LEBENswert - ein Leben ohne Barrieren - Der VdK
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LEBENswert - ein Leben ohne Barrieren - Der VdK
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3 Die Perspektiven<br />
ändern sich<br />
Interview mit Sachsens<br />
Behindertenbeauftragtem<br />
Stephan Pöhler<br />
3 Eine Behinderung<br />
ist k<strong>ein</strong> Hindernis<br />
„Hochschule für alle“<br />
lautet die Devise auf dem<br />
Campus der TU Dresden<br />
3 Kostenloses<br />
Mobilitätstraining<br />
Im ÖPNV sind die<br />
Projektpartner auf<br />
<strong>ein</strong>em guten Weg<br />
3 Mit Handicap zu<br />
sportlichen Erfolgen<br />
Spaß, <strong>Leben</strong>sfreude und<br />
Integration werden<br />
ganz groß geschrieben<br />
Dresden<br />
Sonderbeilage des Sozialverbandes<br />
<strong>VdK</strong> Sachsen e.V.<br />
gefördert vom Freistaat Sachsen
Seite 2 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Kompakt Pflege<br />
Pflegestufen und Pflegeleistungen<br />
Voraussetzung für bestimmte Leistungen der Pflegeversicherung<br />
ist die Feststellung der Pflegebedürftigkeit<br />
durch den MDK (Medizinischer Dienst<br />
der Krankenkassen). Dieser schlägt die Pflegestufe<br />
den Pflegekassen vor. Es gibt drei Pflegestufen:<br />
3 Pflegestufe I: Pflegebedürftige der Pflegestufe I<br />
(erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die<br />
bei der Körperpflege, der Ernährung oder der<br />
Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen<br />
aus <strong>ein</strong>em oder mehreren Bereichen mindestens<br />
<strong>ein</strong>mal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich<br />
mehrfach in der Woche Hilfen bei der<br />
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.<br />
3 Pflegestufe II: Pflegebedürftige der Pflegestufe II<br />
(Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei<br />
der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität<br />
mindestens dreimal täglich zu verschiedenen<br />
Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich<br />
mehrfach in der Woche Hilfen bei der<br />
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.<br />
3 Pflegestufe III: Pflegebedürftige der Pflegestufe<br />
III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen,<br />
die bei der Körperpflege, der Ernährung oder<br />
der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch<br />
nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach<br />
in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen<br />
Versorgung benötigen.<br />
Des Weiteren existiert <strong>ein</strong>e sogenannte Härtefallregelung.<br />
Ein Härtefall kann vorliegen, wenn das<br />
Ausmaß der Pflegebedürftigkeit die Stufe III weit<br />
übersteigt. In diesem Fall kann die Pflegekasse<br />
weitere Leistungen gewähren.<br />
3 Sogenannte „Pflegestufe 0“:<br />
Früher konnten ausschließlich Menschen, die <strong>ein</strong>e<br />
Pflegestufe hatten, Leistungen der Pflegekasse<br />
beantragen. Mit der Reform der Pflegeversicherung<br />
im Jahr 2008 gibt es aber nun <strong>ein</strong>e Erweiterung:<br />
Für Menschen mit erheblich <strong>ein</strong>geschränkter<br />
Alltagskompetenz im ambulanten<br />
Bereich – dazu gehören zum Beispiel viele demenziell<br />
erkrankte Menschen, aber auch psychisch<br />
kranke und geistig behinderte Menschen<br />
– werden die Leistungen erbracht. Die Betroffenen<br />
erhalten bis zu 100 Euro (Grundbetrag) oder<br />
bis zu 200 Euro (erhöhter Betrag) monatlich. Im<br />
Jahr sind das bis zu 1 200 beziehungsweise<br />
2 400 Euro. Diese Beträge können auch „angespart“<br />
und beispielsweise zusätzlich für <strong>ein</strong>e<br />
Verhinderungspflege <strong>ein</strong>gesetzt werden. Auch<br />
demenziell erkrankte Menschen mit <strong>ein</strong>em geringeren<br />
Pflegebedarf, die noch nicht die Voraussetzungen<br />
der Pflegestufe I erfüllen, aber Betreuungsbedarf<br />
haben (sogenannte „Pflegestufe 0“),<br />
können erstmals diese Leistungen erhalten.<br />
Foto: AOK Mediendienst<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
kennen Sie das? Eine Grippe hat Sie lahmgelegt. Die Stimme<br />
ist weg. Sie sind gezwungen, mittels Zettel und Stift<br />
mit Ihrer Umwelt zu kommunizieren. Oder: Ihr Gipsarm<br />
stört Sie jedes Mal beim Anziehen – schließlich müssen<br />
Sie alles mit <strong>ein</strong>er Hand machen. An Abwaschen oder Flaschenöffnen<br />
ist nicht zu denken. Kurzum: Eine körperliche<br />
Be<strong>ein</strong>trächtigung behindert Sie, macht die Bewältigung Ihres<br />
Alltags mühsam. Zumindest <strong>ein</strong>e Zeit lang …<br />
Menschen mit Behinderung stoßen permanent an Grenzen:<br />
nicht wegen ihrer körperlichen, geistigen, seelischen<br />
oder Sinnesbe<strong>ein</strong>trächtigungen, sondern aufgrund<br />
von <strong>ein</strong>stellungs- und umweltbedingten<br />
<strong>Barrieren</strong> von außen. Tag für Tag. Menschen<br />
mit Handicap müssen im Hinblick auf ihre<br />
Aktionen andere Grenzen akzeptieren als<br />
die meisten Mitbürger.<br />
Die Ver<strong>ein</strong>ten Nationen (UN) haben den<br />
3. Dezember zum alljährlichen Internationalen<br />
Tag der Menschen mit Behinderungen<br />
ausgerufen. Dieser Tag wird<br />
weltweit für Aktionen genutzt, um die<br />
volle Teilhabe und Gleichstellung<br />
behinderter Menschen zu fordern.<br />
Anlass für den Sozialverband <strong>VdK</strong><br />
Sachsen – <strong>ein</strong>en der größten Interessenvertreter<br />
für behinderte und<br />
chronisch kranke Menschen –, mit<br />
<strong>ein</strong>er Sonderbeilage <strong>ein</strong> Bewusst-<br />
s<strong>ein</strong> für diejenigen zu schaffen, deren<br />
individuelle Situation sie ständig<br />
dazu zwingt, anders zu agieren, als es<br />
die breite Masse tut. Mit dem Titel<br />
„<strong>LEBENswert</strong> – Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong>“ nehmen wir <strong>ein</strong>e<br />
bewusst positive Perspektive <strong>ein</strong>. Wir möchten Menschen<br />
mit Handicap über barrierefreie Lösungen informieren<br />
und damit zur Steigerung der <strong>Leben</strong>squalität beitragen.<br />
Denn es muss immer um<br />
Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Wir<br />
haben uns dafür mit Men-<br />
schen getroffen, die für ihre<br />
gleichberechtigte Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen <strong>Leben</strong> kämpfen.<br />
Wir stellen engagierte Bürger<br />
vor, die durch Projekte an<br />
der Umsetzung der UN-Konvention<br />
für die Rechte der Menschen<br />
mit Behinderung ganz<br />
konkret im Alltag mitwirken.<br />
Verschiedenartigkeit bereichert und darf deshalb nicht<br />
ausgegrenzt werden. So könnte man die UN-Behindertenrechtskonvention<br />
übersetzen. Alle <strong>ein</strong>stellungs- und umweltbedingten<br />
<strong>Barrieren</strong>, die Menschen mit Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />
an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten<br />
Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft hindern, gehören<br />
beseitigt. Ich plädiere für das Entfesseln. Nicht <strong>ein</strong><br />
Impressum<br />
<strong>LEBENswert</strong> –<br />
Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Sonderbeilage des<br />
Sozialverbandes<br />
<strong>VdK</strong> Sachsen e.V. –<br />
gefördert vom<br />
Freistaat Sachsen<br />
Herausgeber:<br />
Sozialverband <strong>VdK</strong> Sachsen e.V.<br />
Elisenstraße 12, 09111 Chemnitz<br />
Horst Wehner, Landesverbandsvorsitzender<br />
des Sozialverbandes <strong>VdK</strong> Sachsen e.V. Foto: Steffen Füssel<br />
Rollstuhl fesselt Menschen, sondern die gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse. Nicht der Rollstuhl trägt Schuld, dass Behinderte<br />
schwer mit dem Bus fahren können, sondern die<br />
Konstruktion der Busse. <strong>Der</strong> Rollstuhl hindert auch niemanden<br />
an <strong>ein</strong>em Konzertbesuch,<br />
sondern schlechte Auffahrtsmöglichkeiten.Unzu-<br />
Verschiedenartigkeit<br />
bereichert und darf<br />
deshalb nicht<br />
ausgegrenzt werden.<br />
Objektleitung:<br />
Peggy St<strong>ein</strong>ert (verantw.)<br />
Sozialverband <strong>VdK</strong> Sachsen e.V.<br />
Redaktion:<br />
Peggy St<strong>ein</strong>ert, Jacqueline Drechsler<br />
Sozialverband <strong>VdK</strong> Sachsen e.V.<br />
Thomas F. Mertens, Birgit Hilbig<br />
DMV Dresdner Magazin Verlag GmbH<br />
Anzeigen:<br />
Tobias Spitzhorn<br />
Sächsische Zeitung GmbH<br />
Ostra-Allee 20, 01067 Dresden<br />
längliche Treppen und nicht<br />
behindertengerechte Toiletten<br />
sind oft <strong>Barrieren</strong>. Lassen Sie<br />
uns mithelfen, diese <strong>Barrieren</strong>,<br />
die wir täglich und überall<br />
noch antreffen, abzureißen.<br />
Ich finde, es gibt noch viel zu<br />
tun – nicht nur am Internationalen<br />
Tag der Menschen mit Behinderung.<br />
Ihre Leserbriefe bestätigen das. Vielen Dank für<br />
die Beteiligung! Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen!<br />
Herzlichst<br />
Ihr Horst Wehner<br />
Landesverbandsvorsitzender<br />
des Sozialverbandes <strong>VdK</strong> Sachsen e.V. ...<br />
Layout:<br />
Rita Schönberger-Gay/Redaktion DMV<br />
Druck:<br />
Dresdner Verlagshaus Druck GmbH<br />
M<strong>ein</strong>holdstraße 2, 01129 Dresden<br />
Zum Titelbild:<br />
Olivia Thiele und Horst Wehner, Deutsche<br />
Meister 2011 in den lat<strong>ein</strong>amerikanischen<br />
Tänzen und Deutsche Vizemeister 2011 in<br />
den Standardtänzen<br />
Titelfoto:<br />
Peter Zschage/Montage: SZ-Bildstelle
Familienpflegezeit kommt 2012: Berufstätige können<br />
nahe Angehörige künftig leichter zu Hause pflegen<br />
Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit<br />
künftig für die häusliche<br />
Pflege reduzieren. Am 20. Oktober<br />
dieses Jahres stimmte der<br />
Bundestag dem Gesetz zur Familienpflegezeit<br />
zu. Ab dem 1. Januar<br />
2012 haben Beschäftigte nun die<br />
Möglichkeit, <strong>ohne</strong> allzu hohe Gehalts<strong>ein</strong>bußen<br />
für zwei Jahre ihre<br />
Arbeitszeit auf bis zu 15 Wochenstunden<br />
zu verringern.<br />
In der betrieblichen Praxis orientiert<br />
sich die Familienpflegezeit<br />
Wichtiger Schritt nach Zielver<strong>ein</strong>barung:<br />
Sächsische Dampfschiffahrt gewährt<br />
Begleitpersonen ab 2012 Freifahrt<br />
Ab dem kommenden<br />
Jahr gewährt<br />
die Sächsische<br />
Dampfschiffahrt<br />
für Begleitpersonen<br />
von Menschen<br />
mit Behinderungen,<br />
bei denen<br />
das Merkzeichen<br />
„B“ auf dem<br />
Schwerbehindertenausweisaufgedruckt<br />
ist, Freifahrt<br />
auf allen Linien-<br />
und Rundfahrten.Erforderlich<br />
ist die Vorlage des entsprechenden<br />
Ausweises. Nachdem der Sozialverband<br />
<strong>VdK</strong> Sachsen und die Sächsische Dampfschiffahrt<br />
am 31. Mai 2011 <strong>ein</strong>e Zielver<strong>ein</strong>barung<br />
auf der Basis des Sächsischen<br />
Integrationsgesetzes unterzeichnet haben,<br />
erfolgt nun <strong>ein</strong> konkreter Schritt zur<br />
Umsetzung der Intentionen der Ver<strong>ein</strong>barung.<br />
Die Ver<strong>ein</strong>barung wurde geschlossen,<br />
um <strong>Barrieren</strong> zu mindern und<br />
zu mildern, die Menschen mit Behinderungen<br />
bei der Nutzung der denkmalgeschützten<br />
Schiffe der Sächsischen<br />
Dampfschiffahrt be<strong>ein</strong>trächtigen. <strong>Der</strong> Behindertenbeauftragte<br />
der Sächsischen<br />
Staatsregierung, Stephan Pöhler, begrüßte<br />
diese unternehmerische Entscheidung<br />
Foto: www.saechsische-dampfschiffahrt.de<br />
Zum 1. Januar 2013 wird die geräteabhängige<br />
Rundfunkgebühr<br />
durch <strong>ein</strong>en geräteunabhängigen<br />
Rundfunkbeitrag ersetzt werden.<br />
Pro Wohnung oder Betriebsstätte<br />
wird dann <strong>ein</strong> Beitrag von 17,98<br />
EUR pro Monat fällig. Die Möglichkeit<br />
<strong>ein</strong>er Befreiung von der<br />
Rundfunkbeitragspflicht aus finanziellen,<br />
sozialen und gesundheitlichen<br />
Gründen besteht auch<br />
weiterhin. Behinderte Menschen<br />
werden in Zukunft mit <strong>ein</strong>em<br />
zur Freifahrt für Begleitpersonen ausdrücklich:<br />
„Mit der kostenlosen Mitnahme<br />
der erforderlichen Begleitperson<br />
wird den Betroffenen <strong>ein</strong> weiteres Stück<br />
selbstbestimmte Teilhabe am <strong>Leben</strong> in<br />
der Gesellschaft möglich.“<br />
Auch 2012 bietet die älteste und größte<br />
Raddampferflotte der Welt wieder Linien-<br />
und Rundfahrten auf der Elbe an.<br />
Unter dem Motto „Wir machen Dampf“<br />
verkehren die Schiffe der traditionsreichen<br />
Flotte von Anfang April bis Anfang<br />
November zwischen Bad Schandau und<br />
Seußlitz. Viele Sonder- und Erlebnisfahrten<br />
laden auch außerhalb der Saison dazu<br />
<strong>ein</strong>, das Dresdner Elbtal vom Wasser<br />
aus zu entdecken. ...<br />
Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong> <strong>LEBENswert</strong><br />
Neues Rundfunkfinanzierungsmodell nach dem 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag<br />
(15. RÄStV): Anstieg der GEZ-Gebühr<br />
Foto: Friso Gentsch/dpa<br />
am Modell der Altersteilzeit. <strong>Der</strong><br />
Arbeitgeber stellt <strong>ein</strong>en Antrag<br />
auf Refinanzierung beim Bundesamt<br />
für Familie und zivilrechtliche<br />
Aufgaben. Würde die Arbeitszeit<br />
beispielsweise von 100 auf 50<br />
Prozent reduziert, erhielte der Beschäftigte<br />
weiterhin 75 Prozent<br />
des letzten Brutto<strong>ein</strong>kommens.<br />
Nach der Pflegephase behält der<br />
Arbeitgeber <strong>ein</strong>en Teil vom Lohn<br />
<strong>ein</strong>, den er an das Bundesamt zurückzahlt.<br />
Nach Ablauf der Pflegephase<br />
und der vollen Rückkehr<br />
in den Beruf bekommt der Arbeitnehmer<br />
allerdings weiterhin das<br />
reduzierte Gehalt, bis der gezahlte<br />
Seit dem 1. September 2011 gibt es für<br />
freifahrtberechtigte schwerbehinderte<br />
Menschen Erleichterungen im Bahnverkehr.<br />
Die Regelung kommt Menschen zugute,<br />
die erheblich gehbehindert, blind<br />
oder gehörlos sind. <strong>Der</strong> Schwerbehindertenausweis<br />
muss das Merkzeichen „G“,<br />
„aG“, „H“, „Gl“ oder „Bl“ tragen. Zusätzlich<br />
wird <strong>ein</strong> Beiblatt benötigt, das mit<br />
<strong>ein</strong>er Wertmarke des Versorgungsamtes<br />
versehen ist. Das Merkzeichen „B“ im<br />
Schwerbehindertenausweis berechtigt<br />
darüber hinaus, kostenfrei<br />
<strong>ein</strong>e Begleitperson mitzunehmen.<br />
Jetzt gilt für diesen<br />
Personenkreis <strong>ein</strong>e bundesweite<br />
Freifahrtberechtigung<br />
im Nahverkehr. Die bisher<br />
geltende 50-km-Begrenzung<br />
entfällt. Zusätzliche Fahrsch<strong>ein</strong>e<br />
zum grün-orangenen<br />
Schwerbehindertenausweis<br />
und dem Beiblatt mit Wertmarke<br />
werden in den Nahverkehrszügen<br />
nicht mehr<br />
benötigt. Mit dem Wegfall<br />
der „50-Kilometer-Regelung“<br />
entfällt auch das Streckenverzeichnis,<br />
auf dem die bisher<br />
<strong>ein</strong>geschränkten Nutzungsmöglichkeiten<br />
des Beiblattes<br />
mit Wertmarke vermerkt<br />
waren und das bislang<br />
bei Bahnreisen noch<br />
mitgeführt werden musste.<br />
Foto: SZ/Marion Gröning<br />
Vorschuss abgearbeitet ist. Wer<br />
diese Regelung in Anspruch<br />
nimmt, muss für den Zeitraum <strong>ein</strong>e<br />
Versicherung abschließen. Damit<br />
sollen Risiken <strong>ein</strong>er Berufsund<br />
Erwerbsunfähigkeit gerade<br />
für kl<strong>ein</strong>ere und mittlere Unternehmen<br />
minimiert werden.<br />
Den Vertrag über die Teil-Freistellung<br />
müssen Beschäftigte direkt<br />
mit ihrem Arbeitgeber schließen.<br />
Das Gesetz schafft dafür lediglich<br />
<strong>ein</strong>en Rahmen. Die Unternehmen<br />
können selber entscheiden, ob sie<br />
dieses Modell anbieten möchten.<br />
Einen Anspruch darauf haben Arbeitnehmer<br />
nicht. ...<br />
Neue Regelung für viele Schwerbehinderte:<br />
Freifahrten im ÖPNV<br />
Foto: Soeren Stache/dpa<br />
Drittel des Rundfunkbeitrages<br />
(5,78 EUR) zur Rundfunkfinanzierung<br />
beitragen. Neu ist, dass nicht<br />
alle Menschen mit Behinderung<br />
und <strong>ein</strong>em Merkzeichen „RF“ automatisch<br />
auch von <strong>ein</strong>er Gebührenzahlung<br />
befreit sind. Nur für<br />
jene, die nicht in der Lage sind,<br />
Rundfunk wahrzunehmen (Taubblinde),<br />
und Empfänger von Blindenhilfe<br />
sowie Sonderfürsorgeberechtigte<br />
wie Kriegsversehrte entfällt<br />
die Beitragspflicht. Die Verpflichtung<br />
der öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten zur Ausweitung<br />
barrierefreier Angebote<br />
wird zudem durch <strong>ein</strong>e Protokoll-<br />
Seite 3<br />
Das Beiblatt mit Wertmarke ist beim zuständigen<br />
Versorgungsamt erhältlich<br />
und für die unentgeltliche Beförderung<br />
zwingend erforderlich. Die Freifahrtberechtigung<br />
für mobilitäts<strong>ein</strong>geschränkte<br />
Menschen gilt wie bisher in Straßenbahnen<br />
und Linienbussen (Nahverkehr), Uund<br />
S-Bahnen – kurz dem gesamten öffentlichen<br />
Nahverkehr (ÖPNV). Zu den<br />
Nahverkehrszügen gehören Regionalbahn<br />
(RB), Regionalexpress (RE) und Interregio-Express<br />
(IRE). ...<br />
erklärung aller Länder verstärkt.<br />
Die Neuordnung der Finanzierung<br />
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />
war aufgrund der technischen<br />
Entwicklung notwendig geworden.<br />
So können jetzt Handys,<br />
PCs, Tablets und Smart-Phones<br />
sowohl Radio- als auch Fernsehprogramme<br />
empfangen. Ziel ist<br />
es, <strong>ein</strong> der heutigen Mediennutzung<br />
angepasstes, <strong>ein</strong>faches und<br />
gerechtes Rundfunkfinanzierungssystem<br />
zu schaffen und damit<br />
den verfassungsrechtlich vorgeschriebenenGrundversorgungsauftrag<br />
des öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunks zu sichern. ...
Seite 4 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Die Perspektiven ändern sich<br />
Sachsens Behindertenbeauftragter<br />
Stephan Pöhler freut sich über den<br />
Umdenkungsprozess im öffentlichen<br />
Bereich.<br />
In Sachsen leben rund 650 000<br />
Menschen mit <strong>ein</strong>em Handicap, etwa<br />
344 000 von ihnen haben <strong>ein</strong>en<br />
Schwerbehindertenausweis, das heißt, sie<br />
haben <strong>ein</strong>en Behinderungsgrad von über<br />
50 Prozent. Umgerechnet auf die Bevölkerung<br />
im Freistaat mit 4,2 Millionen Einw<strong>ohne</strong>rn<br />
entspricht dies <strong>ein</strong>er Quote von<br />
circa 15 Prozent, oder – anders ausgedrückt<br />
– jeder siebte Sachse muss in s<strong>ein</strong>em<br />
Alltag mit <strong>ein</strong>er entsprechenden Einschränkung<br />
zurechtkommen. Zur aktuellen<br />
Lage und zur demografischen Entwicklung<br />
sprachen wir mit Stephan Pöhler, Beauftragter<br />
der Sächsischen Staatsregierung<br />
für die Belange von Menschen mit Behinderungen.<br />
Was genau ist Ihre Aufgabe?<br />
Zum <strong>ein</strong>en berate ich die Sächsische<br />
Staatsregierung in Fragen der Behindertenpolitik,<br />
so bei Gesetzesvorhaben und dem<br />
Erlass von Vorschriften, unter dem Gesichtspunkt,<br />
dass die Interessen von Menschen<br />
mit Behinderungen berücksichtigt<br />
werden. Zum anderen bin ich Ansprechpartner<br />
sowohl für Behinderte selbst als<br />
auch für Verbände und Organisationen.<br />
Tatkräftig unterstützt werde ich bei m<strong>ein</strong>er<br />
Arbeit vom Sächsischen Landesbeirat<br />
für die Belange von Menschen mit Behinderungen.<br />
Das klingt nach <strong>ein</strong>er<br />
großen, schlagkräftigen<br />
Organisation …<br />
… aber nur auf den<br />
ersten Blick. Ich selbst<br />
wie auch der Beirat<br />
sind ehrenamtlich tätig,<br />
dazu habe ich <strong>ein</strong>en<br />
persönlichen Referenten<br />
und zwei halbtags<br />
beschäftigte Mitarbeiterinnen<br />
im Büro.<br />
Was jedoch ständig<br />
wächst, sind die Bedeutung<br />
unserer Arbeit<br />
und die Wertschätzung, die wir in zunehmendem<br />
Maße in allen sächsischen<br />
Ministerien erfahren.<br />
Können Sie uns konkrete Beispiele aus<br />
Ihrer Arbeit nennen?<br />
Ich erinnere mich noch gut an m<strong>ein</strong>e erste<br />
Aufgabe im Jahre 2005: Damals galt es,<br />
Zur Person<br />
3 Stephan Pöhler wurde am<br />
12.11.1951 in Zwickau geboren.<br />
Zwei Fachhochschulstudien mit<br />
den Abschlüssen als Ingenieurökonom<br />
und Berufspädagoge bilden<br />
die Grundlagen s<strong>ein</strong>er hauptamtlichen<br />
Tätigkeit als Leiter der<br />
Landesdolmetscherzentrale für<br />
Gehörlose in Zwickau.<br />
das Sächsische Fischereigesetz so zu gestalten,<br />
dass auch Menschen mit Behinderungen<br />
die vorgeschriebenen Prüfungen<br />
bestehen können. Und wie man an zahlreichen<br />
Fällen sieht, waren wir erfolgreich.<br />
Ein anderes Mal mussten wir uns<br />
mit der Frage beschäftigen, wie bei<br />
Wahlen die Zugänge zu den Wahllokalen<br />
beschaffen s<strong>ein</strong> müssen, sodass<br />
auch behinderte Menschen <strong>ohne</strong> fremde<br />
Hilfe ihre Stimme abgeben können.<br />
Heute kommt in Sachsen jeder problemlos<br />
zur Wahlurne, egal, ob er <strong>ein</strong> Handicap<br />
hat oder nicht.<br />
Man hört öfter Klagen, der öffentliche<br />
Personennahverkehr sei nicht behindertenfreundlich.<br />
Ist das zutreffend?<br />
Das kann ich so nicht unterschreiben.<br />
Wir haben in den<br />
letzten Jahren in diesem Bereich<br />
große Fortschritte erzielt<br />
und befinden uns auf dem<br />
richtigen Weg. Unter anderem<br />
wurden durch die jeweiligen<br />
Verkehrsbetriebe zahlreiche<br />
barrierefrei nutzbare Haltestellen<br />
installiert. Bei Neuanschaffungen<br />
werden heute nur<br />
noch Niederflurstraßenbahnen<br />
und -stadtbusse mit Einstiegshilfen<br />
und ausreichenden<br />
Gangbreiten gekauft. Nachholbedarf<br />
besteht in erster Linie<br />
noch beim Überlandverkehr.<br />
Allerdings müssen wir auch die Laufzeiten<br />
älterer Fahrzeuge berücksichtigen, die<br />
nicht <strong>ein</strong>fach ausrangiert<br />
werden können.<br />
Eine sofortige totale<br />
Jeder siebte<br />
Sachse muss<br />
in s<strong>ein</strong>em Alltag<br />
mit <strong>ein</strong>er<br />
entsprechenden<br />
Einschränkung<br />
zurechtkommen.<br />
Umrüstung könnte<br />
niemand bezahlen,<br />
das braucht s<strong>ein</strong>e Zeit.<br />
Ein anderer Kritikpunkt<br />
betrifft öffentliche<br />
Gebäude: Es<br />
fehlen barrierefreie<br />
Zugänge, Bodenschwellen<br />
und zu<br />
schmale Türen erweisen<br />
sich als Hindernisse,<br />
sanitäre<br />
Einrichtungen für Behinderte sind nicht<br />
vorhanden. Was können Sie da tun?<br />
Man muss sich vor Augen halten, dass es<br />
erst seit 2005 <strong>ein</strong>en Beauftragten für die<br />
Belange von Menschen mit Behinderungen<br />
bei der Staatsregierung gibt. Das ist<br />
natürlich sehr kurz. Dennoch können wir<br />
erfreut feststellen, dass gesetzliche Rege-<br />
3 Pöhler ist staatlich anerkannter Gebärdensprachdolmetscher<br />
und entwickelte<br />
den deutschlandweit ersten berufsbegleitenden<br />
Studiengang Gebärdensprachdolmetschen<br />
in Sachsen. Er etablierte den DiplomstudiengangGebärdensprachdolmetschen<br />
an der Westsächsischen Hochschule<br />
Zwickau. Darüber hinaus lehrte er unter<br />
anderem an der FH Mittweida im Fach So-<br />
Stephan Pöhler, Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für<br />
die Belange von Menschen mit Behinderungen<br />
Foto: Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz<br />
lungen geschaffen wurden und in den<br />
sächsischen Behörden bereits <strong>ein</strong> Umdenkungsprozess<br />
<strong>ein</strong>gesetzt hat: Die Perspektiven<br />
ändern sich. Es ist ja oft k<strong>ein</strong>e böse<br />
Absicht, wenn bei der baulichen Gestaltung<br />
die Belange von Behinderten nicht<br />
berücksichtigt werden, meist wird es<br />
schlicht vergessen. Als nicht behinderter<br />
Mensch denkt man <strong>ein</strong>fach nicht daran,<br />
man hat diesen Aspekt nicht im Kopf.<br />
Deshalb ist es für mich so wichtig, im Gespräch<br />
mit den sächsischen Ministerien<br />
immer wieder darauf hinzuweisen: Achtet<br />
auf die Bedürfnisse unserer Mitbürgerinnen<br />
und Mitbürger, die aufgrund <strong>ein</strong>es<br />
Handicaps mit Einschränkungen zurechtkommen<br />
müssen.<br />
Das sogenannte Persönliche Budget<br />
wird unterschiedlich beurteilt. Kritiker<br />
sehen darin <strong>ein</strong> Sparprogramm für<br />
Kommunen, andere <strong>ein</strong>en wichtigen<br />
Schritt hin zu mehr Eigenständigkeit.<br />
Wie ist Ihre M<strong>ein</strong>ung?<br />
Mit der Einführung des Persönlichen Budgets<br />
als neue Form der Leistungserbrin-<br />
zialisation/Kommunikation Gehörloser und<br />
im Fach Berufsfeldorientierung Gebärdensprachdolmetschen<br />
an Hochschul<strong>ein</strong>richtungen<br />
(1998-2004).<br />
3 Für s<strong>ein</strong> vielfältiges Engagement für<br />
Menschen mit Behinderungen wurde Stephan<br />
Pöhler 1997 mit dem Bundesverdienstkreuz<br />
ausgezeichnet. 2003 wurde<br />
ihm die Ehrenurkunde des Bundesverban-<br />
gung wurde das frühere System mehr<br />
oder minder auf den Kopf gestellt. Hier<br />
wurde <strong>ein</strong> vollständiger Wandel im Leistungsrecht<br />
vollzogen, und zwar weg von<br />
der Fremdbestimmung durch fest definierte<br />
Vorgaben und hin zur eigenverantwortlichen<br />
Selbstbestimmung des jeweiligen<br />
Nutzers. Das Gesetz und die damit<br />
verbundene Absicht sind <strong>ohne</strong> Zweifel<br />
vorbildlich. Doch wie bei allen Neuerungen<br />
müssen die Beteiligten erst <strong>ein</strong>mal<br />
lernen, richtig damit umzugehen.<br />
Allerdings dauert mir die Zeit der Eingewöhnung<br />
und des Umdenkens schon<br />
zu lange, denn es werden alle von dieser<br />
Regelung profitieren, davon bin<br />
ich fest überzeugt.<br />
In Sachsen fehlt es an behindertengerechtemWohnraum.<br />
Haben Sie Möglichkeiten,<br />
auf diesem Sektor tätig<br />
zu werden?<br />
Eigentlich nicht, denn die<br />
Schaffung von Wohnraum ist<br />
Privatsache. Ich kann nur an<br />
alle Immobilienbesitzer und<br />
Vermieter, vor allem an die<br />
Wohnungsgenossenschaften,<br />
appellieren, durch entsprechende<br />
Umbaumaßnahmen<br />
dem Markt mehr barrierefreie<br />
Wohnungen zur Verfügung zu<br />
stellen. Dafür lassen sich beispielsweise<br />
Zuschüsse und<br />
zinsgünstige Darlehen aus verschiedenen<br />
staatlichen Förderprogrammen<br />
nutzen. Dieses Problem betrifft im<br />
Übrigen nicht nur Menschen mit Behinderungen,<br />
sondern auch die steigende Zahl<br />
an Seniorinnen und Senioren. Ebenso<br />
müssen wir uns der Tatsache bewusst<br />
s<strong>ein</strong>, dass bereits heute über 70 Prozent<br />
der Schwerbehinderten in Sachsen älter<br />
als 55 Jahre sind. Da kommt <strong>ein</strong> gewaltiges<br />
Problem auf unsere Gesellschaft zu.<br />
Welches Problem brennt Ihnen besonders<br />
auf den Nägeln?<br />
Im Grunde genommen sind es zwei Probleme,<br />
die mit<strong>ein</strong>ander verknüpft sind.<br />
Das ist zum <strong>ein</strong>en der noch immer unzureichende<br />
Zugang von Menschen mit Behinderungen<br />
zu unserem Regelbildungssystem<br />
und – daraus resultierend – <strong>ein</strong> unzureichender<br />
Zugang zum Arbeitsmarkt.<br />
Menschen mit <strong>ein</strong>em Handicap dürfen<br />
nicht ausgegrenzt werden, sie wollen genau<br />
wie jeder andere die Qualität ihres <strong>Leben</strong>s<br />
selbst bestimmen können. Und dazu<br />
zählen auch Bildung und Arbeit.<br />
Das Gespräch führte Thomas F. Mertens ...<br />
des der GebärdensprachdolmetscherInnen<br />
Deutschlands e.V. für besondere Verdienste<br />
um das Gebärdensprachdolmetscherwesen<br />
in Deutschland verliehen.<br />
3 2005 wurde Stephan Pöhler zum Beauftragten<br />
der Sächsischen Staatsregierung für<br />
die Belange von Menschen mit Behinderungen<br />
berufen, 2010 erfolgte s<strong>ein</strong>e Wiederberufung<br />
für <strong>ein</strong>e zweite Amtszeit.
Eine Behinderung<br />
ist k<strong>ein</strong> Hindernis<br />
Dennoch müssen Studierende mit Behinderungen<br />
zusätzlich strukturelle Defizite<br />
überwinden und administrative Hürden<br />
aus dem Weg räumen.<br />
Studierende mit Behinderung oder chronischer<br />
Erkrankung finden heute erheblich<br />
bessere Studienbedingungen vor<br />
als noch vor Jahren. Durch Gleichstellungsgesetze<br />
von Bund und Ländern hat das Thema<br />
„Barrierefreiheit“ im Hochschulbereich Einzug<br />
gehalten. Wichtige Bindeglieder zwischen<br />
Hochschulen und Studierenden sind die Studentenwerke,<br />
die sich zu den Zielen der UN-<br />
Behindertenrechtskonvention und zur Empfehlung<br />
der Hochschulrektorenkonferenz „Eine<br />
Hochschule für alle“<br />
bekannt haben.<br />
Studierende mit Han-<br />
dicap nehmen das Studium<br />
genauso wichtig<br />
wie andere Studierende.<br />
Auf dem Weg zu <strong>ein</strong>em<br />
erfolgreichen Studienabschluss<br />
müssen sie jedoch<br />
zusätzlich zu der<br />
Belastung, die <strong>ein</strong>e Behinderung<br />
oder chronische<br />
Krankheit individuell<br />
für sie bedeutet, viele<br />
strukturelle Defizite<br />
überwinden und administrative<br />
Hürden aus<br />
dem Weg räumen. Damit<br />
die ersten Semester nicht im Behördendschungel<br />
verloren gehen, ist die rechtzeitige<br />
Vorbereitung das A und O.<br />
Das Deutsche Studentenwerk empfiehlt in<br />
s<strong>ein</strong>er Broschüre „Studium und Behinderung“,<br />
mindestens <strong>ein</strong> Jahr vor Aufnahme des<br />
Studiums mit den Vorbereitungen zu beginnen.<br />
Denn es braucht Zeit, um herauszufinden,<br />
wo barrierefreies oder -armes Studieren<br />
möglich ist. Daneben führt nicht selten die Organisation<br />
des behindertengerechten Mehrbedarfs<br />
zu <strong>ein</strong>em langwierigen Antragsverfahren.<br />
Das betrifft beispielsweise notwendige<br />
Assistenzen oder Kommunikationshilfen wie<br />
Lesegeräte mit Sprachausgabe. Viele Universitäten<br />
bieten mittlerweile Studienassistenzen<br />
zur Unterstützung an. Diese wurden früher<br />
durch Zivildienstleistende gewährleistet, heute<br />
sind es meist Männer und Frauen, die den<br />
Bundesfreiwilligendienst oder <strong>ein</strong> Freiwilliges<br />
Soziales Jahr absolvieren.<br />
Das Angebot der Hochschulen ist allerdings<br />
begrenzt. Benötigt man die Dienste <strong>ein</strong>es Gebärdensprach-<br />
oder Schriftdolmetschers, ist<br />
Eigeninitiative gefragt. Dies gilt generell auch<br />
bei Nachteilsausgleichen wie Studienzeitverlängerung<br />
oder Prüfungsmodifikationen, die<br />
im Bedarfsfall möglich<br />
sind, aber individuell<br />
ausgestaltet werden<br />
Studierende mit<br />
Behinderung oder<br />
chronischer<br />
Erkrankung<br />
finden heute<br />
erheblich bessere<br />
Studienbedingungen<br />
vor.<br />
müssen. Für <strong>ein</strong>en Härtefallantrag<br />
sowohl bei<br />
Hochschulen mit örtlich<br />
zulassungsbeschränkten<br />
Studiengängen als auch<br />
bei der Zentralen Studienvergabestelle<br />
(ZVS)<br />
sollten Studierende<br />
rechtzeitig Nachweise<br />
<strong>ein</strong>holen: Etwa <strong>ein</strong> fachärztliches<br />
Gutachten,<br />
das auch für den medizinischen<br />
Laien verständlich<br />
ist, oder <strong>ein</strong>e<br />
Stellungnahme zur per-<br />
sönlichen Situation und Zukunftsplanung.<br />
Und natürlich gehört der Behindertenausweis<br />
zu den notwendigen Unterlagen.<br />
Auch in Dresden hat man sich den Forderungen<br />
<strong>ein</strong>er „Hochschule für alle“ gestellt<br />
und betont <strong>ein</strong>e individuelle, persönliche Beratung<br />
der Betroffenen. So werden unter anderem<br />
in der Sozialberatung des Studentenwerkes<br />
Dresden chronisch kranke oder behin-<br />
Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong> <strong>LEBENswert</strong><br />
Studium und Behinderung schließen<br />
sich nicht aus, auch wenn so manche<br />
Hürde überwunden werden muss.<br />
Foto: www.fotolia.de © Franz Pfuegl<br />
derte Studenten betreut. Dazu bietet das Studentenwerk<br />
<strong>ein</strong>e Mobilitätshilfe an, die von<br />
<strong>ein</strong>er Teilnehmerin des Freiwilligen Sozialen<br />
Jahres erbracht wird. Vor allem in der Anfangszeit<br />
des Studiums können gem<strong>ein</strong>sam<br />
mit der FSJ-lerin die Wege in der Nähe des<br />
Wohnheimes, auf dem Campus oder in die<br />
Mensen erprobt werden. Auch barrierefreies<br />
W<strong>ohne</strong>n ist in sechs Appartements der Wohnheime<br />
möglich.<br />
Beratungsangebot ausgebaut<br />
In Kooperation mit dem <strong>VdK</strong> Sachsen konnte<br />
in diesem Jahr das Beratungsangebot weiter<br />
ausgebaut werden. Im Rahmen des Projektes<br />
„Studium und Behinderung“, das mit Mitteln<br />
des Freistaates Sachsen gefördert wird, bietet<br />
das Studentenwerk Dresden zusammen mit<br />
dem <strong>VdK</strong> <strong>ein</strong>mal im Monat <strong>ein</strong>e Sozialrechtsschutzberatung<br />
an. Für s<strong>ein</strong>e Sprechstunden<br />
sieht Lars Müller von der Sozialrechtsschutz<br />
<strong>VdK</strong> Sachsen gGmbH vor allem Beratungspotenzial<br />
im Hinblick auf die Finanzierung des<br />
behinderungsbedingten Mehrbedarfs. Denn:<br />
„Für Studierende mit Behinderung fallen oft<br />
Mehrkosten im Zusammenhang mit dem Studium<br />
und der Sicherung des <strong>Leben</strong>sunterhalts<br />
an, die durch die Leistungen nach dem BaföG<br />
oder entsprechende Eigenmittel nicht gedeckt<br />
werden können“, sagt der Jurist.<br />
Um das Studium und die Studienbedingungen<br />
für be<strong>ein</strong>trächtigte Studierende so barrierearm<br />
wie möglich zu gestalten, engagieren<br />
sich auch der Beauftragte für Studierende mit<br />
Behinderung und chronischer Krankheit, Prof.<br />
Dr. Rainer Spallek, sowie die Interessengem<strong>ein</strong>schaft<br />
„Studium und Behinderung“ an<br />
der TU Dresden (IGB), welche die verschiedenen<br />
Struktur<strong>ein</strong>heiten wie Studentenwerk,<br />
Immatrikulationsamt und Studentenrat zu <strong>ein</strong>em<br />
Netzwerk verbindet. Zur Unterstützung<br />
von sehbehinderten Ratsuchenden existiert<br />
an der Fakultät Informatik außerdem die Arbeitsgruppe<br />
Studium für Blinde und Sehbehinderte<br />
(AG SBS). Peggy St<strong>ein</strong>ert ...<br />
Gewusst wo<br />
Seite 5<br />
Auskünfte für behinderte<br />
Studierende in der<br />
Landeshauptstadt<br />
Dresden und den<br />
östlichen Grenzstädten<br />
Zittau und Görlitz<br />
3 Studentenwerk Dresden<br />
Fritz-Löffler-Straße 18<br />
Sozialberatung<br />
Sandra Simond<br />
2. OG, Zimmer 204<br />
Telefon: 0351 4697704<br />
E-Mail: sandra.simond@<br />
studentenwerk-dresden.de<br />
3 Sozialrechtsschutzberatung<br />
(jeden ersten<br />
Donnerstag im Monat,<br />
mit Anmeldung)<br />
Lars Müller<br />
(Sozialrechtsschutz<br />
<strong>VdK</strong> Sachsen gGmbH)<br />
4. OG, Zimmer 423<br />
Tel.: 0351 2054530<br />
oder 0351 4697704<br />
sozialrechtsschutz.dresden<br />
@vdk.de oder<br />
sandra.simond@<br />
studentenwerk-dresden.de<br />
Allgem<strong>ein</strong>e Hinweise<br />
für Studierende mit<br />
Handicap<br />
3 Informations- und<br />
Beratungsstelle Studium<br />
und Behinderung (IBS) des<br />
Deutschen<br />
Studentenwerks<br />
Monbijouplatz 11<br />
10178 Berlin<br />
Telefon: 030 29772764<br />
Telefax: 030 29772769<br />
studium-behinderung<br />
@studentenwerke.de<br />
3 Nach der 18. Sozialerhebung<br />
des Deutschen Studentenwerks<br />
(DSW), die<br />
im Jahr 2006 die wirtschaftliche<br />
und soziale Lage<br />
der Studierenden in<br />
Deutschland evaluierte,<br />
sind circa acht Prozent der<br />
Studierenden durch <strong>ein</strong>e<br />
Behinderung oder chronische<br />
Krankheit in ihrem<br />
Studium be<strong>ein</strong>trächtigt.<br />
Um neuere Daten zu ihrer<br />
Situation zu ermitteln,<br />
wurde in diesem Jahr mit<br />
Förderung des Bundesministeriums<br />
für Bildung und<br />
Forschung (BMBF) die<br />
bundesweite Umfrage „be<strong>ein</strong>trächtigt<br />
studieren“<br />
durchgeführt. Die Regie lag<br />
in den Händen des Deutschen<br />
Studentenwerkes,<br />
Informations- und Beratungsstelle<br />
Studium und<br />
Behinderung, das seit 28<br />
Jahren vom BMBF gefördert<br />
wird. Die Ergebnisse<br />
der Studie werden im<br />
Frühjahr 2012 erwartet.
Seite 6 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Kompakt Pflege<br />
Pflegegeld<br />
Wird die Pflege nicht durch zugelassene Pflegekräfte<br />
erbracht, sondern durch Angehörige oder<br />
sonstige ehrenamtliche Helfer, wird das sogenannte<br />
Pflegegeld als Geldleistung bezahlt. Es beträgt<br />
bisher in<br />
3 Pflegestufe I: 225 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe II: 430 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe III: 685 Euro monatlich<br />
Zum 1.1.2012 werden diese Beträge erhöht.<br />
3 Pflegestufe I: 235 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe II: 440 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe III: 700 Euro monatlich<br />
Pflegesachleistung<br />
Pflegende Angehörige sollen bei der häuslichen<br />
Pflege durch Pflegedienste unterstützt werden.<br />
Die Leistungen der ambulanten Dienste gelten als<br />
Sachleistungen. Die Höhe der monatlichen Leistung<br />
hängt von der Pflegestufe ab und beträgt<br />
zurzeit für<br />
3 Pflegestufe I: bis zu 440 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe II: bis zu 1 040 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe III: bis zu 1 510 Euro monatlich<br />
3 in Härtefällen: bis zu 1 918 Euro monatlich<br />
Ab 2012 werden die Leistungen erhöht.<br />
3 Pflegestufe I: bis zu 450 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe II: bis zu 1 100 Euro monatlich<br />
3 Pflegestufe III: bis zu 1 550 Euro monatlich<br />
3 <strong>Der</strong> Betrag für Stufe III mit Härtefall bleibt unverändert<br />
bei 1 918 Euro monatlich.<br />
Pflege durch <strong>ein</strong>en Pflegedienst<br />
oder entfernte Verwandte und Bekannte<br />
Wird die Ersatzpflege durch <strong>ein</strong>en ambulanten<br />
Pflegedienst übernommen, können Kosten von<br />
bis zu 1 510 Euro pro Jahr von der Pflegekasse<br />
übernommen werden. Auch wenn entfernte<br />
Verwandte, Bekannte oder Nachbarn, die nicht<br />
in häuslicher Gem<strong>ein</strong>schaft mit dem Pflegebedürftigen<br />
leben, die Pflege übernehmen, kann<br />
diese Summe in Anspruch genommen werden.<br />
Die Kostenübernahme steigt zum 01.01.2012<br />
noch <strong>ein</strong>mal an; dann können Leistungen bis<br />
zu 1 550 Euro pro Jahr übernommen werden.<br />
Staatliche Zuschüsse<br />
Die Pflegeversicherung<br />
gewährt unabhängig<br />
von der<br />
Pflegestufefinanzielle<br />
Zuschüsse<br />
für Maßnahmen<br />
zur Verbesserung<br />
des<br />
individuellen<br />
Wohnumfeldes. Das<br />
Gesetz führt dazu aus,<br />
dass die Höhe der Zuschüsse<br />
unter Berücksichtigung der Kosten der Maßnahme<br />
sowie <strong>ein</strong>es angemessenen Eigenanteils in Abhängigkeit<br />
von dem Einkommen des Pflegebedürftigen<br />
zu bemessen ist. Die Zuschüsse dürfen <strong>ein</strong>en<br />
Betrag in Höhe von 2 557 Euro je Maßnahme nicht<br />
übersteigen.<br />
...<br />
-----------------------------------------------------------------------------<br />
3 Weitere Informationen:<br />
www.vdk.de/Sachsen<br />
www.pflegenetz.sachsen.de<br />
Foto: MEV<br />
Arbeiten mit Handicap<br />
Gert Hentschel kämpft vor den<br />
Sozialgerichten für die Interessen<br />
von Behinderten.<br />
Gert Hentschel sitzt in s<strong>ein</strong>em<br />
kl<strong>ein</strong>en Büro im Dresdner Osten<br />
am Schreibtisch. <strong>Der</strong> 64-<br />
Jährige leitet <strong>ein</strong>e Beratungsstelle für<br />
Menschen mit Behinderungen, chronischen<br />
Erkrankungen und für Senioren.<br />
Dass er selbst mit <strong>ein</strong>em Handicap<br />
zu kämpfen hat, sehen ihm die<br />
meisten nicht an. „Ich bekomme<br />
dann im Laufe <strong>ein</strong>es Gesprächs das<br />
<strong>ein</strong>e oder andere Schreiben in die<br />
Hand, doch ich kann damit nichts anfangen“,<br />
sagt der gepflegte Mann im<br />
Anzug und schmunzelt. Denn Gert<br />
Hentschel ist fast blind. „Im Alter von<br />
zehn Jahren erkrankte ich an Makuladegeneration“,<br />
sagt er. „Innerhalb<br />
kürzester Zeit konnte ich nichts mehr<br />
lesen und nur noch mühsam schreiben.“<br />
Dennoch besuchte er weiterhin<br />
die normale Grundschule, machte<br />
s<strong>ein</strong> Abitur mit „sehr gut“, studierte<br />
Geschichte und promovierte.<br />
Seit 1997 berät Hentschel Hilfesuchende<br />
in allen sozialrechtlichen Angelegenheiten<br />
im Auftrag des Sozialverbandes<br />
<strong>VdK</strong> und vertritt Mitglieder<br />
s<strong>ein</strong>es Verbandes in Antrags-, Widerspruchs-<br />
und Klageverfahren vor den<br />
Sozialgerichten. Dass der Mann dafür<br />
deutlich mehr arbeiten muss als <strong>ein</strong><br />
sehender Kollege, nimmt er in Kauf.<br />
Vor Gericht kann er nicht <strong>ein</strong>fach in<br />
die Akten schauen. <strong>Der</strong> Geisteswissenschaftler<br />
muss die wichtigsten<br />
Passagen im Kopf oder in Brailleschrift<br />
dabeihaben. Hilfsmittel wie <strong>ein</strong>e<br />
Braillezeile unter der Computertastatur<br />
und <strong>ein</strong>en Scanner mit Sprachausgabe<br />
haben ihm das Integrationsamt<br />
und s<strong>ein</strong> Rententräger finanziert.<br />
Treue Begleiterin „Erika“<br />
Auf <strong>ein</strong>e moderne Braille-Punktschrift-Maschine<br />
hat er bewusst verzichtet<br />
– die „Erika“ hat ihn s<strong>ein</strong> ganzes<br />
<strong>Leben</strong> begleitet. Damit m<strong>ein</strong>t er<br />
allerdings s<strong>ein</strong>e alte Punktschriftmaschine<br />
und nicht s<strong>ein</strong>e Mitarbeiterin,<br />
die ihm Akten vorliest oder ihn zu<br />
Gerichtsterminen fährt. 15 Stunden<br />
pro Woche steht sie ihm als Assistentin<br />
zur Verfügung, bezahlt von der<br />
Bundesarbeitsgem<strong>ein</strong>schaft der Integrationsämter<br />
und Hauptfürsorgestellen.<br />
Eine solche Unterstützung steht<br />
vielen Behinderten im Arbeitsleben<br />
zu, allerdings abhängig vom Grad des<br />
Handicaps und Hilfebedarfs.<br />
Doch Gert Hentschel hat den Eindruck,<br />
dass die Sozialkassen angesichts<br />
der Sparzwänge zunehmend<br />
restriktiver entscheiden und immer<br />
mehr Anträge ablehnen. „Etwa 50<br />
Prozent der Bescheide von Sozialämtern<br />
oder anderen Sozialverwaltungen<br />
sind falsch“, schätzt der <strong>VdK</strong>-Experte.<br />
Deshalb gewinnt er von mehreren<br />
Hundert begleiteten Verfahren im<br />
Jahr auch rund die Hälfte. „Ich sehe<br />
m<strong>ein</strong>e Arbeit aber nicht nur als<br />
Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit,<br />
sondern sie besteht auch darin, Zuversicht<br />
und <strong>Leben</strong>smut, kurz: <strong>ein</strong><br />
Stück <strong>Leben</strong>squalität zu vermitteln.“<br />
Die Tätigkeit als Behinderter für Behinderte<br />
ist für ihn <strong>ein</strong> Stück s<strong>ein</strong>es<br />
eigenen schwierigen <strong>Leben</strong>s.<br />
Streiten kann sich l<strong>ohne</strong>n<br />
3 000 bis 4 000 Betroffene sprechen<br />
pro Jahr in der <strong>VdK</strong>-Beratungsstelle<br />
vor. Kürzlich war <strong>ein</strong>e Frau Mitte 40<br />
bei ihm. Ihre Diagnose:<br />
Multiple Sklerose.<br />
Doch sie<br />
möchte unbedingt<br />
weiterarbeiten,<br />
nicht von <strong>ein</strong>er Rente<br />
leben. Mit Hentschels<br />
Hilfe hat sie<br />
vor Gericht <strong>ein</strong> klimatisiertes<br />
Büro erkämpft.<br />
Zudem<br />
wurde <strong>ein</strong> Umbau<br />
an ihrem Pkw bewilligt.<br />
Knapp 10 000 Euro stehen ihr<br />
jetzt dafür zur Verfügung. „Streiten<br />
lohnt sich“, sagt der Sozialarbeiter.<br />
Er konnte auch <strong>ein</strong>em Mann helfen,<br />
der <strong>ein</strong>en Arbeitsunfall hatte und auf<br />
der Suche nach <strong>ein</strong>em neuen Arbeitgeber<br />
war. Zwar nicht direkt, denn<br />
„wir sind k<strong>ein</strong>e Arbeitsvermittlung“.<br />
Gleichwohl sorgte er für die Bewilligung<br />
der erforderlichen finanziellen<br />
Unterstützung – in unserem schönen<br />
Beamtendeutsch sind dies Leistungen,<br />
die zur Teilhabe an der Arbeit berech-<br />
tigen. Hierfür können dem Arbeitgeber<br />
im ersten Jahr bis zu 80 Prozent<br />
der Lohnkosten gewährt werden. Oft<br />
sind es aber auch nur Kl<strong>ein</strong>igkeiten,<br />
die Menschen mit größerem oder kl<strong>ein</strong>erem<br />
Handicap die Teilnahme am<br />
Arbeitsleben überhaupt erst ermöglichen.<br />
Dass seit Anfang des Jahres<br />
wieder mehr Menschen mit Behinderungen<br />
in Lohn kommen wollen, freut<br />
Hentschel. Für diese Menschen<br />
kämpft der 64-Jährige gern.<br />
Zum Beispiel auch für die Bewilligung<br />
<strong>ein</strong>es ergonomischen Stuhls<br />
oder <strong>ein</strong>es Stehpults<br />
für <strong>ein</strong>en Angestellten<br />
nach Bandschei-<br />
Wenn man<br />
kompetent<br />
ist, wird<br />
man auch<br />
akzeptiert.<br />
Gert Hentschel mit s<strong>ein</strong>er<br />
Brailleschreibmaschine, Typ<br />
„Erika“ – die allerdings unüberhörbar<br />
klappert. Eine<br />
Braillezeile unter der Computertastatur<br />
und <strong>ein</strong> Scanner<br />
mit Sprachausgabe ermöglichen<br />
ihm die Büroarbeit.<br />
Foto: Kristina Grunwald<br />
benvorfall. Oder für<br />
<strong>ein</strong>e digitale Hörhilfe<br />
für <strong>ein</strong>e leitende<br />
Laborantin, die Telefonkonferenzenabhalten<br />
muss. „Eine<br />
Behinderung be<strong>ein</strong>trächtigt<br />
<strong>ein</strong>en<br />
wohl, doch heute ist<br />
sehr vieles möglich,<br />
um gleichberechtigt am <strong>Leben</strong> in der<br />
Gesellschaft teilzunehmen“, sagt der<br />
fast Blinde, „Wenn man kompetent<br />
ist, wird man auch akzeptiert. Und<br />
man muss lernen, andere <strong>ohne</strong> Scheu<br />
um Hilfe zu bitten.“<br />
Kristina Grunwald ...<br />
----------------------------------------------------------<br />
3 <strong>VdK</strong>-Beratungsstelle:<br />
Kreisverband Dresden<br />
Breitscheidstraße 38, Haus 4<br />
01237 Dresden<br />
E-Mail: kv-dresden@vdk.de
Seite 8 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
KompaktParken<br />
Behindertenparkplätze<br />
Für körperbehinderte Menschen bietet das Auto<br />
oft die <strong>ein</strong>zige Möglichkeit, mobil zu s<strong>ein</strong> und zu<br />
bleiben. Vor öffentlichen Einrichtungen und an<br />
wichtigen zentralen Punkten sind darum ausreichend<br />
Behindertenparkplätze sehr wichtig, zum<br />
Beispiel vor Supermärkten, Arztpraxen, Theatern<br />
und Kinos, Restaurants und Bahnhöfen, aber auch<br />
vor der eigenen Haustür. Persönliche Behindertenparkplätze<br />
können in der Regel bei der kommunalen<br />
Straßenverkehrsbehörde beantragt werden.<br />
Behindertenparkplätze bieten dem Fahrer oder<br />
Beifahrer <strong>ein</strong>e größere Bewegungsfreiheit. Sie sind<br />
breiter als normale Pkw-Stellplätze, damit die Wagentür<br />
in vollem Radius geöffnet werden kann.<br />
Rollstuhlfahrer beispielsweise müssen ihren Rollstuhl<br />
unmittelbar neben der Fahrertür platzieren,<br />
um <strong>ohne</strong> Probleme <strong>ein</strong>steigen zu können. Zudem<br />
sollten Behindertenparkplätze besonders günstig<br />
gelegen s<strong>ein</strong>, sodass es idealerweise vom Parkplatz<br />
aus nur wenige Schritte bis zum Eingang<br />
sind. Dies ist vor allem für gehbehinderte Menschen<br />
und Mitbürger mit Atemwegserkrankungen<br />
sehr wichtig.<br />
Sonderparkausweis<br />
gut sichtbar platzieren!<br />
Es reicht nicht aus, <strong>ein</strong>fach den Schwerbehindertenausweis<br />
ins Auto zu legen, denn dieser legitimiert<br />
nicht automatisch zum Parken auf Behindertenparkplätzen!<br />
<strong>Der</strong> amtliche blaue Sonderparkausweis<br />
muss gut sichtbar hinter der Windschutzscheibe<br />
platziert werden. Ein Aufkleber mit<br />
Rollstuhlsymbol reicht ebenfalls nicht aus, um<br />
Behindertenparkplätze zu nutzen.<br />
K<strong>ein</strong>esfalls darf der Parkausweis von nicht behinderten<br />
Verwandten oder Bekannten verwendet<br />
werden, außer wenn die behinderte Person als<br />
Beifahrer dabei ist. Neben dem kostenpflichtigen<br />
Abschleppen des Fahrzeugs droht bei <strong>ein</strong>er falschen<br />
Verwendung des Ausweises unter Umständen<br />
<strong>ein</strong>e Klage wegen Missbrauchs von Ausweispapieren.<br />
Sonderregelung für Sachsen<br />
Von der Sächsischen Sonderparkgenehmigung<br />
werden nicht nur Schwerbehinderte erfasst, sondern<br />
auch weitere Personen – sogenannte vorübergehend<br />
Berechtigte –, die aufgrund <strong>ein</strong>er Erkrankung,<br />
<strong>ein</strong>es Unfalles oder nach <strong>ein</strong>er schweren<br />
Operation vorübergehend, aber dennoch für <strong>ein</strong>en<br />
längeren Zeitraum an so starken Funktionsstörungen<br />
der unteren Gliedmaßen und/oder der<br />
Lendenwirbelsäule leiden, dass ihnen vermeidbare<br />
Wege erspart werden müssen. Diese können<br />
in dieser Zeit nach Besch<strong>ein</strong>igung durch die<br />
Verkehrsbehörde Parkerleichterungen in Anspruch<br />
nehmen. In bestimmten Kommunen gibt es Regelungen<br />
und Besch<strong>ein</strong>igungen, welche Personenkreise<br />
neben den „aG“ Berechtigten auch auf<br />
Behindertenparkplätzen parken können. ...<br />
-----------------------------------------------------------------------------<br />
3 Weitere Informationen:<br />
www.vdk.de/Sachsen<br />
Foto: SZ/Marion Gröning<br />
J<br />
Ohne Vollmacht<br />
droht die Ohnmacht<br />
An <strong>ein</strong>e Vorsorgevollmacht<br />
für den Ernstfall werden hohe<br />
Anforderungen gerichtet.<br />
eder Mensch kann durch Unfall,<br />
plötzliche schwere Krankheit oder<br />
im Alter in die Lage kommen,<br />
wichtige Angelegenheiten s<strong>ein</strong>es <strong>Leben</strong>s<br />
ganz oder teilweise nicht mehr<br />
selbst regeln zu können. Für <strong>ein</strong>en<br />
solchen Fall sollte sichergestellt werden,<br />
dass Ihre persönlichen Belange<br />
in Ihrem Sinne geregelt werden können.<br />
Die Vorsorgevollmacht ermöglicht<br />
es Ihnen, <strong>ein</strong>e konkrete Person<br />
Ihres Vertrauens zu bestimmen, welche<br />
für Sie im Ernstfall handeln soll.<br />
Denn entgegen <strong>ein</strong>er weit verbreiteten<br />
Annahme können in <strong>ein</strong>em solchen<br />
Fall weder der Ehegatte noch<br />
die Kinder oder andere Angehörige<br />
<strong>ohne</strong> entsprechende<br />
Vollmacht für Sie<br />
handeln, das heißt,<br />
sie können Sie nicht<br />
gesetzlich vertreten.<br />
Eine gesetzliche Vertretung<br />
ist nur den<br />
Eltern gegenüber ihren<br />
minderjährigen<br />
Kindern vorbehalten.<br />
Für Volljährige<br />
können ihre Angehörigen<br />
k<strong>ein</strong>e<br />
rechtsverbindlichen<br />
Erklärungen abgeben.<br />
Kann also jemand<br />
s<strong>ein</strong>e Angelegenheiten<br />
nicht<br />
mehr selbst regeln und existiert k<strong>ein</strong>e<br />
Vollmacht, muss vom zuständigen<br />
Amtsgericht <strong>ein</strong> Betreuer für diese<br />
Aufgaben bestellt werden.<br />
Grundsätzlich ist die Vorsorgevollmacht<br />
an k<strong>ein</strong>e bestimmte Form gebunden.<br />
Aus Gründen der Klarheit<br />
und der Beweiskraft sollte die Vorsor-<br />
Bei der Abfassung<br />
<strong>ein</strong>er Vollmacht<br />
kann es<br />
sinnvoll s<strong>ein</strong>,<br />
den Rat <strong>ein</strong>es<br />
Rechtsanwaltes<br />
oder Notares<br />
<strong>ein</strong>zuholen.<br />
gevollmacht jedoch schriftlich gefasst<br />
werden. Sie können sich insoweit<br />
auch <strong>ein</strong>es geeigneten Vordruckmusters<br />
bedienen, wobei jedoch darauf<br />
hinzuweisen ist, dass die angebotenen<br />
Muster nicht auf die Besonderheiten<br />
des jeweiligen Einzelfalles <strong>ein</strong>gehen.<br />
Wichtig ist, dass Sie die schriftlich<br />
gefasste Vollmacht mit Ort, Datum<br />
und Ihrer vollständigen eigenhändigen<br />
Unterschrift versehen. Um<br />
Zweifeln an der Echtheit Ihrer Unterschrift<br />
zu begegnen, können Sie die<br />
Vorsorgevollmacht bei der zuständigen<br />
Betreuungsbehörde gegen Entrichtung<br />
<strong>ein</strong>er geringen Gebühr beglaubigen<br />
lassen.<br />
Fachkundigen Rat <strong>ein</strong>holen<br />
Bei der Abfassung <strong>ein</strong>er Vollmacht<br />
kann es auch sinnvoll s<strong>ein</strong>, den Rat<br />
<strong>ein</strong>es Rechtsanwaltes oder Notares<br />
<strong>ein</strong>zuholen. Dies ist besonders dann<br />
zu empfehlen, wenn<br />
Sie zum Beispiel<br />
über umfangreiches<br />
Vermögen verfügen<br />
oder mehrere Bevollmächtigte<strong>ein</strong>setzen<br />
wollen. Zu<br />
beachten ist weiterhin,<br />
dass manche<br />
Banken Vorsorgevollmachten<br />
nicht<br />
<strong>ohne</strong> Weiteres akzeptieren.<br />
Hier empfiehlt<br />
es sich, vorher<br />
mit der Bank entsprechendeRücksprache<br />
zu halten.<br />
Ebenfalls zu beachten<br />
ist, dass auch <strong>ein</strong>e erteilte Generalvollmacht,<br />
welche zur Vertretung<br />
in allen Angelegenheiten ermächtigt,<br />
verschiedene wichtige Bereiche, wie<br />
beispielsweise <strong>ein</strong>e Organspende und<br />
die Einwilligung zu lebensgefährlichen<br />
Operationen, nicht automatisch<br />
abdeckt.<br />
Mit der Vorsorgevollmacht wird festgelegt, wer die<br />
eigenen Angelegenheiten regelt, wenn man selbst<br />
dazu nicht mehr in der Lage ist. Foto: F. Koark/dpa<br />
Die notarielle Beurkundung ist<br />
dann notwendig, wenn Ihre Vollmacht<br />
auch zum Erwerb oder zur<br />
Veräußerung von Grundstücken oder<br />
zur Darlehensaufnahme berechtigen<br />
soll. Ferner ist <strong>ein</strong>e notarielle Beurkundung<br />
dann sinnvoll, wenn Sie <strong>ein</strong><br />
Handelsgewerbe betreiben oder Gesellschafter<br />
<strong>ein</strong>er Personen- oder Kapitalgesellschaft<br />
sind.<br />
Die Vorsorgevollmacht kann für<br />
verschiedene Aufgaben wie Vermögensangelegenheiten,<br />
persönliche Angelegenheiten,<br />
Vertretung vor Behörden,<br />
Aufenthalts- und Wohnungsangelegenheiten,<br />
Gesundheitssorge und<br />
Pflegebedürftigkeit erteilt werden.<br />
Insbesondere die Bereiche Gesundheitssorge<br />
und Pflegebedürftigkeit<br />
können in diesem Zusammenhang<br />
auch mit <strong>ein</strong>er Betreuungsverfügung<br />
beziehungsweise Patientenverfügung<br />
kombiniert werden.<br />
Zugänglicher Aufbewahrungsort<br />
Ihnen als Vollmachtgeber obliegt es, sicherzustellen,<br />
dass die Vollmacht dem<br />
von Ihnen Bevollmächtigten im Original<br />
vorliegt, wenn sie benötigt wird.<br />
Dazu ist es sinnvoll, die Vollmacht an<br />
<strong>ein</strong>em im Ernstfall leicht zugänglichen<br />
Ort zu verwahren oder aber die Vollmacht<br />
von vornher<strong>ein</strong> dem Bevollmächtigten<br />
mit der Maßgabe zu übergeben,<br />
von dieser nur im Ernstfall Gebrauch<br />
zu machen.<br />
Eine andere Möglichkeit ist, die Vorsorgevollmacht<br />
gegen Zahlung <strong>ein</strong>er<br />
Gebühr (15 bis 22 Euro) im Zentralen<br />
Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer<br />
registrieren zu lassen. Die dort registrierten<br />
Daten können durch das Betreuungsgericht<br />
im Bedarfsfall abgefragt<br />
werden. Dadurch kann verhindert<br />
werden, dass das Betreuungsgericht<br />
in Unkenntnis des Bestehens der<br />
Vorsorgevollmacht <strong>ein</strong>en Betreuer bestellt,<br />
der von Ihnen nicht gewünscht<br />
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Dies berichtete die WELTamSONNTAG<br />
im Februar 2008<br />
Quelle: Studie der unabhängigen Rating-Agentur<br />
»ServiceRating GmbH in Köln« vom Februar 2008
Seite 10 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
„ÖPNV für alle“<br />
Niederflurfahrzeuge, Rampen, barrierefreie<br />
Haltestellen: In Dresden sind die<br />
Projektpartner auf <strong>ein</strong>em guten Weg.<br />
Hinter welcher Tür des Gelenkbusses verbirgt<br />
sich die Rolli-Plattform? Wie fährt es sich über<br />
die Rampe in Bus oder Bahn? Wo steht der Rollstuhl<br />
im Fahrzeug sicher und platzsparend? Antworten<br />
auf diese und weitere Fragen erhalten<br />
Körperbehinderte beim kostenlosen Mobilitätstraining<br />
im Dresdner Nahverkehr. In <strong>ein</strong>em Betriebshof<br />
der Verkehrsbetriebe oder auf dem<br />
Hauptbahnhof können sie die Fahrzeuge erst in<br />
Augensch<strong>ein</strong> nehmen und sich die Details erläutern<br />
lassen, bevor es an praktische Ein- und Aussteigeübungen<br />
geht. Mit Bussen und Straßenbahnen<br />
wird danach <strong>ein</strong>e Testrunde durch die Stadt<br />
gedreht.<br />
Dieses dreistündige Training ist nur <strong>ein</strong> Baust<strong>ein</strong><br />
des Projektes „ÖPNV für alle“, das der Landesverband<br />
Selbsthilfe Körperbehinderter Sachsen e.V.<br />
(LSKS) mit Partnern aus Verkehrsverbünden und<br />
-unternehmen, kommunalen Verwaltungen und<br />
Selbsthilfever<strong>ein</strong>igungen realisiert. „Rollstuhlfahrer<br />
nutzen zunehmend Bus und Bahn“, sagt der<br />
LSKS-Vorsitzende Dr. Peter Münzberg. „Dabei<br />
möchten sie <strong>ein</strong>erseits auf k<strong>ein</strong>e unüberwindlichen<br />
<strong>Barrieren</strong> stoßen, andererseits aber auch<br />
nicht den Verkehrsablauf behindern.“<br />
Im Laufe der Zusammenarbeit, die mit den<br />
Dresdner Verkehrsbetrieben 1991 begann, konnte<br />
schon viel erreicht werden. „Abgesehen von <strong>ein</strong><br />
paar Verstärkern im Studentenverkehr rollen in<br />
Dresden nur noch Niederflurstraßenbahnen und<br />
-busse, die alle mit Rampen ausgestattet sind“,<br />
so Münzberg. „Auch <strong>ein</strong> Teil der Dieseltriebzüge<br />
auf regionalen Eisenbahnstrecken ist über Rampen<br />
erreichbar.“ Für Blinde existiert <strong>ein</strong> Handsender,<br />
der auf den Strecken der DVB Ansagen zu Linie,<br />
Richtung und Haltestellen sowie die Türöffnung<br />
anfordern kann.<br />
<strong>Der</strong> aktuelle Stand der Dinge lässt sich vom<br />
„DVB-Haltestellen-Atlas für Rollstuhlfahrer“ ablesen.<br />
Dieser spezielle Liniennetzplan zeigt an, wo<br />
das Ein- und Aussteigen mit Rolli barrierefrei, wo<br />
mit Rampe und wo überhaupt nicht möglich ist.<br />
Trotz aller Fortschritte gibt es im Stadtgebiet<br />
Dresden noch immer rund 35 nicht nutzbare Bushaltestellen.<br />
Gründe sind fehlende Borde oder zu<br />
schmale Gehwege, vielfach in Randlagen und in<br />
<strong>ein</strong>gem<strong>ein</strong>deten Ortschaften.<br />
Ebenso besteht bei der Straßenbahn Nachholbedarf:<br />
All<strong>ein</strong> im 26er Ring haben fünf Haltstellen,<br />
darunter die Bautzner-/Rothenburger Straße und<br />
Am Zwingerteich, k<strong>ein</strong>e ausreichend hohen Borde.<br />
Ärgerlich ist zudem der unzureichende Ausbau<br />
der Haltestelle am Olbrichtplatz: Schließlich<br />
soll das neue Militärhistorische Museum für alle<br />
Interessierten un<strong>ein</strong>geschränkt erreichbar s<strong>ein</strong>.<br />
-----------------------------------------------------------------------------<br />
3 Weitere Informationen:<br />
www.selbsthilfenetzwerk-sachsen.de<br />
Foto: LSKS<br />
Thorsten Gruner ist blind. Im öffentlichen<br />
Raum wird er von s<strong>ein</strong>em<br />
Führhund Rocky unterstützt.<br />
Mehrmals in der Woche fährt<br />
Thorsten Gruner von Roßw<strong>ein</strong><br />
nach Chemnitz. Mal ist<br />
er mit dem Zug unterwegs, mal mit<br />
dem Bus. Für den 46-Jährigen k<strong>ein</strong><br />
leichtes Unterfangen, denn Thorsten<br />
Gruner ist blind. „Nach Arbeitsunfall<br />
und schwerer Krankheit verlor ich<br />
2001 m<strong>ein</strong> Augenlicht“, erzählt er.<br />
„Von gut sehend bis blind dauerte es<br />
nur <strong>ein</strong> halbes Jahr. Danach hat sich<br />
m<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong> komplett verändert.“<br />
Doch den Kopf in den Sand steckt<br />
Thorsten Gruner nicht. Um sich außerhalb<br />
s<strong>ein</strong>er Wohnung besser zurechtzufinden,<br />
hat<br />
er seit zwei<strong>ein</strong>halb<br />
Jahren <strong>ein</strong>en treuen<br />
Begleiter an s<strong>ein</strong>er<br />
Seite: Blindenführhund<br />
Rocky. „Es<br />
hilft ja alles nichts,<br />
man muss das Beste<br />
aus der Situation<br />
machen. Und dazu<br />
gehört auch, sich<br />
sportlich zu betätigen.<br />
So trainiere ich<br />
aktiv beim CFC-Blindenfußball.“<br />
Zum Training fährt er am liebsten<br />
mit dem Bus. „Ganz ehrlich, mit dem<br />
Bus zu fahren ist <strong>ein</strong>facher als mit<br />
dem Zug. Meist steige ich vorn beim<br />
Fahrer <strong>ein</strong>, sage Bescheid, dass ich<br />
blind bin, wo ich hinmöchte und<br />
dass es unter Umständen beim Aussteigen<br />
etwas länger dauern könnte“,<br />
erzählt Thorsten Gruner. „In den Bussen<br />
der CVAG sind die Haltepunkt-<br />
Ansagen laut und deutlich, sodass ich<br />
weiß, wo ich aussteigen muss. Fahre<br />
ich mit dem Zug, sieht dies anders<br />
aus. Da es wenig Begleitpersonal in<br />
den Zügen gibt, weiß man als Blinder<br />
oder Sehbehinderter meist nicht, wo<br />
man sich gerade befindet. Nicht immer<br />
ist jemand da, den man fragen<br />
kann. Auch Rollstuhlfahrer haben<br />
hier Schwierigkeiten. Sie müssen jede<br />
Fahrt sogar vorher anmelden.“<br />
Alltägliche Herausforderungen<br />
Doch das sind nicht die <strong>ein</strong>zigen Probleme,<br />
die Thorsten Gruner zu bewältigen<br />
hat. „Über Ampeln zu gehen, ist<br />
manchmal auch <strong>ein</strong>e ganz schöne Herausforderung.<br />
Denn nicht überall<br />
existieren akustische Ampelsignale,<br />
oder es gibt sie tatsächlich und sie<br />
sind kaputt.“ Wünschen würde er<br />
sich darüber hinaus mehr Verständnis<br />
von s<strong>ein</strong>en Mitmenschen.<br />
„Beim<br />
Ein- und Aussteigen<br />
Über Ampeln<br />
zu gehen, ist<br />
manchmal <strong>ein</strong>e<br />
ganz schöneHerausforderung.<br />
braucht <strong>ein</strong> Blinder<br />
mehr Zeit als <strong>ein</strong> Sehender.<br />
Doch oft<br />
wird gedrängelt und<br />
geschubst. Viele habenBerührungsängste<br />
und wissen<br />
nicht, wie sie sich<br />
verhalten sollen,<br />
springen beispielsweise<br />
auf <strong>ein</strong>em<br />
Gehweg gleich zur<br />
Seite und denken, sie helfen dabei.“<br />
Dabei ist es gerade umgekehrt. Besser<br />
ist es, <strong>ein</strong>fach weiterzulaufen. Das<br />
Gehör <strong>ein</strong>es Blinden ist so geschult,<br />
dass er an Laufgeräuschen erkennt,<br />
wie nah jemand an ihm dran ist.<br />
So wie Thorsten Gruner geht es<br />
vielen Blinden, Sehbehinderten oder<br />
Menschen mit Handicap, die am öffentlichen<br />
<strong>Leben</strong> teilhaben wollen.<br />
Um diese Menschen zu unterstützen,<br />
In Chemnitz wurden barrierefreie<br />
Haltestellen <strong>ein</strong>gerichtet<br />
und Niederflurfahrzeuge angeschafft.<br />
Foto: Matthias Lippmann<br />
Das Beste aus<br />
der Situation machen<br />
wurden in Chemnitz unter anderem<br />
barrierefreie Haltestellen <strong>ein</strong>gerichtet<br />
und Niederflurfahrzeuge angeschafft.<br />
„Die Haltestellen der Chemnitzer Busse<br />
und Bahnen werden sowohl akustisch<br />
als auch optisch angegeben. In<br />
den Fahrgasträumen wird jede Haltestelle<br />
über <strong>ein</strong>e Sprecherstimme angesagt.<br />
Zusätzlich werden die aktuellen<br />
Haltestellen über <strong>ein</strong> Display angezeigt“,<br />
sagt Annerose Förster von<br />
der Chemnitzer Verkehrs-Aktiengesellschaft<br />
(CVAG).<br />
Die CVAG setzt rund 35 Straßenbahnen<br />
und 80 Omnibusse <strong>ein</strong>. Alle<br />
Busse sowie zwei Drittel der Bahnen<br />
sind Niederflurfahrzeuge, die mit besonders<br />
tiefliegenden Böden ausgestattet<br />
sind. Diese ermöglichen <strong>ein</strong>en<br />
komfortablen Ein- und Ausstieg <strong>ohne</strong><br />
weitere Stufen und erleichtern so die<br />
barrierefreie Nutzung vor allem für<br />
Fahrgäste mit behinderungs- oder altersbedingten<br />
Einschränkungen der<br />
Mobilität, mit Rollstühlen und mit<br />
Kinderwagen. Im Fahrplan der jeweiligen<br />
Straßenbahnlinie werden die<br />
Fahrten der Niederflurfahrzeuge extra<br />
ausgewiesen: Diese sind mit <strong>ein</strong>em<br />
„N“ gekennzeichnet. Zur Vorinformation<br />
kann der entsprechende Haltestellenplan<br />
aufgerufen werden. Nach<br />
Angabe der Linie, der Richtung und<br />
der Haltestelle zeigt das „N“ über der<br />
Zeit den Einsatz <strong>ein</strong>es Niederflurfahrzeuges<br />
an.<br />
Das Chemnitzer Verkehrsunternehmen<br />
offeriert den Fahrgästen entsprechend<br />
niederflurangepasste Borde<br />
und barrierefreie Haltestellen. Diese<br />
Haltestellen sind im interaktiven Linienfahrplan<br />
mit <strong>ein</strong>em Rollstuhl-Symbol<br />
gekennzeichnet. So ist es möglich,<br />
sich <strong>ein</strong>e geeignete Fahrzeit für Niederflurfahrzeuge<br />
samt barrierefreier<br />
Haltestellenauswahl zusammenzustellen.<br />
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Seite 12 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Wie die beiden Rollstuhlfahrer<br />
Annett H<strong>ein</strong>ich und Sören Haak<br />
den Weg zu<strong>ein</strong>ander fanden.<br />
Die 12 ist ihre Glückszahl. Sie<br />
lernten sich am 12.12.1998 bei<br />
<strong>ein</strong>em Konzert der DDR-Kultband<br />
„Keimzeit“ in Freiberg kennen,<br />
genau 12 Jahre später gaben sie sich das<br />
Ja-Wort. Wobei man mit dem Wörtchen<br />
„genau“ an dieser Stelle doch etwas<br />
vorsichtig s<strong>ein</strong> sollte, denn es war eben<br />
nicht der 12.12.2010, sondern der 11.12.<br />
„<strong>Der</strong> Grund war <strong>ein</strong>fach der, dass der<br />
12. Dezember 2010 auf <strong>ein</strong>en Sonntag<br />
fiel, und da wollte das Standesamt partout<br />
k<strong>ein</strong>e Trauung vornehmen“, lächelt<br />
die junge Frau. Nun, dem Glück der beiden<br />
hat die Abkehr von der 12 in diesem<br />
Fall nicht geschadet, wie viele liebevolle<br />
Augenblicke zwischen Annett<br />
H<strong>ein</strong>ich und Sören Haak beweisen.<br />
Etwas andere Wege gehen<br />
Allerdings erweist sich das mit dem gem<strong>ein</strong>samen<br />
<strong>Leben</strong> auch schon wieder<br />
als <strong>ein</strong>e Art Stolperfalle, denn streng genommen<br />
führen Annett H<strong>ein</strong>ich und Sören<br />
Haak <strong>ein</strong>e Wochenend-Ehe. Sie<br />
wohnt in Lichtenberg bei Freiberg, er in<br />
Dresden. So jedenfalls ist der Status<br />
quo. Ursache für diesen – von den beiden<br />
nicht unbedingt angestrebten – Zustand<br />
ist die berufliche Tätigkeit an unterschiedlichen<br />
Orten. Die 42-jährige<br />
Mitarbeiterin in der Finanzbuchhaltung<br />
der Diakonie Freiberg und der 37-jährige<br />
Sozialpädagoge beim Ambulanten<br />
Behindertenzentrum der Diakonie Dresden<br />
sind nämlich Rollstuhlfahrer. Und<br />
deshalb müssen sie in ihrem <strong>Leben</strong><br />
manchmal etwas andere, eventuell sogar<br />
weitere Wege gehen.<br />
Doch zurück zum Anfang, zur Keimzeit.<br />
Als Sören bei dem Konzert Annett<br />
sah, war er sofort Feuer und Flamme.<br />
Sie kamen ins Gespräch, und die beiden<br />
verabredeten <strong>ein</strong> Wiedersehen.<br />
Nicht ganz so schnell erwachten die Gefühle<br />
dagegen bei Annett. Sie fand Sö-<br />
Annett H<strong>ein</strong>ich und Sören Haak haben<br />
Ja gesagt und ihr gem<strong>ein</strong>sames Glück<br />
gefunden. Foto: privat<br />
Glück ist k<strong>ein</strong>e Frage<br />
von Behinderung<br />
ren zunächst zwar nett – mehr aber<br />
auch nicht. Erst als sie im Laufe der folgenden<br />
Monate merkte, dass der junge<br />
Mann es ehrlich mit ihr m<strong>ein</strong>te, öffnete<br />
sie ihr Herz.<br />
Sören Haak studierte damals noch in<br />
Dresden und bewohnte <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es,<br />
nicht barrierefreies Appartement, Annett<br />
H<strong>ein</strong>ich hatte sich <strong>ein</strong>e behindertengerechte<br />
Wohnung im Haus ihrer Eltern<br />
in Lichtenberg <strong>ein</strong>gerichtet. Wenn<br />
sie ihren Freund in der Elbmetropole<br />
besuchte, war dies in aller Regel mit<br />
Schwierigkeiten, wie beispielsweise<br />
dem mühevollen Überwinden von<br />
Treppen, verbunden. Obwohl ihnen<br />
Freunde und Bekannte tatkräftig zur<br />
Seite standen, erkannten die beiden<br />
schnell, dass dies k<strong>ein</strong>e Dauerlösung<br />
s<strong>ein</strong> konnte. Besser wurde es dann im<br />
Jahr 2000, als Sören Haak <strong>ein</strong>e barrierefreie<br />
Zweiraumwohnung in der Dresdner<br />
Neustadt fand.<br />
Städtereisen als Hobby<br />
Im vergangenen Jahr fasste sich Sören<br />
Haak schließlich <strong>ein</strong> Herz und machte<br />
Annett H<strong>ein</strong>ich <strong>ein</strong>en Heiratsantrag.<br />
Ganz traditionell. Und dieses Mal zögerte<br />
sie k<strong>ein</strong>e Sekunde, sondern sagte sofort<br />
Ja. „Es war <strong>ein</strong>fach an der Zeit“, bekennt<br />
sie ihre Gefühle. „Sören ist der<br />
Richtige für mich.“ Die Hochzeitsreise<br />
führte die beiden <strong>ein</strong>e Woche nach Barcelona,<br />
und das Reisen ist ihr großes<br />
Hobby geblieben. „Meist unternehmen<br />
wir Städtereisen“, sagt Sören Haak.<br />
„Das ist mit dem Rollstuhl <strong>ein</strong>facher zu<br />
bewältigen, als wenn wir den ländlichen<br />
Raum erkunden wollen.“<br />
Welchen Rat hat das Paar eigentlich<br />
für andere Menschen mit <strong>ein</strong>em Handicap,<br />
die ihr Pendant bisher noch nicht<br />
gefunden haben? „Bei der Partnersuche<br />
spielt das Selbstbewussts<strong>ein</strong> – wie auch<br />
sonst im <strong>Leben</strong> – <strong>ein</strong>e wichtige Rolle“,<br />
m<strong>ein</strong>t Annett H<strong>ein</strong>ich. „Mann beziehungsweise<br />
Frau sollte ruhig etwas mutig<br />
s<strong>ein</strong>, die Dinge positiv sehen und die vorhandenen<br />
Möglichkeiten nutzen. Glück<br />
ist schließlich k<strong>ein</strong>e Frage von Behinderung.“<br />
Thomas F. Mertens ...<br />
<strong>Der</strong> lange Schatten der DDR<br />
Manfred Appelt kämpft gegen <strong>ein</strong>e<br />
ärztliche Diagnose aus früheren<br />
Zeiten und für s<strong>ein</strong>e Rehabilitierung.<br />
Manfred Appelt ist seit 1997 auf<br />
den Rollstuhl angewiesen. S<strong>ein</strong>e<br />
B<strong>ein</strong>e sind dick mit Binden<br />
umwickelt. Er ist stark gehbehindert<br />
aufgrund <strong>ein</strong>er Erkrankung beider Kniegelenke<br />
und <strong>ein</strong>er Verkrümmung der<br />
Brustwirbelsäule. „Nach <strong>ein</strong>er Behandlung<br />
mit <strong>ein</strong>em Antibiotikum haben<br />
sich die Gelenkbeschwerden seit Frühjahr<br />
dieses Jahres noch weiter verschlimmert“,<br />
erzählt der 76-jährige<br />
Dresdner. S<strong>ein</strong> Alltag ist beschwerlich,<br />
manchmal hat er – so Appelt – dieses<br />
<strong>Leben</strong> satt. Auch weil er wenig Unterstützung<br />
in s<strong>ein</strong>er Situation erfahre. S<strong>ein</strong>e<br />
Frau helfe ihm, so gut sie könne,<br />
doch nach <strong>ein</strong>er Herz-OP sei sie selbst<br />
<strong>ein</strong>geschränkt.<br />
Appelt lebt von s<strong>ein</strong>er Erwerbsunfähigkeitsrente.<br />
Er wehrt sich seit Jahren<br />
gegen <strong>ein</strong>e ärztliche Diagnose aus DDR-<br />
Zeiten, der zufolge man ihn als psychisch<br />
krank <strong>ein</strong>gestuft hatte und die<br />
bis heute Bestand hat. Tatsächlich sei es<br />
jedoch um s<strong>ein</strong>e systemkritische Einstellung<br />
zu den damaligen politischen<br />
Verhältnissen gegangen, die er als sozial<br />
ungerecht empfand. Seit er als Invalide<br />
anerkannt ist, ringt Manfred Appelt<br />
um <strong>ein</strong>e finanzielle Entschädigung für<br />
die ihm in der DDR entstandenen beruflichen<br />
Nachteile und Einbußen. Zum<br />
Beweis legt er <strong>ein</strong>en dicken Aktenordner<br />
auf den Tisch, gefüllt mit Zeugnissen,<br />
Gutachten und Schreiben an Ämter,<br />
Krankenkassen und das sächsische<br />
Sozialministerium.<br />
Vergebliche Versuche<br />
„Aufgrund dieser Diagnose aus DDR-<br />
Zeiten war es mir auch nach der Wende<br />
nicht möglich, in m<strong>ein</strong>em erlernten<br />
Beruf als Maschinenbauingenieur zu arbeiten,<br />
und Fördermaßnahmen wurden<br />
mir konsequent verweigert“, sagt Manfred<br />
Appelt. „Stattdessen wurde m<strong>ein</strong>e<br />
Erwerbsunfähigkeitsrente in <strong>ein</strong>e Be-<br />
Manfred Appelt<br />
legt <strong>ein</strong>en<br />
dicken Aktenordner<br />
auf den<br />
Tisch, gefüllt<br />
mit Zeugnissen,<br />
Gutachten<br />
und Schreiben.<br />
Foto: Lilli Vostry<br />
rufsunfähigkeitsrente umgewandelt.“<br />
Zwar bemühte er sich um die Teilnahme<br />
an <strong>ein</strong>em Computerlehrgang, um<br />
auf dem Laufenden zu bleiben und weiter<br />
als Ingenieur arbeiten zu können,<br />
doch all s<strong>ein</strong>e Versuche, ins Erwerbsleben<br />
zurückzukehren, schlugen fehl.<br />
Ursprünglich hatte Appelt den Beruf<br />
<strong>ein</strong>es Mechanikers im damaligen volkseigenen<br />
Transformatoren- und Röntgenwerk<br />
Dresden erlernt, das ihn auch<br />
zum Studium delegierte. So absolvierte<br />
er von 1969 bis 1974 <strong>ein</strong> Abendstudium<br />
an der Ingenieurschule für Maschinenbau<br />
in Bautzen und schloss alle erforderlichen<br />
Prüfungen erfolgreich ab. Wie<br />
aus heiterem Himmel traf ihn dann der<br />
Hammer: Er durfte s<strong>ein</strong>e Abschlussarbeit<br />
nicht mehr <strong>ein</strong>reichen, galt als politisch<br />
unzuverlässig. Entsprechend hatte<br />
das Transformatoren- und Röntgenwerk<br />
s<strong>ein</strong>e Delegierung an die Ingenieurschule<br />
aufgehoben.<br />
Prüfung nachgeholt<br />
In der Folge arbeitete Appelt mehrere<br />
Jahre als Hilfsarbeiter in <strong>ein</strong>em Ziegeleiwerk,<br />
wo nach s<strong>ein</strong>en Angaben s<strong>ein</strong>e<br />
gesundheitlichen Probleme begannen.<br />
Nach der Schließung der Ziegelei war er<br />
in <strong>ein</strong>em Rehabilitationszentrum für Berufsbildung<br />
in Dresden, in dem behinderte<br />
Jugendliche ausgebildet wurden,<br />
als Leiter der Werkzeugausgabe tätig.<br />
Nicht <strong>ohne</strong> Stolz berichtet Manfred<br />
Appelt, dass er s<strong>ein</strong>e Prüfung zum Maschinenbauingenieur<br />
noch nachträglich,<br />
nämlich im September 1990, an der Ingenieurschule<br />
in Bautzen erfolgreich ablegen<br />
konnte. Und er zeigt die Urkunde,<br />
die besch<strong>ein</strong>igt, dass er mindestens <strong>ein</strong>e<br />
dreijährige <strong>ein</strong>schlägige Berufstätigkeit<br />
ausgeübt hat. S<strong>ein</strong>e Nachdiplomierung<br />
wurde vom Sächsischen Staatsministerium<br />
für Wissenschaft und Kunst<br />
anerkannt. Doch s<strong>ein</strong>e damit verbundene<br />
Hoffnung, Eingliederungshilfen zu<br />
erhalten, um wieder erwerbstätig s<strong>ein</strong><br />
zu können, erfüllte sich nicht. Nach all<br />
den jahrelangen Querelen hofft Manfred<br />
Appelt nun auf Gehör bei der sächsischen<br />
Sozialministerin und auf s<strong>ein</strong>e<br />
Rehabilitierung. Lilli Vostry ...
Rollende Löwen auf Korbjagd<br />
Seit 2003 nehmen die Rollstuhl-<br />
Basketballer der Sportgem<strong>ein</strong>schaft<br />
Versehrte Dresden e.V. am regelmäßigen<br />
Spielbetrieb teil.<br />
Die Pässe kommen schnell und präzise,<br />
Korbwürfe werden wieder<br />
und wieder geübt. Jeder Spielzug<br />
wird so lange <strong>ein</strong>studiert, bis er „in<br />
Fleisch und Blut“ übergegangen ist. Das<br />
Liga-Team um Spielertrainer Christoph<br />
Merten und Kapitän Jörg Kuka – bestehend<br />
aus sechs Löwen und zwei Löwinnen – ist<br />
<strong>ein</strong>e verschworene Gem<strong>ein</strong>schaft, die sich<br />
den sportlichen Erfolg auf ihre Fahne geschrieben<br />
hat. Intensives systematisches<br />
Training zweimal pro Woche bildet die<br />
Grundlage. Und obwohl man bei den Rolling<br />
Lions k<strong>ein</strong> spektakuläres Dunking zu<br />
sehen bekommt, lohnt sich <strong>ein</strong> Match-Besuch<br />
allemal, denn Dynamik, Können,<br />
Spielwitz und Spannung sind garantiert.<br />
Schon seit den frühen 70er Jahren wird<br />
in Dresden Rollstuhl-Basketball gespielt.<br />
Was s<strong>ein</strong>erzeit mit wenigen Interessierten<br />
begann, wuchs schnell zu <strong>ein</strong>er beachtlichen<br />
Sektion innerhalb der SG Versehrte<br />
Dresden e.V. heran. Ab und zu nahmen<br />
die Basketballer auch an Turnieren teil,<br />
sodass sich im Laufe der Zeit der Wunsch<br />
entwickelte, die Kräfte regelmäßig mit anderen<br />
Mannschaften zu messen und <strong>ein</strong>es<br />
In der Regionalliga Ost spielen die Rolling Lions gegen<br />
Spitzenteams aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt,<br />
Thüringen und Sachsen. Foto: Rolling Lions<br />
Tages in <strong>ein</strong>er Rollstuhl-Basketball-Liga<br />
mitzuspielen. Dazu war allerdings <strong>ein</strong> leistungsorientiertes<br />
Training erforderlich.<br />
1998 fand die Basketball-Gruppe mit der<br />
Bavaria-Klinik Kreischa <strong>ein</strong>en kompetenten<br />
und zuverlässigen Partner – von da an<br />
konnte man in deren Sporthalle mit dem<br />
intensiven Training beginnen. Einer der<br />
Therapeuten der Klinik, Christoph Merten,<br />
übernahm die sportliche Leitung – <strong>ein</strong>e<br />
Funktion, die er bis zum heutigen Tag engagiert<br />
und voll Freude ausübt. Sukzessive<br />
kamen weitere Leute hinzu, die bereit<br />
Mehr als nur <strong>ein</strong> Hobby<br />
Die Rollstuhl-Basketballer<br />
RBB Niners Chemnitz setzen<br />
vor allem auf Integration.<br />
Bei uns spielen auch Fußgänger<br />
mit.“ Mike Reichardt<br />
sitzt im Rollstuhl.<br />
Doch er lächelt richtig übermütig,<br />
wenn er das mit dem Fußgängern<br />
erzählt. Denn der Trainer<br />
des Rollstuhlbasketballer RBB<br />
Team Niners Chemnitz weiß,<br />
dass er damit für <strong>ein</strong>e Überraschung<br />
sorgt. „Als wir im Sommer<br />
im Freien trainiert haben,<br />
fanden sich oft Zuschauer, denn<br />
Rollstuhl-Basketball in Chemnitz<br />
gibt es erst kurze Zeit.“ Wenn<br />
dann beim Spiel <strong>ein</strong>er der Rollstühle<br />
umfiel, der Sportler sich<br />
abschnallte und all<strong>ein</strong> wieder<br />
aufstand, schauten die Zaungäste<br />
meist vollkommen perplex zu.<br />
„Wir setzen auf Integration“,<br />
erläutert der 43-Jährige, der<br />
selbst vor 25 Jahren durch <strong>ein</strong>en<br />
schweren Motorradunfall in den<br />
Rollstuhl kam. „Deshalb können<br />
in der Mannschaft auch Leute<br />
mitspielen, die noch gut zu Fuß<br />
sind.“ Zumeist seien das ehema-<br />
lige Sportler, deren Gelenke nicht<br />
mehr so recht wollten und die<br />
sich deshalb für Rollstuhl-Basketball<br />
entschieden haben. Sie erhalten<br />
<strong>ein</strong>en Sport-Rollstuhl und<br />
gehen damit gleichberechtigt mit<br />
den echten Rollstuhlfahrern aufs<br />
Spielfeld. Das sorgt für zunehmendes<br />
Selbstbewussts<strong>ein</strong> auf<br />
beiden Seiten und zugleich für <strong>ein</strong>e<br />
ungezwungene Kommunikation<br />
zwischen Fußgängern und behinderten<br />
Sportlern.<br />
Wer mit <strong>ein</strong>er Behinderung geboren<br />
wird, hat meist viele Kontakte<br />
mit Mädchen und Jungen<br />
mit <strong>ein</strong>em ähnlichen Schicksal.<br />
Auf dem Spielfeld sind Behinderte<br />
und Nichtbehinderte dann jedoch<br />
plötzlich <strong>ein</strong> Team, das sich<br />
den Ball <strong>ohne</strong> Vorbehalte zupasst<br />
und gem<strong>ein</strong>sam kämpft. „Damit<br />
haben wir schon so manchen<br />
von der Couch oder vom Computer<br />
weggeholt“, freut sich der<br />
Trainer. Er selbst hatte den Basketballsport<br />
auf Anraten <strong>ein</strong>es<br />
Bekannten für sich entdeckt und<br />
zunächst in Zwickau und Dresden<br />
gespielt.<br />
„Im Sommer 2010 erhielt ich<br />
den Hinweis, dass in Chemnitz<br />
<strong>ein</strong>e Rollstuhl-Basketballmann-<br />
Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong> <strong>LEBENswert</strong><br />
waren, regelmäßig <strong>ein</strong>ige ihrer freien Wochenenden<br />
dem Sport zu widmen.<br />
2003 fiel dann der Startschuss. Die<br />
Mannschaft, die sich inzwischen den Namen<br />
Rolling Lions (Rollende Löwen) gegeben<br />
hatte, nahm den Punktspiel-Betrieb in<br />
der Landesliga Nordost auf. Und das<br />
schier Unfassbare wurde wahr: Am Ende<br />
der Saison 2003/2004 belegten die Rolling<br />
Lions den ersten Platz in der Landesliga<br />
Nordost und konnten damit nach nur <strong>ein</strong>er<br />
<strong>ein</strong>zigen Spielzeit in die Oberliga Nord<br />
aufsteigen. 2008 erfolgte <strong>ein</strong>e Neu<strong>ein</strong>tei-<br />
Übung macht den Meister – dieses Prinzip gilt auch für die Rollstuhl-<br />
Basketballer des Teams RBB Niners Chemnitz. Foto: Peter Zschage<br />
Seite 13<br />
lung der Ligen, und die Rolling Lions<br />
wechselten in die Regionalliga Ost, in der<br />
die Spitzenteams aus Berlin, Brandenburg,<br />
Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen<br />
auf<strong>ein</strong>andertreffen. In der laufenden Saison<br />
belegt die Mannschaft aktuell den zweiten<br />
Tabellenplatz. Manuela Putzke ...<br />
-----------------------------------------------------------------<br />
3 Trainingszeiten Ligabetrieb<br />
montags, 17.00-19.00 Uhr<br />
donnerstags, 17.30-20.00 Uhr<br />
3 Weitere Infos:<br />
www.rolling-lions.de<br />
schaft aufgebaut werden soll“,<br />
erinnert er sich. Die Behindertenbeauftragte<br />
der Stadt teilte ihm<br />
am Telefon mit, dass noch <strong>ein</strong><br />
Trainer gesucht werde – und so<br />
konnte es sofort losgehen: Im<br />
August 2010 wurde bei der BV<br />
Chemnitz 99 e.V. die Sektion<br />
Rollstuhl-Basketball ins <strong>Leben</strong> gerufen<br />
– das Team RBB Niners<br />
Chemnitz. Heute gehören der<br />
Mannschaft bereits mehr als 30<br />
Leute im Alter von 18 bis 60 an.<br />
Sie kommen aus verschiedenen<br />
Berufsgruppen, das Spektrum<br />
reicht von Studenten über<br />
Schlosser und Vertriebsmitarbeiter<br />
bis hin zu Physiotherapeuten.<br />
Die Sportler trainieren jeden<br />
Montagabend in der Halle des<br />
Sportgymnasiums am Chemnitzer<br />
Sportforum. Die Halle musste<br />
nicht extra umgebaut werden,<br />
denn der Korb hängt mit 3,05<br />
Metern genauso hoch wie bei<br />
den „normalen“ Basketballern.<br />
Das Training beginnt mit Aufwärmen<br />
und Stretchen, nur das<br />
Aufheben des Balles erfordert <strong>ein</strong>e<br />
etwas andere Übung: Er wird<br />
elegant mit <strong>ein</strong>er Drehung des<br />
Rollstuhlrades nach oben befördert.<br />
Brigitte Pfüller ...
Seite 14 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
Tanzen ist <strong>ein</strong><br />
Stück <strong>Leben</strong>squalität<br />
Höhepunkt in diesem Jahr war das<br />
Ablegen des Tanzleistungsabzeichens<br />
im Rollstuhltanz in<br />
Bronze und Silber.<br />
Freitag ist <strong>ein</strong> besonderer Tag.<br />
Wenn der „Cotton Eye Joe“ sich<br />
mit Händeklatschen mischt, ist es<br />
Zeit fürs Tanzen. „Du musst aufpassen,<br />
dass der Kreis immer die gleiche Größe<br />
hat“, gibt Robert Stanglewski <strong>ein</strong>en<br />
wichtigen Hinweis. Manuela Henker ist<br />
motiviert: „Gleich haben wir’s.“ Und in<br />
der Tat, sie haben es. Eine perfekte<br />
Tanzrunde, passgenaue Drehungen und<br />
<strong>ein</strong> exakter Rhythmus – aufs Parkett gebracht<br />
von der <strong>ein</strong>zigen Rollstuhltanzgruppe<br />
Sachsens.<br />
Vor zehn Jahren wurde die Gruppe<br />
als vierte Abteilung des TC Tanzclubs<br />
Saxonia ins <strong>Leben</strong> gerufen. „Als Ende<br />
2009 die Trainer um <strong>ein</strong>e Auszeit baten,<br />
stand die Gruppe plötzlich <strong>ohne</strong><br />
Übungsleiter da“, blickt Sylvia Zeißig<br />
zurück, die zur Lösung des Problems<br />
zusammen mit dem Klubvorsitzenden<br />
Karl-H<strong>ein</strong>z Richter kurzerhand <strong>ein</strong>e Ausbildung<br />
im Rehabilitationsbereich absolvierte.<br />
„Dabei haben wir den Umgang<br />
mit dem Rollstuhl von Grund auf<br />
gelernt“, erzählt Sylvia Zeißig, die stolz<br />
auf den harten Kern der Gruppe ist.<br />
Das richtige Gefühl<br />
Dazu zählen darf sich auf jeden Fall die<br />
sympathische Manuela Henker, die ihren<br />
Tanzpartnern wertvolle Tipps gibt<br />
und <strong>ein</strong> besonderes Gefühl für die langsamen<br />
und gleichfalls so wendigen Bewegungen<br />
besitzt. Den „Cotton Eye Joe“<br />
beispielsweise müssen die Tänzer jederzeit<br />
präsent haben. Zuletzt stand <strong>ein</strong><br />
Auftritt beim Dresdner Behindertensporttag<br />
auf dem Programm – <strong>ein</strong> Event,<br />
dem auch der 50-jährige Thomas Klaholz<br />
und s<strong>ein</strong>e Frau Ramona (35) lange<br />
entgegengefiebert haben.<br />
Das Ehepaar gehört zu den neuesten<br />
Mitgliedern der Gruppe, die aus sechs<br />
It’s Showtime: Die Freude an der Bewegung<br />
und der Spaß stehen bei den Rollstuhltänzern<br />
im Mittelpunkt. Foto: Karl-H<strong>ein</strong>z Richter<br />
Rollstuhlfahrern sowie <strong>ein</strong>igen Fußgängern<br />
besteht. „Ich muss zunächst <strong>ein</strong>mal<br />
das richtige Gefühl für die Geschwindigkeit<br />
und die Drehungen bekommen“,<br />
sagt Thomas Klaholz. „Jeder<br />
Rollstuhl hat irgendwie s<strong>ein</strong>e Eigenarten.“<br />
Und Sylvia Zeißig weist auf <strong>ein</strong>en<br />
weiteren Aspekt hin: „<strong>Der</strong> Spaß steht<br />
bei uns <strong>ein</strong>deutig im Vordergrund. Wir<br />
sind stolz auf unsere Erfolge. Abgenutzte<br />
Reifen sind k<strong>ein</strong> Hindernis, und<br />
blaue Füße bei den Tanzpartnern gibt<br />
es nur selten.“ Dafür aber werden viele<br />
verschiedene Muskeln trainiert.<br />
Klassisch und modern<br />
Getanzt wird im Übrigen nach allem:<br />
Europäische Standardklänge gehören<br />
ebenso dazu wie lat<strong>ein</strong>amerikanische<br />
Rhythmen, Disco-Fox, Square-Dance<br />
und vier speziell choreografierte Showtänze.<br />
Erst kürzlich konnte die Gruppe<br />
das Tanzleistungsabzeichen im Rollstuhltanz<br />
in Bronze ablegen, <strong>ein</strong>ige Paare<br />
konnten sogar die Auszeichnung in<br />
Silber entgegennehmen. Tanzen ist <strong>ein</strong><br />
wichtiges Stück <strong>Leben</strong>squalität.<br />
Auch für die 54-jährige Irena Aurich,<br />
die an Multipler Sklerose leidet und nur<br />
noch kurze Strecken zu Fuß zurücklegen<br />
kann. „Tanzen war schon immer<br />
m<strong>ein</strong>e Leidenschaft. Hier kann ich sie<br />
jetzt weiterführen“, sagt die Dresdnerin,<br />
die 2003 auch Ivonne Stange durch den<br />
Rollstuhltanz kennenlernte. Die 37-Jährige<br />
ließ sich bei <strong>ein</strong>em Auftritt der Gruppe<br />
in der Rehaklinik Kreischa inspirieren.<br />
„Ich war früher <strong>ein</strong> sportlicher Muffel“,<br />
sagt sie. Heute bringt sie gem<strong>ein</strong>sam<br />
mit Robert Stanglewski im Rolli sogar<br />
<strong>ein</strong>en Wiener Walzer aufs Parkett.<br />
<strong>Der</strong> Dynamo-Fan Robert Stanglewski<br />
prägt die Gruppe seit vielen Jahren gem<strong>ein</strong>sam<br />
mit <strong>Leben</strong>sgefährtin und Fußgängerin<br />
Monika Hardtmann. „Wir haben<br />
<strong>ein</strong>en Sport gesucht, den wir trotz<br />
s<strong>ein</strong>es Handicaps zusammen ausführen<br />
können. Mit dem Rollstuhltanz haben<br />
wir ihn gefunden“, sagt die Tänzerin,<br />
die sich ganz klassisch von ihrem Mann<br />
führen lässt. Eva Wagner ...<br />
Ein Herz für den Sport<br />
und das Ehrenamt<br />
Friedrich Reichel engagiert sich für<br />
die Gleichstellung von Behinderten<br />
und pflegt <strong>ein</strong> besonderes Hobby:<br />
Er fährt Abfahrtslauf.<br />
Friedrich Reichel ist <strong>ein</strong> bedächtiger<br />
Mann. Er erzählt genauso<br />
gern, wie er zuhört. Er hinterfragt<br />
und lobt. Und er kritisiert. Seit 32 Jahren<br />
sitzt der gebürtige Rochsburger im<br />
Rollstuhl. Damals ereignete sich der Unfall,<br />
an <strong>ein</strong>em Donnerstag, als er bei s<strong>ein</strong>er<br />
wöchentlichen Klettertour mit zwei<br />
Seilgefährten die Gegend um den Rauenst<strong>ein</strong><br />
erkunden wollte und vor der<br />
ersten Sicherung vom Felsen rutschte.<br />
„Insgesamt passiert beim Kegeln mehr<br />
als beim Bergsteigen“, sagt Reichel<br />
nüchtern. Fürs Zweifeln war und ist er<br />
nicht gemacht. Auch nicht, als der Elektroinstallateur<br />
mit 35 Jahren als „zu alt<br />
für die berufliche Rehabilitation“ <strong>ein</strong>gestuft<br />
wurde. Er widmet s<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong> nun<br />
dem Sport.<br />
„S<strong>ein</strong>e Beweglichkeit zu erhalten, bedeutet,<br />
auch <strong>ein</strong> Stück Unabhängigkeit<br />
mit ins <strong>Leben</strong> zu übernehmen“, hat er<br />
im Laufe der Zeit gelernt. Reichels Tochter,<br />
die zum Zeitpunkt des Unfalls gerade<br />
<strong>ein</strong>mal vier Jahre alt war, begleitete<br />
ihren Vater oft zu den Trainings<strong>ein</strong>heiten.<br />
Egal, ob im Basketball, beim<br />
Schwimmen, in der Leichtathletik oder<br />
beim Bogenschießen – Friedrich Reichel<br />
feierte zahlreiche Erfolge in der DDR<br />
und motivierte mit s<strong>ein</strong>er positiven Einstellung<br />
andere Körperbehinderte.<br />
„Angst kannte und kenne ich nicht“,<br />
sagt der heute 67-Jährige.<br />
Wichtiger Ansprechpartner<br />
S<strong>ein</strong> Engagement und s<strong>ein</strong> vielschichtiges<br />
Wissen ließen ihn über die Jahre zu<br />
<strong>ein</strong>er wichtigen Ansprechperson werden.<br />
<strong>Der</strong> Dresdner weiß, dass Kommunikation<br />
in gewissen Situationen kräftezehrend<br />
s<strong>ein</strong> kann. Dennoch ist er in<br />
Alpine Skipisten dienen Friedrich Reichel<br />
(Bildmitte, mit Bart) seit vielen Jahren als<br />
sportliches Betätigungsfeld. Foto: privat<br />
Sachen Ehrenamt täglich unterwegs.<br />
Als Mitglied des Behindertenbeirats der<br />
Landeshauptstadt Dresden kümmert<br />
sich Reichel vor allem um bauliche Veränderungen.<br />
Um sich für die Belange sozial benachteiligter<br />
Personen <strong>ein</strong>zusetzen, engagiert<br />
er sich darüber hinaus seit vielen<br />
Jahren im Landesvorstand des Sozialverbandes<br />
<strong>VdK</strong>. „Gleichstellung und<br />
die Sicherung <strong>ein</strong>es selbstbestimmten<br />
Das<strong>ein</strong>s spielen <strong>ein</strong>e große Rolle.“<br />
Manchmal wird es aber selbst dem<br />
sch<strong>ein</strong>bar Unermüdlichen zu viel. „Die<br />
Arbeit ist manchmal uferlos“, sagt Reichel.<br />
Dann hilft dem Rentner der Gedanke<br />
an <strong>ein</strong>en Sport, der ihn geprägt<br />
hat. „Ich fahre Ski – und zwar alpin.“<br />
Ein Stück mehr Freiheit<br />
Vor vielen Jahren brachte <strong>ein</strong> Dresdner<br />
Arzt Friedrich Reichel dazu, <strong>ein</strong>en Monoski<br />
zu versuchen – als DDR-<br />
Bürger in der damaligen Bundesrepublik.<br />
Später baute Reichel den Monoski<br />
mit der typischen Sitzschale und<br />
den kurzen Krücken mit abgesägten<br />
Skispitzen mit <strong>ein</strong>em Freund nach. „Natürlich<br />
wurden wir schief angeschaut.<br />
Die meisten Leute denken, <strong>ein</strong> Behinderter<br />
gehört im Winter ins Bett und<br />
nicht auf den Skihang.“ Bei internationalen<br />
Meisterschaften feierte Reichel<br />
zudem etliche Erfolge.<br />
Parallel organisierte er im Erzgebirge<br />
Kurse für den Breitensport und brachte<br />
auch s<strong>ein</strong>e Ehefrau zum Skifahren. Heute<br />
macht er sich zweimal im Jahr auf<br />
ins österreichische Saalfelden, um sich<br />
dort im Sommer beim Zehnkampf und<br />
im Winter beim alpinen Skicup mit anderen<br />
Behindertensportlern der Region<br />
und des BSV Pinzgau, dessen Ver<strong>ein</strong>smitglieder<br />
die Reichels sind, aktiv<br />
sportlich zu betätigen. „Durch das Skifahren<br />
ist der Winter für mich k<strong>ein</strong> Problem.<br />
Es gibt mir wieder <strong>ein</strong> Stück<br />
mehr Freiheit“, sagt Reichel glücklich.<br />
Eva Wagner ...
Leserbriefe<br />
Viele Probleme im Winter<br />
Ich bin nach <strong>ein</strong>em Schlaganfall halbseitig<br />
gelähmt. Viele Nichtbehinderte machen<br />
sich k<strong>ein</strong>e Gedanken, was diese Behinderung<br />
wirklich bedeutet und stellen sich<br />
mit ihrem Auto auf Behindertenparkplätze.<br />
Das ärgert mich. Besonders wenn Schnee<br />
liegt, fällt es mir schwer, die Schneehaufen<br />
am Parkplatzrand zu überwinden. Wenn<br />
Geschäfte darauf achten würden, auf Parkplätzen<br />
<strong>ein</strong>en Durchgang für Behinderte<br />
freizuschaufeln, wäre das toll.<br />
Angelika Berg, Pesterwitz ...<br />
Behinderte werden behindert<br />
Wir versuchen, als Rollstuhlfahrer <strong>ein</strong><br />
„normales“ <strong>Leben</strong> zu führen. Außerhalb<br />
von Deutschland, zum Beispiel in den<br />
skandinavischen Ländern, funktioniert das<br />
auch bestens. Nur in Deutschland ist man<br />
nicht nur behindert, sondern man wird<br />
auch behindert. Wir waren schon oft in<br />
Skandinavien in Urlaub. Dort werden Behinderte<br />
ganz anders wahrgenommen.<br />
Und es wird viel für sie getan. Das beginnt<br />
beim Fußwegbelag und reicht über die Zugänge<br />
zu Geschäften bis hin zu öffentlichen<br />
Toiletten für Rollifahrer. Wenn man<br />
durch Deutschland reist, fällt auf, dass es<br />
kaum Lokale für Rollifahrer gibt, in<br />
denen man auch <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong> WC nutzen<br />
kann. Und von großen Kaufhäusern<br />
<strong>ein</strong>mal abgesehen, gibt es<br />
kaum barrierefrei betretbare<br />
Geschäfte.<br />
A. Stiebitz-Rosa, Monheim ...<br />
Kopfst<strong>ein</strong>pflaster ist Hindernis<br />
Ich benutze noch k<strong>ein</strong>en Rollstuhl, für<br />
Ausstellungen und Museen ist der Rollator<br />
sehr gut geeignet. Ich kann beim Betrachten<br />
der Exponate sitzen und genießen. Die<br />
Räder des „Senioren-Porsches“ sind sehr<br />
kl<strong>ein</strong>. Auf dem glatten Fußboden im Museum<br />
lässt sich damit gut rollen. Doch<br />
man muss erst <strong>ein</strong>mal dahin gelangen.<br />
Zum Kupferstichkabinett führt <strong>ein</strong> Aufzug.<br />
Aber draußen? Auf dem gepflasterten<br />
Theaterplatz wird man durchgerüttelt. Ich<br />
kann mich nicht auf den Rollator stützen.<br />
Noch schlimmer ist das „wunderschöne“<br />
historische Kopfst<strong>ein</strong>pflaster. Da möchte<br />
man den Rollator am liebsten tragen.<br />
Doch wozu ist das Pflaster gedacht? Wer<br />
soll wem helfen? Leider sind alle „schönen“<br />
Altstädte für Rollatorbenutzer tabu.<br />
Helga Lorenz, Dresden ...<br />
Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong> <strong>LEBENswert</strong><br />
Ausgegrenzt auf <strong>ein</strong>er Insel<br />
Ich lebe in Seifersdorf im Landkreis Bautzen<br />
– und ich fühle mich irgendwie wie<br />
auf <strong>ein</strong>er Insel oder ausgegrenzt. Vor zwei<br />
Jahren wurde die Straße vor unserem<br />
Haus neu ausgebaut. Ich habe seither<br />
gleich gegenüber <strong>ein</strong>e barrierefreie Bushaltestelle.<br />
An Sonn- und Feiertagen fährt der<br />
Bus allerdings nicht, und in den Schulferien<br />
nur <strong>ein</strong>geschränkt. Auch ist der Bus<br />
nicht behindertengerecht: Da <strong>ein</strong>e Rampe<br />
fehlt, kann ich ihn nicht nutzen. Wenn ich<br />
mal nach Dresden will, muss ich circa<br />
8 km mit m<strong>ein</strong>en E-Mobil nach Radeberg<br />
oder Langebrück rollern, um die S-Bahn<br />
nutzen zu können, die ich vorher anmelden<br />
muss. Und die Straßenbahn erreiche<br />
ich erst nach 11 km in Weixdorf.<br />
Guntram Voigt, Seifersdorf ...<br />
Seite 15<br />
Foto: MEV<br />
Das Normale<br />
soll normal s<strong>ein</strong><br />
Ich bin gehörlos und habe folgende Tipps<br />
an m<strong>ein</strong>e Mitmenschen: Bitte nehmt Rücksicht<br />
auf die Besonderheit von behinderten<br />
Menschen. Dennoch solltet ihr versuchen,<br />
sie wie normale Menschen zu behandeln.<br />
Ich persönlich mag es nicht sehr,<br />
wenn man sehr viel Rücksicht auf m<strong>ein</strong>e<br />
Taubheit nimmt. M<strong>ein</strong>e Tipps an behinderte<br />
Menschen: Versucht nicht, eure Besonderheit<br />
herunterzuspielen, und besteht<br />
auf euren Rechten, wie sie zum Beispiel in<br />
der UN-Behindertenrechtkonvention niedergelegt<br />
sind.<br />
Sebastian Hilbert, Dresden ...
Seite 16 <strong>LEBENswert</strong> Ein <strong>Leben</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Barrieren</strong><br />
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