NOVA ET VETERA - Prof. Dr. Johannes Stöhr
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Wenn jemand darauf nicht reagiert, dann bleibt die Aufgabe, ihm durch gutes Beispiel, Gebet und<br />
persönliche Buße zu helfen.<br />
Die Mitverantwortung für das ewige Heil des anderen bejaht man heute ungern. Lieber bleibt<br />
man hinter der Maske einer angeblichen Toleranz, die sich kaum von Gleichgültigkeit unterscheidet.<br />
Materielle Not beeindruckt und bewegt uns leichter als seelische Not. Sieht man tiefliegende Fehlhaltungen,<br />
seelische Verlorenheit, ständige Ungerechtigkeiten, Irrtümer und Ärgernis erregende<br />
Verhaltensweisen, so erweckt dies eher Kritik - und zwar meist hinter dem Rücken des Betreffenden<br />
-, aber kaum jemals Mitleid und noch seltener diejenige hohe Tat christlicher Liebe, die brüderliche<br />
Zurechtweisung genannt wird. Dazu gehört Mut, denn wir wollen unsere Freunde nicht vor den Kopf<br />
stoßen und nicht für aufdringliche Weltverbesserer gehalten werden. Aber vor allem gehört dazu<br />
das aus dem Glauben stammende christliche Zusammengehörigkeitsgefühl. Was ein Glied der Gemeinschaft,<br />
des "Leibes Christi", verletzt, verletzt alle anderen. So ist die brüderliche Zurechtweisung<br />
Zeichen und Tat der Nächstenliebe und Liebe zum ganzen Leib Christi (vgl. 1 Kor 12, 14-27).<br />
Oft ist die besondere Gabe der Unterscheidung erforderlich, um zu wissen, ob und wie man ein an<br />
sich kritisches Urteil auch aussprechen soll. Es ist nicht leicht, nach dem augustinsichen Grundsatz zu<br />
handeln: Die Menschen lieben, den Irrtum bekämpfen, denn heutzutage werden sachliche Einwände<br />
allzu oft als persönliche Angriffe missverstanden. Jedenfalls muss man bereit sein, bei sich selbst mit<br />
der Erneuerung zu beginnen, den Grundsatz "audiatur et altera pars" beachten, d. h. auch den anderen<br />
hören, und sich nicht dort ein Urteil anmaßen, wo nur unzulängliche Informationen oder keinerlei<br />
Zuständigkeit gegeben sind. Bei öffentlichen Äußerungen ist immer besondere Diskretion geboten.<br />
Nicht selten braucht es die pietätvolle Haltung der guten Söhne Noes. Schließlich darf man auch<br />
nicht der Kirche feindlich gesinnten Menschen in die Hände spielen.<br />
Christus hat unmißverständlich gesagt, dass dann, wenn die brüderliche Zurechtweisung erfolglos<br />
bleibt, die Kirche die Entscheidung treffen soll. Er hat der Kirche eine richterliche Funktion aufgetragen.<br />
So ist es die Erfüllung seines Auftrages und keine Anmaßung, wenn die Hirten Irrlehren und Irrlehrer<br />
entlarven und verurteilen, bis hin zum Gebrauch der von Christus übertragenen Exkommunikationsgewalt<br />
(vgl. Mt 18, 15-20). Eine Vernachlässigung von seiten der Hirten wäre sowohl eine<br />
schwere Verletzung der Gerechtigkeitspflicht wie auch eine Lieblosigkeit. Eine selbstlose und nicht<br />
berechnende Nächstenliebe erfordert auch, sei es nun gelegen oder ungelegen, mutiges Besorgtsein<br />
und Eintreten für das Heil des anderen. Beliebte oder demagogisch wirksame Worte wie Toleranz,<br />
Geduld und Nachsicht dürfen nicht zur Tarnung von Mitschuld und Gleichgültigkeit dienen.<br />
Wird dieses Werk der Barmherzigkeit in rechter Weise geübt, so bedeutet es einen wirksamen<br />
Beitrag zu großem innerem Fortschritt. Ein nicht geringer Gewinn besteht darin, dass versteckte Kritik,<br />
heimliches Gerede (murmuratio), und hinterhältiges Heruntermachen, welche allzuleicht den inneren<br />
und äußeren Frieden bedrohen, vermieden werden, und dass auch andere Tugenden besser<br />
gelebt werden können, wie z. B. Tapferkeit, Demut, Wahrheitsliebe, Verständnisbereitschaft usw.<br />
Nicht selten wird es besser sein, sich vorher bei jemand, der zuständig ist, zu beraten. Dies gilt besonders<br />
auch im Freundeskreis, damit nicht mehrere denselben mit der gleichen Kleinigkeit immer<br />
wieder belästigen. Die Zurechtweisung soll sich ja nicht nur auf schwerwiegende Vergehen beziehen,<br />
sondern auch auf möglicherweise störende und schädliche soziale Verhaltensweisen bei Kleinigkeiten,<br />
und daher gerade in diesem Sinne im Freundeskreis geübt werden - ohne dass falsches Mitleid<br />
oder die Angst, eine Freundschaft zu verlieren, daran hindern.<br />
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