November 2010 (PDF) - an.schläge
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thema: gender medizin<br />
4 Wimmer-Puchinger, Beate<br />
et al.: „Was Frauen gut tut:<br />
Frauenpolitische Praxis,<br />
Frauengesundheitsforschung,<br />
Feministische Theorie”, in:<br />
Gerlinde Mauerer (Hg.in):<br />
Frauengesundheit in Theorie<br />
und Praxis: Feministische<br />
Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften.<br />
tr<strong>an</strong>script <strong>2010</strong>.<br />
5 Fishm<strong>an</strong>, Jennifer, Wick,<br />
J<strong>an</strong>is, Koenig, Barbara: „The<br />
use of ,sex’ <strong>an</strong>d ,gender’<br />
to define <strong>an</strong>d characterize<br />
me<strong>an</strong>ingful differences<br />
between men <strong>an</strong>d women”,<br />
in: Agenda for Research<br />
on Women's Health for the<br />
21st Century: A Report of<br />
the Task Force on the NIH<br />
Women's Health Research<br />
Agenda for the 21st Century,<br />
2, 1999.<br />
18 l <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> <strong>November</strong> <strong>2010</strong><br />
Expert_innen kritisieren. Der Fokus liege<br />
häufig auf biologischen Unterschieden,<br />
nicht jedoch auf sozialen oder strukturellen<br />
Bedingungen, wie es der Begriff<br />
Gender nahelegen würde. „Wo Gender<br />
draufsteht, ist sehr oft Gender nicht drinnen,<br />
sondern zwar auch wichtige und gut<br />
gemachte, aber streng naturwissenschaftlich<br />
biologisch-medizinische Forschung”,<br />
sagt die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte<br />
Beate Wimmer-Puchinger. 4 „Das<br />
was Gender Medicine aber meint, ist<br />
eine Analyse der Ergebnisse hinsichtlich<br />
der unterschiedlichen soziologischen Rollenmuster<br />
beziehungsweise der Gender-<br />
Gerechtigkeit.” Oft wird es auch als<br />
Die Gender Medizin schöpft ihr<br />
eigentliches Potenzial nicht aus. Denn<br />
der Geschlechterdualismus, der in einer<br />
hierarchisierenden Geschlechterordnung<br />
gipfelt, wird von der Gender Medizin meist<br />
nicht <strong>an</strong>gezweifelt.<br />
Von Frau zu Gender<br />
Ohne Frauengesundheitsbewegung gäbe es heute keine<br />
Gender Medizin. Bettina Enzenhofer hat sich die Anfänge<br />
dieser Entwicklung <strong>an</strong>gesehen.<br />
Die Zweite Frauenbewegung revoltierte gegen ein paternalistisches<br />
Medizinsystem. Ausgehend von den USA kam die<br />
Frauengesundheitsbewegung der 1960er/70er Jahre mit der<br />
Diskussion über die Legalisierung des Schw<strong>an</strong>gerschaftsabbruchs<br />
(„Mein Körper gehört mir!”) auch nach Europa.<br />
Grundlegend war die Publikation „Our Bodies Ourselves”<br />
des Boston Women’s Health Book Collective (1973), das die<br />
Sicht auf den weiblichen Körper revolutionierte: In diesem<br />
Buch konnten sich Frauen erstmals in einer auch für Nicht-<br />
Mediziner_innen verständlichen Sprache über ihre Körper<br />
informieren. Sie forderten Selbstbestimmung über ihren<br />
Körper ein, die eine von Männern dominierte Medizin ihnen<br />
bis dahin nicht zugest<strong>an</strong>d. Wichtige Themen der frühen (und<br />
durchaus heterogenen) Frauengesundheitsbewegung waren<br />
u.a. spezifische weibliche körperliche Erfahrungen wie Sexualität/Reproduktion/Geburt,<br />
Missbrauch, Gewalt, Depression,<br />
Sucht und frauenspezifische Gesundheitsförderung.<br />
Eine Errungenschaft der Frauengesundheitsbewegung ist die<br />
vermehrte Einbeziehung von Frauen in klinische Studien:<br />
Bis Anf<strong>an</strong>g der 1990er Jahre wurden sie – um „Risiken”<br />
(wie z.B. eine Schw<strong>an</strong>gerschaft) zu minimieren und auf die<br />
unterschiedlichen Hormonlagen nicht eingehen zu müssen<br />
– systematisch ausgeschlossen. Der M<strong>an</strong>n wurde als Norm<br />
gesetzt – dass Frauen und Männer Medikamente unterschiedlich<br />
vertragen könnten, bedachte m<strong>an</strong> nicht.<br />
Zentraler Kritikpunkt der Frauengesundheitsforschung war<br />
und ist die Medikalisierung weiblicher Lebensphasen, wie<br />
z.B. Menstruation, Schw<strong>an</strong>gerschaft oder Menopause – diese<br />
sind keine aus der „Schwäche” der Frauen resultierenden,<br />
beh<strong>an</strong>delbaren „Kr<strong>an</strong>kheiten”, sondern spezifische Körper-<br />
„politisch korrekt” <strong>an</strong>gesehen, „Gender”<br />
auf etwas zu schreiben, das eigentlich nur<br />
mit biologischen Faktoren zu tun hat, wie<br />
die Wissenschaftlerin Jennifer Fishm<strong>an</strong><br />
und ihre Kolleginnen feststellten 5 – ein<br />
begrifflicher Irrtum.<br />
Begriffe unterm Mikroskop. Diese<br />
Begriffsverwirrung entsteht wohl auch<br />
deshalb, weil das Konzept „Gender”<br />
für Mediziner_innen neu ist. „Es gibt<br />
viel Unverständnis. Die Sozial- und Naturwissenschaften<br />
schaffen es einfach<br />
nicht, aufein<strong>an</strong>der zuzugehen, das ist<br />
ein Kommunikationskonflikt”, sagt die<br />
Wissenschaftlerin Renate Baumgartner.<br />
„Mediziner_innen wollen sich oft<br />
auch nicht ihre selbstverständlichen<br />
Kategorien – wie die Differenz zwischen<br />
Frauen und Männern – infrage<br />
stellen lassen.” Eine Universitäts<strong>an</strong>gestellte,<br />
die nicht gen<strong>an</strong>nt werden will,<br />
erzählt: „Viele Lehrende haben den<br />
Eindruck: Sobald ich mich den Unterschieden<br />
zwischen Frauen und Männern<br />
widme, arbeite ich gendergerecht.<br />
Das hat aber mit Gendergerechtigkeit<br />
nichts zu tun, sondern ist biologistische<br />
Forschung.”<br />
erfahrungen, die in einem gesellschaftlichen Kontext gesehen<br />
werden müssen. Gesundheit wird in der Frauengesundheitsforschung<br />
als dynamischer Prozess mit einer Vielzahl von<br />
Einflüssen gesehen, hier werden sowohl medizinische als<br />
auch soziale, psychologische, ökonomische und politische<br />
Aspekte integriert – <strong>an</strong>ders als in konventionellen biomedizinischen<br />
Konzepten.<br />
Aktuell lässt sich eine neue Anforderung <strong>an</strong> Frauen beobachten:<br />
Die Freiheit, selbst zu entscheiden, wird zu einer Pflicht;<br />
Frauen sind jetzt M<strong>an</strong>agerinnen ihrer eigenen Gesundheit.<br />
Bei immer mehr vorgeschriebenen oder empfohlenen Untersuchungen<br />
(etwa in der Schw<strong>an</strong>gerschaft) stehen Frauen<br />
unter Druck, kompetent und informiert zu sein. Wissensvermittlung<br />
und kritische Aufklärung leisten bis heute Frauengesundheitszentren,<br />
die infolge der Frauengesundheitsbewegung<br />
gegründet wurden.<br />
Frauengesundheit bleibt aber immer ambivalent: Denn Frauen<br />
sind keine homogene Gruppe, es gibt nicht die Frauengesundheit.<br />
Vielmehr muss m<strong>an</strong> beachten, welche Frau in<br />
welcher speziellen Lebenssituation betroffen ist – dar<strong>an</strong><br />
sollten sich medizinische Angebote orientieren.<br />
Die frühe feministische Kritik hat politische Früchte<br />
getragen: In der „Ottawa Charta” der Weltgesundheitsorg<strong>an</strong>isation<br />
(1986) wurde bspw. Ch<strong>an</strong>cengleichheit in<br />
der Gesundheitsforschung verkündet, bei der 4. Weltfrauenkonferenz<br />
in Peking (1995) wurde u.a. das Recht von<br />
Frauen auf gesundheitliche Selbstbestimmung beschlossen.<br />
Auf EU-Ebene wurde 1997 im Vertrag von Amsterdam<br />
Gender Mainstreaming festgeschrieben. Durch dieses<br />
gleichstellungspolitische Instrument f<strong>an</strong>d eine wesentliche<br />
Akzentverschiebung statt: Weg von einer spezifischen Frauengesundheitsforschung<br />
hin zu einer geschlechtersensiblen<br />
Gesundheitsforschung. l