Lernverhalten geistig behinderter<br />
Kinder geäußert.<br />
Sie beschreibt z.B. einen Unterschied zwischen einem geistig zurückgebliebenen<br />
Kind <strong>und</strong> einem normalen Kind im Bereich des Interesses. So würde ein<br />
42 Vgl. ebda, S. 32.<br />
-15-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
schwachsinniges Kind kein spontanes Interesse zeigen, so dass man es ständig zur<br />
Beobachtung auffordern <strong>und</strong> ermuntern müsse. Ein selbstständiges Lernen sieht sie<br />
demnach für nicht möglich, ständig müsse der Lehrer das Kind zum Lernen<br />
animieren.<br />
Auch im Unterscheidungsvermögen sieht sie wesentliche Unterschiede. Beim<br />
‚apathischen <strong>und</strong> geistig zurückgebliebenen Kinde‘ müsse man zunächst Reize<br />
animieren, <strong>die</strong> sehr viel stärker voneinander abweichen als beim normalen Kind.<br />
Außerdem habe das schwachsinnige Kind keine Bereitschaft, Fehler zu korrigieren,<br />
vielmehr könne es gar keine Fehler erkennen, so dass <strong>die</strong>se es gleichgültig ließen. 44<br />
Auch <strong>die</strong> Isolation der Schwierigkeiten, eines der Prinzipien, <strong>die</strong> sie von Itard<br />
übernommen hatte, wäre nach ihrer Einschätzung für behinderte Kinder nicht<br />
möglich. Sie würden beispielsweise durch <strong>die</strong> Verwendung einer Augenbinde<br />
abgelenkt. 45 Dies entspricht einer weiteren ihrer Aussagen, nämlich der von<br />
mangelnder Konzentration bei geistig behinderten Menschen. 46<br />
Erstaunlich ist ihre Aussage, dass das passive Empfangen von Lehreraussagen zu<br />
kaum einem Unterschied führe. <strong>Montessori</strong> bezieht sich dabei auf <strong>die</strong> ‚Lektion der<br />
drei Zeiten‘ von Séguin, <strong>die</strong> zur Assoziation des Wortes mit dem erworbenen Begriff<br />
führt. Nach ihren Erfahrungen führt <strong>die</strong>se Methode auch bei schwachsinnigen<br />
Kindern zu Erfolg, woraus sie schließt, dass der bed<strong>eu</strong>tendste Unterschied in der<br />
Spontaneität der Tätigkeit liege. Dennoch unterscheidet sie in der Bed<strong>eu</strong>tung <strong>die</strong>ser<br />
Lektion für das jeweilige Kind. Für das normale Kind wäre das Erkennen des Wortes<br />
lediglich <strong>die</strong> Vervollständigung seines Bedürfnisses. „Für das geistesschwache Kind<br />
hingegen ist der Unterricht eine Hilfe zum ‚Verständnis‘ des Materials ..., während<br />
der Gegenstand allein nicht genügend Anreiz bot, seinen Tätigkeitsdrang zu<br />
wecken.“ 47<br />
43<br />
Zit. in: Hänsel, Dagmar: Die „physiologische Erziehung“ der Schwachsinnigen. Freiburg 1974, S.<br />
186 f.<br />
44<br />
Vgl. <strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage, Freiburg 1994, S. 198 f.<br />
45<br />
Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 44.<br />
46<br />
Vgl. <strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Schule des Kindes. Freiburg, Basel, Wien 1976, S. 169.<br />
47<br />
<strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage, Freiburg 1994, S. 200 f.<br />
-16-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Kritisch betrachtet lassen ihre Angaben auf den ersten Blick ein nicht gerade<br />
positives Bild des (Lern)Verhaltens geistig behinderter Kinder zu. Doch ihre<br />
Aussagen müssen immer in Relation zur damaligen Zeit <strong>und</strong> dem damaligen<br />
Wissens- <strong>und</strong> Erfahrungsstand gesehen werden.<br />
<strong>Montessori</strong> war immerhin eine der Vorreiterinnen für eine besondere Erziehung<br />
<strong>die</strong>ser Kinder in Italien <strong>und</strong> sie hatte sich ja auch stark für <strong>die</strong> behinderten Kinder <strong>und</strong><br />
ihre Rechte eingesetzt. Ich denke allerdings, dass sie <strong>die</strong> behinderten Kinder zu<br />
schnell aus den Augen verlor, so dass sie sich nicht <strong>die</strong> Zeit nehmen konnte, ihre<br />
Erfahrungen ernsthaft zu reflektieren <strong>und</strong> sich wirklich mit deren Lernverhalten <strong>und</strong><br />
der Wirkung ihres Materials zu beschäftigen. Solch kritische Betrachtungen werden<br />
leider unterstützt durch Bemerkungen, <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong> im Rahmen von Vorträgen<br />
machte, wie z.B. 1898 auf dem bereits erwähnten Pädagogenkongress.<br />
„Sie als Ärztin wolle sich der Anormalen annehmen, <strong>und</strong> zwar der<br />
degenerierten Kinder, der Imbezilen <strong>und</strong> der Verwahrlosten, jener also, <strong>die</strong> vor<br />
allem solcher ruchlosen Verbrechen fähig sind, <strong>die</strong> in der gewöhnlichen<br />
Schule Mal für Mal vergebens eine Klasse wiederholen, <strong>die</strong> Zucht <strong>und</strong><br />
Disziplin gefährden <strong>und</strong> schließlich aus der Schule entlassen werden, ‘ohne<br />
dass sie in irgendeiner Weise von ihr verändert worden sind‘.“ 48<br />
Natürlich kann man davon ausgehen, dass sie ihre Formulierungen in Anbetracht der<br />
Überz<strong>eu</strong>gungsarbeit für ihr Anliegen, Sonderschulen einzurichten, wählte. Und<br />
gewiss entsprach ihre Wortwahl wie gesagt der damaligen Zeit <strong>und</strong> dem allgemeinen<br />
Verständnis der „Idioten“. Dennoch lässt sich ein negativer Beigeschmack durch<br />
solche Äußerungen nicht immer vermeiden, vor allem wenn man sie isoliert<br />
betrachtet.<br />
So kann sich auch <strong>die</strong> Frage aufdrängen, was für sie der Antrieb für ihre Arbeit mit<br />
den behinderten Kindern gewesen ist. War es nur Mitleid mit <strong>die</strong>sen<br />
„bedauernswerten Geschöpfen“ 49 ? Sicher nicht nur, sie hatte ja auch ein<br />
pädagogisches Interesse. Doch <strong>die</strong>ses war eben nicht so groß, dass es für <strong>die</strong><br />
Entwicklung einer Methode (bzw. reflektierte Aussagen zur Förderung) im Bereich<br />
der Heilpädagogik gereicht hat.<br />
Trotzdem will <strong>und</strong> kann ich mir nicht erlauben, ihr Vorwürfe zu machen. Andere<br />
Äußerungen geben nämlich wieder ein ganz anderes Bild ihrer Motivation.<br />
48 Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Bad Heilbrunn / Obb. 1969, S. 48.<br />
49 Ebda.<br />
-17-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
„Diese unglücklichen Geschöpfe mussten gleichsam erst erschaffen werden,<br />
um ihren Platz in einer zivilisierten Gesellschaft wieder einnehmen zu können.<br />
Ihnen zur Unabhängigkeit von der Hilfe anderer <strong>und</strong> zur Menschenwürde zu<br />
verhelfen, das war eine Aufgabe, <strong>die</strong> so an mein Herz apellierte, dass ich<br />
jahrelang nicht von ihr loskam.“ 50<br />
Sie hatte also durchaus soziale <strong>und</strong> gute Gründe für ihren Einsatz <strong>und</strong> in der<br />
Literatur wird auch auf ihre Überz<strong>eu</strong>gung der Entwicklungsmöglichkeiten des<br />
Sonderschulkindes hingewiesen. 51 Und selbst Mitleid ist ja nichts Schlechtes,<br />
solange es in Hilfe mündet. Auch bed<strong>eu</strong>tete für <strong>Montessori</strong> selbst der Übergang von<br />
der Arbeit mit Behinderten zu Nichtbehinderten keinen Bruch, für sie hatten alle<br />
<strong>die</strong>selbe menschliche Natur, auch wenn sie durchaus bereits beschriebene<br />
Unterschiede feststellte. 52<br />
Letztendlich galt ihr Interesse aber eben der Erziehung „normaler“ Kinder <strong>und</strong> deren<br />
„Rettung“ aus der bisherigen falschen Erziehung. Und in <strong>die</strong>sem Bereich erreichte<br />
sie ja auch durchaus Großartiges. Der Bezug zur Heilpädagogik entwickelte sich<br />
dann ja doch noch, wenn auch später.<br />
9. Weiterentwicklung der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik für<br />
Geistigbehinderte h<strong>eu</strong>te<br />
Erst Ende der 60er Jahre wurde <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik für <strong>die</strong> Förderung<br />
behinderter Kinder (wieder)entdeckt, wobei <strong>die</strong>s vor allem unter der Perspektive der<br />
gemeinsamen schulischen Erziehung behinderter <strong>und</strong> nichtbehinderter Kinder<br />
geschah. Auch h<strong>eu</strong>te noch ist <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik in der Praxis großteils in<br />
integrativen Schulprojekten zu finden, teilweise auch an Schulen für<br />
Geistigbehinderte. Selbst in Schulkindergärten wird ihr Material eingesetzt, wobei<br />
dabei oft gar nicht erkannt wird, dass es sich um <strong>Montessori</strong>-Material handelt,<br />
weshalb auch ihr Gesamtkonzept in der Praxis weit weniger Aufmerksamkeit findet. 53<br />
50<br />
Standing, E. M.: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. Stuttgart o. J., S. 26 f.<br />
51<br />
Vgl. Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik.<br />
19. Auflage. Freiburg 2004, S. 162.<br />
52<br />
Vgl. www.integration-bayern.de<br />
53<br />
Vgl. Bacher, Kerstin / Egouli, Kerstin: „Jedes Kind ist anders!“. Donauwörth 2000, S. 7.<br />
-18-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Einen großen Beitrag zur Entwicklung der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik im<br />
heilpädagogischen Bereich leistete <strong>Th</strong>eodor Hellbrügge, ein Münchner Arzt. Er stieß<br />
im Jahr 1967 erstmals in einem <strong>Montessori</strong>-Kindergarten in Frankfurt auf ein geistig<br />
behindertes Kind, das mit <strong>Montessori</strong>-Material hantierte. Auf seine erstaunte Frage,<br />
ob <strong>die</strong>se Kinder nicht <strong>die</strong> Pädagogik der ges<strong>und</strong>en Kinder stören würde, bekam er<br />
<strong>die</strong> Antwort, dass <strong>die</strong>s in der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik überhaupt nicht stören würde. 54<br />
Aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Schlüsselerlebnisses beschäftigte er sich immer mehr mit ihrer<br />
Pädagogik <strong>und</strong> entdeckte für sich einen „unglaublichen Schatz“ für das behinderte<br />
Kind. Je mehr er darin Fuß fasste, um so mehr w<strong>und</strong>erte er sich, dass <strong>Montessori</strong>s<br />
Pädagogik weltweit nur für nichtbehinderte Kinder eingesetzt wurde <strong>und</strong> niemand<br />
bisher auf den Gedanken kam, sie in ihrem eigentlichen Ursprung auszuprobieren. 55<br />
Auf seine Initiative hin entstand in München <strong>die</strong> „Aktion Sonnenschein“, eine<br />
Einrichtung zur gemeinsamen Förderung von behinderten <strong>und</strong> nichtbehinderten<br />
Kindern. Dort entwickelte Hellbrügge eine <strong>Montessori</strong>-Heilpädagogik, <strong>die</strong> „der<br />
klassischen <strong>Montessori</strong>-Pädagogik pädiatrische <strong>und</strong> pädo-psychologische<br />
Erfahrungen in der Hilfe für mehrfach <strong>und</strong> verschiedenartig behinderte Kinder<br />
[zuführt].“ 56 Neben Einzeltherapie enthält das Konzept Kleingruppentherapie <strong>und</strong> als<br />
zentralen Punkt <strong>die</strong> integrative Erziehung sowohl im Kindergarten als auch in der<br />
Schule. Hervorgehoben wird von Hellbrügge dabei stets <strong>die</strong> hervorragende<br />
Möglichkeit, in <strong>Montessori</strong>s pädagogischem System behinderte <strong>und</strong> nichtbehinderte<br />
Kinder gemeinsam zu unterrichten. 57<br />
Dabei besteht das Münchner Modell aus einem ganzen Verb<strong>und</strong>system von<br />
klinischen <strong>und</strong> pädagogischen Maßnahmen, z.B. sozialpädiatrische Ambulanz mit<br />
Musiktherapie, eine klinische Abteilung <strong>und</strong> neben Kindergarten <strong>und</strong> Schule auch<br />
eine heilpädagogische Tagesstätte. Erwähnt werden muss allerdings, dass <strong>die</strong><br />
schulische Erziehung nicht immer <strong>und</strong> in allen Bereichen gemeinsam verläuft,<br />
sondern in eine Schule für Lernbehinderte, eine für Geistigbehinderte <strong>und</strong> eine<br />
integrative Schule für Nichtbehinderte <strong>und</strong> verschiedenartig Behinderte jeweils nach<br />
dem <strong>Montessori</strong>-Prinzip aufgeteilt ist.<br />
54<br />
Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 35.<br />
55<br />
Vgl. Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik.<br />
19. Auflage. Freiburg 2004, S. 166.<br />
56<br />
Böhm, Winfried (Hrsg.): <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Texte <strong>und</strong> Gegenwartsdiskussion. 4. Auflage. Bad<br />
Heilbrunn / Obb. 1990, S. 115.<br />
57 Vgl. ebda, S. 116 f.<br />
-19-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Dennoch war Hellbrügges Modellversuch Vorbild für weitere integrative<br />
Schulprojekte im Rahmen der <strong>Montessori</strong>-Pädagogik.<br />
Auch international interessierte man sich mehr <strong>und</strong> mehr für <strong>die</strong> Möglichkeiten, <strong>die</strong><br />
sich für das behinderte Kind durch <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik ergaben. So wurde der<br />
internationale <strong>Montessori</strong>-Kongress 1977 in München <strong>die</strong>sem <strong>Th</strong>ema gewidmet,<br />
wodurch es wesentlich an Bed<strong>eu</strong>tung gewann. In einem Vortrag wurde eine Schule<br />
für geistig Behinderte in Turin vorgestellt, <strong>die</strong> von 1962 bis 1973 nach den Prinzipien<br />
<strong>Montessori</strong>s gearbeitet hatte. Aus D<strong>eu</strong>tschland sind dagegen bis h<strong>eu</strong>te kaum<br />
Schulen für Geistigbehinderte bekannt, <strong>die</strong> sich <strong>Montessori</strong> verschrieben haben,<br />
wenn, dann sind es meist nur einzelne Projektklassen. Und <strong>die</strong>s, obwohl davon<br />
ausgegangen werden kann, dass <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik für das geistig<br />
behinderte Kind einen ebenso großen Erfolg bringen könnte wie für ges<strong>und</strong>e Kinder,<br />
was sich ja auch in den integrativen <strong>Montessori</strong>-Schulen <strong>und</strong> den Projektklassen<br />
zeigt. 58<br />
10. Diskussion<br />
Abschließend betrachtet stellt sich <strong>die</strong> Frage, welchen Beitrag <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> für<br />
<strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik geleistet hat. Die Frage ist nicht leicht zu<br />
beantworten. Zum einen gibt <strong>die</strong> Literatur zu ihrer relativ kurz andauernden Arbeit mit<br />
geistig behinderten Kindern wenig Aufschluss. Zum anderen kann man ihren<br />
Ver<strong>die</strong>nst subjektiv auslegen, je nachdem, wie man ihre Arbeit betrachtet.<br />
Mein erster Eindruck in Bezug auf ihre Arbeit mit behinderten Kindern war etwas<br />
enttäuschend. Mir war bekannt, dass ihre gesamte Pädagogik auf der Beschäftigung<br />
mit geistig behinderten Kindern fußte <strong>und</strong> dass ihr <strong>die</strong> Werke Itards <strong>und</strong> Séguins als<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>die</strong>nten. Dementsprechend groß war meine Erwartungshaltung als ich<br />
begann, mich mit dem <strong>Th</strong>ema genauer auseinanderzusetzen. Doch wie gesagt gibt<br />
allein schon <strong>die</strong> Literatur nicht viel her <strong>und</strong> ihre wenigen Aussagen zu ihrer Arbeit mit<br />
den Kindern waren wie gesagt auch nicht sehr erbauend.<br />
58 Vgl. Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad Heilbrunn/Obb.<br />
1992, S. 35 f.<br />
-20-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Ihr Ver<strong>die</strong>nst liegt meiner Meinung nach mehr in der allgemeinen Pädagogik, wofür<br />
sie ein bemerkenswertes System schuf, dass sich bis h<strong>eu</strong>te behaupten konnte. Ihrer<br />
„n<strong>eu</strong>en Erziehung“ <strong>und</strong> ihrem Einsatz für <strong>die</strong> Kinder auf der ganzen Welt gebührt<br />
vollste Anerkennung. Ihr Interesse wurde nach ihren erstaunlichen Erfahrungen mit<br />
den behinderten Kindern eben mehr <strong>und</strong> mehr auf <strong>die</strong> „ges<strong>und</strong>en“ Kinder gelenkt, <strong>die</strong><br />
sie mit den gleichen Methoden aus deren „niedrigem Niveau“ <strong>und</strong> den natürlich aus<br />
h<strong>eu</strong>tiger pädagogischer Sicht unmöglichen Umständen herausholen wollte. Hierbei<br />
erscheint mir wiederum eine ihrer Aussagen bedenkenswert. Ihre Erfolge mit den<br />
behinderten Kindern, <strong>die</strong> von der Gesellschaft als W<strong>und</strong>er betrachtet wurden,<br />
kommentierte sie folgendermaßen:<br />
„Mir war klar, dass, ließe sich <strong>die</strong> Sondererziehung, <strong>die</strong> Idioten auf so<br />
erstaunliche Weise voran gebracht hatte, eines Tages auf normale Kinder<br />
anwenden, dann wäre es vorbei mit dem W<strong>und</strong>er, weil <strong>die</strong> Kluft zwischen den<br />
niedrigen geistigen Fähigkeiten der Idioten <strong>und</strong> denen normaler Kinder nie<br />
wieder überbrückt werden könnte. Während alle <strong>die</strong> Fortschritte meiner Idioten<br />
bew<strong>und</strong>erten, machte ich mir Gedanken über <strong>die</strong> Gründe, aus denen<br />
glückliche <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Kinder in den gewöhnlichen Schulen auf so niedrigem<br />
Niveau gehalten wurden...“ 59<br />
So verlor sie <strong>die</strong> Kinder, <strong>die</strong> ihren Einsatz genau so weiterhin gebraucht hätten, aus<br />
den Augen, wobei bedacht werden muss, dass es ja auch gar nicht ihr Ziel war, eine<br />
n<strong>eu</strong>e Pädagogik für Geistigbehinderte zu entwickeln.<br />
Und dennoch setzte sie sich anfangs sehr für sie ein <strong>und</strong> rückte ihre damals noch<br />
verbreitet für unmöglich gehaltene Erziehung erst in das Interesse der Pädagogik.<br />
Dadurch brachte sie dem italienischen Schulsystem wichtige Reformvorschläge, im<br />
Bereich des Sonderschulwesens war sie sozusagen <strong>die</strong> Vorreiterin. Dies ist<br />
durchaus ein Ver<strong>die</strong>nst, der ihr zugesprochen werden kann, auch wenn es in den<br />
h<strong>eu</strong>tigen Augen der Integration ein scheinbarer Rückschlag war. Doch für <strong>die</strong><br />
damaligen Verhältnisse bed<strong>eu</strong>tete allein <strong>die</strong>s eine angemessene Förderung der bis<br />
dahin vernachlässigten geistig behinderten Kinder.<br />
Die Bed<strong>eu</strong>tung, an welcher <strong>die</strong> <strong>Montessori</strong>-Pädagogik h<strong>eu</strong>te immer mehr im<br />
sonderpädagogischen Bereich gewinnt, ist allerdings auf zeitgenössische<br />
Sonderpädagogen zurückzuführen, <strong>die</strong> in eigenem Interesse nach den<br />
bestmöglichen Fördermöglichkeiten für ihre Kinder suchen. Prinzipien wie<br />
59 <strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage, Freiburg 1994, S. 32 f.<br />
-21-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Anschaulichkeit, Isolation von Schwierigkeiten, das Lernen mit allen Sinnen durch<br />
das Sinnesmaterial oder ihre Übungen des praktischen Lebens bed<strong>eu</strong>ten gerade im<br />
Förderbereich eine Bereicherung <strong>und</strong> entsprechen den h<strong>eu</strong>tigen pädagogischen<br />
Erkenntnissen.<br />
-22-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
11. Literaturverzeichnis<br />
Bacher, Kerstin / Egouli, Kerstin: „Jedes Kind ist anders!“. Highlights der <strong>Montessori</strong>-<br />
Pädagogik für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Donauwörth<br />
2000.<br />
Biewer, Gottfried: <strong>Montessori</strong>-Pädagogik mit geistig behinderten Schülern. Bad<br />
Heilbrunn/Obb. 1992.<br />
Böhm, Winfried: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Prinzipien ihres pädagogischen<br />
Denkens. Bad Heilbrunn / Obb. 1969.<br />
Böhm, Winfried (Hrsg.): <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Texte <strong>und</strong> Gegenwartsdiskussion. 4.<br />
Auflage. Bad Heilbrunn / Obb. 1990.<br />
Hänsel, Dagmar: Die „physiologische Erziehung“ der Schwachsinnigen. Freiburg<br />
1974.<br />
Malson, Lucien / Itard, Jean / Mannoni, Octave: Die wilden Kinder. Frankfurt am Main<br />
1972.<br />
<strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Entdeckung des Kindes. 11. Auflage. Freiburg 1994.<br />
<strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Die Schule des Kindes. Freiburg, Basel, Wien 1976.<br />
<strong>Montessori</strong>, <strong>Maria</strong>: Kinder sind anders. 20. Auflage. München 2004.<br />
Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günther (Hrsg.): Gr<strong>und</strong>gedanken der <strong>Montessori</strong>-<br />
Pädagogik. 19. Auflage. Freiburg 2004.<br />
Standing, E. M.: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>. Leben <strong>und</strong> Werk. Stuttgart o. J..<br />
Steenberg, Ulrich (Hrsg.): Handlexikon zur <strong>Montessori</strong>-Pädagogik. Ulm 1997.<br />
-23-
WS 04/05 -<strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Geistigbehindertenpädagogik-<br />
Waldschmied, Ingeborg: <strong>Maria</strong> <strong>Montessori</strong>: Leben <strong>und</strong> Werk. München 2001.<br />
Internet:<br />
www.integration-bayern.de/symposium 2002/tschamler.htm vom 13.01.05<br />
-24-