November 2010 (PDF) - an.schläge
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<strong>an</strong>.lesen<br />
Dis/abled<br />
Was bedeutet es, in einer sexistischen<br />
und rassistischen Gesellschaft<br />
behindert zu sein? Der Sammelb<strong>an</strong>d<br />
„Gendering Disability” geht der<br />
Bedeutung von „Behinderung” im<br />
Kontext von Mehrfachdiskriminierung<br />
nach und führt die Debatten auf<br />
neue Weise zusammen.<br />
Von Vina Yun<br />
Während in den letzten Jahren das Konzept der<br />
Intersektionalität in den deutschsprachigen Gender<br />
Studies einen regelrechten Hype erfahren<br />
hat, sind intersektionale Ansätze in den Disability<br />
Studies relativ neu. Das Konzept der intersektionalen<br />
Analyse wird im vorliegenden Sammelb<strong>an</strong>d<br />
„Gendering Disability” als Möglichkeit<br />
begriffen, sich der Komplexität von mehrfacher<br />
Diskriminierung <strong>an</strong>zunähern: Der B<strong>an</strong>d untersucht<br />
die wechselseitige Beziehung zwischen den<br />
Kategorien „Geschlecht” und „Behinderung”,<br />
geht aber zugleich den Verknüpfungen von „Dis/<br />
Ability” mit Sexualität, Ethnisierung und Klasse<br />
nach. In diesem Sinne stellt der B<strong>an</strong>d eine bisl<strong>an</strong>g<br />
wenig bearbeitete Schnittstelle von Gender<br />
und Disability Studies dar, die durch Erkenntnisse<br />
aus der Rassismus- und Migrationsforschung, der<br />
Postkolonialen Theorie sowie den Queer Studies<br />
weiter ausformuliert wird.<br />
Entl<strong>an</strong>g dieser multiplen Perspektive werden<br />
auch die (teilweise verschütteten) Verbindungen<br />
zwischen den Disziplinen neu gezogen: Denn<br />
sowohl die feministische Geschlechterforschung<br />
als auch die im <strong>an</strong>gloamerik<strong>an</strong>ischen Raum<br />
gewachsenen Disability Studies hinterfragen,<br />
ebenso wie Queer und Postcolonial Theory, mit<br />
ihrem kritischen Blick auf die kulturelle Konstruktion<br />
von Körpern hegemoniale Body Politics<br />
und dichotome Identitätsentwürfe (männlich/<br />
weiblich, behindert/nicht-behindert). Mehr noch<br />
machen die Beiträge im B<strong>an</strong>d die Parallelen<br />
zwischen der Konstruktion von „weiblichen” und<br />
38 l <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> <strong>November</strong> <strong>2010</strong><br />
„behinderten” Körpern sowie die Vergeschlechtlichung<br />
und Rassifizierung von Kr<strong>an</strong>kheit und<br />
Behinderung deutlich.<br />
In der Ausein<strong>an</strong>dersetzung um die Mehrdimensionalität<br />
von „Differenz” bzw. mehrfacher Diskriminierung<br />
geht es dabei sowohl um die „Dekonstruktion<br />
binärer Zuschreibungen als auch<br />
um die Problematisierung ihrer realen Effekte”,<br />
wie die Herausgeberinnen im Vorwort erklären.<br />
Multiple Diskriminierung bedeutet allerdings<br />
nicht einfach, dass sich die Differenzen „addieren”<br />
– so äußert sich mehrfache Ausgrenzung<br />
für Frauen (und <strong>an</strong>dere) mit Behinderung nicht<br />
einfach in der z.B. Potenzierung des Sexismus,<br />
sondern meist in der grundsätzlichen Negierung<br />
ihrer Sexualität.<br />
In Rückgriff auf diese Erfahrung fordert die<br />
Politikwissenschaftlerin Heike Raab in ihrem<br />
Artikel über Disability und Queerness, heteronormative<br />
Geschlechterordnung nicht nur <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d<br />
von Sexualität und Geschlecht zu denken,<br />
sondern auch Behinderung mit einzubeziehen:<br />
Denn „um Geschlecht zu dekonstruieren, muss<br />
m<strong>an</strong> erst über Geschlechtlichkeit verfügen,<br />
die (…) Menschen mit Behinderung oftmals<br />
verweigert wird.”<br />
Dass Behinderung mit <strong>an</strong>deren Differenzkategorien<br />
wie Geschlecht überhaupt zusammengedacht<br />
wird, ist vor allem ein Verdienst von<br />
Aktivist_innen aus der „Krüppel_innenbewegung”<br />
der 1980er Jahre, wie Mitherausgeberin<br />
Sw<strong>an</strong>tje Köbsell betont. In ihrem sehr lesens-<br />
Queers on Wheels auf der Regenbogenparade 2009, © Queers on Wheels<br />
werten Beitrag, der ins Thema „Behinderung,<br />
Geschlecht und Körper” einführt, zeichnet<br />
Köbsell u.a. die Entwicklung der (weiß dominierten)<br />
Behindertenbewegung im deutsch- und<br />
englischsprachigen Raum seit den 1970ern nach,<br />
die in der Diskussion über Behinderung das medizinische<br />
Modell erfolgreich durch ein soziales<br />
Modell ersetzte – nach dem Motto: „Behindert<br />
ist, wer behindert wird”. Behinderung ist demnach<br />
keine individuelle, natürliche Eigenschaft,<br />
die m<strong>an</strong> „besitzt”, sondern ein Prozess, der<br />
Menschen mit bestimmten Merkmalen gesellschaftliche<br />
Partizipation vorenthält.<br />
Mit dem erneuerten Fokus auf Körperpolitiken<br />
reklamieren Aktivist_innen den „behinderten”,<br />
eigenen Körper nun wieder in den Diskurs<br />
hinein. Mit der Einbindung aktivistischer Perspektiven<br />
– siehe z.B. die Beiträge von Christi<strong>an</strong>e<br />
Hutson zu „Ableism” und Sexismus aus<br />
Schwarzer Perspektive oder der Rückblick von<br />
Sigrid Arnade auf die Lobbyarbeit für die UN-<br />
Behindertenrechtskonvention – fasst dieser sehr<br />
empfehlenswerte Sammelb<strong>an</strong>d, erstmalig für<br />
den deutschsprachigen Raum, die politischen und<br />
theoretischen Debatten zusammen und bietet<br />
einen hervorragenden Einstieg in den aktuellen<br />
St<strong>an</strong>d der Disability Studies. l<br />
Jutta Jacob, Sw<strong>an</strong>tje Köbsell, Eske Wollrad<br />
(Hg.innen): Gendering Disability. Intersektionale<br />
Aspekte von Behinderung und Geschlecht<br />
Tr<strong>an</strong>script <strong>2010</strong>, 26,60 Euro