Der Begriff Pflegebedürftigkeit in der Diskussion – eine ... - BBE
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Mart<strong>in</strong>a Hasseler<br />
<strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Diskussion</strong> <strong>–</strong> e<strong>in</strong>e<br />
pflegewissenschaftliche Perspektive<br />
Dr. Mart<strong>in</strong>a Hasseler ist Professor<strong>in</strong> für Pflegewissenschaften an <strong>der</strong> Hochschule für<br />
Angewandte Wissenschaften, Hamburg<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Nach über e<strong>in</strong>em Jahrzehnt steht <strong>der</strong>zeit die Pflegeversicherung auf <strong>der</strong> Reformagenda <strong>der</strong><br />
Gesundheits- und Pflegepolitik. Die Eckpunkte werden im Juni d. J. erwartet. Die<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung ist, auf dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> demografischen, sozialen, gesellschaftlichen<br />
und epidemiologischen Entwicklungen, die <strong>in</strong> den nächsten Jahrzehnten zu höheren<br />
Bedarfen führen werden, e<strong>in</strong>e qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung zu<br />
gewährleisten. Bereits seit vielen Jahren ist <strong>der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> „<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>“ <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Diskussion</strong> und soll nun e<strong>in</strong>e Neudef<strong>in</strong>ition erfahren. Die Kritik richtet sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf<br />
die re<strong>in</strong> körperverrichtungsbezogene Begrenzung, die Pflegebedürftige mit beispielsweise<br />
hohem Betreuungs- und Beaufsichtigungsaufwand (z.B. Demenzerkrankte o. A.) von den<br />
Leistungen des SGB XI eher ausgrenzen. E<strong>in</strong>e weitere Kritik befasst sich mit <strong>der</strong> Intention<br />
des Gesetzgebers, Leistungen aus dem SGB XI kompensatorisch zur Verfügung zu stellen.<br />
Diese führt dazu, dass Anreize zur Prävention o<strong>der</strong> Rehabilitation we<strong>der</strong> ausreichend<br />
gesucht und geför<strong>der</strong>t noch entsprechende Potenziale berücksichtigt werden. Diese<br />
Problematik wird verstärkt durch die rigide Handhabung <strong>der</strong> Schnittstelle <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Behandlungspflege nach SGB V und den Leistungen <strong>der</strong> Pflegeversicherungen nach SGB XI<br />
sowie <strong>der</strong> Rehabilitation nach SGB IX.<br />
In <strong>der</strong> Fachwelt besteht weitgehend Konsens, dass e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> körperorientierte Pflege, bei <strong>der</strong><br />
die geistigen und seelischen Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen nicht umfassend Berücksichtigung<br />
f<strong>in</strong>den, nicht dem Anspruch e<strong>in</strong>er menschenwürdigen, qualitativ hochwertigen Pflege<br />
entsprechen (Bericht <strong>der</strong> Enquete-Kommission des Landtags Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen 2005;<br />
Vierter Bericht zur Lage <strong>der</strong> älteren Generation 2002). In die neue Def<strong>in</strong>ition sollen nach<br />
Vorstellung von Verantwortungsträgern im Gesundheitswesen auch Bereiche <strong>der</strong> sozialen<br />
Betreuung, Kommunikation, Beaufsichtigung, mediz<strong>in</strong>ische Behandlungspflege u.Ä.<br />
e<strong>in</strong>bezogen werden, um e<strong>in</strong>e Berücksichtigung des tatsächlichen Hilfebedarfs und relevanter<br />
Zielgruppen <strong>in</strong> <strong>der</strong> pflegerischen Versorgung sowie pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse zu<br />
gewährleisten. <strong>Der</strong> neue <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>sbegriff soll die Basis bilden für e<strong>in</strong> neues<br />
Begutachtungs<strong>in</strong>strument, das objektiv, vergleichbar, nachvollziehbar die<br />
1
Fähigkeitsstörungen, Ressourcen und Hilfebedarf <strong>der</strong> Pflegebedürftigen berücksichtigt und<br />
e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Zuordnung von Leistungsansprüchen ermöglicht.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> „<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>“ <strong>in</strong> unterschiedlichen Fachdiszipl<strong>in</strong>en<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>“ ist e<strong>in</strong> unscharfer und dennoch <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> zentraler <strong>Begriff</strong>.<br />
In den verschiedenen Fachdiszipl<strong>in</strong>en ist er zu e<strong>in</strong>em wichtigen Forschungsgegenstand<br />
geworden und wird sehr kontrovers diskutiert. Die unterschiedlichen Perspektiven <strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>zelnen Fachdiszipl<strong>in</strong>en auf den Gegenstand „<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>“ liegen <strong>in</strong> <strong>der</strong>en <strong>in</strong>nerer<br />
Logik, dem jeweils spezifischen „Blick“ begründet. Desgleichen entwickelten die<br />
unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche <strong>in</strong> den vergangenen Jahren unterschiedliche<br />
theoretische und empirische Ansätze zur Erfassung von <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>. Für e<strong>in</strong>en<br />
Vergleich <strong>der</strong> unterschiedlichen Auffassungen des <strong>Begriff</strong>es „<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>“ bieten sich<br />
die Gebiete: Mediz<strong>in</strong> und Geriatrie, Gerontologie, Sozialrecht und Pflegewissenschaft an.<br />
Die Mediz<strong>in</strong> und Geriatrie orientiert sich bei Def<strong>in</strong>itionsansätzen von <strong>Pflegebedürftigkeit</strong><br />
stark an <strong>der</strong> Tradition des Paradigmas <strong>der</strong> Heilung. Folglich gilt es Rehabilitationspotenziale<br />
zur Vermeidung von <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> zu erkennen bzw. Kompensation von<br />
E<strong>in</strong>schränkungen zu identifizieren, die <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Zur Erfassung von<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> greifen Mediz<strong>in</strong>er und Geriater deshalb vorrangig auf Verfahren zurück,<br />
die die Selbstständigkeit erfassen. Zur Anwendung kommen standardisierte<br />
Mess<strong>in</strong>strumente wie „Aktivitäten im täglichen Leben (ATL)“ und „Selbstständigkeit <strong>in</strong> den<br />
alltäglichen Lebensaktivitäten (ADL - activities of daily liv<strong>in</strong>g)“, die schwerpunktmäßig die<br />
funktionellen Aktivitäten erfassen und beschreiben. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuell unvorhergesehener Bedarf<br />
wie z.B. kognitive Bee<strong>in</strong>trächtigungen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unterstützungs- und Hilfebedarf wird nicht<br />
berücksichtigt (Ströbel & Weidner 2002; Z<strong>in</strong>tl-Wiegand & Krumm 2003; Werner 2004).<br />
In <strong>der</strong> Gerontologie wird <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> überwiegend von den Merkmalen<br />
Mobilitätse<strong>in</strong>schränkung und gerontopsychiatrischen Erkrankungen bestimmt, die entwe<strong>der</strong><br />
zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>geschränkten autonomen Lebensweise führen o<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em hohen<br />
Beaufsichtungs- und Betreuungsaufwand gekennzeichnet s<strong>in</strong>d (Hofemann & Naegele 2000).<br />
Sozialrechtlich besteht <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> dann, wenn die Fähigkeiten zur selbstständigen<br />
Lebensführung e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d. Menschen s<strong>in</strong>d pflegebedürftig, wenn e<strong>in</strong>e körperliche,<br />
geistige o<strong>der</strong> seelische Krankheit o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung die gewöhnlichen regelmäßig<br />
wie<strong>der</strong>kehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens e<strong>in</strong>schränkt und das ständige<br />
Angewiesense<strong>in</strong> auf persönliche Hilfe und Unterstützung besteht. Das vorrangige Ziel ist, die<br />
Inanspruchnahme sozialrechtlicher Leistungen aus dem SGB XI zu begründen und e<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>beziehung weiterer Sozialleistungsbereiche zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die Art und Schwere <strong>der</strong><br />
Erkrankung spielt bei dieser Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle (Z<strong>in</strong>tl-Wiegand & Krumm<br />
2
2003; Hasseler & Görres 2005). Die Leistungen aus <strong>der</strong> sozialen Pflegeversicherung waren<br />
von Anfang an nicht bedarfsorientiert angelegt, son<strong>der</strong>n im häuslichen Bereich sollte<br />
Familienpflege ergänzt und bei stationärer Langzeitpflege f<strong>in</strong>anzielle Hilfen zur Entlastung<br />
zur Verfügung gestellt werden. Die entsprechenden Mess<strong>in</strong>strumente des Mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Dienstes <strong>der</strong> Krankenversicherungen (MDK) dienen vorwiegend <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong><br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Ist-Zustandes <strong>der</strong> Defizite im<br />
körperverrichtungsbezogenen Bereich und <strong>der</strong> Zuordnung zu e<strong>in</strong>er Pflegestufe und weniger<br />
zur Diagnose e<strong>in</strong>es Hilfebedarfs. Damit wird hauptsächlich e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong><br />
ermittelt und an<strong>der</strong>e dezidiert ausgeschlossen.<br />
Nach pflegewissenschaftlicher Auffassung tritt <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> dann e<strong>in</strong>, wenn<br />
Menschen Bee<strong>in</strong>trächtigungen nicht selbst kompensieren können und Hilfe benötigen. Im<br />
Unterschied zur Mediz<strong>in</strong> werden die Folgen von Erkrankungen, Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen und<br />
E<strong>in</strong>schränkungen diagnostiziert. Es geht um die Frage, wie selbständig das Alltagsleben<br />
gelebt und Gesundheit im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Selbständigkeit unterstützt werden kann.<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> bildet somit zum e<strong>in</strong>en Defizite wie e<strong>in</strong>geschränkte Selbstständigkeit und<br />
verm<strong>in</strong><strong>der</strong>te Alltagskompetenzen <strong>der</strong> Menschen ab, die mit e<strong>in</strong>em Verlust von physischer<br />
und/o<strong>der</strong> psychischer Leistungskompetenz e<strong>in</strong>hergehen. In diesem S<strong>in</strong>ne kann<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> als e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>trächtigte Autonomie bei <strong>der</strong> Lebensgestaltung betrachtet<br />
werden, die e<strong>in</strong>e Abhängigkeit von Hilfe bei <strong>der</strong> Gestaltung des Alltags bed<strong>in</strong>gt. Zum<br />
an<strong>der</strong>en schließt <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> aus pflegewissenschaftlicher Sicht grundsätzlich die<br />
Ressourcen <strong>der</strong> Betroffenen mit e<strong>in</strong> und die Frage, wie sie möglichst selbständig ihr Leben<br />
führen können. Pflege ist dabei weniger Defizit kompensierend ausgerichtet, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr Fähigkeiten unterstützend und för<strong>der</strong>nd. E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Bedeutung erhalten das<br />
Verständnis von Gesundheit und Bee<strong>in</strong>trächtigung, <strong>der</strong> biografische H<strong>in</strong>tergrund sowie<br />
Motivation, Cop<strong>in</strong>gstrategien, Gewohnheiten und Erwartungen <strong>der</strong> Betroffenen. Mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten: aus pflegewissenschaftlicher Sicht tritt <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> dann e<strong>in</strong>, wenn Betroffene<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen nicht selbst kompensieren können und Hilfe benötigen. Dies bedeutet im<br />
Umkehrschluss, wenn Bee<strong>in</strong>trächtigungen durch vorhandene Fähigkeiten ausgeglichen<br />
werden können, besteht ke<strong>in</strong>e <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>. Nach diesem Verständnis besteht e<strong>in</strong>e<br />
Wechselwirkung von Ressourcen und E<strong>in</strong>schränkungen. Im Rahmen des Pflegeprozesses<br />
entspricht die E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> <strong>der</strong> Identifizierung von Pflegeproblemen.<br />
Auf diesen Grundlagen können Ziele def<strong>in</strong>iert, Maßnahmen geplant sowie Bedarfe an Zeit,<br />
Personal und Ressourcen abgeleitet werden (Bartholomeyczik 2002; Ströbel & Weidner<br />
2003; Bartholomeyczik 2004; Hasseler & Görres 2005). Pflegerische Maßnahmen umfassen<br />
sowohl körperbezogene Interventionen als auch Unterstützung kognitiver Prozesse, gezielte<br />
Kommunikation und vor allem Beziehungsgestaltung, Hilfen bei <strong>der</strong> Tagesstrukturierung,<br />
3
Beratung, Schulung und Anleitung von Pflegebedürftigen und Pflegepersonen<br />
(Bartholomeyczik 2005).<br />
Desgleichen geht Pflegewissenschaft im Verständnis und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Positionierung von<br />
Begutachtungs- bzw. Assessment<strong>in</strong>strumenten von an<strong>der</strong>en Annahmen als an<strong>der</strong>e<br />
Fachdiszipl<strong>in</strong>en aus. <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> wird im Rahmen des Pflegeprozesses im ersten<br />
Schritt mit validierten E<strong>in</strong>schätzungs<strong>in</strong>strumenten erhoben. Die Ergebnisse <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schätzung<br />
bilden die Basis für alle weiteren Planungen und pflegerischen Maßnahmen.<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> und pflegerische Hilfen werden dem pflegewissenschaftlichen<br />
Verständnis stets im Gesamtkontext <strong>der</strong> Lebensführung und gesundheitlichen Versorgung<br />
gesehen. Die pflegerische Versorgung und Betreuung orientiert sich an <strong>in</strong>dividuellen<br />
körperlichen und psychischen E<strong>in</strong>schränkungen, Ressourcen, Bedürfnissen sowie<br />
Krankheits- und Therapieverläufen. Professionelle Pflege steht stets <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Wechselwirkung zum Unterstützungspotenzial des sozialen Netzwerkes als auch zur<br />
materiellen Umgebung <strong>der</strong> zu versorgenden Menschen (Schaeffer & W<strong>in</strong>genfeld 2004).<br />
Zusammenfassend kann formuliert werden: <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> ist e<strong>in</strong>e zentrale Kategorie im<br />
pflegewissenschaftlichen Forschungskontext, etwa <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Fragen, wer als<br />
pflegebedürftig auch jenseits aller leistungsrechtlichen Ansprüche zu betrachten ist, welche<br />
Kriterien vorliegen müssten, um von <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> im bio-psycho-sozialen S<strong>in</strong>ne zu<br />
sprechen, wie diese Kriterien zu überprüfen s<strong>in</strong>d und welche versorgungspolitischen und<br />
versorgungs- pflegerelevanten Konsequenzen hieraus abzuleiten s<strong>in</strong>d. Zum Konstrukt<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> gehören aus pflegewissenschaftlicher Perspektive die aus den<br />
Grundbedürfnissen abgeleiteten drei Charakteristika: (1) Die Anzahl pflegerelevanter<br />
Aspekte menschlichen Lebens (z.B. Kommunikation, soziale Teilhabe) ist groß. (2)<br />
Biographische und situative (z.B. umgebungsspezifische, soziokulturelle und<br />
gesellschaftliche) Faktoren s<strong>in</strong>d zu berücksichtigen. (3) Das sozialunterstützende Netzwerk<br />
wird bei Erfassung und Analyse <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> e<strong>in</strong>bezogen (Werner<br />
2004:56f.).<br />
Fazit: E<strong>in</strong>geschränkte Reichweite <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen <strong>Begriff</strong>e und Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />
Erweiterung<br />
In <strong>der</strong> Zusammenschau wird deutlich, dass <strong>der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> sehr<br />
vielschichtig ist und abhängig von <strong>der</strong> fachwissenschaftlichen Perspektive unterschiedliche<br />
Wesensgehalte setzen kann. Es ist <strong>in</strong>zwischen Konsens, dass <strong>der</strong> bisherige<br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong>sbegriff im SGB XI, <strong>der</strong> eher vorwiegend somatisch und defizitorientiert<br />
ist, erheblich erweitert werden muss, wenn auch psychosoziale Bedarfe stärker<br />
Berücksichtigung f<strong>in</strong>den sollen. <strong>Der</strong> oben skizzierte Vergleich des <strong>Begriff</strong>es <strong>in</strong> den<br />
4
unterschiedlichen Fachdiszipl<strong>in</strong>en verdeutlicht, dass <strong>der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> nach<br />
SGB XI sowohl pflegepraktisch als auch pflegewissenschaftlich sowie gerontologisch relativ<br />
e<strong>in</strong>geschränkt ist. Er reduziert angesichts <strong>der</strong> durch das Gesetz def<strong>in</strong>ierten Verrichtungen<br />
des täglichen Lebens die Leistungen und die hier zu überprüfenden Kompetenzen auf die<br />
Bereiche Körperpflege, Mobilität, Ernährung und hauswirtschaftliche Versorgung. Diese<br />
restriktive Handhabung führt dazu, dass u.a. Personen unter pflegewissenschaftlichen<br />
Gesichtspunkten auch als pflegebedürftig def<strong>in</strong>iert werden müssten (z.B. Menschen mit<br />
psychischen und kognitiven E<strong>in</strong>stränkungen wie Demenzkranke und geistig Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te)<br />
ke<strong>in</strong>e Berücksichtigung zu m<strong>in</strong>destens im Anfangsstadium ihrer Erkrankung f<strong>in</strong>den. <strong>Der</strong><br />
bisherige <strong>Begriff</strong> lässt außer Acht, dass <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Merkmal von<br />
Menschen darstellt. Menschen mit <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> haben <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Bedürfnis,<br />
die Selbstbestimmung zu erhalten, trotz e<strong>in</strong>geschränkter Selbstpflegedefizite (Behrens &<br />
Zimmermann 2006:168). Dies setzt voraus, dass künftig bei e<strong>in</strong>er pflegerischen Versorgung<br />
Aspekte wie <strong>in</strong>dividuelle Autonomie und gewünschte Teilhabe am sozialen Leben<br />
berücksichtigt werden. E<strong>in</strong>e qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung muss somit<br />
versuchen mittels standardisierter Ansätze (externe Evidenz) auch die <strong>in</strong>dividuellen<br />
Bedürfnisse <strong>der</strong> pflegebedürftigen Menschen (<strong>in</strong>terne Evidenz) zu berücksichtigen. Dazu<br />
gehören <strong>der</strong> vermehrte Hilfe- und Unterstützungsbedarf, Kommunikation,<br />
Partizipationsbedürfnis, Teilhabe am sozialen Leben sowie spezielle Pflegemaßnahmen<br />
(Behrens & Zimmermann 2006; Z<strong>in</strong>tl-Wiegand & Krumm 2003; Böhler et al. 2006). Dafür<br />
bedarf es e<strong>in</strong>es Mess- bzw. Begutachtungs<strong>in</strong>strumentes zur Feststellung e<strong>in</strong>es Pflege- und<br />
Hilfebedarfs, das die die Gesamtsituation <strong>der</strong> Betroffenen und se<strong>in</strong>er Familie, Präventions-<br />
und Rehabilitationspotenziale, Kommunikation, soziale Betreuung, Anleitung und Steuerung<br />
des Versorgungsmanagements, Hilfsmittelbedarfe, Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen<br />
und Unterstützung bei vorhanden se<strong>in</strong> von physischen, psychischen und kognitiven<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen bzw. selbstständigkeitsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Pflege bis h<strong>in</strong> zur<br />
selbstverantwortlichen Wahrnehmung <strong>der</strong> Behandlungspflege stärker erfasst, berücksichtigt<br />
und <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund stellt. Es sollte stärker Gesamtsituation pflegebedürftiger Menschen<br />
erfassen und ihn im Kontext e<strong>in</strong>es Hilfemixes verorten. Dabei s<strong>in</strong>d auch die Möglichkeit von<br />
personenbezogenen Budgets, <strong>in</strong>tegrierte Versorgung, Entlassungs- und<br />
Überleitungsmanagement, Pflegesprechstunden nach nie<strong>der</strong>ländischem Pr<strong>in</strong>zip, e<strong>in</strong>er<br />
stärkeren Integration bürgerschaftlichen Engagements und För<strong>der</strong>ung von<br />
Selbsthilfepotenzialen ebenso wie präventive und rehabilitative Verfahren zu<br />
berücksichtigen, damit das häusliche Pflegepotenzial flankierend optimal unterstützt werden<br />
kann.<br />
5
An die Entwicklung e<strong>in</strong>es Mess<strong>in</strong>strumentes bzw. Begutachtungsverfahrens müssen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen gestellt werden. Es sollte sich zukünftig stärker auf pflegewissenschaftlich<br />
fundierte und aus evidenzbasierten Studien und Erkenntnissen stützen. Aufgrund <strong>der</strong><br />
Komplexität pflegerischer Situationen und daraus abzuleiten<strong>der</strong> Zielen, Maßnahmen und<br />
Interventionen ist <strong>in</strong> Frage zu stellen, ob e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes Begutachtungs<strong>in</strong>strument im Rahmen<br />
des SGB XI umfassend <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>, Fähigkeitsstörungen und Ressourcen erfassen<br />
und e<strong>in</strong>e Grundlage für e<strong>in</strong>e zielorientierte Planung und Durchführung von Pflege darstellen<br />
kann. Vorstellbar ist vielmehr, dass e<strong>in</strong> neues alternatives Begutachtungs<strong>in</strong>strument als<br />
Screen<strong>in</strong>g<strong>in</strong>strument e<strong>in</strong>gesetzt wird, um basierend auf den Ergebnissen <strong>der</strong> Begutachtung<br />
bei Bedarf mit Hilfe differenzierter Assessment<strong>in</strong>strumente die Pflegebedarfe zu eruieren.<br />
Abhängig von den Ergebnissen <strong>der</strong> Begutachtung könnten geeignete und validierte<br />
Assessment<strong>in</strong>strumente für def<strong>in</strong>ierte Items wie Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Mobilität,<br />
Cop<strong>in</strong>gstrategien u. Ä. e<strong>in</strong>gesetzt werden, um daraus professionelles pflegerisches Handeln<br />
abzuleiten. Auf diese Weise könnte zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e Verschränkung des alternativen<br />
Begutachtungsverfahrens im S<strong>in</strong>ne des SGB XI und <strong>der</strong> pflegefachlichen E<strong>in</strong>schätzung im<br />
Rahmen des Pflegeprozesses erfolgen. Zum an<strong>der</strong>en könnten auf e<strong>in</strong>er professionell-<br />
fachlichen Basis Ziele, Maßnahmen und Interventionen entwickelt und e<strong>in</strong>e sachgerechte<br />
Delegation von Aufgaben und Verantwortlichkeiten an Angehörige, Pflegepersonen,<br />
Haushaltshilfen, Ehrenamtlichen u. A. erfolgen.<br />
Literatur<br />
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außerstationären Bereich. In: Schaeffer, D. & Ewers, M. (Hrsg.): Ambulant vor stationär.<br />
Perspektiven für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrierte Pflege Schwerkranker. Bern. Hans Huber Verlag. S. 199-<br />
217.<br />
Bartholomeyczik, S. (2005): Professionelle Pflege und Entscheidungsverantwortung: Ist<br />
pflegerisches Handeln heilkundliches Handeln? In: Pflegemagaz<strong>in</strong> 6:2:20-28.<br />
Behrens, J. & Zimmermann, M. (2006): Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung bei<br />
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Bericht <strong>der</strong> Enquete-Kommission des Landtags Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen. (2005): Situation<br />
und Zukunft <strong>der</strong> Pflege. Düsseldorf.<br />
Bundesm<strong>in</strong>isterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2002): Vierter Bericht<br />
zur Lage <strong>der</strong> älteren Generation. Berl<strong>in</strong>.<br />
Hasseler, M. & Görres, S. (2005): Was Pflegebedürftige wirklich brauchen. Berl<strong>in</strong>er<br />
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Hofemann, K. & Naegele, G. (2000): Sozialpolitische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen: Die soziale<br />
Absicherung bei <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>. In: Rennen-Allhoff, B. & Schaefer, D. (Hrsg.): Handbuch<br />
Pflegewissenschaft. We<strong>in</strong>heim, München. Juventa Verlag. S. 217-242.<br />
6
Schaeffer, D. & W<strong>in</strong>fenfeld, K. (2004): Pflegerische Versorgung alter Menschen. In: Kruse,<br />
A. & Mart<strong>in</strong>, M. (Hrsg.): Enzyklopädie <strong>der</strong> Gerontologie. Bern, Gött<strong>in</strong>gen, Toronto, Seattle.<br />
Hans Huber Verlag. S. 477-490.<br />
Ströbel, A. & Weidner, F. (2003): Ansätze zur Pflegeprävention. Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und<br />
Analysen von Modellprojekten zur Vorbeugung von <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>. Hannover.<br />
Schlütersche Verlagsgesellschaft.<br />
Werner, B. (2004): <strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflegebedürftigkeit</strong> im Kontext <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> und <strong>der</strong><br />
Pflegewissenschaft. In: Brandenburg, H. (Hrsg.), Kooperation und Kommunikation <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Pflege. E<strong>in</strong> praktischer Ratgeber für Pflegeberufe. Hannover: Schlütersche<br />
Verlagsgesellschaft. S. 33-82.<br />
W<strong>in</strong>genfeld, K. (2000): <strong>Pflegebedürftigkeit</strong>, Pflegebedarf und pflegerische Leistungen. In:<br />
Rennen-Althoff, B. & Schaeffer, D. (Hrsg.): Handbuch Pflegewissenschaft. We<strong>in</strong>heim,<br />
München. Juventa Verlag. S. 339-361.<br />
Z<strong>in</strong>tl-Wiegand, A. & Krumm, B. (2003): Werden Demenzkranke bei <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong><br />
<strong>Pflegebedürftigkeit</strong> nach dem Pflegeversicherungsgesetz benachteiligt? Die Erfassung von<br />
kognitiven E<strong>in</strong>schränkungen im Pflegegutachten (MDK) und mit standardisierten<br />
Instrumenten. Nervenarzt. Heft 7. S. 571-580.<br />
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