Lesekompetenz Impulse: Grundschule - Landesinstitut für ...
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Behörde <strong>für</strong><br />
Bildung und Sport<br />
<strong>Impulse</strong>: <strong>Grundschule</strong><br />
<strong>Lesekompetenz</strong>
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
der Begriff der <strong>Lesekompetenz</strong> ist nach den<br />
internationalen Untersuchungen PISA, IGLU,<br />
den Hamburg weiten Untersuchungen zur<br />
Lernausgangslage (LAU, KESS) und der noch<br />
stattfindenden Untersuchung DESI immer<br />
noch in aller Munde. Wegen Überfrachtung<br />
mit Wunschvorstellungen über das, was sich<br />
alles in Schule ändern muss, um eine gezielte<br />
För derung vorzunehmen, bedarf es einer<br />
Klarstellung und deutlichen Unterstützung<br />
darin, welche Inhalte und Methoden vorrangig<br />
gelten sollen.<br />
Im Zentrum dieser Broschüre stehen<br />
neben den theoretischen Klärungen konkrete<br />
Unterrichtsanregungen zur gezielten Förderung<br />
der <strong>Lesekompetenz</strong> im Grundschulunterricht<br />
verschiedener Fächer. Zu diesem<br />
Zweck wurde die vorliegende Handreichung<br />
<strong>für</strong> die <strong>Grundschule</strong> unter der redaktionellen<br />
Leitung von Dr. Gabriele Rabkin<br />
(<strong>Landesinstitut</strong>, Primarstufe Deutsch) erstellt.<br />
Zunächst möchten wir die viel zitierte<br />
Definition von <strong>Lesekompetenz</strong> aus der PISA-<br />
Studie n och einmal ins Gedächtnis rufen, da<br />
von dort ausgehend alle Beiträge der Handreichung<br />
konzipiert worden sind:<br />
„<strong>Lesekompetenz</strong> (Reading Literacy)<br />
umfasst die Fähigkeit, geschriebene Texte<br />
unterschiedlicher Art (kontinuierliche und<br />
diskontinuierliche Texte) in ihren Aussagen,<br />
ihren Absichten und ihrer formalen<br />
Struktur zu verstehen und in einen<br />
größeren Zusammenhang einordnen zu<br />
können, sowie in der Lage zu sein, Texte<br />
<strong>für</strong> verschiedene Zwecke sachgerecht zu<br />
nutzen.“ (C. Artelt u.a. <strong>Lesekompetenz</strong>:<br />
Testkonzeption und Ergebnisse; in:<br />
Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), 2001).<br />
Wichtig ist, dass die PISA-Definition <strong>für</strong><br />
die 15-Jährigen gilt und in der Handreichung<br />
<strong>für</strong> die Arbeit in der <strong>Grundschule</strong> „übersetzt“<br />
wurde. Daraus folgt, das Leseverständnis<br />
altersgerecht und entsprechend den Erkenntnissen<br />
der Didaktik des Lesenlernens und<br />
–förderns sowie der Schriftspracherwerbsforschung<br />
im Grundschulbereich im Unterricht<br />
systematisch zu fördern und den<br />
Schritt zum Deuten und Diskutieren von<br />
Texten erst auf der Basis des Leseverständnisses<br />
zu vollziehen. Oftmals wurde dieser<br />
zweite Deutungsschritt vor dem ersten Verstehensschritt<br />
gemacht und so der eigentliche<br />
Textinhalt aus dem Auge verloren.<br />
Der Pippi-Langstrumpf-Text des Experten <strong>für</strong><br />
Analphabetismus, Jürgen Genuneit (Redakteur<br />
bei Ernst Klett Sprachen) eröffnet die<br />
Reihe der Beiträge. Hierin w ird in anre g e n-<br />
der Weise der en ge Zu sammenhang vo n<br />
L e s e n l e rnen u nd Schulerfolg b zw. das<br />
Ent stehen v on funkt ionalem Analp habetismus<br />
d eu t lich. Die unt erhaltsame To u r<br />
d’ho rizon durch d ie Kinder- und Jugendb<br />
ü c h e r, d ie in Erzählzusammenhängen die<br />
hohe Bedeutun g d es Lesens (von Bü chern )<br />
u nd Schreiben s <strong>für</strong> die Lern e n t w i c k l u n g<br />
vo n Kindern themat isieren, eröffnet gleichzeitig<br />
Perspektiv en <strong>für</strong> die Arbeit in d er<br />
G rundschule. Es ist erstaunlich , wie ähnlich<br />
d ie Ansätze zur Alphab etisieru n g<br />
E rwachsener und zu m Lesenlernen in der<br />
G rundschule sind.<br />
Als wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> eine gezielte<br />
Förderung der Lesefähigkeit wird die<br />
genaue Lernbeobachtung im Bereich Lesen<br />
aufgegriffen und auf die Möglichkeiten<br />
hingewiesen, wie von den Beobachtungserkenntnissen<br />
ausgehend individuelle<br />
Förderung folgen kann. Das Diagnosei<br />
n s t rument „Hamburger Lesepro be“ wird<br />
von Helga Arntzen (Mitautorin d er Leseprobe)<br />
in seiner Konzeption und Anwendung<br />
v o rg e s t e l l t .<br />
In der Bro s c h ü re findet sich eine Reihe<br />
u n t e richtspraktischer Anregun gen, d ie Sie<br />
in Ihrem Unterricht um setzen können. D en<br />
Schluss des ersten Teils bildet eine ausführliche<br />
u nd mit vielen konkreten Umsetzu ngsh<br />
inweisen versehene D arst ellun g m öglich er<br />
Zu gänge zur <strong>Lesekompetenz</strong> im Fach<br />
Deutsch. Petra Dalldorf und Renate Frank-<br />
Flies (Fach seminarleit erinnen am <strong>Landesinstitut</strong>)<br />
geht es daru m, Kinder b eim Aufbau<br />
von Lesestrategien zu unterstützen , sie mit<br />
Hilfe u nterschiedlicher Zugangsweisen und<br />
Te x t a n re g u n g en <strong>für</strong> das Lesen zu gewinnen<br />
und damit Grund zu legen <strong>für</strong> eine erfolgreiche<br />
Schullaufbahn.<br />
Die Broschüre ist eng mit den neuen<br />
Rahmenplänen Deutsch, Mathematik und<br />
Sachunterricht <strong>für</strong> die <strong>Grundschule</strong> verknüpft,<br />
die den Schulen inzwischen <strong>für</strong><br />
einen Erprobungszeitraum von drei Jahren<br />
vorliegen.<br />
Die Bedeutung von Leseförderung in allen<br />
Fächern der <strong>Grundschule</strong> sowie der Aspekt<br />
Deutsch als Zweitsprache sind Schwerpunkte<br />
des zweiten Teils.<br />
Monika Grell (<strong>Landesinstitut</strong>, Referat<br />
Sprachen) erläutert den Aspekt Deutsch als<br />
Zweitsprache fächerübergreifend.<br />
Die Beiträge zum Sachunterricht<br />
(Verfasserin: Anne Kolbe, Fachreferentin in<br />
der Behörde <strong>für</strong> Bildung und Sport sowie im<br />
<strong>Landesinstitut</strong>, Primarstufe Sachunterricht)<br />
und zum Mathematikunterricht
(Verfasserinnen: Brigitta Hering,<br />
<strong>Landesinstitut</strong>, Primarstufe Mathematik und<br />
Eva Rhein, Mathematikmoderatorin) enthalten<br />
fachbezogene Aussagen und Anregungen<br />
zur bewussten Wahrnehmung und<br />
Verstärkung des Lesens in diesen Fächern.<br />
Häufig wird die <strong>Lesekompetenz</strong> allzu selbstverständlich<br />
vorausgesetzt, ohne dass sie -<br />
wie eigentlich notwendig – auch in diesen<br />
Fächern systematisch vertieft, geübt und<br />
angewendet wird.<br />
Ziel ist es, das Lernen in diesen Fächern<br />
durch eine Verstärkung der <strong>Lesekompetenz</strong><br />
zu sichern.<br />
Zum Schluss wird durch den Beitrag von<br />
Sven Nickel (Universität Bremen) ein weitere r<br />
wichtiger – nur scheinbar außenstehender –<br />
Aspekt über die Programme zur Literalitätsförderung<br />
in den Familien (Family Literacy)<br />
aufgegriffen. Hierin wird die Bedeutung von<br />
Leseförderung in der Familie deutlich und<br />
daraus ersichtlich, wie Schule ihre Rolle<br />
sehen muss, wenn die elterliche Aufgabe<br />
nicht oder nur unzureichend wahrgenommen<br />
wird. Das Gespräch mit Eltern über das<br />
Lesen und Angebote <strong>für</strong> die Literalisierung<br />
interessierter Eltern und Erzieher werden in<br />
Zukunft eine wichtige Rolle spielen müssen.<br />
Alle Studien haben gezeigt, dass der<br />
Bildungshintergrund des Elternhauses (z.B.<br />
Bestand an Büchern zu Hause) einen<br />
wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung<br />
der <strong>Lesekompetenz</strong> und des Schulerfolgs hat.<br />
Wir wünschen Ihnen <strong>für</strong> die Arbeit mit<br />
diesem Heft ein vergnügliches Leseerlebnis<br />
und vor allem die Aufnahme einiger <strong>für</strong> Sie<br />
wichtiger Anregungen <strong>für</strong> Ihren Unterricht<br />
in der <strong>Grundschule</strong>. Viel wird erreicht, wenn<br />
es gelingt, die <strong>Lesekompetenz</strong> jedes einzelnen<br />
Kindes zu fördern, indem die<br />
Lehrerinnen und Lehrer aller Fächer der<br />
<strong>Grundschule</strong> den Kindern präzise Hinweise<br />
geben, wie sie - anknüpfend an ihrem Lese-<br />
Können - weiter lernen können.<br />
Für die Erstellung der Broschüre möchten<br />
wir allen Verfasserinnen und Verfassern herzlich<br />
danken und dem Vorhaben Förderung<br />
der <strong>Lesekompetenz</strong> an den Hamburger<br />
<strong>Grundschule</strong>n viel Erfolg wünschen.<br />
Die Frage des Vaters in Roald Dahls<br />
„Matilda“, warum seine Tochter denn ein<br />
„verdammtes Buch“ benötige, wird dann<br />
nicht mehr gestellt werden müssen, weil die<br />
Antwort aller frisch Alphabetisierten lauten<br />
könnte: „Weil wir gern lesen und uns die<br />
Welt ohne das Lesen gar nicht mehr<br />
vorstellen können!“ Gegen so eine Art Harry-<br />
Potter-Effekt wäre nichts einzuwenden.<br />
Bernd-Axel Widmann<br />
Referatsleiter Deutsch und Künste<br />
Behörde <strong>für</strong> Bildung und Sport<br />
Peter Daschner<br />
Direktor des <strong>Landesinstitut</strong>s <strong>für</strong><br />
Lehrerbildung und Schulentwicklung
Als die Mutter entdeckt, dass ihr vierjähriger Sohn<br />
lesen kann, ist sie entsetzt und rennt aufgeregt<br />
mit ihm zum Arzt.<br />
Doktor Santens kontrollierte, ob ich tatsäch -<br />
lich lesen konnte. Dann untersuchte er mich von<br />
Kopf bis Fuß.<br />
... Als er damit fertig war, lehnte er sich<br />
bedächtig in seinem Stuhl zurück. ... Tiefe Falten<br />
erschienen auf seiner Stirn. Schließlich blickte er<br />
meine Mutter ernst an.<br />
„Sonja“, sagte er, „ich habe eine schlechte<br />
Nachricht und eine gute. Die schlechte ist, daß<br />
Lesenkönnen unheilbar ist. Die gute ist, daß man<br />
nicht daran stirbt“ (Doorselaer, S. 8f.).<br />
Doch Kaspars Mutter bleibt beunruhigt und<br />
fragt verwirrt:<br />
„Aber das plötzliche Lesenkönnen, woher um<br />
Himmels willen kommt das? Das einzige, was wir<br />
lesen , ist die Fern sehzeitu ng. Wie ist das<br />
eigentlich, Doktor? Kann das Lesenkönnen plötz -<br />
lich auf einen ru n t e rfallen? Wie Sch walben -<br />
scheiße?“ (ebda, S. 13)<br />
Diese Szene stam mt aus d em niederländischen<br />
Kind erbu ch „Ich heiß e Kasp ar“ von<br />
W illy van Doorselaer, in dem „Alphabetismus“<br />
eine Krankheit in einer von audiovisuellen<br />
Medien beh errscht en Welt ist, in der allenfalls<br />
noch d ie Fernseh zeitung gelesen wird .<br />
Kaspar ist ein w ürdiger Brud er von Roald<br />
D ahls „Matilda“, die sich eb enfalls das Lesen<br />
g egenü ber den medienfix iert en Eltern<br />
e r k ä m p f t :<br />
Im Alter von drei Jahren hatte sich Matilda das<br />
Lesen beigebracht. (...) Im Alter von vier Jahren<br />
konnte sie rasch und fließend lesen und fing an,<br />
sich sehnsüchtig nach Büchern umzuschauen.<br />
Das einz ige Buch in diesem erleucht eten<br />
Haushalt war etwas namens „Kochen ist leicht“<br />
und gehörte ihrer Mutter. Nachdem Matilda es<br />
von vorn n ach hinten d urchgelesen h atte,<br />
beschloss sie, sich nach etwas Interessanterem<br />
umzusehen.<br />
„Vati“, sagte sie, „meinst du, dass du mir ein<br />
Buch kaufen könntest?“ „Ein Buch?“, fragte er.<br />
„Wozu brauchst du denn ein verdammtes Buch?“<br />
„Zum Lesen, Vati.“<br />
„Und was hast du gegen das Fernsehen, um<br />
Himmels willen? Wir haben einen fabelhaften<br />
Fernsehapparat mit einem Riesenbildschirm, und<br />
jetzt kommst du und willst ein Buch haben? Du<br />
bist ... verwöhnt, mein Mädchen!“<br />
(Dahl 1997, S. 11)<br />
Matilda versorgt sich vo n n un an mit<br />
B ü c h e rn aus der Bibliothek. Doch immer<br />
wied er ko mm t es wegen des Lesens zu<br />
Konflikten mit ihrem Va t e r, in den en sie sich<br />
schließ lich mit Bravo ur durc h s e t z t .<br />
Besonders Kaspar m it seiner beso rg t e n<br />
M u t t e r, aber au ch Mat ilda mit ihre m<br />
Selb stb ewu sstsein und D u rc h s e t z u n g s v e -r<br />
mö gen gegenüber ihrer leseunwilligen Fam ilie<br />
st ellen zum Teil Gegenwelten zur Kindheit<br />
mancher fu nktio naler An alp hab et en d ar,<br />
lassen aber au ch Ähnlichkeiten erkennen, die<br />
unter ungünst igeren Bed ingungen bei ihnen<br />
zu einem fu nktion alen Analphabet ism us<br />
g e f ü h t rhätten.<br />
Die Zeiten, in denen sich Eltern – wie die<br />
von Kaspar u nd Matilda – über ihre lesew ütigen<br />
Kinder Sorgen m achen, sind inzwischen<br />
v o r ü b e r. Im mer mehr Kinder – aber auch<br />
Jug end liche – sind Lesem uffel. Im mer<br />
m ehr Kinder haben so gar Probleme b eim<br />
Lesen- und Schre i b e n l e rn en. Die Klagen<br />
d er Lehrerinnen und Lehrer so wi e der<br />
E l t e rn sind u nüb erh ö r b a r. Di e Fol ge:<br />
Im mer mehr Jug end liche verl assen die<br />
Schu le o hne au sreichende Lese- und<br />
S c h reibkenntnis se, w as d ie PISA-Stud ie<br />
s c h m e rzhaft b est ät igt . Vermehrt beschwert<br />
sich die Wirtschaft, dass diese Jugendlichen<br />
nicht ausbildungsreif sind und deshalb keine<br />
Lehrstelle erhalt en können. Inzwischen<br />
spricht man vo n vier Million en (fu nktionalen)<br />
Analphabeten in Deutschland (vgl.<br />
Döbert/Hubertus, S. 25-40).<br />
Die Ursachen d a<strong>für</strong> sind vielfältig. Eine<br />
wicht ige Ursache ist das Fehlen von Vo rb<br />
i l d e rn. Viele Kinder sehen ihre Elt ern kaum<br />
noch schreiben oder lesen. In vielen Familien<br />
w i rd – äh nlich wie in denen von Kaspar und<br />
Mat ilda – allenfalls noch die Fern s e h z e i t u n g<br />
gelesen. Deshalb wissen auch im mer weniger<br />
K i n d e r, w arum und wozu sie eigent lich lesen<br />
und schreiben lern en sollen . Das muss ihnen<br />
erst mü hsam in der Schule beigebracht werden<br />
. D enn nur, wenn man das Warum und<br />
Wozu weiß, lernt man gern. Das gilt besonders<br />
<strong>für</strong> das Lesen und Schreiben.<br />
Ein Beispiel da<strong>für</strong> ist Mäusefriederike in<br />
Willi Fährmanns Kinderbuch „Der überaus<br />
starke Willibald“:<br />
Ihre Freundin Lillimaus hat sich das Lesen,<br />
als sie in der Biblio thek ein gesperrt war,<br />
s e l bst beigebracht. Stolz teilt sie dies Mäusefriederike<br />
mit, als diese sie besucht: „Ich will
dir ein großes Geheimnis anvertrauen. Denk<br />
dir, ich kann lesen.“ Doch Mäusefriederike<br />
kann mit diesem Geheimnis nichts anfangen.<br />
„Was ist das, lesen?“, fragt sie ratlos. „Ist das<br />
etwas, was du fressen kannst?“ „Nein , nein“,<br />
a n t w o rtete Lillimaus u nd lachte. „Lesen, das<br />
ist wie fliegen, fliegen aus unserer Küchentür<br />
hinaus hoch über die Bäume im Garten hin<br />
und weiter, immer weiter in fremde Länder<br />
und ferne Welten“ (Fährmann, S. 35 f.).<br />
Doch Mäusefriederike kann damit nichts<br />
anfangen. Deshalb versucht Lillimaus, ihrer<br />
Freundin mit immer neuen Bildern zu erklären,<br />
was das ist, lesen. Bis Mäusefriederike<br />
endlich begreift – und dann will sie es auch<br />
können: „Lesen müßte man können, seufzte<br />
Mäusefried erike. Ihr Blick schweifte sehnsüchtig<br />
über die tausend Bücher, die sich da<br />
Rücken an Rücken drängten ...“<br />
(Fährmann, S. 40).<br />
„Und wie sollen wir unsere Kinder zum<br />
Lesen und Schreiben bringen?“, fragen viele<br />
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer verzweifelt.<br />
Ein Weg, der hier vorgeschlagen werden<br />
soll, ist es, mit schriftsprachfernen Kindern<br />
und Jugendlichen Bücher zu lesen, die das<br />
Lesen und Schreiben thematisieren. Bücher,<br />
die deut lich m achen , w as Lesen- un d<br />
Schreibenkönnen bedeutet und die dadurch<br />
zum Lesen und Schreiben motivieren. Bücher,<br />
die auf Schwierigkeiten hinweisen, die man<br />
mit dem Lesen und Schreiben haben kann.<br />
Bücher, die zeigen, dass Kinder und Jugendliche<br />
mit ihren Lese- und Schreibproblemen<br />
nicht allein stehen, die zeigen, dass es auch<br />
andere Menschen gibt, die diese Probleme<br />
haben. Das macht Mut, trotz Schwierigkeiten<br />
weiterzulernen oder immer wieder neu mit<br />
dem Lernen zu beginnen. Das macht auch<br />
Mut, über die eigenen Lese- und Schreibprobleme<br />
zu sprechen, mit den Eltern, den<br />
Freunden, den Lehrern (vgl. Genuneit 2001).<br />
Das Thema Lesen- und Schreibenlernen<br />
wird in Büchern <strong>für</strong> Kinder aufgegriffen, seit<br />
es diese gibt. So spielt in dem ersten englischen<br />
Kinderb uch „The History of Little<br />
Goody Two-Shoes“ (1765) dieses Thema bereits<br />
eine wichtige Rolle (vgl. Goetsch, S. 250<br />
f.). Es wird auch in der deutschen Schwankund<br />
Märchenliteratur behandelt, z.B. bei Tyl<br />
Ulensp iegel, der versucht , einem Esel das<br />
Lesen beizubringen (29. Histori, S. 48 ff.). In<br />
anderen Schwänken macht man sich über<br />
„Analphabetentölpel“ lustig (vgl. Moser-Rath,<br />
Sp. 482-484), und auch in frühen deutschen<br />
ABC-Büchern hat Lesen- und Schreibenlernen<br />
als Thema einen wichtigen Platz. So heißt es<br />
zum Beispiel in dem gerade neu aufgelegten<br />
und von Erlbruch neu illustrierten „Neuen<br />
ABC-Buch“ vo n Karl Ph ilipp Moritz<br />
(1790/1794):<br />
Das Buch macht junge Kinder klug.<br />
Ich will in diesem kleinen Buche fleißig<br />
lesen lernen, damit ich noch mehr Bücher<br />
lesen kann, wodurch ich klüger werde.<br />
Ich muß beim lesen nicht zu dichte auf<br />
das Buch sehen, weil man sich die Augen<br />
damit verdirbet.<br />
Und zum Lesen sind gute Augen nöthig<br />
(Moritz 1794, S. 7 f.; vgl. auch<br />
Moritz/Erlbruch, o.p.).<br />
An anderer Stelle zeigt das Buch einen an<br />
einem Tisch sitzenden Mann, der in einem<br />
Buch gelesen hat und jetzt über das Gelesene<br />
nachdenkt: das Buch als Anlass zum Denken<br />
und Nachdenken.<br />
Hier klingen bereits einige Aspekte zum<br />
Lesen und Schreiben an, die von nun an<br />
imm er w ied er in der Kinderlit eratur auftauchen<br />
u nd die <strong>für</strong> Kinder mit Lese-/<br />
Schreibproblemen Anstoß zur Reflexion und<br />
Veränderung ihrer Situation sein können –<br />
selbst wenn sie etwas moralisierend klingen:<br />
• Lesenlernen ist wichtig, denn Lesenkönnen<br />
und Lesen bedeutet gesellschaftlichen<br />
Aufstieg: Nur wer fleißig liest , ko mmt<br />
voran.<br />
Im Umkehrschluss folgt daraus, dass, wer<br />
nicht lesen und schreiben kann, später als<br />
Erwachsener Probleme hat, nicht vorankomm<br />
t und d em Spott der Alphabetisierten<br />
ausgeliefert ist. Ein Beispiel da<strong>für</strong><br />
aus dem 18. Jahrhundert ist das „Schuldiktat<br />
Nr. 5“ von Christian Friedrich Daniel<br />
Schubart, das er zwischen 1766 und 1769<br />
seinen Schülern diktierte und in dem er<br />
einen armen Jungen schildert, der nicht<br />
lesen und schreiben kann<br />
(Schubart, S. 240 f.):<br />
Der Reiche kommt durch sein Geld fort, aber<br />
durch was sollen die Armen fortkommen? Ist<br />
es nicht ein Jammer, wenn man einen armen<br />
Knaben sieht, der weder lesen noch schreiben<br />
kann und dem der Hunger und die Dummheit<br />
zugleich aus den Augen heraussieht? Verachtet<br />
von jedermann, verschmäht und verworfen<br />
muß er sein Brot vor der Tür suchen, und wenn<br />
ihn Krankheit und Alter drückt, noch froh sein,<br />
wenn er als ein Scheusal mit Bettelfuhren im<br />
Lande herumgefahren wird und wie ein armer<br />
Sünder sein Leben auf einem Karren endigen<br />
kann. O meine lieben Kinder, Gott bewahre<br />
euch vor Armut, aber noch weit mehr vor<br />
Dummheit.<br />
Das „Schuldiktat“ von Schubart zeigt aber<br />
auch, dass Lesen- und Schreibenlernen schei-
tern bzw. mit Schwierigkeiten verbunden sein<br />
kann. Die Gründe <strong>für</strong> das Scheitern sowie die<br />
Schwierigkeiten und ihre Überwindung sind<br />
ebenfalls von Anfang an ein wichtiges Thema<br />
der Kinderliteratur.<br />
• Lesen- u nd Schre i b e n l e rnen fü hrt zu<br />
Humanisierung und Zivilisierung. (vgl. u.a.<br />
Goetsch, S. 253 ff.; Genuneit 1998). Nicht<br />
umsonst vermittelt Karl Phillipp Moritz<br />
dem lesen und schreiben lernenden Kind,<br />
dass das Buch nicht nur klug macht, sondern<br />
auch das Denken und Nachdenken<br />
fördert. Das Denken ist es aber, was den<br />
Menschen vom Tier unterscheidet. So stellt<br />
auch Joachim Heinrich Campe in seinem<br />
„Abeze- und Lesebuch“ (1806) in einem<br />
Gespräch zwischen Großvater und seinem<br />
Enkel Karl herau s, dass Schreiben un d<br />
Lesen dazu dienen, Gedanken zu vermitteln,<br />
und nennt ihm d amit Grü nde,<br />
warum es sich lohnt, lesen und schreiben<br />
zu lernen:<br />
Großvater: (…) Durch das Schreiben können<br />
wir alles, was wir denken, vermittelst gewisser<br />
Zeichen sichtbar machen, und es auf Papier<br />
heften, dass es gar nicht wieder verschwinden<br />
kann; durch das Lesen lern en wir jene Zeichen<br />
verstehen, und werden dadurch in den Stand<br />
gesetzt, die Gedanken Anderer gleichsam vor<br />
Augen zu sehen. ... Hatte ich nicht Recht, lieber<br />
Karl, dieses Mittel ein herrliches zu nennen?<br />
Karl: Ja! Lehre es mir, lieber Gro ß v a t e , rwenn’s<br />
nicht zu schwer ist (Campe, S. 40f.).<br />
• Lesen- und Schre i b e n l e rnen fü hrt zur<br />
Disziplinierung – und zwar sowohl zur<br />
Körper- als auch zur Sozialdisziplinierung<br />
(vgl. u.a. Genuneit 1998, S. 29). So führt<br />
Karl Phillipp Moritz in seinem ABC-Buch<br />
zur Körperhaltung des lesenden Knaben<br />
aus: Er „hält den rechten Zeigefinger auf<br />
das Buch, damit er in der rechten Zeile<br />
bleibe“ und er sieht „nicht zu dichte“ auf<br />
das Buch „weil man sich die Augen damit<br />
v e rd irbet“ (Moritz 179 4, S. 7 f.). Die<br />
Vorschriften, die sich Pädagogen <strong>für</strong> die<br />
Körperhaltung beim Schreiben ausgedacht<br />
haben, sind allerdings noch wesentlich<br />
umfangreicher und rigider (vgl. Rude, S.<br />
499 f., zit . bei Karweick, S. 8 8). Zum<br />
S o z i a l v e rhalten des lesen lern e n d e n<br />
Knaben weist Karl Phillipp Moritz darauf<br />
hin, dass der Knabe „sehr aufmerksam“ ist<br />
und „nicht umher gaft“ und dass er mit<br />
Fleiß lesen will (Moritz 1794, S. 7 f.).<br />
Diese Humanisierungs-, Zivilisierungs- und<br />
Disziplinierungsfunktionen des Lesen- und<br />
Schreibenlernens gelten bis heute, auch wenn<br />
Philosophen sie <strong>für</strong> gescheitert halten wie<br />
Peter Sloterdijk in seinem umstrittenen Essay<br />
„Regeln <strong>für</strong> den Menschenpark“. Sie sind ein<br />
wichtiges Argument, um Kritikern des Lesenund<br />
Schre i b e n l e rnens breiter Massen, die<br />
darin die Gefahr der Aufsässigkeit sehen, den<br />
Wind au s den Seg eln zu nehmen (v gl.<br />
Goetsch, S. 242).<br />
Diese historische Diskussion wird auch in<br />
der h eutigen Kinderlit eratur au fgegriff e n ,<br />
zeigt sie doch,<br />
• dass das Lesen- und Schreibenlernen lange<br />
Zeit keine Selbstverständlichkeit <strong>für</strong> alle<br />
Kinder in Europa war,<br />
• dass das Recht auf Lesen- und Schreibenler<br />
nen <strong>für</strong> alle nur mit Mühe durchzusetzen<br />
war,<br />
• dass mit diesem Recht nicht nur Ängste,<br />
sondern auch politische und wirtschaftliche<br />
Ziele verbunden waren und<br />
• dass Lesen- und Schreibenkönnen Macht<br />
bedeuten kann.<br />
Ein Beispiel <strong>für</strong> diese Diskussion in der<br />
Kinderliteratur ist Susanne Ellensohns Buch<br />
„Der lange Hans oder Die heimliche Flucht“.<br />
Die österreichische Autorin schildert hier, wie<br />
schwer es im 19. Jahrhundert war, die allgem<br />
eine Sch ulp flicht – besonders auf dem<br />
Lande – <strong>für</strong> alle verbindlich durchzusetzen.<br />
Dabei sp ielt en nicht nur w irt s c h a f t l i c h e<br />
Gründe eine Rolle – die Kinder (auch der Held<br />
des Buches Hans) w erd en als b illige<br />
Arbeitskräfte gebraucht –, sondern auch politische,<br />
wie die Auseinandersetzung zwischen<br />
P f a rrer und Bürg e rm eist er zeigt, als eine<br />
amtliche Mitteilung über die Einführung der<br />
Schulpflicht im Dorf eintrifft.<br />
Der Bürgermeister steckte den Brief wieder in<br />
die Jackentasche zurück.<br />
„Ich bin empört, Herr Pfarrer. Empört darüber,<br />
dass unser Kaiser persönlich dieses Gesetz gut -<br />
geheißen hat.“<br />
„Nun, es ist ja nicht so schlimm, wenn alle<br />
Kin der lesen und sch reiben lern en, Herr<br />
B ü rg e rm e i s t e r. Dann können sie den<br />
Katechismus lesen und all die wunderbaren<br />
Heiligengeschichten. Das schafft eine gewisse<br />
religiöse Bildung im Volk. Und dies hat das<br />
Volk dringend nötig, ganz besonders in der<br />
h eutigen Zeit , deren Sitten losigkeit zu m<br />
Himmel schreit. Meinen Sie nicht auch?“<br />
Aber der Bürg e rm eister ist andere r<br />
Meinung:<br />
„Ganz was anderes werden sie lesen“,<br />
b rum mt e er schlecht gelaunt, „ganz was<br />
anderes!“ Er blieb abrupt vor dem Pfarrer ste -<br />
hen. „Sie wissen doch, daß sich in Wien der
Pöbel zusammenrottet? (...) Es sind die Sozial -<br />
demokraten, die Proletarier! Sie geben seit<br />
neuestem sogar eine eigene Zeitung heraus, die<br />
‚Volksstimme’. Die werden sie lesen! Und was<br />
wird das Ergebnis sein? Unruhe, Aufstand und<br />
Revolu tion gegen die von Gott gegeben e<br />
Monarchie, gegen unseren Kaiser! (...)<br />
Je gebild eter die Untersch icht ist, desto<br />
gefährlicher ist sie auch. Ich verstehe n i c h t ,<br />
daß u nser Kaiser das nicht erken nt!“<br />
(Ellensohn, S. 21-23).<br />
Doch diese Kritiker setzten sich nicht<br />
durch, machtpolitische und wirtschaftliche<br />
Gründ e <strong>für</strong> eine breit e Alphabetisieru n g<br />
waren stärker als ihre Ängste: Denn ohne<br />
Lese- und Schreibkenntnisse größerer Teile<br />
der Bevölkerung waren weder eine funktionierende<br />
Bürokratie als Instrument der Kontr<br />
olle und der Herrschaftssicherung noch die<br />
Entwicklung einer funktionierenden, wachsenden<br />
(kapitalistischen) Wirtschaft möglich<br />
(vgl. u.a. Genuneit 1998). Das ist meines<br />
Erachtens auch ein Hauptgrund da<strong>für</strong>, dass<br />
Lesen- und Schre i b e n l e rnen seit dem 18.<br />
J a h rh u n d e rt b is heut e als Thema in der<br />
Kinder- und Jugendliteratur auftritt.<br />
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass<br />
Kinder über Bücher und auch andere Medien<br />
bereits im Vorschulalter oder in den ersten<br />
Schuljahren <strong>für</strong> das Lesen- und Schreibenlernen<br />
und das Lesen und Schreiben selbst<br />
motiviert werden sollen.<br />
Dazu ein kleiner Überblick vom 19. bis ins<br />
21. Jahrhundert.<br />
Viele Bilder- und Kinderbücher versuchen,<br />
durch einen Vorgriff auf die Schulsituation,<br />
Kinder neu gierig auf d as Lesen- und<br />
Schreibenlernen zu machen. Ein typisches<br />
Beispiel hier<strong>für</strong> ist das Buch „Wie der Tiger<br />
lesen lernt“ von Janosch.<br />
Hier funkt ioniert d as Lesenlernen des<br />
kleinen Tigers offenbar problemlos, obwohl<br />
die Wörter, die der Lehrer Fuchs ihm in der<br />
Waldschule zum Erlesen präsentiert, aus lesedidaktischer<br />
Sicht nicht u npro b l e m a t i s c h<br />
sind.<br />
Losgelöst von der Schulsituation versuchen<br />
die reich und sehr schön illustrierten Bücher<br />
„Bertram und Kasimir. Vom Abenteuer Lesen“<br />
(Jonas) u nd „Ein Bu ch <strong>für</strong> Bru n o “<br />
(Heidelbach), Lust auf Lesen und Bücher zu<br />
wecken. In „Bertram und Kasimir“ macht die<br />
kleine Maus Bertram einen verbotenen<br />
Ausflug in die Bibliothek und stößt dabei ein<br />
Buch aus dem Regal. Das Buch beschwert sich<br />
bei ihr darüber. Doch Bertram kann mit dem<br />
Buch nichts anfangen, weil er nicht weiß,<br />
„wozu dieses sonderbare Ding gut sein sollte“.<br />
Deshalb „w ollte er seine kleinen, sp itzen<br />
Zähne in den Buchdeckel schlagen“, um es zu<br />
fressen. Das Buch hindert ihn daran, indem es<br />
ihm eine Geschicht e erzählt , ein e ganz<br />
andere, als er bisher von den Mäuseeltern<br />
gehört hatte. „So“, endete das Buch seine<br />
Erzählung „Ich habe die Geschichte meiner<br />
Seiten erzählt. Hättest du mich gefressen,<br />
hättest du sie niemals gehört, hättest nichts<br />
Neues erf a h ren und nicht s dazugelern t . “<br />
Bertram ist „überwältigt“, kennt er doch jetzt<br />
zwei wichtige Funktionen eines Buches: etwas<br />
Neues erfahren und etwas dazulernen. Zur<br />
B e u n ruhigung seiner Eltern verändert ihn<br />
diese H orizonterw e i t e rung: „Sein Zuhause<br />
erschien ihm plö tzlich zu klein, u nd er<br />
beschloss wegzugehen. Schnell lief er los und<br />
befand sich bald an einem Ort, wo er noch<br />
nie zuvor gewesen war.“ Bertram will seine<br />
Verwandten auf dem Speicher besuchen, wird<br />
aber kurz vor deren Mäuseloch von dem Kater<br />
Kasimir erwischt, der ihn fressen will. „Als<br />
Bertram sah, wie sich die Pfote auf ihn herabsenkte,<br />
nahm er all seinen Mut zusammen.<br />
Laut u nd entschlo ssen sagte er: ‚Wa rt e ,<br />
Kasimir! Ich w erde dir eine Geschicht e<br />
erzählen!’“ Und Bertram erzählt Kasimir die<br />
Geschichte vom grünen Drachen, die er von<br />
dem Buch aus der Bibliothek gehört hatte.<br />
Während der Erzählung, die er mit immer<br />
neuen Episoden ausschmückt, spürt er, dass<br />
der Kater immer friedlicher wird. Die anderen<br />
Mäuse kommen hinzu und erblicken etwas,<br />
was sie – so weit sie zurückdenken können –<br />
n och nie gesehen haben: „Ein winziges<br />
Mäuschen mit gekrümmten Schnurrhaaren<br />
erzählte einem riesigen Kater von grünen<br />
Drach en, während d er m it geschlo ssenen<br />
Au gen leise schnurrte.“ Bertram u nd die<br />
a n d e ren Mäu se lernen hier eine weitere<br />
Funktion von Büchern kennen: Bücher zähmen,<br />
Bücher disziplinieren – selb st<br />
gefährliche Kater. Die Mäuse ziehen ihre<br />
Schlüsse daraus: „Sie sind alle umgezogen, in<br />
die Bibliothek, und verschlingen dort den<br />
ganzen Tag lang ... Bücher“ (Jonas, o.p.).<br />
In der Tat ein Buch, das neugierig auf<br />
Bücher macht u nd zum Lesenlernen motiviert ,<br />
wenngleich es hier eigentlich nicht vordringlich<br />
um das Lesen, sondern um das Erzählen<br />
von Geschichten geht. Aber auch das ist eine<br />
wichtige Vo r b e reitung auf das Lesen, was<br />
viele Eltern und Großeltern allerdings inzwischen<br />
vergessen haben, sonst würden sie<br />
i h ren Kind ern viel mehr Geschicht en<br />
erzählen.<br />
Auch Nikolaus Heidelbach versucht, mit<br />
„Ein Buch <strong>für</strong> Bruno“ Lust auf Bücher zu<br />
wecken, und es gelingt ihm dabei, ebenfalls<br />
eine wichtige Funktion von Büchern deutlich<br />
zu machen: Sie regen die Fantasie an und<br />
erlauben das Eindringen in neue unentdeckte<br />
Welten. Ulla, eine ausgesprochene Leseratte,<br />
w i rd t äglich von Bru no besu cht, der ihr<br />
immer etwas Neues zeigt, einen Aufkleber, ein
T-Shir t, ein Rollbrett ..., um sich von ihr<br />
bewundern und bestätigen zu lassen. Dann<br />
haut er wieder ab. Ulla wollte aber, dass er<br />
länger bliebe, und zeigte ihm deshalb ihre<br />
eigenen Bücher: „Aber Bruno hatte nur ein<br />
wenig geblättert und sie dann liegen lassen.<br />
‚Ph, Kinderbücher’, hatte er gesagt und schon<br />
war er draußen gewesen.“<br />
Ulla probierte es erneut, diesmal mit den<br />
„gefährlichen“ Büchern, denn d ie haben<br />
Abbildungen, vor denen sie sich <strong>für</strong>chtete.<br />
„Aber Bruno hatte sich nicht ge<strong>für</strong>c h t e t .<br />
‚Langweilig’, hatte er gesagt, und wieder war<br />
er draußen gewesen.“<br />
Jetzt versucht Ulla es mit einem Trick: Sie<br />
täuscht mit einem Pflaster einen Schlangenbiss<br />
vor und behauptet, die Schlange komme<br />
aus einem Buch: „‘Da oben, das blaue. Ich<br />
glaube, es ist ein Zauberbuch. Alles drin kann<br />
lebendig werden, nicht nur die Schlangen.<br />
Man muss sehr vorsichtig lesen (...).’ ‚Glaub<br />
ich nicht’, sagt Bruno. ‚Zeig!’“ Ulla holt das<br />
Buch und beginnt daraus vorzulesen. Von<br />
nun an gibt es keinen Text mehr, sondern nur<br />
noch Bilder, die deutlich machen, dass Ulla<br />
und Bruno in eine Fantasiewelt eintauchen<br />
(Heidelbach, o.p.). Ein origineller Einfall, dem<br />
sich kaum ein Kind, wenn seine Fantasie<br />
durch die neue Medienwelt noch nicht völlig<br />
abgetöt et ist, entziehen k ann. Auch Erwachsene<br />
werden sich diesem Einfall kaum<br />
entziehen können, schon wegen der vortr efflichen<br />
Illustrationen nicht.<br />
Nicht unproblematisch ist die Geschichte<br />
„ Wie d er Franz lesen lernt e“, m it d er<br />
Christine Nöstlinger in ihrem Buch „Neues<br />
vom Franz“ Neugier auf das Lesen macht<br />
(Nöstlinger, S. 5-34). Um seiner Freundin zu<br />
imponieren und ihr zu zeigen, dass er lesen<br />
kann, lernt Franz Bilderbü cher auswen dig<br />
und seine Freundin glaubt ihm. Von nun an<br />
muss er Gabi immer wieder etwas vorlesen.<br />
„Der Franz tut das gern. Sehr schwer ist das ja<br />
auch nicht, wenn niemand daneben steht,<br />
der wirklich lesen kann.“ Auch das Lesebuch<br />
<strong>für</strong> die erste Klasse liest er Gabi vor. Aber er i s t<br />
„sich nicht ganz sicher, o b die Geschichten, die<br />
er zu den Buchstabenzeilen erfunden hat,<br />
auch wirklich die Geschichten sind, die im<br />
Lesebuch stehen“. Deshalb hat er ein bisschen<br />
Angst vor dem Schulanfang (Nöstlinger,<br />
S. 34).<br />
Sicherlich eine liebensw erte Geschichte,<br />
aber es fragt sich, ob die Fantasie, die durch<br />
u nverstand ene Buchstaben zeilen herv o rg e -<br />
rufen wird, wirklich <strong>für</strong> das Lesen hilfreich ist<br />
o der ob n icht die „falschen Bilder“ das<br />
Verstehen der richtigen Inhalte zumindest<br />
behindern.<br />
Eine ähnliche Situation findet sich auch in<br />
Frauke Nahrgangs Kinderbuch „Katja und die<br />
Buchstaben“.<br />
Katjas Leselern p rozess wird gerad e dadurc h<br />
empfindlich gestört, dass sie sich auf Grund d er<br />
Bilder in der Fibel fant astische Geschichten ausdenkt<br />
und diese ihrer Mutter vorliest. Da ihre<br />
Mutter sie nicht korr i g i e t r–<br />
sie kann es nicht,<br />
weil sie Analph abetin ist, was Katja nicht weiß<br />
– d en kt Katja, sie könne lesen u nd bekommt<br />
deshalb in der Sch ule Probleme. Währen d sich<br />
die Mutter d ie aufregenden Abent euer von Uli<br />
a n h ö te r und dazu zustimmend nickte, nickte<br />
Frau Brau n, die Lehrerin , nicht:<br />
Sie wollte von diesem Abenteuer nichts wissen.<br />
„Du sollst nicht raten, Katja, du sollst lesen!“<br />
„Aber meine Mama“, wollte sich Katja vertei -<br />
digen. Doch Frau Braun winkte ab. „Schieb es<br />
nicht auf deine Mutter. Du hast einfach nicht<br />
genug geübt!“ Dann kam Jürgen an die Reihe,<br />
und er las:<br />
Uli sei leise<br />
So nun los<br />
Nadine las dasselbe. Alle Kinder lasen:<br />
Uli sei leise<br />
So nun los<br />
Und Frau Braun war einverstanden.<br />
Solche selt sam en Dinge passierten immer<br />
wieder. Katja las der Mutter von Uli, dem<br />
Schatzsucher, vor. Aber in der Schule wollte<br />
Frau Braun hören:<br />
Uli und Waldi<br />
wollen in den Wald<br />
wau wau.<br />
Und von der aufregenden Geschichte von Uli<br />
un d dem Geisterbahn m onster blieb n ichts<br />
übrig als:<br />
Uli und Susi sausen<br />
Hei das ist fein<br />
Tut tut<br />
Katja war sehr verw i rrt. Zu Hau se kon nte sie<br />
die spannendsten Geschichten aus der Fibel<br />
vorlesen. Aber in der Schule standen dort nur<br />
noch erbärmlich langweilige Geschichten, und<br />
Katja konnte gar nichts mehr davon lesen.<br />
( N a h rgang 1991, S. 19 f.)<br />
„Katja u nd die Buchstaben“ ist nicht nur<br />
eine gelungene Fibelkritik (vgl. G enuneit 1 995,<br />
S. 180), so nd ern auch eine vehem ente Krit ik<br />
an einer Schule, die mit fantasiebegab ten<br />
K i n d e rn wie Katja nichts anfangen kann.<br />
So erläutert die Autorin Frauke Nahrgang<br />
in einem Interview zu ihrem Buch:<br />
„Die Lehrerin in der Geschichte schad et<br />
Kat ja gar nicht so sehr mit der Qu alität der<br />
Fibeltext e ... Auch das Lernen im Gleichschritt<br />
hätte Katja vielleicht verkraftet. Was sie aber<br />
wirklich erst arren läßt, ist d ie Intere s s elosigkeit<br />
der Lehrerin . Ich w ünsche nicht nur<br />
K i n d e rn mit Schu lproblemen Lehre r, d ie<br />
n eu gierig auf Kinder sind und jedes einzelne<br />
sp annend finden“<br />
( H u b e rt u s / N a h g ra<br />
n g / S c h ö b , e S. r 16 f.).
„Katja und die Buchstaben“ ist m.E. auch<br />
deshalb interessant, weil hier eine analphabetische<br />
Mutter und deren Beziehung zu ihrer<br />
Tochter mit aller emotionalen Dramatik, aber<br />
auch voller Feingefühl dargestellt wird. „Katja<br />
und die Buchstaben“ ist in diesem Punkt vergleichbar<br />
mit den Jugendbüchern von Jochen<br />
Ziem „Bo ris, Kre u z b e rg, 12 Jahre“, Kare n<br />
Hesse „Nennt mich einfach Jule“ und Carolin<br />
Philipps „Wer lacht, hat keine Ahnung“, in<br />
denen ebenfalls die Beziehungen zwischen<br />
Kindern bzw. Jugendlichen und ihren analphabetischen<br />
Elternteilen dargestellt werden.<br />
Das ist eine Thematik, die in der Schule bei<br />
betroffenen Kindern häufig aus Scham und<br />
aus Angst, von anderen wegen ihrer Eltern<br />
ausgelacht zu werden, tabuisiert ist. Das ist<br />
aber auch <strong>für</strong> Lehrerinnen und Lehrer ein<br />
sehr wichtiges Thema, um sie im Umgang mit<br />
analphabetischen Eltern zu sensibilisieren.<br />
Die heile Lesewelt hat Risse. Das zumindest<br />
machen diese Bücher deutlich. Und es<br />
scheint so, dass die Bücher, die sich mit<br />
diesen Rissen b eschäftigen, seit kurz e m<br />
immer mehr zunehmen.<br />
Ein Beispiel da<strong>für</strong> ist das Kinderbu ch „Benni<br />
und d ie Wört e r. Eine Geschicht e zum<br />
L e s e n l e rnen“ von Biessels und Erlbruch. Benni<br />
g e h ö rt wie Katja zu den fantasieb egabten<br />
K i n d e rn, die deshalb Probleme in d er Sch ule<br />
beim Lesen- und Schre i b e n l e nen r b ekommen ,<br />
weil die Lehrerinnen und Lehrer sie nicht verstehen.<br />
Zuerst läuft alles problemlo s, aber als<br />
Benni das Wo rt „Schaf“ lesen so ll, geht es<br />
nicht, weil d as geschriebene Wo rt „eigentlich<br />
nicht zu dem lieben Gesicht und weißen<br />
Locken eines Schafes passte. (...) ‚Da gehören<br />
Locken dran’, sagte Benni. Seine Lehrerin erklärte,<br />
wieso das nicht nötig sei. ‚Es sind doch<br />
nur Buchstaben, Benni’, sagte sie (...). Alle<br />
sind sich darüber einig, dass Schaf so aussieht,<br />
wenn man es schreibt“<br />
(Biessels/Erlbruch, S. 5 f.).<br />
Aber Benni kann sich mit dieser Erklärung<br />
nicht zufrieden geben, denn er hat noch<br />
nicht verstanden, dass Lesen und Schreiben<br />
auf einer Abstraktionsebene stattfinden, deren<br />
äußere Form nichts mit der Realität zu tun<br />
hat. Von nun an verbindet Benni jede Person<br />
mit einem Tier: Der Arzt sieht aus wie ein<br />
Schaf, Onkel Willi wie ein Hund, und er malt<br />
ihre Gesichter neben die Wor te. Die Lehrerin<br />
reagiert eher hilflos. „‚Benni ist zwar sehr<br />
eifrig, was das Lesen und Schreiben betrifft’,<br />
sagte Bennis Lehrerin (zu seiner Mutt er), ‚aber<br />
i rgend wie will es bei ihm nicht so gehen wie<br />
bei den anderen Kind ern ’ “(Biessels/Erlbruch,<br />
S. 24). Und damit trifft Carli Biessels den<br />
Nagel auf den Kopf: Unsere Schulen können<br />
mit abweichenden individuellen Lernprozessen<br />
nicht angemessen umgehen. Wenigstens<br />
schick t die Lehrerin Benni zu H errn<br />
Rosenbaum, der so eine Art Schulpsychologe<br />
zu sein scheint und Verständnis <strong>für</strong> Benni<br />
hat. Bei ihm darf Benni die Wor te schreiben,<br />
die er will und auch die Zeichnungen dazu<br />
anfertigen, die er will. Heimlich steckt Benni<br />
seine Ergebnisse in einen Umschlag, der ohn e<br />
sein Wissen an den Sch ulm inister geht. Der ist<br />
b e g e i s t e rt u nd will daraus ein „neu es<br />
L e s e p rojekt <strong>für</strong> die Gru ndschule“ machen<br />
( B i e s s e l s / E r l b urch, S. 30). Das kann zwar<br />
vordergründig Benni (und den Leserinnen<br />
und Lesern) Mut machen, ob es ihnen aber<br />
hilft, die nächste Stu fe im Pro zess des<br />
S c h r i f t s p r a c h e rwerb s zu erreichen, bleib t<br />
offen, denn das Buch endet etwas abrupt.<br />
Es fällt auf, dass die meisten neuere n<br />
Kinderbücher sich nur mit dem Lesenlernen<br />
und seinen Problemen beschäft igen . D as<br />
S c h re i b e n l e rnen u nd das Schreib en selbst<br />
wird viel weniger thematisiert. Hier folgen die<br />
Kinderbücher einem bildungspolitischen, ja<br />
sogar allgemeinen politischen Trend, nach<br />
dem offenbar das Lesen als gesellschaftlich<br />
relevanter angesehen wird als das Schreiben.<br />
Wie ist es sonst zu erklären, dass sowohl<br />
die OECD -Stud ie „Literacy, Econo my and<br />
Societ y“ (1995) als au ch die PISA-Stu die (2001)<br />
led iglich die Lesefähigkeit vo n Kin dern ,<br />
Jugendlichen und Erwachsenen ab getestet<br />
hat, aber nicht deren Schreibfähigkeit? Ob das<br />
dam it zusamm en hängt, dass ein e Unt ersuchung<br />
zur Schreibfähigkeit noch wesentlich<br />
katastrophaler ausfallen wird als die bisherigen<br />
zur Lesefähigkeit? Oder spielen da<br />
ganz andere Gründe eine Rolle: Lesen ist eine<br />
rezeptive Tätigkeit – man liest, was andere<br />
geschrieben haben. Schreiben hingegen ist<br />
eine produktive Tätigkeit, die m.E. ein viel<br />
g r ö ß e res Entfaltungs- und Ve r ä n d e ru n g spotenzial<br />
enthält als d as Lesen. Ve r ä nd erungspotenziale<br />
sind aber selten erw ü n s c h t .<br />
Wie dem auch sei, ich möchte diesem<br />
Trend mit zwei Bü chern gegensteuern , die<br />
au ch auf die Wichtigkeit des Schre i b e n l e n re<br />
n s<br />
und -könnens eingehen. In Dietlof Reiches<br />
Kinderb uch „Fre d d y. Ein wildes H amsterleben“<br />
bringt sich der Hamster Freddy selbst<br />
das Lesen bei. Um aber an ausreichend Lesestoff<br />
heranzukommen, muss er sich mit den<br />
Menschen, deren Sprache er zwar beherrscht,<br />
aber nicht sprechen kann, schriftlich auseinander<br />
setzen. Unter großen Mühen lernt er<br />
Schreiben, was ihm allerdings erst gelingt, als<br />
ihm da<strong>für</strong> ein Computer zur Verfügung steht.<br />
Er erkennt nicht nur, d ass Schreiben ein<br />
wichtiges Komm unikatio nsmittel ist, u m<br />
seine Ziele zu erreichen, sondern auch Spaß<br />
macht und sich zur literarischen Produktion<br />
eignet. So beginnt er, sein eigenes Lesen<br />
aufzuschreiben. Ein Buch, das schreibunlustigen<br />
Kin dern und Erw achsenen d eu t lich<br />
macht, dass Schriftsprache immer aus zwei
Komponenten besteht: dem Lesen und dem<br />
S c h reib en, u nd das gleichzeitig wichtige<br />
Funkt ionen des Schreib ens aufzeigt (vgl.<br />
Genuneit 2002).<br />
Martin Baltscheit hingegen macht auf den<br />
individu ellen kommu nikativ en Sinn des<br />
Schreibens, zum Beispiel beim Liebesbrief,<br />
aufmerksam in seinem liebenswerten Bilderu<br />
nd Kind erbuch „Die Geschichte vom<br />
Löwen, der nicht schreiben konnte“.<br />
Der Löwe konnte nicht schreiben. Aber das<br />
störte den Löwen nicht, denn der Löwe konnte<br />
brüllen und Zähne zeigen und mehr brauchte<br />
der Löwe nicht. Doch eines Tages verliebte er<br />
sich in eine lesende Löwin, die er sogleich<br />
küssen wollte. Doch dann fiel ihm ein: „Eine<br />
Löwin, die liest, ist eine Dame. Und einer<br />
Dame schreibt man Briefe. Bevor man sie<br />
küsst. Das hatte er von einem Missionar ge -<br />
lernt, den er gefressen hatte.<br />
Da der Löwe nicht schreiben konnte, ging er zu<br />
dem Affen und beauftragte ihn, statt seiner<br />
einen Brief an die Löwin zu schreiben. Und der<br />
Affe schrieb:<br />
„Liebste Freundin, wollen Sie mit mir auf die<br />
Bäume klettern? Ich hab auch Bananen. Total<br />
lecker! Gruß Löwe.“ Doch der Löwe war nicht<br />
damit zufrieden. „Aber neiiiiiin!“, brüllte der<br />
Löwe, „so et was hätt e ich doch nie<br />
geschrieben!“ Auch das Nilpferd, der<br />
Mistkäfer, die Giraffe, das Krokodil und der<br />
Geier, die er nacheinander mit dem Schreiben<br />
eines Briefes an die Löwin beauftragt,<br />
s c h reiben d iesen im mer n ur aus ihre r<br />
Perspektive. Dem Löwen reichte es.<br />
„Nein !“, brüllte der Löwe. „Neiiiiiiin! Nein!<br />
und nochmals Nein!“ „Ich würde schre i b e n ,<br />
wie sch ön sie ist. Ich würde ihr schreiben, wie<br />
g e rne ich sie sehen würde. Einfach zusammen<br />
sein. Einfach faul unter einem Baum liegen.<br />
Einfach in den Abendhimmel gucken! … Und<br />
dann brüllte der Löwe los. Brüllte all die wun -<br />
d e r b a ren Dinge, die er schreiben würde, wenn er<br />
könnte. Das hörte seine angebetete Löwin und<br />
sie fragte ihn erstaunt: „Wa rum haben Sie<br />
denn nicht selbst geschrieben ?“ Und<br />
zerknirsch t muss der Löwe antworten: „Ich<br />
habe nicht geschrieben, weil ich n icht schre i b e n<br />
kann.“ Da lächelte die Löwin , stupste den<br />
Löwen mit der Nase und n ahm ih n mit.<br />
Das letzte Bild zeigt die beiden unter einem<br />
Baum liegend, vor einem aufgeschlagenen<br />
leeren Buch, in das der Löwe mit Hilfe der<br />
Löwin ein großes A schreibt, A wie Anfang.<br />
Ein liebenswertes Buch, dem sich weder<br />
Kinder noch Erwachsene entziehen können.<br />
Doch nicht nur Kinder- und Jugendbücher,<br />
die trotz bestehender Schwierigkeiten Mut<br />
zum Lesen- und Schreibenlernen machen,<br />
sind wichtig, sondern auch solche, in denen<br />
das Lesen- und Schre i b e n l e rnen scheitert ,<br />
wenn sie gleichzeitig zeigen, dass die gescheiterten<br />
Kinder andere Fähigkeiten haben, mit<br />
denen sie das Leben meistern.<br />
Zu solchen Büchern gehören z.B. „Pippi<br />
L a n g s t rum pf“ vo n Astrid Lindgren und<br />
„Hilfe, die Herdmanns kommen“ von Barbara<br />
Robinson. Pippi kann nur rudimentär lesen<br />
und schreiben, ihr ist noch nicht einmal die<br />
Funktio n d er Komm unikat ion durc h<br />
Schriftsprache bekannt, denn sonst würde sie<br />
sich nicht selbst einen Brief schreiben. Sie will<br />
aber nicht lernen und meistert trotzdem ihr<br />
Leben.<br />
Ähnlich geht es den Herdmann-Kindern,<br />
über die Barbara Robinson schreibt.<br />
„Die Hermann-Kinder waren die schlimmsten<br />
Kinder aller Zeiten. Sie logen und klauten,<br />
rauchten Zigarren (sogar die Mädchen)<br />
und erzählten schmutzige Witze. Sie schlugen<br />
kleine Kinder, fluchten auf ihre Lehre r,<br />
mißbrauchten den Namen des Herrn und<br />
setzten den alten verfallenen Geräteschuppen<br />
von Fred Schumacher in Brand“ (Robinson, S.<br />
5) – so charakterisiert die Autorin ihre kleinen<br />
Helden gleich zu Beginn der Geschichte. Klar,<br />
dass sie in der Schule Probleme mit dem<br />
Lesen- und Schreibenlernen haben. Aber das<br />
Merkwürdige ist, dass nie einer von ihnen<br />
sitzen bleibt: „Am Ende der ersten Klasse<br />
konnte Klaus Herdmann weder das Abc noch<br />
die Zahlen, er kannte keine Farben und konnte<br />
ein Viereck nicht von einem Kreis unterscheiden,<br />
er hatte weder gelernt, ‚Hänschen<br />
klein’ zu singen, noch mit anderen Kindern<br />
auszukommen.<br />
Aber Fräulein Brendel versetzte ihn trotzdem<br />
in die zweite Klasse:<br />
Denn eines wußte sie: Im näch sten Jahr<br />
w ü rde sie Olli Herdmann in der Klasse hab en.<br />
Das war eben die Sache mit den Herdmanns: Es<br />
kam im mer einer nach. Und kein Lehrer war so<br />
v e rrückt, sich mit zweien von ihnen auf einmal<br />
ein zulassen“ (Robinson, S. 11 f.). Hier gibt<br />
die Auto rin einen wichtigen Hinw eis zur<br />
Ursachenfo rschung <strong>für</strong> funkt io nalen Analphabet<br />
ismu s: Vielfach werden Kinder aus Bequ emlichkeit<br />
einfach durch die Schulzeit „d urc h g ezogen“,<br />
um Schwierigkeiten zu vermeid en, in<br />
die nächste Klasse – m eist aus Altersgrü nd en –<br />
versetzt o der auf d ie Sonderschule „abgeschoben“<br />
(vgl. Döbert 1997).<br />
Pip pi Langstrumpf und die Herd m a n n s<br />
sind alles irgendwo liebenswerte Kinder, die<br />
deutlich machen, dass es noch and ere<br />
Qualitäten gibt, als lesen und schreiben zu<br />
können. Aber haben sie eine Chance, in einer<br />
von Schriftsprache geprägten Welt zu überleben?<br />
Kaum. Von den Herdmanns können<br />
wir nur ahnen, was aus ihnen wird. Pippi<br />
kann nur überleben, glücklich und fröhlich<br />
bleiben, weil sie die Krummuluspille schluckt
und so nie älter als neun Jahre wird. I n s o f e nr<br />
ist sie die einzige glückliche Analphabetin der<br />
Weltliteratur.<br />
Hier stellt sich die Frage, ob die Lektüre<br />
dieser Bücher Kindern mit Lese- und Schreibproblemen<br />
hilft. Bei der Überwindung dieser<br />
Probleme direkt wohl nicht, aber sie können<br />
ihnen Selbstbewusstsein vermitteln, das <strong>für</strong><br />
den weiteren Lernprozess hilfreich sein kann.<br />
Und das ist doch auch schon etwas!<br />
In die Kategorie der Bücher, die Selbstbew<br />
usstsein vermit teln , um trotz Lese- un d<br />
Schreibproblemen das Leben zu meistern, fällt<br />
auch das Buch „Der Pastor von Nibbleswick“,<br />
das Roald Dahl im Auftrag des Londoner<br />
D yslex ie-Inst itu ts <strong>für</strong> lese- und schre i bschwache<br />
Kinder geschrieben hat und mit<br />
d em d er Ü berblick b eend et werd en so ll.<br />
Hochwürden Lee hat als Kind unter Lese-/<br />
Rechtschreibschwäche gelitten, ist aber d u rc h<br />
die Bem ühungen des Lond oner Dyslexie-<br />
Institut s weitgehend davon „geheilt“ worden.<br />
Nur wenn er unter Stress steht, sucht sie ihn<br />
noch heim, allerdings in einer merkwürdigen<br />
For m: Er spricht dann die wichtigsten Wörter<br />
rückwärts. So wird „dog“ zu „god“ – und<br />
u m g e k e h rt – und eine Zeile au s d em<br />
Va t e ru nser lau tet „Und vergib u ns unsere<br />
D luhcs, wie auch wir vergeb en unsere n<br />
Nregidluhcs“ (Dahl 2000, S. 18). Kein Wund<br />
e r, dass dies in seiner neuen Kirc h e ngemeind<br />
e zu nächst Ve rw i rung st iftet. Die<br />
erreicht dann ihren Höhepunkt, als er nach<br />
einer Sonntagspredigt verkündet: „Die Straße<br />
vor unserer kleinen Kirche ist ausgesprochen<br />
schmal, und wie Sie wissen, ist kaum Platz<br />
genug, um mit zwei Fahrzeugen aneinander<br />
vorbeizukommen. Deshalb erscheint es mir<br />
richtig, wenn ich die Mit glieder unsere r<br />
Gemeinde bitte ...“ – und dann folgte wieder<br />
eine dieser Wo rt v e r k e h rungen. Er w ollte<br />
sagen: „... nicht vor dem Gottesdienst entlang<br />
der Vorderseite unserer Kirche zu parken.“<br />
Parken heißt aber im Englischen park, und<br />
rückwärts liest sich das Wort krap. Aber krap<br />
bedeutet scheißen. Also verstanden die Leute,<br />
sie sollten nicht vor dem Gottesdienst entlang<br />
der Vorderseite ihrer Kirche scheißen. Und<br />
weiter hörten sie den Pastor sagen: „Es ist<br />
nicht nur ein unschöner Anblick, sondern<br />
auch gefährlich. Wenn ihr alle auf einmal am<br />
Straßenrand scheißt, könnt ihr leicht von<br />
ein em v orb eifahrend en Wagen überf a h re n<br />
werden. Es gibt doch genügend Platz an der<br />
Südseite der Kirche.“ (Dahl 1992, S. 19 f.)<br />
Mit Hilfe des Dorfarztes gelingt es Pastor<br />
Lee, mit seinem Problem fertig zu werden: Er<br />
geht bei der Predigt immer rückwärts, dann<br />
kommen nämlich alle Wörter vorwärts raus,<br />
und um sehen zu können, wohin er geht,<br />
bringt er einen kleinen Rückspiegel mit einem<br />
Elastikb and an der Stirn an. „Schließ lich<br />
wurde Hochwürden Robert Lee so gut im<br />
Rückwärtsgehen, daß er gar nicht mehr vorwärts<br />
lief, und <strong>für</strong> den Rest seines Lebens galt<br />
er als ein liebenswerter Exzentriker und eine<br />
echte Stütze der Gemeinde.“<br />
(Dahl 1992, S. 22)<br />
Das Ermutigende an dieser Geschichte ist<br />
nicht nur, dass Pastor Lee eine Lösung <strong>für</strong> sein<br />
Problem findet, sondern dass seine Gemeinde<br />
ihn trotz seiner Schwäche ak zeptiert . Die<br />
Realität sieht bei uns heutzutage noch anders<br />
aus: Bei uns werden Menschen mit Lese/<br />
S c h re i b p roblemen immer no ch versp ot tet<br />
und an den sozialen Rand gedrängt. Ihre<br />
Existenz w ird geleu gnet, tab uisiert oder<br />
heruntergespielt, sodass oft eine gezielte Hilfe<br />
<strong>für</strong> sie nicht möglich ist.<br />
An dieser Stelle soll der Streifzug durch die<br />
Kinder- und Jugendliteratur abgebrochen werden,<br />
obwohl es noch viele interessante Titel<br />
u nd Aspek te gibt, d ie vorgest ellt werd e n<br />
könnten.<br />
Der Streifzug hat gezeigt, dass Lesen- und<br />
Schreibenlernen seit mehr als zweihundertfünfzig<br />
Jahren ein Thema der Kinderliteratur<br />
ist. Dabei stehen Motivation zum Lesen- und<br />
Schreibenlernen sowie die Überwindung der<br />
dabei auftret enden Schwierigkeiten im<br />
Mittelpunkt.<br />
Deshalb sind diese Bücher in der heutigen<br />
Zeit <strong>für</strong> Kinder wichtig. Sie erf a h ren, wozu man<br />
Lesen und Schreiben braucht und werd en so<br />
m o t i v i e t, r es zu lernen und anzu wenden.<br />
Sie erfahren aber auch, dass Lesen- und<br />
Schreibenlernen mit Schwierigkeiten verbund<br />
en sein kann. Wenn sie selb st so lche<br />
Schwierigkeiten haben, zeigen diese Bücher<br />
ihnen, dass sie nicht die Einzigen sind, und<br />
das macht Mut. Wenn sie keine Schwierigkeiten<br />
haben, erfahren sie, dass es Kinder gibt,<br />
die solche Probleme haben und dass man<br />
diese Kinder nicht auslacht, sondern ihnen<br />
hilft und Rücksicht auf sie nimmt.
Baltscheit, Martin. 2002. Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben ko nnte. Zürich: Bajazzo.<br />
Biessels, Carli / Erlbruch, Wolf. 2000. Benni und die Wörter. Eine Geschichte zum<br />
Lesenlernen. Weinheim: Beltz & Gelberg.<br />
Campe, Joachim Heinrich. 1830. Abeze- und Lesebuch. Braunschweig (Sämtliche Kinder- und<br />
Jugendschriften, Bd. 1, Faks. Nachdruck, Die bibliophilen Taschenbücher, Dortmund 1979).<br />
Dahl, Roald. 1997. Matilda. Reinbek: rororo r otfuchs.<br />
Dahl, Roald. 1992. Der Pastor von Nibbleswick. Ravensburg: Otto Maier.<br />
Doorselaer, Willy van. 1995. Ich heiße Kaspar. München: Carl Hanser.<br />
Ellensohn, Susanne. 1999. Der lange Hans oder Die heimliche Flucht. Hamburg: Oetinger.<br />
Fährmann, Willi. 61997. Der überaus starke Willibald. Würzburg: Arena.<br />
Goldsmith, Oliver [?]. 1765: The History of Little Goody Two-Shoes.<br />
Heidelbach, Nikolaus. 21997. Ein Buch <strong>für</strong> Bruno. Weinheim: Beltz&Gelberg.<br />
Hesse, Karen. 2000. Nennt mich einfach Jule. München: dtv.<br />
Janosch. 1994. Wie der Tiger lesen lernt. München: Mosaik.<br />
Jonas, Anne. 1999. Bertram und Kasimir. Vom Abenteuer Lesen. Esslingen: Esslinger Verlag.<br />
Lindgren, Astrid. 1987. Pippi Langstrumpf. Hamburg: Oetinger.<br />
Moritz, Karl Philipp. 1794. Neues ABC-Buch. Berlin, Faks., München: Insel 1980.<br />
Moritz, Karl Philipp / Erlbruch, Wolf. 2000. Neues ABC-Buch. München: Kunstmann.<br />
Nahrgang, Frauke. 1991. Katja und die Buchstaben. Kevelaer: anrich.<br />
Nöstlinger, Christine. 1985. Neues vom Franz. Hamburg: Oetinger.<br />
Philipps, Carolin. 1997. Wer lacht hat keine Ahnung. Wien: Uebereuter.<br />
Reiche, Dietlof: Freddy. 1998. Ein wildes Hamsterleben. Weinheim: anrich.<br />
Robinson, Barbara. 1974. Hilfe, die Herdmanns kommen. Hamburg: Oetinger.<br />
Schubart, Christian Friedrich Daniel. „Schuldiktat Nr. 5“. In: Schubarts Werke.<br />
Berlin/Weimar 1988, S. 258f.<br />
Tyl Ulenspiegel. In: Deutsche Volksbücher. Berlin/Weimar: Aufbau 1968, Bd. 2, S.5-155.<br />
Ziem, Jochen.1992. Boris, Kreuzberg, 12 Jahre. Berlin/München: Erika Klöpp.<br />
Döbert, Marion. 1997. „Schriftsprachunkundigkeit bei deutschsprachigen Erwachsenen.“<br />
In: Eicher, Thomas: Zwischen Leseanimation und literarischer Sozialisation. Oberhausen:<br />
Athena, S. 117-139.<br />
Döbert, Marion / Hubertus, Peter. 2000. Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und<br />
Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart: Klett / Bundesverband Alphabetisierung e.V.<br />
(Bezug: www.alphabetisierung.de)<br />
Genuneit, Jürgen. 1995. „Lesen- und Schreibenlernen in der schönen Literatur.“ In: Stark,<br />
Werner u. a. (Hrsg.): Schulische und außerschulische Prävention von Analphabetismus.<br />
Stuttgart: Klett, S. 171-191.<br />
Genuneit, Jürgen. 1998. „Die Macht des Schreibens – die Ohnmacht der Analphabeten.“<br />
In: Stark, Werner u. a. (Hrsg.): Wer schreibt, der bleibt! – Und wer nicht schreibt?<br />
Stuttgart: Klett, S. 22-41.<br />
Genuneit, Jürgen. 2001. „Lesen- und Schreibenlernen im Kinderbuch. Vorschläge zur Umsetzung<br />
eines Kinder- u nd Menschenrecht es in Deutschland.“ In: Grundschu le Sprach en, 4, S. 22-25.<br />
Genuneit, Jürgen. 2002. „Schreiben auf Leben und Tod oder ist Alphabetisierung nur<br />
Lesenlernen?“ In: Alfa-Forum 51, S. 36f.<br />
Goetsch, Paul. 1990. „Der Analphabet in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts.“ In:<br />
Müllenbrock, Heinz Joachim/Klein, Alfons (Hrsg.): Motive und Themen englischsprachiger<br />
Literatur als Indikatoren literaturgeschichtlicher Prozesse. Tübingen, S. 241-265.<br />
Hubertus, Peter/Nahrgang, Frauke/Schöber, Gerald. 1996. „Was sie aber wirklich erstarren<br />
lässt, ist die Interessenlosigkeit der Lehrerin.“ In: Alfa-Rundbrief 33, S. 16f.<br />
Moser-Rath, Elfriede. 1977. „Analphabetenschwänke.“ In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 1.<br />
Berlin 1977, Sp. 482-484.<br />
Sloterdijk, Peter. 1999. Regeln <strong>für</strong> den Menschenpark. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Wie kann im komplex en Arbeitsfeld des<br />
Lesens das einzelne Kind in seiner <strong>Lesekompetenz</strong>-<br />
und Lesestrategieentwicklung gezielt<br />
gefördert werden?<br />
Dieser Frage widmet sich der folgende<br />
Beitrag –<br />
• im ersten Teil durch eine kurze theoretische<br />
Bestimmung, was Lesen sei, welche<br />
Strategien es zu erwerben gilt und warum<br />
lit erarische Texte zur Aneignu ng dieser<br />
Strategien besonders geeignet sind,<br />
• im zweit en Teil durch eine Reih e vo n<br />
Prax isbeispielen, in denen w esent liche<br />
Lesestrategien fokussiert sind und geübt<br />
werden können.<br />
Lesen ist ein komplizierter kognitiver Prozess,<br />
b ei dem die gesamten sp rachlichen und<br />
außersprachlichen Kenntnisse und Erfahrungen<br />
des Lesers oder der Leserin einbezogen<br />
werden müssen:<br />
• Der Leser od er d ie Leserin m uss d ie<br />
S t ruktur eines Wo rtes, eines Tex tes erf<br />
a s s e n .<br />
• Der Leser oder d ie Leserin muss d ie im<br />
Text vorhandenen Begriffe m it ihren od er<br />
seiner Vorstellu ng verb inden b zw. d iese<br />
aus dem Textzusammenhang erschließen<br />
k ö n n e n .<br />
• Es müssen vielfältige Ve r k n ü p f u n g s l e i -s<br />
tu ng en vo llzo gen w erden, z.B. Ve rknüpfu<br />
ngen vo n Wö rt e rn, vo n Ab schnit -<br />
ten, Bezu g v on Üb erschrift und Te x t ,<br />
Verbind ung von Text anfang un d -ende.<br />
We rden genü gend Verknüpfungs- u nd<br />
Vorst ellu ngsleist ungen erbracht, so kan n die<br />
Aussage des Text es, der Sinn, gefu nden werd<br />
en. Eine so lche anstrengend e geist ige<br />
Tätigkeit bedarf der Mot ivatio n, d.h., die<br />
Lesenden wenden sich dem Text zu, weil sie<br />
Sinngebu ng u nd Information erw a rt en, weil<br />
sie auf das Ergebnis ihrer Lesebemühun gen<br />
gespannt sind .<br />
Der Deutschunterricht in der <strong>Grundschule</strong><br />
hat die Aufgabe, eine anhaltende Lesemotivation<br />
aufzubauen (vgl. Rahmenplan der BBS).<br />
Da<strong>für</strong> sind die folgenden Aspekte konstitutiv:<br />
a) die Bedeutsamkeit der Inhalte (Wozu lese<br />
ich diesen Text? Geht der Text mich etwas<br />
an? Was habe ich von ihm?),<br />
b) die Möglichkeit der Rückkoppelung von<br />
Leseerfahrungen im Gespräch mit anderen<br />
und in Lernzusammenhängen (Wie habe<br />
ich den Text verstanden und was sagen die<br />
anderen dazu? Da gibt es ja ganz viele<br />
unterschiedliche Gedanken! Auf die wäre<br />
ich allein nicht gekommen!) sowie<br />
c) die Förderung der Erfolgszuversicht (Ich<br />
erwarte Antworten auf meine Fragen. Ich<br />
kriege das heraus!).<br />
Lesen ereignet sich immer auf zwei Ebenen:<br />
Auf der inhaltlichen (z.B. Informationsentnahme)<br />
und auf der methodischen (z.B. Lesetechnik).<br />
Unverzichtbar <strong>für</strong> die didaktische<br />
Konzeption sinnvoller Au fgab en st ellu ngen<br />
ist es daher, dass die Sinnentnahme immer<br />
mit Maßnahmen zur Förd e rung d er<br />
Lesestrategien verbunden wird. Wenn Kinder<br />
in dem komplexen Arbeitsfeld Lesen hierzu<br />
systematisch angeregt un d angeleitet werd e n ,<br />
lernen sie, Wörter und Sätze in Teileinheiten<br />
zu gliedern und d ie Bezieh ungen zwischen<br />
diesen Einheiten zu erkennen, Info rm a t i onen<br />
in einem Text au szu machen u nd diese<br />
zu b ewerten, Begriffe u nd Sinnzusam menhän<br />
ge zu klären, die Au fmerk sam keit auf<br />
wesent liche G edan ken in einem Tex t zu<br />
lenk en u sw. Sie lernen so, üb er genau jene<br />
Strategien des Text verst ehens zu verf ü g e n ,<br />
d.h. automatisch die Strat eg ie anzuwen den,<br />
die <strong>für</strong> das Verstehen notwendig sind (v gl.<br />
dazu Aebli. In: Gru n d f o rmen des Lernens. S.<br />
117 ff. und Baurmann / Müller in PD, S. 44).<br />
Das Interesse am Lesen und d ie Fähigkeit<br />
zur Anwendung v on Lesestrategien <strong>für</strong> das<br />
Textv erstehen bed ingen einand er.<br />
Nur w enn bei d es erk ennbar <strong>für</strong> d i e<br />
Kinder mit einand er verbun den ist, kö nnen<br />
sie d en We rt des Lesens <strong>für</strong> sich persönlich<br />
entdecken, die <strong>für</strong> die Entwicklung der Strat egien<br />
not wen dige Anstre n g u n g s b e re i t s c h a f t<br />
a u f - und ausbauen un d Freude am Lesen<br />
g e w i n n e n .
Für die Ausbildung und Förderung einer wie<br />
oben verstandenen <strong>Lesekompetenz</strong> werden<br />
sowo hl Sacht ext e als auch v erantw ortungsvoll<br />
ausgewählte literarische Texte empfohlen.<br />
Reime, Rätsel, Ged ichte und<br />
Geschichten bieten auf Grund ihrer sprachlichen<br />
Gestaltung vielerlei Ansätze da<strong>für</strong>, die<br />
<strong>für</strong> d as Text verstehen erf o rd e r l i c h e n<br />
Strategien bewusst zu üben:<br />
• Bildhaftigkeit, Klang, Reim und Sprachrhythmus<br />
sprechen die Kinder emotional<br />
an und machen sie neugierig.<br />
• Besondere Gestaltungsweisen steuern die<br />
Aufmerksamkeit und fördern die Fähigkeit<br />
zur bewusst en Sinn- und Inform a t i o n sentnahme.<br />
• Reim und Rhythmus legen es nahe, Wörter<br />
und Sätze beim Lesen in Teileinheiten zu<br />
gliedern.<br />
• Die Kinder gewinnen au f G ru nd der<br />
Bildhaftigkeit und der besonderen Sprachgestaltung<br />
von literarischen Texten relativ<br />
schnell Zugang zu Inhalten, die sie z u m<br />
Nachdenken u nd Miterleb en anre g e n .<br />
• Sprachliche Prägnanz und Ve r k n a p p u n g<br />
wirken wie St o lpersteine u nd fo rd e rn<br />
zum N achdenk en u nd Fragen herau s.<br />
• Die Überschaub arkeit der Texte wi rk t<br />
e rm ut igend un d ermö glicht unterschied -<br />
liche unt errichtliche Arrangem ent s <strong>für</strong><br />
die Förd e rung d es Textverstehens.<br />
• Die Kinder begegnen Tex ten, die auf ihr<br />
Welt wissen u nd ihre Vorstellu ngen und<br />
E rf a h rungen t re ffen und dieses erw e i t e rn .<br />
• Reim e, Rätsel, G edicht e und Geschichten<br />
m o t i v i e ren zum Aust au sch sowi e zur<br />
D i ff e re n z i e ru ng u nd zum Üb erd e n k e n<br />
von ind ividuellen Leseerf a h run gen und<br />
Vo rstellu ngen im Gespräch u nd im<br />
gem einsam en Tu n .<br />
• Reime, Rätsel, G ed ichte und Geschichten<br />
i n i t i i e ren, leit en b zw. ergänzen Lern -<br />
z u s a m m e n h ä n g e .<br />
• St rat egien <strong>für</strong> das Textv erstehen erh a l t e n<br />
im inhalt lichen Kont ext u nd in Lern -<br />
zu sam menhän gen ihre Bed eu tung; das<br />
Lesen m uss <strong>für</strong> die Kind er zu einem<br />
e r k e n n b a ren un d erstre b e n s w e rten Ziel<br />
f ü h ren.<br />
• Die Begegnung mit d en Tex ten, die gelesen<br />
werden so llen, seien es Sachtexte<br />
oder literarische Texte, mu ss spannungsvoll<br />
sein, sie mu ss z.B. Erw a rtungen wecken<br />
und erfü llen , Vorstellun gen eröffnen u nd<br />
d i ff e re n z i e ren.<br />
• Im Hinblick au f die Ausb ildu ng von<br />
Strategien zur Förd e ru ng des Te x t v e rst<br />
ehens sind die Unt erschiede in der<br />
Rezeptio n no n-fikt ion aler und fiktio naler<br />
Texte nachrangig.<br />
(v gl. Hurrelmann , Bett ina.<br />
In: PD 176/02, S. 1 2).<br />
• Es ist sinn voll, auch literarische Text e so<br />
au szuwählen u nd den Unt erricht so zu<br />
gest alten, dass die Kind er m it einer<br />
gericht et en Aufmerksamkeit lesen und<br />
sich über d en Text verständigen können.<br />
Ein Leseauftrag wie „Schlagt das Buch<br />
au f Seit e ... auf. Wer beginnt mit dem Vo rlesen?“<br />
ist nicht m ot ivierend und<br />
s c h reckt Kinder ab, die noch nicht ü ber<br />
ein au sgebildetes Leseint eresse u nd -vermögen<br />
verf ü g e n .<br />
• Vor d em lauten Vorlesen soll ten die<br />
Kind er d ie Mö glichkeit haben, d en jeweiligen<br />
Text <strong>für</strong> sich zu lesen. Wenn wir<br />
d ie Kinder unb ekannte Texte o hne ausre ichende<br />
Vo r b e reitung vorlesen lassen,<br />
b esteht d ie Gefahr, d ass sie Lesen vorn<br />
ehmlich als ein Lautw erdenlassen von<br />
Schrift zeichen auffassen. Da sie Mü he<br />
genug haben, die Schrift in Laute u mzuset<br />
zen, vernach lässigen sie angesicht s<br />
d er Erw a rtung, m öglichst fehlerf rei vorlesen<br />
zu so llen, das Eigent liche und auch<br />
d as eigent lich Motivierend e: Die d urc h<br />
d ie Laute bezeichnete Sinnsuche u nterb<br />
leibt oder wird zum indest vern a c h l ä s s i g t .<br />
• Gleiches gilt au ch <strong>für</strong> m it lesende Kinder,<br />
d a diese auf d as Lesetempo d er Vo r l e s e r i n<br />
od er d es Vorlesers festg elegt werd e n .<br />
D u rch b lo ßes Vo r- und Mitlesen lassen,<br />
d.h. ohne vorheriges individuelles Lesen,<br />
w i rd d en Kindern d ie Sinnentnahme<br />
e r s c h w e rt oder gar verstellt .<br />
• Das sinngestaltende Vorlesen d er Lehrkraft<br />
erleichtert b zw. ermöglicht d en<br />
K i n d e rn jed och das Zuh ören und d as<br />
Te x t v e r s t e h . Ein e n solches gestaltendes<br />
Vorlesen trägt zur Lesem otivation beträchtlich<br />
bei.<br />
• Individu elles Lesen allein bietet allerd i n g s<br />
nicht die Gewähr <strong>für</strong> ein sinnerschließendes<br />
Lesen, sondern die gem einsame Besinnu<br />
ng ist notwendiger Bestand t ei l d es<br />
L e s e u n t e r i c h t e s .
• Das Gespräch dient dem Klären des<br />
Gelesenen sowie dem tieferen Eindringen<br />
in dessen Gehalt: Indem die Kinder das<br />
jeweils von ihnen Erfasste benennen, es zu<br />
verstehen und zu deuten versuchen und<br />
indem durch Nachlesen Aussagen geprüft,<br />
Inhalte zusam mengefasst und Schlü sse<br />
gezogen werden, indem Bezüge zur eigenen<br />
Vorstellungs- und Erfahrungswelt und<br />
schließlich Lernzusamm en hänge herg e -<br />
st ellt w erden, gelangen d ie Kind er zu<br />
einem Textverständnis, das ihnen au s<br />
eigener Kraft und allein nicht erreichbar<br />
wäre.<br />
• Handlungs- un d pro d u k t i o n s o r i e n t i e t re<br />
Verfahren dienen dem vertiefenden Textverstehen.<br />
Damit dies gefördert werden<br />
kann, muss der Text selbst im Mittelpunkt<br />
stehen. Die handlungs- und produktionso<br />
r i e n t i e tren Aufgabenstellungen müssen<br />
die Kinder zu nächst zur vert i e f e n d e n<br />
Auseinanderset zung mit dem jeweiligen<br />
Text herausfordern. Für das vertiefte Verstehen<br />
reicht es nicht, die vorgegebenen<br />
Inhalte nach eigenem Ermessen umgestalten<br />
oder weiterentwickeln zu lassen, diese<br />
szenisch darstellen oder sie mit Musikinstrumenten<br />
„vertonen“ zu lassen, vielmehr<br />
sollten die Kinder während solcher<br />
Prozesse zur kritischen Beobachtung ihrer<br />
Aktivitäten angeregt werden, und ihnen<br />
sollte dabei zunehmend klar werden, dass<br />
i h re Gestaltungsversuche Werkzeu ge <strong>für</strong><br />
das Textverstehen sind.<br />
Erst dann sind Ausgestaltungen, die über<br />
den Text hinau sg ehen oder ihn auch<br />
abwandeln, sinnvoll.<br />
• Klang gestaltendes Lesen ist dem Kind eine<br />
Hilfe, den Gehalt eines Textes zu erfassen<br />
und zu behalten. Es sollte jedoch nicht am<br />
Anfang der Lesebemühungen stehen, sondern<br />
das Textverstehen begleiten und vorläufig<br />
abschließen.<br />
• Vorbereitetes Vorlesen sollte einen festen<br />
Platz im Unterricht erhalten. Es ist eine<br />
wichtige Übungsmöglichkeit , und die<br />
Lehrerin oder der Lehrer erhält darüber<br />
hinaus durch die Art des Vortrags wichtige<br />
Hinweise, inwieweit der Text verstanden<br />
worden ist<br />
• Für das individuelle Stöbern in Büchern<br />
und zum Austausch ihrer Leseerfahrungen<br />
mit anderen müssen die Kinder freie Lesezeiten<br />
erhalten.<br />
In den folgenden Praxisvorschlägen wird<br />
jeweils eine wesentliche Strategie des Textverstehens<br />
beispielhaft in den Vordergrund<br />
gestellt:<br />
1. Sinnentnahme durch Antizipation<br />
(„Es klopft bei Wanja in der Nacht“)<br />
2. Sinnentnahme vorbereiten durch<br />
Nachdenken über Wörter<br />
(„Fingel“, „Ich wünsch’ gute Nacht“)<br />
3. Sinnentnahme durch Retrospektive<br />
(„Der süße Brei“)<br />
4. Sinnentnahme durch Rekonstruktion<br />
(„Droben auf grüner Waldheid“, „Weiß<br />
wie Kreide“, Bodenbilder, Lesespur)<br />
5. Sinnentnahme durch Gestaltung<br />
(„anege, hanege“, „Der Flügelflagel“, „De<br />
Dag de graut“, „Geschichten von Franz“)<br />
Eine äu ßerliche Bedrohu ng (ein nächt licher<br />
S c h n e e s t u m) r ist stärker als die Angst voreinander<br />
und der Unfried en untere i n a n d e r<br />
(von Mensch, Hase, Fu ch s u nd Bär). Erst der<br />
neue Morgen lässt alle die Gefahr, die vo m<br />
a n d e ren au sgeht, erkennen, u nd jeder geht<br />
wieder seinen eigenen Weg. Nur die Spuren im<br />
Schnee zeigen, dass sie die Nacht friedlich<br />
miteinander verb racht haben.<br />
G rundschulkinder kennen Gefühle w ie<br />
Angst in d er N acht, Angst vor N aturp<br />
h ä nomenen oder vor anderen, die stärker<br />
sind als sie. Dass es aus der Angst bzw. Not<br />
heraus Lösungen gibt, die anders sind als<br />
u n s e re Erw a rtu ngen, erf a h ren sie im<br />
Bilderb u ch „Es klopft b ei Wanja in der<br />
Nacht“. Diese „ungewöhnliche“ Lösung<br />
macht Mut und schafft Ve rtrauen in d as<br />
Leben.<br />
Das einfache Reimschema des Textes und<br />
der wiederkehrende Refrain gliedern d en<br />
Text, unterstützen das Verständnis und sorgen<br />
<strong>für</strong> eine große emotionale Nähe zu den<br />
Figuren.
D ie Geschicht e wird vor allem von den<br />
Illustrat ionen her erschlossen . D ie Sinnentnahme<br />
erfolgt durch:<br />
• Antizipation der Handlung,<br />
• Vorlesen und Mitsprechen,<br />
• Schreiben und<br />
• szenisches Spiel.<br />
H au pt tätigkeiten beim gem einsamen Kenn<br />
e n l e rnen eines Bilderbuches sind: das<br />
Betrachten und Verweilen, das Reden, Vor -<br />
lesen und Zuhören.<br />
Gemeinsam nachgedacht werden kann<br />
üb er Ab bild ungen, Überschriften und<br />
Textteile (z.B. Einleitungssätze, Kernstellen,<br />
Schlusssätze etc.).<br />
Für den Unterricht bedeutet das, dass<br />
besonders viel Zeit <strong>für</strong> das Gespräch eingeplant<br />
werden muss.<br />
Die Lehrkraft klebt Titel und Titelbild des<br />
Bilderbuches zunächst zu. Die gemeinsame<br />
Erarbeitung findet im Stuhlkreis statt:<br />
• Die Lehrkraft betrachtet mit den Kindern<br />
die Spuren im Schnee auf der Innenseite<br />
des Einbandes. Die Kinder st ellen Ve rmutungen<br />
an, um was <strong>für</strong> Spuren es sich<br />
handelt.<br />
• Die Lehrkraft li est d en Text v om<br />
E i n t re ffen d es Hasen bis zum Refrain<br />
„Bald w ird es still im k leinen Haus ...“<br />
v o r. D ie Kin der beschreib en das Bild<br />
(Hase im Lehnstuhl neben d em O fen)<br />
und st ellen Ve rmutungen an, wie sich d er<br />
Hase fühlt .<br />
• Die Lehrkraft liest bis zum Eintreffen des<br />
Fuchses und der Bitte des Hasen, ihn nicht<br />
einzu lassen, vor. Die Kind er äuß ern<br />
Vermutungen dazu, wie Wanja sich entscheidet.<br />
• Die Lehrkraft liest die Entscheidu ng<br />
Wanjas bis zum Refrain vor. Sie spricht und<br />
übt mit den Kindern den Refrain.<br />
• Das Eintreffen des Bären wird bis zur Zeile<br />
„Was mach ich bloß? O Mann, o Mann.”<br />
v o rgelesen. Die Kinder b etracht en und<br />
b e s c h reiben das Bild und stellen<br />
Vermutungen an, was Wanja machen wird.<br />
Die Lehrkraft liest bis zur Entscheidung,<br />
den Bären aufzunehmen. Die Kind er<br />
sprechen den abschließenden Refrain mit.<br />
• Die Lehrkraft zeigt das Bild vom tobenden<br />
S c h n e e s t u rm und liest dan n bis zum<br />
Ve rweis auf den nächsten Morgen vor.<br />
Danach erst wird das Bild von Wanja und<br />
den friedlich schlafenden Tier en gezeigt.<br />
• Die anschließende Schreibaufgabe zum<br />
Bild der friedlich schlafenden Tier e sollte<br />
möglichst offen formuliert sein bzw. die<br />
Aufgab enstellungen könnten d iff e re nzierend<br />
eingesetzt werden (z.B.: Schreibe<br />
etwas zum Bild! oder: Am Morgen ist der<br />
S t u rm vo rbei … od er: Wie könnt e es<br />
weitergehen?).<br />
• Nach der Präsent at io n d er Schü lert e x t e<br />
kann der Schluss des Textes mit den eigenen<br />
Lösungen verglichen werden.<br />
Der Kinderbuchklassiker „Es klopft bei Wanja<br />
in der Nacht“ eignet sich besonders zum<br />
szenischen Spiel.<br />
FINGEL<br />
(nach Klinger)<br />
1.<br />
Fingel war ein Riese in Irland.<br />
In Schottland lebte ein anderer Riese.<br />
Der hörte von Fingel und wurde darüber<br />
unruhig.<br />
„ Wer ist dieser Fingel?“ fragt e er sich<br />
immer wieder.<br />
„Ich will zu ihm hinübergehen und ihn<br />
sehen.“<br />
So machte er sich auf den Weg und ging<br />
über den Irischen Kanal.<br />
Fingel hörte davon und erschrak, denn<br />
man hatte ihm erzählt,<br />
d ass der schottische Riese ihn u m<br />
Haupteslänge überrage.<br />
2.<br />
Als er d en Riesen nu n auf sein Hau s<br />
zukommen sah,<br />
rannte er so schnell er konnte in die Küche.<br />
„Weib!“ rief er, „schnell, schnell. Der große<br />
Schotte kommt!<br />
Ich lege mich rasch ins Bett,<br />
und wenn er fragt, wer da schläft, so sage,<br />
es sei dein Kind!“<br />
Fingel sprang ins Bett und seine Frau hatte<br />
gerade noch Zeit,<br />
ihm die Decke überzuwerfen, als der Riese<br />
hereinkam.<br />
„Wo steckt dieser Fingel!“ schrie er.
„Schaff ihn mir herbei, ich will ihn verprügeln!“<br />
„Pst! Pst!“ wisperte die Frau. Du weckst mir<br />
das Kind auf!“<br />
„Was <strong>für</strong> ein Kind?“<br />
„Fingels Kind“, flüsterte die Frau<br />
und neigte sich über den großen Körper<br />
unter der Decke.<br />
„O heiliger Andreas!“ schrie der Riese auf.<br />
„Wenn das sein Kind ist, wie groß muss<br />
Fingel dann erst sein!“<br />
Damit stürzte er aus dem Haus und rannte<br />
ohne Pause,<br />
bis er wieder sicher in seiner Heimat war.<br />
3.<br />
Fingel aber stand auf und lachte so laut,<br />
dass es von den Wänden widerhallte.<br />
Jemand ist kleiner als ein anderer und hat<br />
Angst. Diese Situation ist Kindern eines zweiten<br />
und dritten Schuljahres nicht fremd. Zu<br />
erleben, wie in der Geschichte von Fingel der<br />
Kleinere zugibt, Angst zu haben, sich aber zu<br />
helfen weiß, bereitet Vergnügen und entlastet<br />
von eigenen Ängsten.<br />
Die Verlagerung des Geschehens in die<br />
F e rne u nd in u nrealistische G rößenverhältnisse<br />
schafft den nötigen Abstand, um<br />
beim Lesen über eigenes Erleben nachdenken<br />
zu können.<br />
N ach Sch affen anschaulicher sprachlicher<br />
Gr undlagen durch Klärung von Begriffen und<br />
Wörtern erfolgt die Sinnentnahme durch:<br />
• Antizipation,<br />
• Zusammenfassen des Inhalts,<br />
• szenische Gestaltung und<br />
• eine Schreibphase.<br />
Schon beim ersten Satz „Fingel war ein Riese<br />
in Irland“ entwickelt der kompetente Leser<br />
von sich aus eine Vorstellung vom Ort und<br />
der Außerordentlichkeit des Geschehens und<br />
weckt Erwartungen, die ihn zum Weiterlesen<br />
veranlassen. Eine solche selbstständige Vorst<br />
ellungsb ildung, durch die Leseintere s s e<br />
erzeugt wird, kann bei Kindern eines zweiten<br />
bzw. dritten Schuljahres nicht vorausgesetzt<br />
werden. Es müssen im Vorfeld der Lesearbeit<br />
anschauliche u nd sprachliche Gru n d l a g e n<br />
geschaffen werden.<br />
• Die Kinder betrachten das Bild und finden<br />
gemeinsam heraus, was es ihnen erzählt.<br />
Dies kann auch in Gruppen geschehen.<br />
• W ä h rend d er gemeinsamen Au ssp rache<br />
wird auf folgende Begriffe eingegangen:<br />
Irland – Ire<br />
Schottland – Schotte<br />
Irischer Kanal (Irische See – die geographisch<br />
gebräuchliche Bezeichnung)<br />
• Wenn die Kinder von sich aus Vermutungen<br />
anstellen, was es mit den Riesen auf<br />
sich haben könnte, werden sie zum stillen<br />
Lesen des ersten Teils der Geschichte aufgefordert,<br />
um genau das herauszufinden:<br />
• Tafelarbeit: Was erfahren wir über die<br />
Riesen?<br />
• Ein Gespräch schließt sich an. Ziel ist, dass<br />
die Kinder herausfinden: „Fingel sitzt in<br />
der Klemme.“<br />
Die weiterführende Frage stellt sich von<br />
selbst: Was kann er tun?<br />
Die Kinder machen Vorschläge.<br />
• Sie lesen nun den vollständigen Text und<br />
unterstreichen Stellen, die sie im Hinblick<br />
auf die Fragestellung besonders aufschlussreich<br />
oder „spannend“ finden.<br />
• Die Kinder lesen dann die entsprechenden<br />
Zeilen vor. Das Erschrecken Fingels, sein<br />
listiges Vorgehen und die Pfiffigkeit der<br />
Frau lassen sich gut sinngestaltend lesen<br />
und verdeutlichen.<br />
• Das szenische Sp ielen einzelner Dialogstellen<br />
kann der Vertiefung des Textverständnisses<br />
dienen, wenn es durch das<br />
U n t e rrichtsgespräch, das auf den Te x t<br />
Bezug nimmt, ergänzt wird. Das bedeutet:<br />
Spiel- und Reflexionsphasen wechseln kontinuierlich.<br />
• Möglicher Schreibim puls: „Jemand ist<br />
kleiner als ein anderer und hat Angst. Aber<br />
er weiß sich zu helfen“.<br />
Die Kinder können bei dieser Schre i baufgabe<br />
entweder die Geschichte noch einmal<br />
oder aber abgewandelt erzählen. Sie können<br />
auch eine neue Geschichte erfinden bzw.<br />
eine Geschichte von sich erzählen.
A n d e re Texte, die das Them a Angst zum<br />
Inhalt haben, kö nnen mit der Geschichte von<br />
Fingel in Beziehung gesetzt werden. Die Kinder<br />
ü b e rdenken dann no ch einmal ihr bisheriges<br />
Verständnis und haben Gelegenheit, es zu<br />
e rw e i t e rn oder zu mo difizieren . Als Beispiel<br />
seien die unten st ehenden Verse genannt. Sie<br />
heben jeweils einen Aspekt von Angst herv o r,<br />
der in d er Fingel-Geschichte zwar mitschwingt,<br />
jedoch nicht ausdrücklich Thema ist : Der erste<br />
Text st ellt humorvoll d ar, auf welche We i s e<br />
Angstgefüh le entsteh en, d er zweite Vers erm<br />
utigt zur Überw i ndung von Angst.<br />
• Vorschlag <strong>für</strong> die Weiterarbeit:<br />
Welcher der beiden Verse passt deiner<br />
Meinung nach zur Fingel-Geschichte?<br />
Begründe deine Entscheidung.<br />
Mother Goose<br />
Mariechen auf der Mauer stund, sie<br />
hatte Angst vor einem Hund.Der<br />
Hund hatte Angst vor der Marie,<br />
weil sie immer so laut schrie.<br />
Die Nacht<br />
Die Nacht ist ein großes schwarzes Loch.<br />
Glühwürmchen aber wagt es doch, zögert<br />
nicht, zündet an sein Licht.<br />
(aus Japan)<br />
Ich wünsch’ gute Nacht,<br />
von Rosen ein Dach,<br />
von Zimt eine Tür,<br />
von Rosmarin einen Riegel da<strong>für</strong>.<br />
Ich dank‘ <strong>für</strong> diesen Reim,<br />
die Rosen wachsen groß und klein,<br />
sie wachsen auf und nieder,<br />
eine geruhsame Nacht wünsch’ ich wieder.<br />
(mündlich überliefert)<br />
K i n d e rn im Grundschulalter ist es ein Anliegen,<br />
d ie Welt in der Vorst ellung <strong>für</strong> sich so<br />
h e rzustellen, wie sie sein soll. Es ist ihnen ein<br />
B e d ü rfnis, Gefü hle des Ungesich erten, des<br />
Unbehaust- und Ausgeliefertseins durch Bilder<br />
d er Geborgenheit un d der Harm onie au szugleichen.<br />
Diese werden in d er ersten Strophe des<br />
Gedichtes – als Wu nsch an ein Gegenüber<br />
gerichtet – au sgesprochen. Der Wunsch als eine<br />
leb en dige u nd wirksam e Vorstellu ng wird in<br />
d er zweiten Strophe als Dank zurückgegeben.<br />
Das Gedicht ist jedoch in seiner Aussage<br />
nicht ohne gewisse Vorkenntnisse zu entschlüsseln.<br />
Die Kinder müssen erleben, nach<br />
Möglichkeit auch ausdrücken, welch angenehmes<br />
Empfinden der Duft der Rosen in<br />
ihnen weckt, und sie müssen über die Bedeutung<br />
von Zimt und besonders von Rosmarin<br />
als Heilpflanze informiert werden oder sich<br />
informieren können. Vor diesem Hintergrund<br />
sind die Kinder auch motiviert, über das<br />
Gedicht nachzudenken.<br />
Nach Schaffen anschaulicher und sprachlicher<br />
Grundlagen erfolgt die Sinnentnahme<br />
durch:<br />
• Assoziation,<br />
• Markieren von Sinn tragenden Wörtern,<br />
• Erschließen von Wortbedeutungen aus<br />
dem Kontext,<br />
• Gespräch,<br />
• dialogisches Lesen und Sprechen,<br />
• Textvergleich und<br />
• gegebenenfalls Einbettung in andere<br />
Lernzusammenhänge (z.B.: unsere Sinne,<br />
Gewürze).<br />
• Die Kinder erhalten die Gelegenheit, den<br />
spezifischen Duft der Rose, von Rosmarin<br />
und Zimt zu spüren und in Worte zu<br />
fassen.<br />
Die Lehrkraft hebt die Bedeutung der Rose<br />
als Inbegriff der Schönheit und des Wohlgeruches<br />
hervor und informiert über die<br />
Bedeutung von Zimt und besonders von<br />
Rosmarin als Heilpflanze.<br />
Die Lehrkraft zeigt und erklärt gemeinsam<br />
m it d en Kindern die Funktio n eines<br />
Riegels. (Die Bedeutu ng des Wo rt e s<br />
„Rieg el“ kö nnt e spät er mö glicherw e i s e<br />
auch aus dem Kontext ermittelt werden.)<br />
• Die Kinder lesen jedes <strong>für</strong> sich die erste<br />
Str ophe mit dem Auftrag: Lest und überlegt<br />
(evtl. zu zweit), was das, was wir eben<br />
herausgefunden und besprochen haben,<br />
mit diesem Reim zu tun hat. Unterstreicht<br />
die Zeile, die ihr besonders schön findet.<br />
• Die Kinder tauschen im Klassengespräch<br />
ihre Leseerfahrungen aus.<br />
• Die Kinder lesen die erste Strophe oder<br />
sprechen sie auswendig.<br />
• Die Lehrkraft wendet sich einem Kind zu<br />
und spricht die zweite Strophe so, dass der<br />
Dank, der darin enthalten ist, deutlich zum<br />
Ausdruck kommt.<br />
• D ie Kinder find en im Gespräch d en<br />
Zusammenhang zwischen erster und zwei-
ter Strop he heraus (z.B. „Der ist dan kbar<br />
<strong>für</strong> d ie Wo rte, dass er ih m was G ut es<br />
w ü n s c h t ! “ ) .<br />
• Die Kinder lesen bzw. sprechen d ie beiden<br />
S t ro phen im Dialog.<br />
Auß er der ursprünglichen ersten Stro p h e<br />
w e rden den Kind ern noch zwei Va r i a n t e n<br />
gegeb en mit dem Auftrag: Lest die beiden<br />
neuen Strophen genau u nd vergleicht sie mit<br />
d e r, die ihr zuerst zum Lesen bek om men<br />
habt . Welche Strophe vo n den dreien gefällt<br />
euch am besten? Begründ et eure Wa h l .<br />
Variante 1<br />
Ich wünsch’ gute Nacht,<br />
von Zimt ein Dach,<br />
von Rosen eine Tür,<br />
von Rosmarin einen Riegel da<strong>für</strong>.<br />
Variante 2<br />
Ich wünsch’ gute Nacht,<br />
von Rosmarin ein Dach,<br />
von Zimt eine Tür,<br />
von Rosen einen Riegel da<strong>für</strong>.<br />
DER SÜSSE BREI<br />
1 .<br />
Es war einmal ein armes, fro m m e s<br />
Mädchen,<br />
das lebte mit seiner Mutter allein<br />
und sie hatten nichts mehr zu essen.<br />
Da ging das Mädchen hinaus in den Wald<br />
2.<br />
und es begegnete ihm eine alte Frau,<br />
die wusste seinen Jammer schon<br />
und schenkte ihm ein Töpfchen,<br />
zu dem sollte es sagen: „Töpfchen koche“,<br />
so kochte es guten, süßen Hirsebrei,<br />
und wenn es sagte: „Töpfchen steh“,<br />
so hörte es auf zu kochen.<br />
Das Mädchen b r a c h t e d en Topf seiner<br />
Mutter heim,<br />
3.<br />
und nun waren sie ihrer Armut und ihres<br />
Hungers ledig<br />
und aßen süßen Brei, so oft sie wollten.<br />
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen,<br />
da sprach die Mutter: „Töpfchen koche.“<br />
4.<br />
Da kocht es und sie isst sich satt.<br />
Nun will sie, dass das Töpfchen wieder<br />
aufhören soll,<br />
aber weiß das Wor t nicht. Also kocht es<br />
fort,<br />
und der Brei steigt über den Rand und<br />
kocht immerzu ,<br />
die Küche und das ganze Haus voll<br />
und das zweite Haus und die Straße,<br />
als wollt’s die ganze Welt satt machen,<br />
und ist die größte Not und kein Mensch<br />
weiß sich zu helfen.<br />
5.<br />
Endlich, wie nur noch ein Haus übrig ist,<br />
d a kommt das Kind u nd spricht nur:<br />
„Töpfchen steh“,<br />
da steht es und hört auf zu kochen.<br />
Und wer in die Stadt wollte, der musste<br />
sich durchessen.<br />
Die m aßvolle Han dhabu ng d esjenig en<br />
Mittels, das die Existenz sichert, ist an die<br />
Kenntnis zweier Regelungen gebunden, die<br />
richt ig angewandt werden m üssen. Im<br />
Märchen ist es das Mädchen, das über diese<br />
I n f o rmat ionen u nd auch über dere n<br />
Handhabung verfügt.<br />
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
• Hören und Zuhören,<br />
• Formulieren von Erwartungen und<br />
• Markieren und Identifizieren von Sinn<br />
tragenden Wörtern, um<br />
• einen Text szenisch darzustellen.<br />
• Die Lehrkraft künd igt an, nur den erst en<br />
Satz des Märchens vorzu st ellen und d en<br />
F o rtgang der Hand lung ohne Wo rte und<br />
nur m it Hilfe von Klängen zu erz ä h l e n .<br />
Vo rher stellt sie die Perso nen und Dinge<br />
v o r, die <strong>für</strong> dieses Märchen konstitutiv sind .<br />
An der Tafel stehen folgende Wörter, <strong>für</strong><br />
die die Kinder in ihren Ti s c h g ru p p e n<br />
entsprechende Bildsymbolen erhalten:<br />
Die Tochter<br />
Die Mutter<br />
Ein Dorf<br />
Der Wald<br />
Eine alte Frau<br />
Ein Töpfchen mit Hirse
• Die Lehrkraft spricht den ersten Satz des<br />
Märchens. Dieser erste Satz steht auch an<br />
der Tafel. Sie stellt das Märchen dann mit<br />
ausgewählten Orff-Instrumenten dar.<br />
• Parallel dazu entwickeln die Kinder ihre<br />
Geschichte(n). Sie orientieren sich dabei<br />
an den Personen und Bildern an der Tafel<br />
und an den Klängen, die die Lehrkraft mit<br />
den Orff-Instrumenten erzeugt.<br />
• Die Kinder legen mit den Bildsymbolen<br />
noch einmal allein, zu zweit o der in<br />
Gruppen ihre Geschichte.<br />
• Die Kinder erhalten d en Text ohn e U nters<br />
t re i c h u n g e n .<br />
Aufgabe: „Lest nun d as Märchen un d<br />
u n t e r s t reicht d ie Stellen im Tex t, von<br />
denen ihr meint, dass sie zu den Klängen<br />
besonders gut passen. Wie würd et ihr jetzt<br />
die Bild er legen ? Hat sich etwas geänd<br />
e rt ? “<br />
• Es schließt sich ein Gespräch an, in d em<br />
das im Märchen d argestellte Geschehen<br />
zu nehmend in d en Vo rd e rg rund tritt.<br />
• Zum vertiefend en Verstehen des Märc h e n s<br />
w i rd d ieses szenisch d arg est ellt. Als<br />
Vo r b e reitun g <strong>für</strong> d iese Aufgabe erh a l t e n<br />
die Kinder d en Au ftrag: „Unterstreicht die<br />
W ö rt er und Stellen im Tex t, die euch<br />
besonders gut d aran erinnern, was in der<br />
Geschichte geschieht.“ D iese Arbeit sollte<br />
in den G ruppen vorgeno mm en werd e n .<br />
• Die Arb eitsergebnisse sind Gru ndlage <strong>für</strong><br />
m e h re re Spielversu che, die jeweils am Te x t<br />
üb erprüft werden. Um möglichst vielen<br />
K i n d e rn Gelegenheit zum Spielen zu<br />
geb en, wird das Märchen in Ab sch nitte<br />
(s.o .) untert e i l t .<br />
DROBEN AUF GRÜNER WALDHEID<br />
(überliefert)<br />
Droben auf grüner Waldheid,<br />
da steht ein schöner Birnbaum.<br />
Schöner Birnbaum trägt Laub.<br />
Was ist an demselbigen Baum?<br />
Ein wunderschöner Ast.<br />
Ast an dem Baum,<br />
Baum in der Erd.<br />
Was ist an demselbigen Ast?<br />
Ein wunderschöner Zweig.<br />
Zweig an dem Ast,<br />
Ast an dem Baum,<br />
Baum in der Erd.<br />
Droben auf grüner Waldheid<br />
steht ein schöner Birnbaum,<br />
schöner Birnbaum trägt Laub.<br />
Was ist an demselbigen Zweig?<br />
Ein wunderschönes Nest.<br />
Nest auf dem Zweig,<br />
Zweig an dem Ast,<br />
Ast an dem Baum,<br />
Baum in der Erd.<br />
Dr oben auf grüner Waldheid<br />
steht ein schöner Birnbaum,<br />
schöner Birnbaum trägt Laub.<br />
Was ist in demselbigen Nest?<br />
Ein wunderschönes Ei.<br />
Ei in dem Nest,<br />
Nest auf dem Zweig,<br />
Zweig an dem Ast,<br />
Ast an dem Baum,<br />
Baum in der Erd.<br />
Dr oben auf grüner Waldheid<br />
steht ein schöner Birnbaum,<br />
schöner Birnbaum trägt Laub.<br />
Was ist in demselbigen Ei?<br />
Ein wunderschöner Vogel.<br />
Vogel im Ei,<br />
Ei in dem Nest,<br />
Nest auf dem Zweig,<br />
Zweig auf dem Ast,<br />
Ast an dem Baum,<br />
Baum in der Erd.<br />
Droben auf grüner Waldheid<br />
steht ein schöner Birnbaum,<br />
Birnbaum trägt Laub.<br />
Das durch seine b ildh afte Sprache, sein e<br />
liedhaft e Rhythmik und seinen klaren Au fbau<br />
ein gängige Kettengedicht kann in<br />
Inhalt u nd Stru ktur als Anleitung <strong>für</strong> sinnerschließendes<br />
Lesen b etracht et w erd e n .<br />
„Schö n“ ist der Birnbaum. Er zieht d ie<br />
Blicke auf sich und weckt Erw a rtungen. Die<br />
ersten d rei Zeilen der ersten Stro phe k önnen<br />
als Ant wort au f eine Frag e angesehen<br />
w e rden, d ie (no ch) nicht gestellt word e n<br />
ist, die ab er nu n, da sie da ist, zum weitere n<br />
Fragen anregt . In einem sich stet ig wied erho<br />
lend en Frag e- u nd Antw ortsp i el erschließt<br />
sich sukzessive d as „G eheimnis“<br />
d es Baumes, d er G rund <strong>für</strong> seine An -<br />
z i e h u n g s k r a f t .<br />
K i n d e rn in d er G rund schule b ereitet d as<br />
Lesen eines s olchen Text es Ve r g n ü g e n .<br />
Sch nell lesende Kinder erkennen nach kurzer<br />
Zeit d en „Trick“ u nd ent wick eln das<br />
Gedicht d ann v on sich aus weiter. Kinder<br />
mit Leseschwierigkeiten ermutigt der Te x t<br />
auf Grund d er vielen Wo rt w i e d e rh o l u n g e n<br />
und wenigen neuen W örter (in jed er<br />
S t rophe lediglich ein neu es, Sinn tragend es<br />
Wo rt) zum selb stst ändigen Lesen.
N ach Sch affen anschaulicher Gru n d l a g e n<br />
erfolgt die Sinnentnahme durch:<br />
• schrittweises Erlesen des Inhaltes,<br />
• Antizipation,<br />
• Ergänzen von Textstellen,<br />
• bildhaftes Umsetzen des Gelesenen und<br />
• Sprechen des Gedichtes.<br />
• Das Gedicht wird den Kindern in seiner<br />
ganzen Läng e visuell präsent iert . Die<br />
Kinder betrachten es „von außen“. („Das<br />
ist aber lang!“ „Da sind immer Wörter<br />
gleich!“ „Da ist ganz viel gleich!“)<br />
• Die Kinder lesen die erste Strophe still.<br />
• Sie gestalten in gemeinsamer Arbeit einen<br />
großen Baum mit vielen Blättern.<br />
• Eine Partnerarbeit schließt sich an. Leseauftrag:<br />
„Wie müssen wir unseren Baum<br />
verändern, damit er zum Gedicht passt?<br />
Unterstreicht die Stellen im Gedicht, die<br />
da<strong>für</strong> wichtig sind.“ Dieser Arbeitsauftrag<br />
ist in sich diff e re n z i e rend. Langsam ere<br />
Leserinnen und Leser werden über die erste<br />
oder zweite Strophe kaum hinauskommen,<br />
w ä h rend die schnellen Leserinnen und<br />
Leser in der gleichen Zeit bis zum Ende des<br />
Gedichtes vordringen können. Alle Kinder<br />
aber werden einen Beitrag zur Gestaltung<br />
des Baumes leisten.<br />
• Dadurch, dass die Kinder versuchen, das<br />
Ged icht auswendig zu sprechen – d ies<br />
kann sehr gut auch durch ein Reihumsprechen<br />
geschehen – , werden sie auch <strong>für</strong><br />
seinen Aufbau sensibilisiert.<br />
Rätsel:<br />
Weiß wie Kreide,<br />
leicht wie Flaum,<br />
weich wie Seide,<br />
feucht wie Schaum.<br />
Literarische Rätsel könn en zu m sinnerschließenden<br />
Lesen anregen, sie erfordern<br />
jedoch geistige Aktivität und verlangen verstärkt<br />
Konzentration auf das Medium Sprache;<br />
jede Art von optischer Unterstützung<br />
entfällt. Durch einfach strukturierte Rätselsätze,<br />
die das Sach- und Weltwissen der Kinder<br />
treffen (z.B.: „Ich klettere auf Bäume und<br />
esse gern Bananen.“) besonders auch durch<br />
g e reimte Rätsel, bei denen das Reimwort ,<br />
welches das Rätsel abschließt, zugleich das<br />
L ö s u n g s w o rt ist o der bei denen mehre re<br />
Lösungen möglich sind, können die Kinder<br />
an diese besondere Art des Textverstehens<br />
herangeführt werden.<br />
z.B. Vom Himmel fällt’s,<br />
tut sich nicht weh,<br />
ist weiß und kalt,<br />
das ist _______.<br />
Wickele wackele – was ist das:<br />
Hinterm Schrank, da krabbelt was -<br />
ist kein Fuchs und ist kein Has’ -<br />
wickele wackele – was ist das?<br />
Das individuelle Lesen kann Vorbereitung<br />
<strong>für</strong> Rätselrunden sein. Hier üben sich die<br />
Kinder in der Gemeinschaft im Rätselgeben<br />
und Rätsellösen – gerade auch von selbst<br />
geschriebenen Rätseln.<br />
Das Rätsel vom Schnee ist typischerweise<br />
so aufgebaut, dass es den Leser zunächst verwirrt.<br />
Es geschieht deshalb auch häufig, dass<br />
die Kinder in der ersten Zeile das Wo rt<br />
„Kreide“ schnell als endgültige Antwort auf<br />
das Rätsel ansehen. Wenn sie aber Zeile <strong>für</strong><br />
Zeile weit erlesen, bemerken sie die Vo rläufig<br />
keit ihrer Lö su ngen und erk ennen<br />
schließlich in der Situation, dass erst in der<br />
Verknüpfung aller sprachlich verm i t t e l t e n<br />
Informationen des Rätsels Lösung liegt.<br />
Nach Sch affen anschaulicher und sp rachl<br />
i c her Grundlagen erfolgt die Sinnentnahme<br />
durch<br />
• Aktivieren von Sachwissen,<br />
• Erkennen von Sinn tragenden Wörtern,<br />
• Prüfen von Informationen,<br />
• Einordnen von Erfahrungen und<br />
• Verknüpfen von Informationen.<br />
• Die Lehrkraft gibt den Kindern Gelegenheit,<br />
Kreide, weiche Federn und ein Stück<br />
Seide anzusehen, zu befühlen und sich<br />
über ihre Wahrnehmungen auszutauschen.<br />
Sie schreibt „Schaum“ an die Tafel und<br />
lässt die Kinder erzählen, an was sie das<br />
Wo rt erinnert (z.B. Seifenschau m,<br />
Meeresschaum, er ist feucht).<br />
• Jedes Kind erhält d as Rätsel mit dem<br />
Auftrag, es still zu lesen und die Wörter zu<br />
u n t e r s t reichen, an d enen es beso nders<br />
deutlich erkennen kann, wie das verr ä tselte<br />
Ding beschaffen ist.
• Die Kinder nennen die Wörter, die sie<br />
unterstrichen haben, und diskutieren ihre<br />
Auswahl.<br />
• Die Lehrkraft klappt die Tafel auf, lässt das<br />
Rätsel noch einmal lesen und die „wichtigen<br />
Wörter“ unterstreichen.<br />
• Lösungsvorschläge der Kinder werden an<br />
der Tafel notiert.<br />
• Die Kinder prüfen, auf welches Lösungswort<br />
alle vier Eigenschaften zutreffen. Die<br />
Lehrkraft unterstützt Formulierungen wie:<br />
Es ist weiß wie Kreide, ist aber keine Kreide;<br />
denn Kreide ist nicht feucht.<br />
• Im Verlauf einer Rätseleinheit sammeln<br />
od er schreiben die Kinder Rätsel und<br />
gestalten z.B. kleine Rätselhefte oder eine<br />
Rätselecke <strong>für</strong> die Klassenzeitung.<br />
D as Bo denbild eignet sich besonders <strong>für</strong><br />
Vorschulkinder bzw. Erstklässer. Es unterstützt<br />
d as t eilnehm ende Zuhören, erleichtert<br />
K i n d e rn, die die Vorlesesituation von zu<br />
Hause nicht kennen, die Sinnentnahme und<br />
fördert die gemeinsame Erfahrung der Sinnkonstruktion.<br />
Während des Vorlesens oder des freien<br />
Erzählens eines Prosatextes (Erzählung, Märchen,<br />
kurze Geschichte) durch die Lehrkraft<br />
wird der Sinn des Vorgetragenen durch den<br />
parallelen Aufbau eines Bodenbildes unterstützt.<br />
Das Bodenbild wird auf einem schwarzen,<br />
dunkelblauen oder weißen Tuch aufgebaut. Es<br />
kann aus zum Text passenden<br />
• naturalistischen Gegenständen,<br />
• symbolischen Gegenständen<br />
• oder auch aus farbigen Tüchern bestehen.<br />
Die Gegenstände markieren die <strong>für</strong> das<br />
Verständnis notwendigen Schlüsselstellen.<br />
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
• visuelle Konstruktion,<br />
• Zuhören und Schauen und<br />
• Hervorhebung der Schlüsselstellen.<br />
• Die Lehrkraft bereit et geeignete Gegenstände<br />
vor und bringt sie <strong>für</strong> die Kinder<br />
nicht sichtbar (z.B. in einer besonderen<br />
Kiste) mit in die Erzählrunde. Die Kinder<br />
setzen sich im Halbkreis um das in der<br />
Mitte ausgebreitete Tuch.<br />
• Die Lehrkraft liest (noch besser: erzählt) die<br />
Geschichte und legt an geeigneter Stelle<br />
den passenden Gegenstand auf das Tuch.<br />
• Unterschiedliche Formen der Weiterarbeit<br />
sind möglich:<br />
Jeder G egenstand kann Ausgangspu nkt<br />
eines den Inhalt vertiefenden Gesprächs<br />
sein oder: Die Lehrkraft will den Erzählfluss<br />
und Spannungsaufbau nicht bzw. nur<br />
an wenigen Stellen unterbrechen, dann<br />
sind nur einzelne Gegenstände Ausgangspunkte<br />
eines Gesprächs.<br />
• Das gestaltete Bod enb ild b leibt <strong>für</strong> die<br />
anschließenden Aktivitäten aufgebaut. Es<br />
kann <strong>für</strong> das freie mündliche Erzählen der<br />
Kinder eingesetzt werden, oder es kann<br />
sich eine Schreibaufgabe an das Vortragen<br />
der Geschichte und den Bau des Bodenbildes<br />
anschließen.<br />
Im Verlaufe d er G rund schule sollten d ie<br />
Kinder erste Erfahrungen mit einer Lektüre<br />
machen. Das stille Lesen zu Hause oder auch<br />
in der Klasse sollte während der Arbeit an<br />
einem Buch die wichtigste Leseform sein.<br />
Sicherlich werden zentrale Stellen der Lektüre<br />
auch einmal vo n der Lehrkraft o der d en<br />
Schülerinnen und Schülern, die sich darauf<br />
vorbereitet haben, vorgelesen. Den größten<br />
Teil der Lektüre sollten die Kinder aber allein<br />
in ihrem individuellen Lesetempo bewält igen.<br />
Damit die Lehrkraft und die Kinder einen<br />
Überblick darü ber hab en, an welch er Stelle des<br />
Buches jed es Kind gerade liest, kann eine<br />
Lesestraß e im Klassenraum hängen.<br />
Auf der Lesestraße sind die Kapitel (oder<br />
Seitenzahlen) des Buches mit Bildern oder<br />
deutlichen Zeichen markiert. Oft lässt sich<br />
eine Lektüre auch u nt er inhalt lichen Gesicht<br />
spunkt en gliedern u nd visu alisiere n .<br />
Jedes Kind heftet eine Wäscheklammer mit<br />
seinem Namen an die Stelle, an der es gerade<br />
in der Lektüre liest.<br />
Die Lehrkraft sollte im Verlaufe der Lektüre<br />
nach größeren Sinnabschnitten besonders<br />
<strong>für</strong> schwächere Leserinnen und Leser<br />
Phasen der gemeinsamen inhaltlichen Verständigung<br />
schaffen. Dazu eignet sich die<br />
L e s e s p u r, d ie wie d as Bo denbild zent rale<br />
Inhalte des Textes visualisiert.
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
• visuell unterstützte Rekonstruktion,<br />
• mündliches Erzählen und Stellung<br />
nehmen und<br />
• Arbeit an Schlüsselstellen.<br />
• Die Lesespur w ird von der Lehrkraft vorb<br />
e reit et : Sie sammelt wichtige Gegenst<br />
änd e, die in den Ab schnitten d es Te x t e s ,<br />
die re k a p i t u l i e rt werden sollen, eine<br />
wicht ige Rolle spielen. Die Gegenstände<br />
w e rd en in d er Mitt e d es Stu hlkreises auf<br />
einem Tuch au sgebreitet, d ab ei wird keine<br />
Reihenfolge vorgegeben. Die Kin der erh a lten<br />
genügend Zeit, um die Gegenstände<br />
zu b etrachten.<br />
• D u rch einen stummen Impuls ford e rt die<br />
Lehrkraft d ie Schülerinnen un d Schüler<br />
auf, etwas zu sagen. Ein Kind nim mt einen<br />
Gegenst and in die Hand und erzäh lt, w a s<br />
im Lektüreabschnitt , in d em d er G egen -<br />
st and eine Rolle spielt, passiert. Das Kind<br />
legt dann d en Gegenstand zurück, und<br />
ein anderes Kind nimm t sich einen Gegen -<br />
stand und setzt die Erzählung fort. Gemein<br />
sam re k o n s t ru i e ren die Kinder so<br />
den Inhalt des Textabsch nitt es. Die<br />
Lehrkraft sollte si ch in dieser Phase<br />
zurückhalten u nd nur den äu ßeren Ablau f<br />
unt erstützen.<br />
• Die Kinder werd en sich im Nacherz ä h l e n<br />
des Gelesenen gegenseitig ergänzen, korr ig<br />
i e ren, den Au fbau finden et c. Die Lehrkraft<br />
bricht, wenn der Inh alt des Lek türeab<br />
schnittes erfasst ist, die Erzählp hase ab.<br />
Wenn es nötig erscheint, kö nnen einzeln e<br />
Kinder nachfragen. D ie Gegenst änd e so llten<br />
d anach noch eine Weile im Raum<br />
sein, dam it sich einzelne Kinder noch<br />
üb er d ie gemeinsame Phase hinaus orien -<br />
t i e ren kö nnen.<br />
Ist die Methode der Lesespur den Kindern<br />
b ek annt, k ann d ie Vo r b e reitu ng einer solchen<br />
Phase au ch einmal vo n Kin dern, die<br />
d ie Lek türe u .U. schon gan z bew ält igt<br />
haben, gelei stet w e rden. D ie Lehrkraft<br />
k ann d iesen Kind ern einen b e g re n z t e n<br />
Text ausschnitt nennen, d en sie noch einmal<br />
genau lesen mü ssen, um geeignete<br />
G egenstände zu find en. D ie Lehrkraft so llte<br />
die Kinder bei der Au swahl der Gegenstände<br />
gegebenenfalls beraten.<br />
anege hanege<br />
serige sirige<br />
ripeti, pipeti<br />
knoll<br />
Markanter Rhythmus und kräftiger Sprachklang<br />
sind Merkmale von Unsinnsversen. Es<br />
gibt davon viele und es entstehen immer<br />
wieder neue; d en n au ch Kinder w erd e n<br />
begeisterte Reimeschmiede, sind sie erst einmal<br />
mit der Machart solcher Verse vertraut<br />
geworden. Unsinnsverse, in denen Sprache<br />
zum Spielmaterial wird, verlangen genaues<br />
Lesen und deutliches Sprechen, und Kinder in<br />
der <strong>Grundschule</strong> lassen sich gerne auf diese<br />
Sprachexperimente ein.<br />
Auch in dem hier vorgestellten Reim verä<br />
n d e rn sich die Wörter durch kleine Abwan dlungen<br />
des jeweils vorhergehenden Wortes<br />
und kreiseln so um ein rhythmisches Zentrum,<br />
das jäh durch das aus dem Rahmen fallende<br />
letzte einsilbige Wort beendet wird –<br />
„knoll“.<br />
• Hören und zuhören,<br />
• Silben markieren und silbengliedernd<br />
lesen,<br />
• gleiche Buchstabengruppen erkennen und<br />
markieren,<br />
• gemeinsam rhythmisch sprechen,<br />
• die eigene Stimme erproben und<br />
• selbst erdachte Unsinnsverse schreiben<br />
und vorlesen.<br />
• Die Kinder sitzen mit der Lehrkraft im<br />
Halbkreis vor der Tafel.<br />
• Die Lehrkraft spricht den Text ein- oder<br />
zweimal vor. Die Kinder beginnen, den<br />
Vers nachzusprechen.<br />
• Einzelne Kinder versuchen jetzt, den Vers<br />
genau nachzusprechen. Zur Unterstützung<br />
steht der Vers an der Tafel. Die zuhöre n d e n<br />
Kinder kontrollieren. Das sprechende Kind<br />
wird nicht unterbrochen. Erst wenn es seinen<br />
Vortrag beendet hat, werden eventuelle<br />
Abweichungen genannt.<br />
• Die Kinder sprechen d en Vers in der<br />
„Ro bo tersprache“ und zeichnen Silb en -<br />
bögen ein.
• Die Kinder sprechen d en Vers und schwingen<br />
dab ei die Arme im Kreis. Immer die<br />
erste Silbe in den Wo rtbild ungen wird<br />
betont.<br />
• Der Vers kann laut, leise oder auch nur<br />
lautlos gesprochen werden. Das lautlose<br />
Lippensprechen bietet sich besonders dann<br />
an, wenn die Kinder schon mehre re<br />
Unsinnsverse kennen. Der jeweilige Vers<br />
kann dann an den Mundb ew egun gen<br />
abgelesen werden.<br />
• Viele Kinder denken sich nach einer Eingew<br />
öhnung szeit ohne beso nd ere Au fforderung<br />
eigene Unsinnsverse aus, die sie<br />
der Klasse vo rtragen oder zum Lesen anbieten.<br />
Die Lehrkraft kann diese Kinder dazu<br />
a n regen, kleine Reimhefte zu erstellen.<br />
Diese können unter den Kindern zu m Lesen<br />
und Lernen ausgetauscht werd e n .<br />
Christian Morgenstern<br />
GRUSELETT<br />
Der Flügelflagel gaustert<br />
durchs Wiruwaruwolz.<br />
Die rote Fingur plaustert<br />
und grausig gutzt der Golz.<br />
Dieser Vers von Christian Morg e n s t e n r leb t<br />
und erhält seinen Sinn durch den Klang der<br />
Sprache. Ind em der Vers gesp rochen wird, entfaltet<br />
sich seine „Bot schaft“. Diese kann sehr<br />
u nterschied lich ausfallen, je nachdem , welche<br />
Assoziationen die oder der Lesende mit d en<br />
Wo rtbildungen im Zusam menhang mit den<br />
w enigen unmittelbar verst ändlichen Wö rt e rn<br />
im Mo ment des Sprechens ent wickelt.<br />
K i n d e rn, deren Mutt ersprache nicht Deutsch<br />
ist, bereitet das Lesen so lcher Texte g ro ß e s<br />
Ve rgnügen, weil sie sich in ihrer gru n dl e g e n d e n<br />
Fähigkeit , au s dem Klang der Sprac h e<br />
Bedeutungen abzu leiten, den deutschsprachigen<br />
Kindern ebenbürtig fühlen können.<br />
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
„Ermitteln der Textstimmung“ (vgl.<br />
Menzel. In: PD Sonderheft. Texte Lesen und<br />
Verstehen. S. 8),<br />
• vergleichendes Lesen,<br />
• Austausch von Leseerfahrungen,<br />
• Erkennen von Wor tbedeutungen aus dem<br />
Kontext und aus dem Wortklang,<br />
• gestaltendes Lesen,<br />
• Auswendigsprechen und<br />
• Gestaltung des Textes in Schrift und Bild.<br />
• Die Kinder erhalten den Text und lesen<br />
ihn still.<br />
• Sie tauschen ihre ersten Leseeindrücke aus.<br />
Da<strong>für</strong> ist es nicht unbedingt notwendig,<br />
dass alle Kinder den Text bis zum Ende<br />
gelesen haben („Das klingt unheimlich“,<br />
„Das ist ko misch “, „Das versteh’ ich<br />
nicht“ ...).<br />
• Das Gedicht steht an der Tafel. Die Kinder<br />
erhalten den Auftrag, die Wörter zu nennen<br />
b zw. zu unt erstreichen , die ihnen<br />
unbekannt sind.<br />
• Die Lehrkraft unterstüt zt während des<br />
Gesprächs die spontanen Versuche der<br />
K i n d e r, die unbekannten Wörter mit<br />
Bedeutung zu füllen.<br />
• Auftrag: „Lies das Gedicht einmal so, dass<br />
wir hören können, was du dir vorstellst.“<br />
• Gespräch<br />
• Die Lehrkraft bittet die Kinder, die unbekannten<br />
Wörter zu „übersetzen“. Da<strong>für</strong><br />
muss das Tafelbild so gestaltet sein, dass<br />
zwischen den Zeilen genügend Platz <strong>für</strong><br />
Übertragungen ist. Es empfiehlt sich, diese<br />
Arbeit mit der gesamten Lerngruppe vorzunehmen,<br />
weil dadurch unterschiedliche<br />
Ü b e rtragungen gesammelt werd en können.<br />
z.B: Der Flügelflagel gaustert<br />
Das Gespenst geistert<br />
fliegt<br />
...<br />
durchs Wiruwaruwolz.<br />
den Wald<br />
das Dickicht<br />
...<br />
Die rote Fingur plaustert<br />
Figur plustert sich auf<br />
Hexe plaudert<br />
...<br />
und grausig gutzt der Golz.<br />
guckt der Gnom<br />
gluckst der Schlamm<br />
...<br />
• Der Vers wird noch einmal von fre i w i l l i g e n<br />
Leserinnen o der Lesern gesprochen. Der<br />
Text an der Tafel dient zur Unt erst ützu ng.<br />
Im G espräch wird erläutert, eventuell au ch<br />
an der Tafel festgehalten, welch e Stimm<br />
ung das jeweils lesende Kind erzeugt hat.<br />
• Jedes Kind schreibt den Vers auf ein großes<br />
Blatt u nd gestalt et es nach seinen<br />
Vorstellungen.<br />
• Die Kinder stellen ihre Gedichtblätter vor<br />
und kommentieren ihre Illustrationen.
Klaus Groth<br />
DE DAG, DE GRAUT<br />
De Dag de graut,<br />
de Katt de maut,<br />
de Klock de sleit,<br />
de Hahn de kreit,<br />
de Hund de bellt,<br />
de Köksch de schellt,<br />
de Höhner de kakelt<br />
un all de Vageln in’n Boom spektakelt.<br />
Plattdeutsch ist heut e in der Regel auch<br />
Kindern mit guten Kenntnissen der deutschen<br />
Sprache weitgehend u nbekannt. Ab -<br />
gesehen davon, dass das Plattd eu tsche in<br />
seinem ihm eigenen Charme, in seiner besond<br />
e ren Ausdrucksmöglichkeit und in seinen<br />
b ild haften Form u l i e ru ngen einen Plat z im<br />
L i t e r a t u rn<br />
t e richt gerade auch der Gru n dschule<br />
haben sollte, bieten solche Texte in<br />
b e s o n d e er r Weise Gelegenheit <strong>für</strong> genau es<br />
Lesen, <strong>für</strong> d ie Mö glichkeit des Sprachvergleiches<br />
u nd d amit <strong>für</strong> die Förd e rung d er<br />
Sprachaufmerksamkeit.<br />
In dem plattdeutschen Gedicht von Klaus<br />
Groth wird der Tagesanbruch in formelhafter<br />
Einfachheit dargestellt. Es zieht Kinder them<br />
atisch u nd in seinem Sprachdu ktu s und<br />
-klang an und macht sie n eu gierig. We n n<br />
K i n d e r, deren Muttersprache nicht Deutsch<br />
ist, m erken, d ass ihre deutschsprachigen Klassenkamerad<br />
innen u nd -kam erad en genauso<br />
wie sie Schwierigkeit en haben , die W ört e r<br />
a u s z u s p echen r und zu verstehen, gibt ihnen<br />
d ies Mut u nd steigert ihre Anstre n g u n g s b e ri<br />
tschaft.<br />
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
• Verarbeiten von Hinterg ru n d i n f o rm a t i o n e n ,<br />
• Nutzen des Wortklanges <strong>für</strong> die<br />
Ermittlung der Wortbedeutung,<br />
• Kontextarbeit,<br />
• Textvergleich,<br />
• genaues Hören,<br />
• genaues Lesen und Sprechen,<br />
• sinngestaltendes Lesen und Sprechen,<br />
• szenisches Spiel und bildnerisches<br />
Gestalten.<br />
• Die Lehrkraft macht die Kinder durch eine<br />
Erzählu ng m it der Person Klau s Groth bekannt.<br />
Das Gedicht steht an der Tafel. Nach<br />
erst en Leseversuchen erkennen die Kinder<br />
and eutungsweise die Ve rwandtschaft der<br />
W ö rter mit dem Hochdeutschen.<br />
• B i l d k a rt en, auf denen jeweils die im<br />
Gedicht genannten Tiere und die Köchin<br />
dargestellt sind, werden in ungeordneter<br />
Reihenfolge neben den Text geheftet.<br />
• Die Kinder w erd en au fgeford e rt, d ie<br />
Bildkarten den entsprechenden Wörtern<br />
zuzuordnen.<br />
• Sie vermuten, um was es in dem Text geht<br />
und<br />
• übersetzen ihn in gem einsam er m ündl<br />
i c her Arbeit – in Gruppen oder im Klassengespräch.<br />
• Der übersetzte Text wird neben den Text an<br />
die Tafel geschrieben.<br />
• Beide Texte werden gelesen. Die Kinder<br />
nennen Auffälligkeiten und Unterschiede,<br />
die sie während des Sprechens und Lesens<br />
wahrnehmen.<br />
• Der plattdeutsche Text wird gemeinsam<br />
g e s p rochen . Möglich keiten: Wir fangen<br />
ganz leise an u nd werd en allmählich<br />
lauter; jeweils ein Kind ahmt eines der im<br />
Gedicht genannten Geräusche nach; Das<br />
Spektakel der Vögel wird von mehreren<br />
Kindern produziert; Begleitung durch Orff-<br />
Instrumente.<br />
• Ein Gedichtblatt wird gestaltet.<br />
• Die Kinder gestalten ein Leporello.<br />
• Die Kinder üben in Gruppen das Vorlesen<br />
des Gedichtes und präsentieren es dann<br />
vor der Klasse.<br />
• Die Kind er sprechen das Gedicht u nd<br />
stellen es szenisch dar.<br />
• Die Kinder erarbeiten mit Unterstützung<br />
der Lehrkraft ein Hörspiel und nehmen es<br />
mit dem Kassettenrekorder auf.<br />
• Einige Kind er kö nnen sich üb er das<br />
I n t e rnet od er au s Bü chern über den Dichter<br />
Klau s Groth inform i e ren und die Erg e bnisse<br />
ihrer Recherche der Klasse vortragen.
Christine Nöstlinger<br />
„FRANZ UND DIE EIFERSUCHT“<br />
Die „Geschichten vom Franz“ von Christine<br />
Nöstlinger thematisieren allgemein gültige,<br />
Kinder (wie Erwach sene) beschäftigende<br />
Themen wie Einsamkeit, Freundschaft, Angst,<br />
Eifersucht, Zorn, Sehnsucht, Liebe u.a., sodass<br />
hier ein Stoffangebot vorliegt, durch d as<br />
latente Befindlichkeiten der Kinder aktiviert<br />
und somit als Teil des eigenen Selbst erfasst<br />
werden können.<br />
In „Franz u nd die Eifersucht “ werd en d ie<br />
t ypischen Pro bleme, die eine Dre i e c k s k o n s lt<br />
e<br />
lation mit sich bringen kann, geschildert. Alle<br />
G eschicht en sind aus d er Persp ektive d es<br />
Franz geschrieben, sodass die Gefühle der<br />
anderen Personen erahnt bzw. vermutet werden<br />
müssen. Durch diese Aussparungen lässt<br />
sich der Text besonders gut handelnd erschließen<br />
u nd eröffnet Kindern im Gru n dschulalter<br />
Möglichkeit en, sich in die Gefü hlswelt<br />
eines anderen hineinzuversetzen und<br />
diese differenziert mündlich und schriftlich<br />
auszudrücken.<br />
D u rch den Einsat z der Metho de des<br />
Standbildes mit anschließender Schreibphase<br />
kommt es zu einer verzögerten Textbegegnung<br />
und einer intensiven gem ein samen<br />
Leseerfahrung.<br />
Die Sinnentnahme erfolgt durch:<br />
• den lebensweltlichen Bezug,<br />
• die Rollenübernahme und<br />
• den Perspektivwechsel.<br />
• Die Lehrkraft (oder ein darauf vorbereitetes<br />
Kind) liest den Text „Franz und die<br />
Eifersucht“ vor. Während des Vorlesens<br />
erfolgt eine Visualisierung des Erzählten<br />
anhand von Symbolkarten, die prägnante<br />
Stellen der Geschichte widerspiegeln (z.B.<br />
Königskronen, Zipfelmütze).<br />
• Das Stand bild verf a h ren mit anschließend er<br />
Verbalisierungsphase soll die Auseinandersetzung<br />
mit dem Text verzögern, zeitlich<br />
verlängern, intensivieren und dazu herausfordern,<br />
mehr zu verstehen, als äußerlich<br />
dargestellt wird.<br />
Das Standbildverfahren:<br />
Die Lehrkraft wählt drei Kinder der Klasse<br />
au s u nd lässt sie sich der Szene ents<br />
p rechend zu einander au fstellen (Franz<br />
allein, die Mädchen in Freundschaft vereint).<br />
Anschließend bittet die Lehrkraft die<br />
Kinder, eine Haltung einzunehmen, welche<br />
ihrer Meinung nach <strong>für</strong> sie in dieser<br />
Situation charakteristisch ist.<br />
(Zur Orientierung der Darstellerinnen und<br />
Darsteller können Bilder der handelnden<br />
Personen an die Tafel gehängt werden.)<br />
Um die Situation zu verdeutlichen, bekommt<br />
jede Darstellerin und jeder Darsteller<br />
als Requisit ein charakteristisches<br />
Attribut ihrer oder seiner Figur: Franz eine<br />
Pudelmüt ze, Gabi u nd Sandra jeweils<br />
Königskronen.<br />
• Die Verbalisierungsphase:<br />
Die Lehrkraft ford e rt jetzt d ie Kinder nacheinander<br />
auf, nach vorne zu kommen, die<br />
Hand auf eine Figur ihrer Wahl zu legen<br />
und die möglichen Gedanken, die die jew<br />
eilige Figur sich in dieser Situ at ion<br />
m a c h e nkönnte, auszusprechen.<br />
Indem die Kin der den Figuren ihre Sprache<br />
leihen, geht es zugleich um ihre subjektiven<br />
P rojektio nen, wie auch u m den Nachvollzug<br />
der unterschiedlich en Perspektiven.<br />
• Die mündlich geleisteten Beiträge werden<br />
im nächsten Arbeitsschritt als Anregung<br />
genutzt, jetzt auch auf schriftlicher Ebene<br />
die Gedanken der Figuren zu fixiere n .<br />
Arbeitsblätter mit Denkblasen über der<br />
jeweiligen Figur werden angeboten. (Differenzierende<br />
Schreibaufgabe <strong>für</strong> leistungss<br />
t ä r k e re Kinder: Wie findest du d as<br />
Verhalten von Gabi und Sandra?)<br />
• Die Ergebnisse der Schreibphase werd e n<br />
abschließend am St andbild präsentiert: Die<br />
Kinder kommen nacheinander m it ihre n<br />
A r b e i t s b l ä t n t e nach r vorne, legen die Han d<br />
auf die Figur ihrer Wahl und lesen ihre verschriftlichten<br />
Gedanken vor.<br />
• Ein „Stimmenorchester“ zur Person des<br />
Franz kann die Stand bildp hase abschließen:<br />
Im Unterschied zum vo rherigen Standbildv<br />
e rf a h ren bleiben die Kinder hintere i n a n d e r<br />
hinter Franz stehen. Sind genü gen d<br />
„Stimmen“ vorhand en, ruft d ie Lehrkraft die<br />
Gedanken in wechselnd er Reihenfolge und<br />
Lautstärke ab, indem sie z.B. auf d ie betre ffende<br />
Schülerin od er den b etre ff e n d e n<br />
Schüler zeigt .<br />
D u rch dieses Ve rf a h ren wird den Kindern die<br />
Möglichkeit gegeben, die M u l t i p e r s p e k - t i<br />
vit ät einer einzelnen Figur nachzuvo llziehen<br />
u nd mitzuerleben.<br />
Praxis Deutsch 127/1994.<br />
Leseförderung.<br />
Praxis Deutsch 176/2002.<br />
Leseleistung –<br />
<strong>Lesekompetenz</strong>.<br />
Praxis Deutsch. Sonderheft<br />
Leseförderung in einer<br />
Medienkultur.<br />
Lesen und Schreiben.<br />
Jahresheft Schüler 2003.<br />
Friedrich.<br />
Wedel-Wolf, A. v. 2001.<br />
Üben im Leseunterricht.<br />
Braunschweig.<br />
Rahmenplan Deutsch<br />
<strong>Grundschule</strong>. 15. Sept.2003.<br />
BBS.
PISA und IGLU haben das Thema <strong>Lesekompetenz</strong><br />
neu in den Vo rd e rg rund der Diskussion<br />
u m Erfassung der Schulleistungen gebracht.<br />
Kann man Leseleistu ng „messen“? Da wäre einmal<br />
das Feststellen der „Lesetech nik“ – zum<br />
a n d e ren das Abfragen der „Sinn entnahme“.<br />
Die gängigen Lesetests der letzten dreißig<br />
Jahre haben den einen oder anderen Aspekt<br />
in den Mittelpunkt gestellt, wobei die älteren<br />
Tests überwiegend Zeit und Lesefehler zählen<br />
( B rem er Lesehilfen, Zürcher Lesetest), währe n d<br />
die bekannteren neuen Tests (ab Klasse 3)<br />
ausschließlich das Leseverständnis und die<br />
Sinn entnahme zu m Schwerpu nkt haben<br />
(Würzburger Lesetest, HAMLET).<br />
Zunehmend wird auch die möglichst frühzeitige<br />
Diagnostik und Förderung angestrebt,<br />
um günstige Voraussetzungen <strong>für</strong> alle Kinder<br />
<strong>für</strong> den Schrift spracherwerb anzubahnen.<br />
Bereits im Vorschulalter wird anhand des<br />
„Bielefelder Screenings” (BISC) die phonematische<br />
Bewusstheit beobachtet und gegebenenfalls<br />
werden mit dem Würzburger Lernp<br />
rogramm „Hö ren, lauschen, lern e n “<br />
(Küspers, Schneider) auffällige Kinder vor der<br />
Einschu lu ng gezielt geförd e rt. Au ch der<br />
HAVAS, der bei Vorschulkindern (vor allem<br />
bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache) die<br />
sprachlichen Voraussetzungen erheben soll,<br />
zielt in dieselbe Richtung.<br />
Hier so ll au sführlicher die H a m b u rg e r<br />
Leseprobe (Peter May / Helga Arntzen) vorgestellt<br />
werden, die sowohl das sinnentnehm ende<br />
Lesen abfragt als auch im quantitativen<br />
Bereich anhand von Lesepunkten und Lesezeit<br />
Vergleichswerte <strong>für</strong> die gesamte Grundschulzeit<br />
bietet (und zwar ab Ende Klasse 1).<br />
Bei der Hamburger Leseprobe handelt es sich<br />
um ein Beobachtungsverfahren, das gleichzeit<br />
ig eine Fördersituation beinhalt et.<br />
Beo bachtet wird d as Pro b l e m l ö s e v e h ra<br />
l t e n<br />
des lesenden Kindes, das Prognosen zulässt<br />
<strong>für</strong> seine weitere Leseentwicklung.<br />
Neben der Beschreibung des Te s t v e f ra<br />
h re n s<br />
soll hier ausführlicher auf eine Schü lerin und<br />
einen Schüler eingegangen werden, deren Lesel<br />
e rnentwicklung ü ber einen langen Zeitraum<br />
begleitet, beob achtet u nd analysiert wurd e .<br />
Diese beiden Lernenden verdeutlichen exemplarisch<br />
zwei unterschiedliche Lern a u s g a n -g<br />
s<br />
lagen und somit bereits frühzeitig erkennbare<br />
Entwicklungen und Förd e r p r ä f enzen. e r Es soll<br />
versucht werden, individ uelle Förderpläne <strong>für</strong><br />
diese beiden Kinder vorz u s t e l l e n .<br />
Die Hamburger Leseprobe ist ein Verfahren<br />
zur Erfassung der Lesefertigkeit und zur Analyse<br />
von Leseprozessen vom ersten bis zum<br />
vierten Schuljahr, bei Kindern mit gravierenden<br />
Leseschwierigkeiten auch darüber hinaus.<br />
Die HLP w ird seit 19 92 in H amb urg e r<br />
<strong>Grundschule</strong>n – insbesondere im Rahmen der<br />
Arbeit von Schriftsprach-Beraterinnen (PLUS)<br />
– eingesetzt.<br />
Seit 2003 ist die HLP erweitert um jeweils vier<br />
Fragen pro Geschichte zum Textverständnis,<br />
die beim Kind Stu fen der Leseko mp eten z<br />
erkennbar machen sollen.<br />
Die HLP ermöglicht das Beobachten von<br />
Leseprozessen unter alltagsnahen Bedingungen<br />
u nd das Gewinnen von Ve rg l e i c h smaß<br />
stäb en zur Beurteilu ng der Förd e rb<br />
e d ü rft igkeit b esonders schwach er Leselernerinnen<br />
und -lerner.<br />
1. Die HLP enthält Geschichten, deren Inhalt<br />
und Wortschatz den Erfahrungen der<br />
Kinder entsprechen. Die Kinder mögen die<br />
Geschichten, diese enthalten immer auch<br />
einen kleinen Gesprächsanlass.<br />
2. Neben den Geschichten werden auch Listen<br />
mit E i n z e l w ö t e rrn<br />
angeboten, die ausschließ<br />
lich Nom en enthalten, die den Kind<br />
e rn von der Bedeutu ng her vertraut sind.<br />
3. Die HLP bietet zu allen Geschichten und<br />
Wörterlisten jeweils drei Parallelformen<br />
an, die in Länge und Aufgabenschwierigkeit<br />
v e rgleichbar sind. Lern f o rt schritte d er<br />
Kinder lassen sich so über Jahre dokumentieren.<br />
4. Das Hauptanliegen der HLP ist die A n a l y s e<br />
von Leseprozessen jener Kind er, dere n<br />
Leseentwicklu ng sich kritisch gest alt et.<br />
B e reits eine leichte Geschichte u n d / o d e r<br />
eine Wö rterliste reichen au s, um Ve rgleichswerte<br />
zu den verschiedenen Zeitpunkten<br />
zu erheb en. Die HLP u mfasst<br />
Geschichten mit vier und Wörterlisten mit<br />
zwei Schwierigkeitsstufen.<br />
5. Die HLP ist ein Verfahren <strong>für</strong> die Einzelbeobachtung,<br />
mit dem der Prozess des<br />
Erlesens und Sinnerfassens diff e re n z i e rt<br />
analysiert werden kann. Er wird optimal<br />
mit einem Tonband dokumentiert.
6. Die Auswertung der HLP umfasst neben<br />
P u n k t w e rt en zur Kennzeichnung d er<br />
Leseleistung und der Lesegeschwindigkeit<br />
auch eine qualitative Analyse des Lesep<br />
rozesses m it Hilfe eines vorg e g e b e n e n<br />
Auswertungsbogens.<br />
In diese qualitative Analyse geht die Erfahrung<br />
ein, dass das Erlesen eines unbekannten<br />
und <strong>für</strong> das Kind noch schwierigen<br />
Textes als Problemlöseprozess aufzufassen<br />
ist, der verschiedenartige Teilprozesse<br />
umfasst. Außerdem werden nicht die<br />
Fehler, die das Kind beim Lesen macht,<br />
gezählt, sondern die einzelnen Wörter werden<br />
mit Hilfe einer Punktskala bewertet,<br />
sodass auch Teillösungen des Kindes in die<br />
Beurteilung eingehen.<br />
7. Ein beso nd eres Kennzeichen der HLP ist d ie<br />
gewollte I n t e r a k t i o nzwischen Lehrkraft<br />
und Kind beim Erlesen. Das Kind wird beim<br />
Lesen nicht sich selbst überlassen und d ie<br />
Lehrk raft ist nicht nur dist anziert e<br />
Test leit ung, so ndern als H elferin od er<br />
Helfer soll sie oder er gezielt in den Pro z e s s<br />
der Lösungssuche eingreifen und dem Kind<br />
Hin weise <strong>für</strong> das weit ere Vo rgehen geben.<br />
D a d u rch wird einerseits die Lesesituation<br />
psycholo gisch gü nstig gestaltet un d<br />
Leistungsblockaden bei prüfu ngsängst -<br />
lichen Kindern vorgebeugt ; andere r s e i t s<br />
erlaub t diese gezielt e Interak tion die<br />
Analyse der Lesesitu atio n als Teil eines<br />
beginnend en Förd e r p rozesses. Au ßerd e m<br />
e rf ä h rt die Lehrkraft, inwieweit d as Kind in<br />
der Lage ist, steuernde u nd korr i g i e re n d e<br />
Hinweise in den eigenen Lösungsprozess zu<br />
i n t e g r i e rn<br />
.<br />
Es gibt zwö lf G eschichten in vier<br />
Schwierigkeitsstufen (G1a bis G4c) u nd 6<br />
W ö rt erlisten in zwei Schw ierigkeitsstufen<br />
(W1a bis W2c).<br />
Bei der Lesestufe 1 (14 bis 16 Wörter, in<br />
Sinnschritte gegliedert) gibt die Ab bildung<br />
schon Hinweise auf den Inhalt der Geschichte.<br />
Selbst schwächere Leser der Klassen 1 und 2<br />
b ewältigen diese Texte mit Hilfe der Lehrkraft.<br />
Die Geschichten der Lesestufe 2 sind zwar<br />
auch noch bebildert, der Inhalt muss aber<br />
selbstständig erlesen werden. Die Schrift ist<br />
schon etwas kleiner und stellt auch in Satzbau<br />
und Wortwahl schon höhere Anforderungen<br />
an die Lesefähigkeit.<br />
Die umfangre i c h e ren G eschichten d er<br />
Lesestufe 3 (65 bis 71 Wörter) sind nicht mehr<br />
i l l u s t r i t, e rdie<br />
Sätze sind erheblich länger und<br />
aufw endiger stru k t u r i e t. r Entsprech end d en<br />
h ö h e ren Anford e rungen an die Lesefert i g k e i t<br />
ist auch d ie Schrift kleiner gedru c k t .<br />
Bei der Lesestufe 4 (90 bis 99 Wörter) sind die<br />
Texte komplexer stru k t u r i e t rund<br />
eng gedru c k t<br />
un d sin d somit geeignet, die Lesefertigkeit vo n<br />
S c h ü l e n r der Klasse 4 und auch darüber hin au s<br />
zu überprüfen und zu messen.<br />
Alle Geschichten werden von den Kindern<br />
gern gelesen. Die Texte bieten alle einen<br />
Gesprächsanlass, der nach der Vorlesephase<br />
im Gespräch Aufschluss geben kann über das<br />
Textverständnis des Kindes.<br />
Beim Erlesen der Einzelwörter (W1a bis<br />
W2c) kann das Kind sich bei der Bildung von<br />
Sinnhyp othesen nicht auf d en Kontext<br />
stützen, sondern es muss die lautsprachlichen<br />
E n t w ü rfe einzeln au f seine Sinnhaft igkeit<br />
überprüfen. Das ist eine d eutliche Ers<br />
c h w e rung der Aufgabe. Der Einsat z der<br />
W ö rterlisten kann ab er sinnvo ll sein bei<br />
Kindern, die sich überwiegend am semantischen<br />
Kontext orientieren und raten.<br />
Die Hamburger Leseprobe ist ein Einzelbeobachtungsverfahren,<br />
das nicht mit allen Kindern<br />
einer Klasse durchgeführt werden muss,<br />
s o n d e rn nur mit solchen Kindern, dere n<br />
Leselernentwicklung sich als kritisch erwiesen<br />
hat od er w o dement sprechend Unsicherheiten<br />
vorliegen.<br />
Benötigte Ut ensilien <strong>für</strong> die Te s t d u rc hführung:<br />
I. Bögen mit Geschichten (und evtl.<br />
Wörterlisten)<br />
II. Kassettenrecorder<br />
Für die Testauswertung zusätzlich:<br />
III. Ankreuzbögen<br />
IV. Auswertungsbogen<br />
V. Stoppuhr<br />
Es ist au s verschied enen G ründ en zu<br />
emp fehlen, die Lesu ng d es Kind es auf<br />
Tonband aufzuzeichnen:<br />
VI. Die Lehrkraft kann sich ganz dem Kind<br />
widmen, kann Hilfestellungen geben<br />
und muss nicht nebenbei Notizen<br />
machen. Es kann keine belastende<br />
Testatmosphäre entstehen.<br />
VII. Die Lesezeit kann vom Tonband<br />
gestoppt werden.<br />
VIII. Die Lehrkraft hat die Möglichkeit, den<br />
Leseprozess mehrfach abzuhören.<br />
Gleichzeitig bekommt sie ein Dokument,<br />
mit dem sie Leseentwicklung langfristig<br />
dokumentieren kann.<br />
IX. Sie kann mit dem Kind zusammen das<br />
Gelesene abhören und z.B. dem Kind<br />
seine Fortschritte aufzeigen.<br />
Jedes Kind kann entscheiden, ob es erst leise<br />
oder gleich lau t lesen will. Beim geübt en Leser
ist sinnentnehmendes Lesen no rm a l e rw e i s e<br />
leises Lesen. Kinder in d er Lernphase mü ssen<br />
die einzelnen Segment e der zu lesend en Wört e r<br />
erst laut sprachlich art i k u l i en, e r um den Sin n zu<br />
entdecken; d.h. das Au ssprechen d er Laute,<br />
Wo rt teile od er Wo rt v o rf o rmen geht dem<br />
Wo rtverstehen in der Regel voraus. So kann es<br />
geschehen, dass Kinder der 3. oder 4. Klasse<br />
beim leisen Lesen d en Inh alt d er Geschichte<br />
noch nicht verst anden haben, weil sie längere<br />
u nd schwierigere W örter erst über die Art i k u l at<br />
ion verstehen.<br />
Als Besond erheiten der H a m b u rger Lesepro b e<br />
sind die Interaktion und die Hilfen durch die<br />
Lehrkraft herv o rzuheben. Die Lehrkraft ist<br />
nicht – wie bei herkö mmlichen Tests üb lich –<br />
passive Testleiterin oder passiver Te s t l e i t e , son- r<br />
d e rn sie greift aktiv in d en Leseprozess ein,<br />
indem sie d em Kind Hilfestellun gen gibt,<br />
wenn es d ie Leseau fgabe nicht selbstst ändig<br />
b ewältigen kann. Diese Hilfen werden später<br />
bei der quantitat iven Punktbewertung mit einb<br />
ezogen. Allerdings soll das Eingreifen der<br />
Lehrkraft mö glichst Hilfe zur Selb sthilfe sein.<br />
Kann ein Kind nach mehr als zwei Lehre rh i l f e n<br />
ein schwieriges Wo rt nicht entschlüsseln, ist es<br />
sinnvo ll, d as Wo rt zu sagen, dam it d er<br />
L e s e p rozess weitergehen kann.<br />
In der Version von 2003 werden zu jeder<br />
Geschichte nach dem Vorlesen vier Fragen<br />
zum Leseverständnis gestellt, deren Beantwortung<br />
durch die Kinder vier Stufen der<br />
<strong>Lesekompetenz</strong> zugeordnet werden kann.<br />
Die Auswertung der HLP ermöglicht sowohl<br />
eine qu antit ative Bestim mu ng der Leseleistung<br />
(Richtigkeit d er W i e d e rgabe und<br />
Lesetempo) als auch eine qualitative Analyse<br />
der Lesefähigkeit.<br />
Die qu alitative Beob achtung des<br />
Leseprozesses dient der Beurteilung der individ<br />
uellen Lesesch wierigk eiten u nd gib t<br />
Hinweise auf Besonderheiten des einzelnen<br />
Kindes, die in der Förderung berücksichtigt<br />
werden sollten.<br />
Die Ergebnisse der qu antitativen u nd<br />
qualitativen Analysen werden in den Auswertungsbogen<br />
eingetragen.<br />
Für die Auswertung des Leseergebnisses werden<br />
nicht – wie bei herkömmlichen Tests –<br />
die Fehler gezählt, son dern anhand eines<br />
Punktesystems werden auch Teilschritte beim<br />
Erlesen und Selbstkorrekturen mitbewertet,<br />
auch die Zahl der benötigten Hilfen wird mit<br />
berücksichtigt . Für die Auswertu ng vo m<br />
Ton band g ibt es <strong>für</strong> jed e Geschichte/<br />
Wörterliste einen Ankreuzbogen.<br />
Die Lesezeit wird von der To n b a n daufzeichnung<br />
gestoppt und auch auf dem<br />
Ankreuzbogen eingetragen.<br />
Anhand der Vergleichswerttabellen (im<br />
Anhang der Hamburger Leseprobe) wird dann<br />
<strong>für</strong> Lesepunkte und Lesezeit der Pro z e n tr<br />
a n g b e reich abgelesen u nd somit die<br />
Leseleistung einer der Leistungsgruppen zugeordnet.
Die qualitative Auswertung soll vor allem<br />
Hinweise <strong>für</strong> eine gezielte Förderung liefern.<br />
Bei wiederholter Anwendung der Hamburger<br />
L e s e p robe k ann die Leselern e n t w i c k l u n g<br />
eines Kindes nach einheitlichen Gesichtsp<br />
unkt en doku mentiert werden, wo durc h<br />
auch wertvolle Einsichten <strong>für</strong> die Anfert i g u n g<br />
von Zeugnisberichten und <strong>für</strong> die Erfolgskontrolle<br />
des Förderunterrichts gewonnen werden<br />
können.<br />
Nachdem die Ergebnisse der quantitativen<br />
Analyse auf dem Ausw ertu ngsbogen eingetragen<br />
worden sind, bietet die HLP diverse<br />
Merkmalsfragen zur Lernstandsanalyse.<br />
Die sechs Bereiche, die der qualitativen<br />
Analyse zugeordnet sind:<br />
I. Vorkenntnisse – Fertigkeiten –<br />
Teilfertigkeiten,<br />
II. Zu m Leseergebn is (dazu neu: Antw ort e n<br />
zum Textverständnis, gegliedert in vier<br />
Kompetenzstufen),<br />
III. Zum Vor gehen beim Erlesen,<br />
IV. Zum Lesefluss und zum überschauenden<br />
Lesen,<br />
V. Weitere Beobachtungen zum Leseverhalten,<br />
VI. Bemerkungen zur Sprachkompetenz,<br />
e rm öglichen die genaue Zustandsbeschre ib<br />
ung ein es Leseproto ko lls zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt und geben Hinweise auf<br />
die Schwachstellen, deren Behebung gezielt<br />
gefördert werden sollte. Besonders wertvoll<br />
w e rden d iese Kategorien ab er durch die<br />
Wi e d e rholu ng der HLP in bestimm ten<br />
Zeitabständen, da sie dann konkret und dezid<br />
i e rt d ie Leselern entw icklung des Kindes<br />
aufzeigen.<br />
Während der Entwicklung der Hamburger<br />
L e s e p ro b e w u rden 560 Hamburger Gru n dschulkinder<br />
in ihrer Leselern e n t w i c k l u n g<br />
durch die gesamte Grundschulzeit begleitet<br />
und dokumentiert. Die Tonbandaufzeichnungen<br />
der 28 schwächsten Leserinnen und Leser<br />
w u rden verschriftet und ausgewert et ü ber<br />
einen Zeitraum von drei Jahren. Dabei wurden<br />
wertvolle Erkenntnisse gewonnen über<br />
die Besonderheiten der Kinder beim Lesen. So<br />
sind auf Grund der Ergebnisse der qualitativen<br />
Analyse bereits in Klasse zwei Prognosen<br />
möglich über die weitere Leselernentwicklung<br />
eines Kindes. Dazu ist besonders aufschlussreich<br />
der Punkt drei der qualitativen Analyse.<br />
• Das Kind versucht bei schwierigen Wörtern<br />
verschiedene Zugriffsweisen. (Zum Beispiel<br />
Lautfolge, Wo rtteil, Wi e d e rholung des Gele-<br />
senen, Wortvorgestalt; es nutzt ggf. den<br />
Bild- und Satzkontext; nicht nur sukzessive<br />
Synthese der Laute!)<br />
• Das Kind erkennt Fehler und/oder falsche<br />
Entwürfe selbst und versucht selbst, sie zu<br />
korrigieren.<br />
• Das Kind kann Hilfen weiterführend in<br />
seine Worterarbeitung einbeziehen.<br />
Diese Kriterien geben Aufschluss über das<br />
Problemlöseverhalten des lesenden Kindes,<br />
das dann auch Hinweise gibt auf die weitere<br />
Lernentwicklung.<br />
Anhand von zwei Schülerbeschreibungen<br />
soll diese These verdeutlicht und untermauert<br />
werden.<br />
Isa und Jens<br />
Bereits im zweiten Schuljahr werden auf<br />
Gr und der Beobachtungen der Leseprozesse<br />
unterschiedliche Prognosen hinsichtlich der<br />
w e i t e ren Lernent wick lung nahe gelegt .<br />
Während bei Jens auf Grund seiner vielfältigen,<br />
aktiven Zugriffsweisen in absehbarer Zeit<br />
eine St eigerung der Leseleistung zu erw a rten ist,<br />
lässt Isas eher passives Ve rhalten beim Erlesen<br />
l ä n g e fristige r Leseschwierigkeiten v e rm u t e n .<br />
Beide Kinder erzielen im Februar der Klasse<br />
2 vergleichbare Er gebnisse in der quantitativen<br />
Auswertung (Lesepunkte und Lesezeit).<br />
Beide werden der Kategorie „sehr schwach”<br />
z u g e o rd net. In der q ualit ativen Analyse<br />
zeigen sich allerdings gerade beim „Vorgehen<br />
beim Erlesen” signifikante Unterschiede, was<br />
anhand einiger Verschriftungen darg e s t e l l t<br />
werden soll.<br />
Isa kann man im Herbst der Klasse 2 fast<br />
als Nichtleserin bezeichnen. Sie braucht mit<br />
sehr viel Hilfe und Geduld <strong>für</strong> die ganz leichte<br />
Geschichte G1a fast acht Minuten. Einige<br />
Wörter liest (rät) sie spontan richtig mit Hilfe<br />
des Bild- und Satzkontextes (Maus, ruft, Tisch,
Käse, Mäuse). Bei allen anderen Wört e rn<br />
schweigt sie und muss jedes Mal aufgefordert<br />
werden, sich auf das ihr unbekannte Wort<br />
einzulassen.<br />
Mit dem Wort haben (Sie haben<br />
auch Hunger) ist Isa schon überfordert.<br />
Zum einen kennt sie die Buchstaben noch<br />
nicht sicher (h und b). Darüber hinaus kann<br />
sie nicht mehr als zwei Laute synthetisieren<br />
und kommt so nicht zu einer Wortvorgestalt,<br />
die ein sinnvolles Wort nahe legt. Deshalb<br />
assoziiert sie schließlich zu dem Wort „sie”,<br />
das die Lehrerin ihr als semantische Hilfe<br />
anbietet, das Wort „sind”, was zwar semantisch<br />
und syntaktisch passen könnte, aber<br />
nichts mehr mit der Wortvorlage zu tun hat.<br />
D rei Monate später steht sie noch ähnlich<br />
hilflos vor der Leseaufgabe. „Uta u nd ru f t “<br />
(G1b) liest sie spont an. Aber bereits bei Opa<br />
schweigt sie erst mal, so, wie sie viele Wört e r<br />
mit Schweigen und Seufzen b eginnt. Nach wie<br />
vor erschweren Buch stabenu nsicherheit und<br />
d as Bu chstabieren (pe, es, ka) die Synthese.<br />
Ab er sie versucht inzwischen häu figer, die<br />
Hilfen in ihre Wo rterarbeitung einzubeziehen.<br />
Beispiel: sagt<br />
In der dritten Klasse hat Isa mit den sprachlich<br />
anspruchsvolleren Texten noch große<br />
Schwierigkeiten. Ihre schwach entwickelt e<br />
Sprachkompetenz lässt sie bei unbekannten<br />
und weniger leicht vorhersehbaren Wörtern<br />
versagen: Sie schaut nicht genau hin, rät<br />
herum und bietet Pseudowörter an, sie achtet<br />
auch nicht auf semantische oder syntaktische<br />
Zusammenhänge.<br />
Ein Schuljahr spät er geht sie selbstb ewusst<br />
er an d ie Leseaufgabe heran. Die Te x t e<br />
der Lesestufe vier überf o rd e rn sie, eine G3-<br />
Geschichte schafft sie zwar mühsam, brau cht<br />
ab er nur w enige Hilfen. Tro tz sp ürbare r<br />
L e rn f o rtschritte b leibt Isa eine schwache<br />
Leserin, weil ihr Pro b l e m l ö s e v halten e r eher<br />
gering ist und sie nur wenige Strat egien zur<br />
Ve rfügung hat.<br />
Jens s c h a ft beim ersten Durchgang nur 28<br />
P rozent der erre i c h b a ren Pu nkt e und w ird d e r<br />
Kategorie „sehr schwach” zugeordnet. Seine<br />
Vo rgehensweise unterscheidet sich aber von<br />
Anfang an stark von Isas Lesebemühungen.<br />
Es fällt auf, d ass seine Zugriff s w e i s e n<br />
vielfältiger sind als bei Isa. Auch Jens buchstabiert<br />
(pe, es, ka, ha). Er kann sich gut semantisch<br />
orientieren (auch mit Hilfe des Bildes).<br />
Seine Vorgehensweise ist dennoch oft schwer<br />
zu analysieren, da er manchmal die Reihenfolge<br />
der Laute durcheinander bringt, oft rät<br />
(sehr starke Ratetendenz), oft Fehler selbst<br />
bem erkt und wieder neu ansetzt, manchmal<br />
Scheinlösu ngen anb ietet , d ie mit der<br />
Wortvorlage kaum noch etwas zu tun haben.<br />
A u ffallend ist seine In itiat ive, sich immer<br />
wieder neu auf den Versuch einzulassen. Man<br />
gewinnt den Eindru ck, er jongliert mit d en<br />
Buchst aben (Reihenfolge ist zweit rangig), b is<br />
er eine akzep table Lösung gefunden h at.<br />
Im zweiten Durchgang, im April der Klasse<br />
2, hat Jens schon gute Fortschritte gemacht.<br />
Die Geschichte G1a schafft er mit nur drei
Hilfen, zehn der sechzehn Wörter liest er<br />
spontan richtig. Bei der Wörterliste hat er<br />
noch größere Schwierigkeiten, weil er sich<br />
nicht am semantischen Kontext orientie re n<br />
kann, sondern sich auf jede Wo rt s t ruktur neu<br />
einlassen mu ss. Dabei zeigen sich sehr gut<br />
seine vielfältigen Zugriff s w e i s e n .<br />
Zur Ve rd eutlichung fo lgen hier zw ei<br />
Verschriftungsbeispiele:<br />
Geschichte G1a:
Jens‘ Lesen erlaubt einen guten Einblick in<br />
seine Strategien, da er alle Zwischenüberlegungen<br />
und -schritte laut äußert. Mit dem<br />
langen Wort „Bilderbuch” kann er spontan<br />
nichts anfangen. Auf den Impuls der Lehrerin<br />
fängt er klein an und erarbeitet sich den<br />
Wo rtt eil „bilder”. Den geratenen Wo rt t e i l<br />
„b är” verw i rft er selbst w ied er. Die D -b-<br />
Vertauschung wird von der Lehrerin korrigiert.<br />
Nun experimentiert er wieder: bil, bul,<br />
buch – und kommt zum richtigen Ergebnis.<br />
Bereits im Februar Klasse 3 kommt Jens<br />
allein zurecht und braucht keine zusätzliche<br />
Förderung mehr. Seine „Verlesungen” sind
fast immer semantisch akzeptabel. Inhaltlich<br />
nicht stimmige Falschlesungen bemerkt er<br />
meistens selbst und korrigiert sich selbst.<br />
In Klasse 4 ist Jens ein so sicherer Leser,<br />
dass er selbst mit schwierigen Wörtern, die<br />
n icht seinem aktiven Wo rtschatz ent sp rechen,<br />
problemlos zurechtkommt (Beispiele:<br />
Zylinder – Kopfbedeckung).<br />
Die beiden Beispiele von Isa und Jens stehen<br />
<strong>für</strong> zwei u nterschied lich v erlaufende<br />
L e rnentw icklungen. Bei der Längsschnitt -<br />
untersuchung der Leselern e n t w i c k l u n g<br />
Hamburger Grundschulkinder hat sich die<br />
These v ielfach bestätigt, dass Kinder m it<br />
einem aktiven Problemlöseverhalten wie Jens<br />
eine günstige Prognose haben in Bezug auf<br />
ihre weitere schulische Entwicklung, während<br />
Kinder wie Isa, die beim Leselernprozess über<br />
nur wenige Strat egien v erfügen (Laute<br />
gedehnt zusamm en ziehen u nd Ganzwo rtraten),<br />
voraussichtlich langsam Lern e n d e<br />
b leiben und längerfrist ig pro f e s s i o n e l l e<br />
Unterstützung benötigen.<br />
Zu Jens’ Förd e rung nach seinem sehr<br />
schwachen Leseergebnis in Klasse 2 seien<br />
einige Förderhinweise genannt, die auch in<br />
der Handreichung der HLP nachzulesen sind:<br />
Jens sollte sich aus einem Angebot von<br />
Büchern solche Texte heraussuchen können,<br />
die <strong>für</strong> ihn persönlich besonders interessant<br />
sind (Jens hat z.B. eine Vorliebe <strong>für</strong> Autos).<br />
Die Texte sollten kurz, einfach geschrieben<br />
u nd klar gegliedert sein sow ie m öglichst<br />
Bilder enthalten, um die Sinnentnahme zu<br />
erleichtern.<br />
Die Leseförd e rung sollte in mö glichst<br />
ruhiger Atmosphäre in einer Kleinstgruppe<br />
oder allein mit der Lehrerin, aber vorläufig<br />
nicht im Klassenverband stattfinden. So hätte<br />
Jens die Möglichkeit, bei schwierigen<br />
Textpassagen Hilfe anzufordern. Jeder Konkurrenzdruck<br />
beim Lesen ist zu vermeiden,<br />
damit Jens nicht in Hektik gerät.<br />
Zur Überwindung rein assoziativer Hypothesenbildungen<br />
sollte Jens bei schwierig zu<br />
erlesenden Wörtern den Inhalt des bisher<br />
G elesenen wied ergeben u nd Ve rm u t u n g e n<br />
über den Fortgang des Satzes bzw. der Geschichte<br />
äußern. Um die Aufstellung angem<br />
essener H ypo thesen zu ü ben, k ön nen<br />
Kinder in einer Kleingruppe auch regelmäßig<br />
beim Vorlesen einer Textpassage innehalten<br />
und von den Partnern Vermutungen über die<br />
F o rtsetzu ng anstellen lassen. Reizvoll sind<br />
au ch Texte m it t eilweise abgedeckten<br />
Wörtern, bei denen zuerst die Sinnerwartung<br />
geäußert und anschließend anhand der aufgeklappten<br />
Textstelle überprüft wird. Zum<br />
v o r l a g e g e t reuen Erlesen könn en eb enso<br />
schrift liche Hand lungsanw eisu ngen oder<br />
Rätsel motivieren, die allerdings ohne Zeitdruck<br />
bearbeitet werden sollten.<br />
Jens so llte üb en, bei längeren u nd<br />
schwierigen Wörtern, die er noch in mehreren<br />
Teilschritten erlesen muss, selbstständig<br />
kleinere Einheiten zu bilden.<br />
Lesen und Schreiben sollten auch im Förd<br />
e ru n t e richt stets m iteinander verbund en<br />
w e rden, au ch um d ie G eläufigkeit beim<br />
Zusam menschmelzen mehre rer Laute u nd<br />
beim Erfassen häu figer Buchstabenverbindungen<br />
zu erhöhen. So sollte Jens eigene kleine<br />
Sätze mit Bu chstaben- und/ oder Wo rt k a rt e n<br />
legen, seinen Entwurf lesend überp rüfen und<br />
anschließ end abschreiben. Dies wirkt auch<br />
gegen seinen impulsiven Arbeitsstil.<br />
Bei Kindern wie Isa muss von längerfristigen<br />
Problemen beim Lesenlernen ausgegangen<br />
werden. Der signifikante Unterschied zu<br />
Jens ist ihre mangelnde Anstre n g u n g sbereitschaft<br />
und somit vermutlich auch ihr<br />
mangelndes Selbstwertgefühl. Sie muss vor<br />
allem motiviert w erden, dass erst ens d as<br />
Lesen etwas <strong>für</strong> sie Bedeutsames sein kann<br />
und dass sie zweitens Hilfe anfordern kann<br />
und dass d er Erfo lg ganz sicher ist. Dazu kö nnten<br />
u.a. folgend e Angebot e h ilfreich sein:<br />
Das Ziel der Förderung ist es, Isa die Erfahrung<br />
zu vermitteln, dass sie selbst in der<br />
Lage ist, Phonem-Graphem-Beziehungen zu<br />
entschlüsseln und Bedeutung aus Schrift zu<br />
rekonstruieren. Da sie sich bisher noch vollständig<br />
auf andere verlässt, müssen die Übungen<br />
stets <strong>für</strong> Isa lösbar sein, damit sie selbstständig<br />
zum Erfolg kommen kann.<br />
Isa sollte zu folgenden schriftsprachlichen<br />
Übungen angeregt werden:<br />
• In ihrer Alltagsumgebung Schrift als<br />
Bedeutungsträger erforschen (z.B. Logographeme<br />
sammeln und entschlüsseln, einfache<br />
Wörter finden und lesen: Taxi, Post,<br />
Toto ...).<br />
• Wörter mit sehr einfacher Struktur, mit nur<br />
wenigen verschiedenen Buchstaben u n d<br />
möglichst eindeutiger Kontext bindung erlesen.<br />
(Beisp iele: Einfachste Heft e der<br />
„Regenbogen-Kiste“ mit Bild und nur einem<br />
Wort pro Seite, Spiele wie „Gezinktes<br />
Memory“ – auf eine Bildrückseite wird der<br />
Anfangsbuchstabe geschrieben - ,in denen<br />
der Sinnbezug eindeutig ist.<br />
• Su bstit utionsüb ungen m achen, u m die<br />
P h o n e m-G r a p h e m- Beziehungen zu klären<br />
(z.B. Mama – Lama, Maus – Laus, Hose<br />
– Dose – Rose).<br />
• Mit wenigen bekannten Buchstaben neue<br />
Wörter legen und lesen.<br />
• Kleinst e schriftliche Bot schaften o der<br />
Briefchen mit Klassenkameradinnen und<br />
-kameraden oder der Lehrerin tauschen.<br />
In Einzelsituatio nen sollte Isa viele<br />
(lustvolle) Leseerfahrungen machen:<br />
• Die Lehrerin liest vor, wobei Isa bei der
Bu chauswahl mit einb ezogen werd e n<br />
sollte.<br />
• Die Lehrerin liest sehr langsam vor, wobei<br />
Isa die Wörter mit den Augen verfolgen<br />
soll.<br />
• Die Lehrerin liest sehr leise und synchron<br />
mit Lisa – sie unterstützt nur und verstummt<br />
bei leichteren Wörtern.<br />
• Isa wird ermuntert, leichte und schon einmal<br />
geübte Textstellen auf Tonband zu<br />
lesen . Das anschließende Ab hören des<br />
Gelesenen soll Isa vom Wert des Übens<br />
überzeugen.<br />
• Sie sollte ein eigenes Tonband (mit ihrem<br />
Namen) erhalt en und so ihre Lesefortschritte<br />
selbst überprüfen und dokumentieren<br />
können.<br />
Empfehlenswert <strong>für</strong> Isa wäre auch das<br />
Material von Bernd Ganser (Hrsg.): „Damit<br />
hab ich es gelernt!” (Auer Verlag 2001). Das<br />
Buch enthält viele Kopiervorlagen und Anregungen<br />
zu den sich nach und nach aufbauenden<br />
Stufen des Schriftspracherwerbs und<br />
m o t i v i e rende Anregu ngen (oft in sp ielerischer<br />
Form) zu selbstständigem Handeln und<br />
zu P a rt n e r- und Gruppenspielen. Unter<br />
A n l e i t u n gder Lehrerin – aber auch selbstständig<br />
in einer Kleingruppe könnte Isa nach<br />
u nd nach zu den angebotenen Them enschwerpunkten<br />
arbeiten:<br />
• Lesen/Rechtschreiben: alphabetische Stufe<br />
• Rechtschreiben: orthografische Stufe<br />
• Rechtschreiben: morphematische Stufe<br />
• Lesen: orthografisch-morphematische<br />
Stufe<br />
• Rechtschreiben: wortübergr eifende Stufe<br />
• Lesen: Stufe der Sinnentnahme.<br />
Gerade <strong>für</strong> Kinder wie Isa mit Lese- und<br />
S c h reib schw ierigkeiten w urde das Pro j e k t<br />
„Wege zu Schrift und Kultur” entwickelt, bei<br />
dem über das Gestalten von Bildvorlagen<br />
( S c h re i b a n re g u n g e n ) hin zum schrift lichen<br />
Ve rfassen eigener Gedanken Schre i b b l o c k a d e n<br />
überwunden werden können. In den Anfängen<br />
könnte man bei Isa ältere Schülerinnen<br />
(oder die Lehrerin) als „Schreibhilfe” einsetzen,<br />
die Isas Gedanken zu Papier bringen.<br />
Nach und nach wird Isa in der Lage sein, selbst<br />
kleine Geschichten zu ihren Bildern zu<br />
schreiben und sie ihren Klassenkameraden<br />
vorzulesen. Dies ist ein vielfach erprobter<br />
Weg, emotionale Hemmschwellen zu überwinden<br />
und das Lesen und Schreiben als<br />
etwas <strong>für</strong> sich selbst emotional Wichtiges zu<br />
empfinden und zu erleben.<br />
(Hierzu: G. Rabkin: „Schreiben – Malen –<br />
Lesen”, „Der Engel fliegt zu einem Kind”,<br />
„D ie schö ne Hexe”, erschienen im Klett<br />
Verlag.)<br />
Die Hamburger Leseprobe erscheint im Eigenverlag und ist über die Autoren erhältlich:<br />
Dr. Peter May, Fax: 040 / 43 27 15 43, peter.may@li-hamburg.de, Internet: www.peter-may.de<br />
Helga Arntzen, Fax: 040 / 279 45 95, E-Mail: helga.arntzen@gmx.de
In den Beiträgen zum Sachunterricht und<br />
zum Mathematikunterricht wird übereinstimmend<br />
gefordert, dass die Kinder so früh wie<br />
möglich an das Lesen als Möglichkeit, Informationen<br />
kennen zu lernen und zu entnehmen,<br />
herangeführt werden.<br />
Die Kinder erhalten einen <strong>für</strong> sie interessanten<br />
Auftrag mit Aufforderungscharakter,<br />
dessen Lösung sie finden können, wenn sie<br />
einen dazu vorhandenen Text entschlüsseln<br />
und die darin „versteckten“ Angaben aufspüren.<br />
Dabei werden sie je nach der Aufgabenstellung<br />
und je nach Alter mit unterschiedlichen<br />
Formen des Decodierens konfrontiert.<br />
Von anfänglichen Bildsymbolen und deren<br />
Sinn geht es über das Deuten von Plänen und<br />
Skizzen weiter zu Lesekarteien und Bastelanleitungen<br />
b is hin zu fachgebu ndenen<br />
Texten mit Fachwört e rn, die m it unterschied<br />
lichen Lesestrategien (z.B. orientiere nd<br />
es Lesen, selektives Lesen) erschlossen werden.<br />
Hierbei gilt von Anfang an der Gru n dsat<br />
z, d ass Kin der selbst tätig w erd en, d ass<br />
s ie ihre Aufgabe al lein erlesen. Sich<br />
Lesehil fen bei Mit schülern o der der<br />
Lehrk raft zu ho len so ll nur eine nachrangige<br />
Möglichkeit sein.<br />
Die Anb ahnung der notwend igen Lesek<br />
o mpetenz der Kinder wird zusätzlich gestärkt<br />
durch eine l eseförd erliche Ausst<br />
attu ng der Schule, die zugleich Int ere s s e n<br />
der Kinder b erücksichtigt und weckt, sod ass<br />
die Erschließu ng unterschied licher Te x t e<br />
den Kindern zu m Bedürfnis w ird .<br />
Anschließ end lernen sie systematisch<br />
v ielfältige Te x t s o rt en kennen und bekom -<br />
men gezielte Strategien zur Ent sch lüsselung<br />
d er einzelnen Te x t f o rmen an d ie Hand .<br />
Wenn wir uns wegen der Pisa-Ergebnisse<br />
neu orientieren und die Leseförderung viel<br />
stärker und auch viel strukturierter auch im<br />
Unterricht dieser Fächer als unsere zentrale<br />
Aufgabe annehmen, so kann die Bedeutung<br />
d es Lesens und des Leseverst ehens sehr<br />
aufgewertet werden.<br />
Aber ist der oben aufgezeigte Weg wirklich<br />
so <strong>für</strong> alle Kinder gangbar?<br />
Überlegen wir uns do ch einmal, w elches<br />
Bild vom Kind diesem Konzept d er Leseförd<br />
e rung zugrunde liegt:<br />
• Es handelt sich um Kind er, die Tex te lesend<br />
e n t z i f e rn und sinnerfassend lesen können,<br />
eventu ell no ch nicht immer ohne<br />
•<br />
Schwierigkeiten.<br />
Es handelt sich um Kind er, die üb er eine<br />
gut ausgebildete Sprachfähigkeit in der<br />
Alltagsko mm un ikatio n u nd spät er in der<br />
Schriftsprache verfü gen, sod ass sie sich in<br />
Sacht ext e in d er Mathem at ik und im<br />
S a c h u n t e richt selbst st än dig einlesen kön -<br />
n e n .<br />
• Es handelt sich um Kinder, denen die<br />
Inhalt e der Texte entweder vertraut sind<br />
o d e r, falls sie neu sind, <strong>für</strong> die Kinder doch<br />
sinnvo ll in das bei ihnen vorh a n d e n e<br />
Wissen einzuordnen sind.<br />
• Es handelt sich u m Kind er, d ie zur Te x t e -r<br />
schließung hau ptsächlich in die in Te x t e n<br />
enthaltenen Fachbegriffe eingeführt werd e n<br />
und nur die sachgerechte Ve rwendu ng der<br />
F a c h w ö ter r einüben müssen.<br />
• Es handelt sich schließ lich u m Kinder, d ie<br />
I n t e resse <strong>für</strong> d ie Menschen und die Dinge<br />
in ihrer Umwelt und ihre Zusamm<br />
enhänge untereinander zeigen u nd sich<br />
w e i t e re Inform ation en dazu lesend ero<br />
b e rn m öcht en.<br />
K u rzum: Es han delt sich um Kind er, dere n<br />
Muttersprache Deutsch ist und die im<br />
N o rmalfall die notwen dige altersgemäße<br />
Sprach- und Sachkom pet enz in dieser Sprache<br />
b e s i t z e n .<br />
Deshalb bezieht sich die Aufgabe der<br />
Lehrkräfte hauptsächlich auf die Ve rm i t t l u n g<br />
der fach lichen Inhalte und nur in dem M a ß e<br />
auf die sp rachlichen Inhalte, d ie ü ber die<br />
altersangemessene Sprache hinausgehen, wie<br />
dies eben meistens <strong>für</strong> den Fachw ort s c h a t z<br />
od er d ie Fach sprache (mit ungewohnt en Satzs<br />
t ru k t u ren, wie z.B. kompliziert en Passivk<br />
o n s t ruktionen) gilt.<br />
In u nseren Schulen hat jedo ch jedes<br />
drit te Kind ein en Migratio nshinterg ru n d .<br />
Das bedeutet, es wächst eventuell nicht o der<br />
nicht nur m it der d eutschen Sprache auf.<br />
Wenn es das d och tu t, so kann das tro t z d e m<br />
bedeuten, d ass es die deutsche Sprache in<br />
einer and eren Weise b eherrscht als die einsprachig<br />
d eut sch aufwachsenden deutsch en<br />
K i n d e r.
• Es handelt sich um Kinder, die Texte lesend<br />
entziffern und gut, teilweise oder gar nicht<br />
sinnerfassend lesen können.<br />
• Es handelt sich um Kinder, die über eine<br />
sehr unterschiedlich ausgeprägte Sprachfähigkeit<br />
in der Alltagskommunikation verfügen.<br />
Ihr Verhältnis zur Schriftsprache ist<br />
eventuell noch gar nicht angelegt worden<br />
oder ist gering, sodass sie sich in Sachtexte<br />
in der Mathematik und im Sachunterricht<br />
nicht unb ed ingt selbstständig einlesen<br />
können, selb st w enn sie daran gro ß e s<br />
Interesse haben.<br />
• Es hand elt sich u m Kinder, d enen die<br />
Inhalte der Texte nicht vertraut sind oder<br />
die sie nur mit Zusatzinformationen sinnvoll<br />
in das bei ihnen vorhandene Wissen<br />
einordnen können.<br />
• Es handelt sich um Kinder, die zur Texterschließung<br />
zusätzlich in die in Texten<br />
enthaltenen Fachbegriffe eingeführt werden<br />
und außerdem die sachgerechte Verwendung<br />
der Fachwörter einüben müssen.<br />
• Es handelt sich um Kinder, die Interesse <strong>für</strong><br />
die Menschen und die Dinge in ihre r<br />
Umwelt und ihre Zusammenhänge zeigen<br />
und sich weitere Informationen dazu lesend<br />
erobern möchten. Das Verhalten der<br />
Menschen in ihrer persönlichen Umwelt<br />
kann sich jedoch erheblich unterscheiden<br />
von dem der Menschen, die in deutschsprachigen<br />
Texten präsentiert werd e n .<br />
Au ch kö nnen D inge vork ommen, mit<br />
denen diese Kinder noch wenig in Kontakt<br />
gekommen sind. Um die richtigen Zusammenhänge<br />
herausfinden zu k önnen,<br />
brauchen sie die informierende Begleitung<br />
durch die Lehrkraft.<br />
Kurzum: Es handelt sich um Kinder, deren<br />
Lesefähigkeit genauso ausgebildet ist wie die<br />
i h rer deutschen Mitschüler, d eren Sprach -<br />
kom petenz aber in unterschied licher We i s e<br />
and ers au sgebildet sein kann u nd dere n<br />
Sachkompetenz gleichfalls anders ausgerichtet<br />
sein kann und nicht unbedingt geprägt ist vo n<br />
der d eutschsprachigen Umwelt.<br />
Bei diesen Kindern sind Lesenkö nnen<br />
u nd Leseverstehen zwei unt erschiedliche<br />
B e reiche. Lesenkö nnen ist erst einmal d er<br />
L e s e p rozess u nd schließt nicht automatisch<br />
d en Ve r s t e h e n s p ro zess m it ein. Die<br />
Annah me d er Lehrkräfte, dass ein Kind nach<br />
ab geschlo ssenem Leselern p rozess und<br />
etlicher Übu ng auch gu t verstehen kann,<br />
was es gut lesen od er vo rlesen kann, hat <strong>für</strong><br />
zweisprachig au fw achsende Kind er keine<br />
allgem eine Gü lt igkeit und ist ind ividuell zu<br />
überprüfen.<br />
Die Aufgab e der Lehrkraft, die Kinder mit<br />
einer anderen Erstsprache als Deutsch<br />
u n t e rricht et , ist also zwingend viel kom -<br />
pl ex er als bei einsprachig d eu t sch Aufwachsenden.<br />
Sie besteht immer in einer<br />
sprachli chen, fachsprachl ichen und<br />
inhalt lich-sachlichen Hinführung zum<br />
Lesethema als Vorausset zung <strong>für</strong> di e<br />
Ent wi ck lung v on Leseko m petenz in der<br />
Zweitsp rache Deutsch.<br />
W ä h rend im D eutschu nterricht d ie<br />
s p r a c h liche u nd die inhalt liche Ebene im<br />
Mitt elpun kt der Auseinanderset zu ng mit<br />
dem Text <strong>für</strong> alle Kind er gleichermaßen als<br />
Arbeitsauftrag steh en, auch wenn dabei die<br />
a n d e r s a rt igen Vorbedingu ngen der Kind er<br />
mit einer anderen Erstsprache als Deutsch<br />
n icht vorrangig gesehen werden, so ist bis<br />
jet zt der U nterricht in d en an deren Fäch ern<br />
hauptsächlich abgest imm t au f die Sache<br />
und auf n eu e fachg eprägte sprachli che<br />
A u s d rucksweisen . Er m üsste in zunehmendem<br />
Maße die gesam te verwendete Sprache<br />
der Texte in den Blick nehmen u nd dere n<br />
k u l t u relle Sachinform at io nen deut lich<br />
mach en, d amit Kinder, deren Erstsprache<br />
nicht D eutsch ist , nicht nur lesen , sond ern<br />
auch zum Leseverstehen komm en könn en.<br />
Die von der Lehrkraft ausgeh end e Sprachs<br />
t ru k t u r i e rungs- und Informatio nsarb eit wird<br />
ab er nur auf d as eingeh en können, von dem<br />
sie auf Grund ihres eigen en Wissens annimm<br />
t, dass Kinder mit einer and eren Erstsprache<br />
als Deutsch Hilfe brauchen. D a diese<br />
Kinder in ihren Sprach- und Sacherf a h ru ngen<br />
als ein e sehr heterogene Gru pp e anzu sehen<br />
sind, wird es der Lehrkraft schwerlich<br />
gelingen, alle Bedürfnisse der Kinder zu<br />
erkennen und auf sie einzugehen.<br />
Deshalb ist es besonders <strong>für</strong> diese Kinder<br />
wichtig, Strategien zu erlernen und zu benutzen,<br />
mit denen sie sich selbst und der Lehrkraft<br />
gezielt signalisieren kö nnen, wo ihr Leseverstehen<br />
eine Hürde nicht nehmen kann. Der<br />
Umgang mit so lchen Erschließungsstrategien<br />
ergibt sich nicht einfach durch das Tun, sondern<br />
muss sorgfältig eingeführt und eingeübt<br />
werden, damit er <strong>für</strong> die Kinder zur Selbstverständlichkeit<br />
wird. Sie lernen, ihre eigenen<br />
Leseverstehensprobleme zu erkennen, wählen<br />
passende Lesestrategien aus und wenden sie<br />
sinngemäß an. Schon bevor der Leselernprozess<br />
einsetzt, kann die Lehrkraft durch<br />
Vorlesen vo n Tex ten gemeinsam mit d en<br />
K i n d e rn Texterschließ ung mit Strateg ien<br />
betreiben.
So planvoll an einen Text heranzu gehen,<br />
e rgibt jed och nur einen Sinn, wenn d ie<br />
Kinder gleichzeitig lernen, Fragen zu stellen,<br />
dort nachzufragen, wo sie bei der Arbeit feststellen<br />
müssen, dass sie etwas nicht oder<br />
nicht sicher wissen. Fragen will auch gelernt<br />
und geübt werden und kann nicht als selbstverständlich<br />
vorausgesetzt werden. Es fällt<br />
vielen Kindern schwer, Unsicherheiten oder<br />
Nichtwissen zu artikulieren.<br />
• Das Fragen kann am meisten fru chten, wenn<br />
die Lehrkraft d en Kindern zu verstehen gibt,<br />
dass sie d en We rt des Fragens sehr h och einschätzt.<br />
• Auf alle Fragen der Kinder zum Text wird<br />
s o rgfältig eingegangen.<br />
• Der Lehrkraft ist bewu sst , dass die Kinder<br />
nicht immer genau wissen, was sie sicher wissen<br />
und was sie nicht wissen, wo sie also fragen<br />
sollten.<br />
• Bei schwer zu verstehenden Fragen versucht<br />
die Lehrkraft herauszufinden, worum es geht,<br />
um eine passende Antwort geben zu können.<br />
• Alle Fragen zum Text werden als berechtigt<br />
angesehen, auch wenn sie schon in anderer<br />
sprachlicher Form gestellt und beantwortet<br />
wurden.<br />
• Sprachliche Entdeckungen mit Nachfragen<br />
w e rden von der Lehrkraft b ewusst zur<br />
Kenntnis genommen und kommentiert.<br />
• Fragen zu Wort- und Satzbedeutungen werden<br />
ausführlich besprochen und eventuell<br />
mit Beispielen und Übungen verdeutlicht.<br />
Das Prinzip des selbst entdeckenden und<br />
selbstst än digen Arbeiten s w ird durch das<br />
Prinzip des Nachfragens nicht aufgehoben,<br />
denn gezielte Fragestellungen erf o rd e rn<br />
selbstständiges Durchdenken eines Problems<br />
und zeigen das eigenständige Arbeiten einer<br />
Zweitsprachlerin oder eines Zweitsprachlers<br />
an ihrem oder seinem Leseverstehensprozess.<br />
Schon durch die Art der Textpräsentation<br />
kann die Lehrkraft viel zur Textentlastung<br />
beitragen. Einige solcher Strategien seien hier<br />
genannt:<br />
• Klein geschriebene Text e kön nen verg r ö ß e tr<br />
und in deutlich gegliederte Abschnitt e<br />
eingeteilt werden.<br />
• Die einzelnen Textreihen werden beziffert.<br />
• Schlüsselwörter aus dem Text werden, als<br />
Poster gestaltet, zum Text hinzugefügt.<br />
• Das Fachvokabular wird durch Fettdruck<br />
oder Unterstreichung herausgehoben.<br />
• Fragen, die die Textproblematik erhellen,<br />
werden mit dem Text ausgegeben.<br />
• Texte werden zuerst in einer vereinfachten<br />
F o rm gelesen und anschließend in der<br />
Originalform bearbeitet.<br />
• Texte werden mit Bildmaterialien versehen,<br />
sofern sie keines enthalten.<br />
• Texte werden vorgelesen, bevor die Kinder<br />
selbst lesen.<br />
• Texte werden von den Kindern gelesen und<br />
dann den Kindern vorgelesen.<br />
Kind er m it einer anderen Erstsprache als<br />
Deut sch lesen genauso gu t und gern wie<br />
i h re deut schen Mits chül erinnen u nd -<br />
s c h ü l e r, wenn ihre Sprach- und Sachkomp<br />
et enz ihnen das sinnerfassende Lesen<br />
e rmöglicht. Lesen o hne die anschließende<br />
Möglichkeit der Sinnentnahme aber demot<br />
i v i e rt nachhalt ig. Wenn zw eisprachige<br />
Kind er m erken, d ass sie v erstehen, woru m<br />
es geht, u nt ernehmen sie auch bere i t w i l l i g<br />
A n s t reng ungen. Di e Leseau fgab e kann<br />
a n s p ruchsvoll sein. Die Kinder st ellen sich<br />
i h r, solange sie das Gefühl haben , dass sie<br />
e r l e rnen kö nnen, was sie <strong>für</strong> d ie Aufgabe<br />
brauchen. Wenn Kinder ab er zu d er<br />
Ü b e rzeugun g ko mm en, d ass es an ihnen<br />
liegt , dass sie zu dumm sind, dann hab en<br />
wir sie als Leser verlore n !<br />
Inge Büchner / Heiko<br />
Balhorn. 2003.<br />
„Textverständnis ist schwer<br />
zu haben.“ In: <strong>Grundschule</strong><br />
Sprachen 09, „Sache und<br />
Sprache“, Kallmeyer.<br />
Richard Meier. 2003. „Die<br />
Sache (auch) durch die<br />
Texte erschließen.“ Ebenda.<br />
Helga Meier / Michaela<br />
Hein. 2003. „Sachtexte<br />
gezielt nutzen.“ Ebenda.
(DaZ = Deutsch als<br />
Zweitsprache):<br />
Die Inhalte, <strong>für</strong> die man das<br />
Interesse der Kinder<br />
erwartet, müssen <strong>für</strong> Kinder<br />
mit einer anderen<br />
Erstsprache als Deutsch ver -<br />
ständlich sein, sonst können<br />
sie ihr Interesse gar nicht<br />
zeigen. Es kann aber auch<br />
wegen der unterschiedlichen<br />
kulturellen Lebensumstände<br />
vorkommen, dass DaZ-<br />
Kinder an anderen Dingen<br />
interessiert sind, als die<br />
deutsche Schule es von ihnen<br />
erwartet (s. Kap. 1.2).<br />
Es ist das Anliegen dieses Beitrages, auf<br />
Unterrichtsbeispiele hinzuweisen, die gleichzeitig<br />
zum informativen Lesen anregen, die<br />
Schülerinnen und Schüler über einen relativ<br />
langen Zeitraum so konsequent und kontinuierlich<br />
im Gespräch über Gelesenes fesseln<br />
und die zur Auseinandersetzung mit<br />
einer Problemstellung aus der Mathematik<br />
anregen.<br />
Eingefügt sind kritische Anmerkungen<br />
von M. Grell, die aus der Sicht der Expertin<br />
<strong>für</strong> Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Lernh<br />
ü rden im Prozess der Entw icklun g d er<br />
Leseko mp etenz im Mathematiku nt err i c h t<br />
exemplarisch aufdeckt.<br />
Die d ort angegebenen Ziff e rn verw e i s e n<br />
au f die angesprochene Them atik in den<br />
Kapit eln d ieses Beitrags, sodass ein schn elles<br />
N achlesen m öglich ist.<br />
I n f o rmatives Lesen lernen Schü lerinnen<br />
und Schüler am besten durch Übungsformen<br />
zum<br />
• „orientierenden“ Lesen, um sich über den<br />
S a c h v e rhalt einen Überblick zu versch aff e n ,<br />
• genauen Lesen, um Beziehungen zwischen<br />
Textaussagen herzustellen,<br />
• selektiven Lesen, um <strong>für</strong> die Pro b l e mlösung<br />
die wesentlichen Inform a t i o n e n<br />
herauszupicken,<br />
• krit ischen Lesen, u m t ext immanente<br />
Widersprüche, aber auch solche zwischen<br />
Textaussage und eigener Erfahrung zu entdecken,<br />
• p roduktiven Lesen, u m mit den Informationen<br />
zu operieren,<br />
• „ w o rterschließ enden“ Lesen (Kleinschmidt),<br />
um z.B. die Bedeutung von Fachbegriffen<br />
zu entschlüsseln,<br />
• rückversichernden Lesen, um sich eines<br />
neu en Sachverhalt s zu verg e w i s s e rn<br />
(Erichson 1993, S. 18, Schipper 2000,<br />
S. 195).<br />
L e h rerinnen u nd Lehrer sollten auch<br />
ungewöhnliche Wege nutzen, um Kommunikat<br />
ion und Interakt ion im Mathem at iku<br />
n t e richt anzuregen. Es muss nicht eine<br />
umfassende Erzählung oder eine Ganzschrift<br />
sein, die zur Auseinandersetzung mit mathem<br />
atischen Prob lemen einlädt. Au ch eine<br />
k u rze Episode aus einer G eschichte, eine<br />
Lesekartei, eine Bastel- oder Bauanleitung o.Ä.<br />
können Sinn stiftende Leseanregungen sein,<br />
die zum Mathematisieren auffordern.<br />
Im Rahmenplan Mathematik ist gefordert,<br />
die Lesekom petenz der Schülerinnen u nd<br />
Schüler zu fö rd e rn u nd zu ford e rn u nd<br />
Leseanlässe zu gestalten.<br />
In der Einbindung von Au fgabenstellung<br />
en zur Lesekom petenz im Mathem<br />
a t i k u n t e richt verbirgt sich jedo ch d ie<br />
G e f a h r, m athematische Inhalt e zu vers<br />
c h l e i e rn. N eben der Thematisierun g von<br />
bewusstem Textumgang ist unbedingt darauf<br />
zu achten, dass der eigentliche mathematische<br />
Gehalt nicht verloren geht. Lehrerinnen<br />
und Lehrer sollten Möglichkeiten im Umgang<br />
mit Texten im Mathematikunterricht erkunden,<br />
sie m it Bedacht nutzen und ihre n<br />
Einfluss auf die Pro zesse innerhalb d es<br />
Unterrichts geltend machen.<br />
In vielen Mathematik-Lernbüchern <strong>für</strong> die<br />
<strong>Grundschule</strong> gibt es eine Fülle von substanzlosen<br />
Aufgaben, bei denen sich Kinder nach<br />
dem Erlesen des Textes fragen: „Was gibt es<br />
hier zu rechnen? Verstehe ich nicht!“ Eine<br />
Aufforderung zum erneuten, genauen Lesen<br />
hilft hier nicht. Die Kinder reagieren mit<br />
Orientierungslosigkeit. Will man Kinder anregen,<br />
etwas zu durchschauen, zu begreifen,<br />
muss man ihnen Inhalte anbieten, die ihr<br />
Interesse wecken.<br />
Es mü ssen Schülerinnen und Schü lern<br />
Aufgaben angeboten werden, in denen es<br />
nach dem Erlesen <strong>für</strong> sie (nicht <strong>für</strong> d en<br />
Mathematikunterricht) etwas zu berechnen<br />
gibt.<br />
Aufgaben zum Entdecken, Argumentieren<br />
und Begründen sind in vielen Unterrichtswerk<br />
en bisher in deutlich g eringer Zahl<br />
vertreten. Häufig handelt es sich bei den<br />
Sachaufgaben überwiegend um eingekleidete<br />
Aufgaben. Die Aufgabeninformationen sind<br />
in Bild- o der Te x t f o rm dargest ellt, sodass<br />
g e n e rell eine mathematische Mo dellieru n g<br />
auf der Basis einer textlich und/oder bildlich<br />
d a rgestellt en Situ ation zu leist en ist . Das<br />
Bearbeiten erfor dert von Schülerinnen und<br />
S c h ü l e rn bestimm te Kom petenzen: Einsatz<br />
von Faktenwissen, einfache mathematische<br />
B e g r i ffe, Fertigkeiten, St andard v e rf a h re n ,<br />
Zu sammenfügen m ehre rer bekannt er re c h-
nerischer oder begrifflicher Lösungsschritte<br />
o der Lösungselement e zu einer Gesamt -<br />
lösung; schöpferisches Denken zur Überwindu<br />
ng v on Barr i e ren b ei pro b l e m h a f t e n<br />
Aufgaben.<br />
Das „Anwen den“ von Mathematik au f<br />
a u ß e rmathematische Situationen so ll n icht<br />
auf das Lösen einfacher Rechenaufgaben<br />
b eschränkt werden. Ein allgemein bildender<br />
M a t h e m a t i k u n t e richt r mu ss au f die Entw<br />
icklu ng d er Mod ellierungsfähigkeit von<br />
Sch ülerin nen und Schülern ausgericht et sein.<br />
Zu verfolgen ist ein Bünd el kom plexer ko gnit<br />
iver Pro zesse, in dem etwa aus der gegebenen<br />
textlichen Präsentation d er Situ ation zunächst<br />
ein Verständnis der Sachsituation gew onn en<br />
u nd die zu grunde liegend e Sachstruktur b zw.<br />
ein Realmodell herausgeschält werden kann<br />
( W inter 1 995). In der Phase des Mathem<br />
a t i s i e ens r wird d ie Sachstruktur dann in die<br />
Sprache der Mathemat ik üb ersetzt.<br />
H i e r<strong>für</strong> erweisen sich Aufgaben mit authent<br />
ischen Informationen als besonders geeignet,<br />
die Inform ationen kritisch zu hinterf r a g e n<br />
u nd die Daten rechnerisch zu überprüfen:<br />
Zeitu ngsausschnitte, Quittungen , Kalen derb<br />
l ä t t e r, Tabellen, Au sschnitte au s d em<br />
G uiness-Buch der Rekorde, Sachtexte u .v. m .<br />
D ie Geschicht e der HEXE ZENTIMO SIA<br />
(Simone Reinhold), ein Leseanlass in einem<br />
zweiten Schuljahr als fächerverbindender<br />
Beitrag zur Au seinand ersetzung m it dem<br />
mathematischen Thema „Längen und<br />
Längenmessung“, lädt ein zu einer handlungsorientierten<br />
Unterrichtseinheit mit dem<br />
Ziel d er gemeinsamen Entdeckung der<br />
normierten Maßeinheiten. Die mathematischen<br />
Aufgabenstellungen (Lesen – Problem –<br />
Handeln – Reflexion), die sich im Leseprozess<br />
stellten, sind hier beispielhaft vorgestellt:<br />
Abb. 1: Zwei Messergebnisse der Kinder.<br />
Wer hat richtig gemessen?<br />
Authentische Inhalte sind nur<br />
gut zu verwenden, wenn sie<br />
sich <strong>für</strong> alle Kinder als<br />
„authentisch“ erweisen und<br />
auch von allen verstanden wer -<br />
den können (s. Kap. 1.2).<br />
Lehrerinnen und Lehrer sind<br />
aufgefor dert, „sinnleere“<br />
Sachaufgaben aus Schul -<br />
büchern so zu verändern, dass<br />
daraus „sinnvolle“ Aufgaben<br />
entstehen, die Kinder zum<br />
Lesen anregen und über deren<br />
Sachverhalt Kinder sprechen<br />
möchten.
Schon die Überschrift des Te x t e s<br />
weist auf seine „Schwierigkeit“<br />
hin. Das Verb „brodeln“ hat<br />
eine Wo rtbedeutung, die auch<br />
<strong>für</strong> einsprachig aufwachsende<br />
Kinder nicht bekannt sein m uss.<br />
Die Geschichte ist dann auch in<br />
einer gehobenen Schriftsprache<br />
v e rfasst, die mit dem Gebrauch<br />
des Präteritum s, der Ve rw e ndung<br />
von Satzgefügen mit wech -<br />
selnden Konjunktionen, mit<br />
Adjektiven, die gleichz eitig auch<br />
adverbial benutzt werden, und<br />
m it Fragewört e rn und Frage -<br />
sätzen einen sehr hohen sprach -<br />
lichen Schw ierigk eitsgrad<br />
a u f w e i s Hinzu t . kommt der<br />
Inhalt, der eindeutig kulture l l<br />
gebunden ist mit seiner<br />
positiven Darstellung des<br />
Z a u b e rwesens „Hexe“<br />
(s. Kap. 2, 3, 4).<br />
Gerade Witze und Cart o o n s<br />
haben eine hohe Bindung an<br />
den Kulturkreis, in dem sie ver -<br />
b reitet werden. Figuren, die in<br />
der deutschsprachigen<br />
Lebenswelt wie selbstver -<br />
ständlich in Äußerungen einbe -<br />
zogen werden, haben keine<br />
Bedeutung <strong>für</strong> Menschen in<br />
a n d e ren kulturellen Umfeldern .<br />
Daher sind <strong>für</strong> sie Texte mit<br />
diesen Figuren „nur an der<br />
O b e rfläche“ decodierbar. Die<br />
Funktion der Figuren muss ein -<br />
deutig verständlich gemacht<br />
w e rden, weil sonst kein Lesever -<br />
stehen einsetzen kann, das aber<br />
<strong>für</strong> die Lösung der mathematischen<br />
Aufgabe von Bedeutung<br />
sein könnte. Auch beim<br />
Janosch-Rechenbuch sind „die<br />
v e rtrauten Figuren“ gar nicht<br />
allen Kindern bekannt,<br />
geschweige denn vertraut<br />
(s. Kap. 1.2).<br />
Aus: Reinhold, Simone: „Geschichten als<br />
Ko mmunikationsanlass im Mathem at iku<br />
n t e richt.“ In: Praxis Grun dschu le,<br />
Heft 2/ 2002, S. 26-30.<br />
Ein unerschöpfliches Repertoire an authentischen<br />
Schnappschüssen (Wa h r- N e h m u n g<br />
vo n Informat ionen m it m athem at ischem<br />
Geh alt aus allen Intere s s e n s b e reichen d er<br />
Kinder) findet sich in d er Sachlit eratur.<br />
Besonders geeignet zur St eigerung der<br />
Lesemotivation sind u.a. Witze und Cartoons.<br />
„Oh, wie schön ist Panam a“, von Janosch<br />
umgewandelt in eine Rechengeschichte, regt zu<br />
L e s e b e eit r schaft und zu Rechenleistung durc h<br />
die Handlungen vertrauter Figuren (Ti g e re n t e ,<br />
Tiger und Bär) an. Die Einbeziehung bekannter<br />
und lieb gewordener Figuren u nd die veränd<br />
e rte Te x t s t urktur (wörtliche Rede, Erzählstil ...)<br />
regen zum Lesen an . Durch die Einbindung<br />
mathemat ischer Probleme und durch Bilder<br />
zum Text wird das Textverständnis erleichtert ,<br />
und d ie Kinder werden zu m Lösen der mathematisch<br />
en Probleme m otiviert .<br />
Franke, M.: „Mit Janosch besser rechnen.“<br />
In: G ru n d s c h u l u n t e richt H eft 10/ 2002 ,<br />
Material 1-6.
Am Ende der Grundschulzeit sollten die<br />
Textaufgaben, die sich in einem Rechenschritt<br />
lö sen lassen, werden von den meisten<br />
K i n d e rn bewältigt . Zusam mengeset zte Te x t-<br />
Schülerinn en und Schüler in der Lage sein, in au fgaben erf o rd e rn jedoch mehre re vern e t z t e<br />
Alltagssituationen mathematische Asp ekte und und aufeinand er aufb au end e Rechnungen.<br />
Beziehungen zu erken nen und d urch Zahlen Viele Kinder fühlen sich von d er Komplexit ät<br />
und Maße auszudrücken . Ihre Sachre c h e n- solcher Aufgaben überf o rd e rt. Sie haben die<br />
fähigkeiten und ihre <strong>Lesekompetenz</strong> beziehen E rf a h run g gemacht , dass sich jede Au fgabe<br />
sich d abei nicht nur auf reine Te x t a u f g a b e n , lösen lässt. Zahlen werte werden manchmal<br />
sondern auch auf die Interpretation von gemäß dem Unterrichtsschwerpu nkt zusam-<br />
Diagrammen, Schaubildern u nd Ta b e l l e n . menhanglos mit einand er verrechnet, ohne<br />
Verschiedene Bearbeitun gshilfen, z.B. Fragen i h ren Bedeutungsgehalt zu prüfen.<br />
stellen, Textstellen unterstreichen, Skizzen Folgende Beobachtungskriterien sollten die<br />
a n f e tigen r sowie geeign et e Dars t e l l u n g s m f o e rn<br />
L e h rerinnen und Lehrer berü cksicht igen,<br />
zur Präsentation von Lösungswegen sollt en bevor sie diff e re n z i e rende Maß nahm en<br />
bekannt sein.<br />
ergreifen:<br />
(in Anlehnung an Radatz u.a. Handbuch <strong>für</strong><br />
den Mathematikunterricht 3. und 4. Schuljahr,<br />
Kapitel 4: „Sachrechnen und Größen“,<br />
Schroedel 1999)<br />
D ie folgenden Bearbeitungshilfen wurd e n<br />
favorisiert, weil sie die Phase des Verstehens<br />
von Sachsituat ionen o der Sacht ext en in<br />
b e s o n d e rem Maße u nterstü tzen. D ie Anforderungen<br />
bei der Arbeit mit Sachaufgaben<br />
steigen im Laufe der Grundschulzeit.<br />
Der Schwierigkeitsgrad im Erfassen des zu<br />
lösenden Problems erhöht sich zum einen<br />
durch ein erhöhtes Niveau der sprachlichen<br />
Mittel in den Formulierungen (Steigerung des<br />
Schwierigkeit sgrad es d urch sprachliche<br />
Gestaltung), zum anderen durch die <strong>für</strong> das<br />
Lösen des Problems komplexer werdenden<br />
mathematischen Mittel bzw. Rechenschritte<br />
(Steigerung des Schwierigkeitsgrades in der<br />
mathematischen Struktur).<br />
„ E rzähle den Inhalt m it eigenen Wo rt e n .<br />
Begleit e die Erzählun g m it Handlung oder fertige<br />
eine Skizze oder Tabelle zur Handlung an.“<br />
Es ist sinnvoll, den Kindern Gelegenheit zu<br />
biet en, einen Sachverhalt aus ihre m<br />
Verst ändnis heraus neu zu form u l i e re n .<br />
Mögliche fehlgedeut ete oder nicht verstand<br />
ene Begriffe/ Sprachelement e werd e n<br />
d eutlich und kö nnen <strong>für</strong> den sich anschließ<br />
end en Mathematisieru n g s p rozess erl<br />
ä u t e rt werden. H inzu kommt , dass verschiedene<br />
Lernstände der Schülerinnen und<br />
Schüler fordern, Lerninhalte auf verschiedenen<br />
Repräsentationsebenen zu durchdringen.<br />
Die Verknü pfung von Text , Sprache und<br />
Handlu ng veranschaulicht besond ers <strong>für</strong><br />
schwache Schüler den Sachverhalt.<br />
Diese Übungsform dient dazu, sich einen<br />
Überblick über die dargestellte Situation zu<br />
verschaffen. Es gilt, Textstellen als Belege zu<br />
Die angegebenen<br />
Bearbeitungshilfen müssten die<br />
Kinder, insbesondere die DaZ-<br />
Kinder, durch die<br />
Mathematiklehrkraft im han -<br />
delnden Umgang, also auf dem<br />
Weg zur Lösung der Aufgabe<br />
kennen lernen und einüben.<br />
Nur die Fachkraft kann<br />
entscheiden, was ein Kind an<br />
Strategien <strong>für</strong> die fachliche<br />
Lösung braucht. Die Fachkraft<br />
muss aber zusätzlich die<br />
notwendigen sprachlich orien -<br />
tierten Strategien in den<br />
Unterricht einbringen, denn nur<br />
ein Zusammenwirken von<br />
Sache und Sprache kann die<br />
erforderliche <strong>Lesekompetenz</strong><br />
aufbauen (s. Kap. 3, 4, 5).<br />
Bei Kindern mit einer anderen<br />
Erstsprache als Deutsch sollte<br />
das Kriterium: „Versteht er/sie<br />
den Text nicht?“ ausgeweitet<br />
werden um die Aspekte: wegen<br />
noch fehlender Sprach -<br />
kompetenz im<br />
Wortschatzbereich / im<br />
Strukturbereich, wegen anderer<br />
kultureller Sichtweise, damit<br />
gezielt ausgeschlossen werden<br />
kann, dass hier eventuelle<br />
Störungen <strong>für</strong> mathematisches<br />
Nichtkönnen vorliegen<br />
(s. Kap. 4, 6).
Wie sehr „unscheinbare<br />
Wörter“: „bereits“, „schon“,<br />
„noch“, „gerade“ einen<br />
Bedeutungswechsel in<br />
Aussagen hervorrufen, ist<br />
besonders in Fachtexten<br />
gravierend. Wenn nun mehr<br />
Sprache in den Mathematik -<br />
unterricht einbezogen wird,<br />
muss die Sprache von den<br />
Fachkräften auch mehr<br />
beachtet werden.<br />
Spracharbeit kann geleistet<br />
werden, indem die Klärung<br />
von Wort- und<br />
Satzbedeutungen eine zen -<br />
trale Rolle neben den mathe -<br />
matischen Lösungswegen<br />
erhält (s. Kap. 3, 4, 5).<br />
finden, um die Fakten in den Mittelpunkt zu<br />
rü-cken. Textstellen, bei denen es um die <strong>für</strong><br />
die rechnerische Lösung relevanten Aspekte<br />
geht, werden hier nicht behandelt<br />
D u rch das b ewusste Ve r ä n d e rn vo n<br />
Sachaufgaben wird verdeut licht, welche<br />
Angaben wesentlich sind <strong>für</strong> die Problemstellung.<br />
Variation der Sachaufgaben nach<br />
Gesichtspunkten:<br />
• Zahlen, Maßzahlen ändern;<br />
• Personen, Gegenstände ändern;<br />
• G r ö ß e n a rten ändern, Sachsituation belassen;<br />
• S a c h v e rhalt änd ern, ab er d ie form a l e<br />
Struktur beibehalten;<br />
• Operative Umkehrung durchführen;<br />
• „Ausschmückung der Sach aufgabe und<br />
umgekehrt Verkürzen“ des Aufgabentextes<br />
(Wagemann 1991, S. 203).<br />
Karten mit Elementen einer Sachaufgabe:<br />
Obwohl viele Komponenten ausgetauscht<br />
werden könnten, bleibt die Rechenart erhalten.<br />
Es soll deutlich werd en, d ass einige<br />
Angaben <strong>für</strong> den Lösungsweg unbedeutend<br />
sind. Wesentlich ist, dass bei allen Angaben<br />
zu einer v orhand enen Menge etw as<br />
hinzukommt.<br />
Den Schülerinnen und Schülern werden<br />
bereits fertige Lösungswege vorgegeben. Diese<br />
sollen sie miteinander vergleichen und in<br />
einer „Strategiekonferenz“ besondere Merkmale<br />
herausstellen.<br />
• Ähnliche Lösungswege<br />
• Fehleranfällige Lösungswege<br />
• Vorteilhafte Lösungswege<br />
• Kurze/lange Lösungswege<br />
• Richtige/falsche Lösungswege
Es sollen Textstellen als Belege gefunden und<br />
auf das Wesentliche reduziert werden, um die<br />
rechnerische Lösung anzubahnen.<br />
Lies die beiden Sachau fgaben genau.<br />
Vergleiche anhand der Unterstreichungen die<br />
Interessen der beiden Jungen. Durch welche<br />
U n t e r s t reichungen w ird eine re c h n e r i s c h e<br />
Lösung vorbereitet?<br />
Die Schülerinnen und Schüler erfahren,<br />
dass die Selektion von wichtigen Textteilen<br />
abhängig ist von der damit verbunden en<br />
Intention: Wenn eine rechnerische Lösung<br />
des Prob lems an gestreb t ist, sind andere<br />
Komponenten wichtiger als wenn die Ferienerlebnisse<br />
zusammengetragen werden sollen.
Das Beziehungsgeflecht von Daten kann<br />
b eso nders gut in Form von Lück ent exten<br />
angebot en werden. Es m uss durch genau es<br />
Lesen herausgefu nden werden, wie die Lücken<br />
sinnvo ll ausgefü llt werden können. Es m uss<br />
vom Kontex t auf die Daten geschlo ssen werd<br />
en . Erst eine „Lesekontrolle“ d urch die Sch ülerinnen<br />
und Schü ler schließt die Übung ab.<br />
Te x t u n t e r s t reichungen und „Schlüsselwort -<br />
findu ngen“ dienen d azu, d ie <strong>für</strong> die<br />
Problemstellung wesentlichen Komponenten<br />
hervorzuheben.<br />
Zu welchen Fragen findest du wesentliche<br />
I n f o rmationen im Text ? Unt erstreiche die<br />
Stelle im Text farbig und kreise die dazugehörige<br />
Frage in der gleichen Farbe ein.<br />
Beispiel:<br />
Mögliche Fragen:<br />
• Wer kauft neue Geräte?<br />
• Wie viele Geräte werden gekauft?<br />
• Warum werden neue Geräte gekauft?<br />
• Wo<strong>für</strong> werden die Geräte gekauft?<br />
• Welche Geräte werden gekauft?<br />
• Welche Person bezahlt die Geräte?<br />
• Wie teuer sind die Geräte zusammen?<br />
• Bleibt Geld übrig?<br />
Arithm etische Sachverhalt e kö nnen geometrisch<br />
veranschaulicht werden. Umgekehrt<br />
werden geometrische Sachverhalte mit arithmetischen<br />
Mitteln tiefer durchdrungen.<br />
Ein wichtiges Ziel der Grundschularbeit ist es,<br />
Reflexionsfähigkeit vo n Kin dern zu entw<br />
ickeln. Deshalb sollen sie angehalten werden,<br />
sowohl ihre Lösungen als auch ihre<br />
Antworten zu überprüfen.<br />
• Passt die Antwort zum Text?<br />
• Passt meine Antwort zu der Frage?<br />
• Zu welchen Fragen findest du Antworten<br />
im Text? Unterstreiche die Stelle im Text<br />
farbig und kreise die dazugehörige Frage in<br />
der gleichen Farbe ein.<br />
Beispiel:<br />
Mögliche Fragen:<br />
• Wie lange dauern die Osterferien?<br />
• Wer verbringt zwei Wochen auf dem<br />
Reiterhof?<br />
• Wo sind Nadja und ihre Freundin?<br />
• Wie alt ist Nadja?<br />
• Hat Nadja noch andere Freundinnen?<br />
• Hat Nadja ein Pferd?<br />
• Wie lange verbringen die Freundinnen auf<br />
dem Reiterhof?<br />
• Wie viele Tage sind Osterferien?<br />
• Wie lange bleibt Nadja zu Hause?
Kinder suchen in Sachkontexten nach dem<br />
„rationalen Kern“ und schießen dabei auch<br />
manchmal über das Ziel hinaus. Sie konstrui<br />
e ren recht un erw a rtet e Rechnungen. Es<br />
b e d a rf hier sicherlich einer v erändert e n<br />
Unterrichtssituation: den Kindern nicht einfach<br />
eine Aufgabe vorlegen und re c h n e n<br />
lassen, sondern die Kinder darauf hinweisen,<br />
dass einige Aufgaben lösbar sind, andere<br />
nicht zum Rechnen auffordern.<br />
Woran liegt es, dass folgende Aufgaben<br />
nicht lösbar sind?<br />
Kannst du die Aufgaben verändern, um sie<br />
lö sen zu k önnen, in dem du eventuell<br />
fehlende Angaben hinzufügst oder überflüssige<br />
weglässt?<br />
Ein weiterer Aspekt ist das Lesen, Deuten und<br />
I n t e r p re t i e ren vo n Tab ellen und Diagramm<br />
en. Die „Informatio nsentnahm e“ bei<br />
Tabellen und Diagrammen muss zunehmend<br />
ein Bestandteil des Math em at ikunt err i c h t s<br />
sein. Daten, Zahlen, Größenangaben lassen<br />
sich leichter interpretieren, wenn man sie in<br />
übersichtlicher Form darstellt.<br />
Ein mö gliches Beispiel: Die folgend e<br />
Tabelle zeigt, wie viele Jungen und Mädchen<br />
aus den drei 3. Klassen bereits schwimmen<br />
können:<br />
Tom hat angefangen, zu dieser Tabelle ein<br />
Säulenbild zu malen. Vervollständige es.<br />
Daten, Zahlen, Größenangaben usw. lassen<br />
sich leichter interpretieren, wenn man sie in<br />
übersichtlicher Form darstellt. In der <strong>Grundschule</strong><br />
bieten sich Darstellungen in Form von<br />
Säulendiagrammen oder Tabellen an.<br />
Weitere Beispiele:<br />
• Proportionale Zuordnungen in Tabellenform<br />
(z.B. Preise/Gewicht)<br />
• Befragungen durchführen<br />
• Säulendiagramm erstellen<br />
• Schau bilder lesen, interpre t i e ren und<br />
zeichnen
Dröge, Rotraut. 19 94. „Kann es Sach aufgab en geb en , bei d enen sich so gar das Rechnen<br />
lohnt ?“ In: Praxis Grundsch ule; Heft 2, S. 2 0-22.<br />
Erichson, C. 200 3. Ideen zum Rechn en. Geschichten, m it denen m an rechnen m uss,<br />
Bd. 1. vpm.<br />
Erichso n, C. 2003. „Tu nnelbau er im Samtanzug.“ In: Grundschu le Sp rach en, Heft 9, 2003,<br />
S. 22-25 .<br />
Franke, M .: „Mit Jano sch b esser rechnen.“ In: Gru n d s c h u l u n t e richt, r Heft 10/2002,<br />
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Franke, M. 2 003. Didaktik des Sachrechnens in der Gru ndschule. Heidelb erg: Spektru m .<br />
Krauthau sen, G. 199 8. Lern e n - L e h re n - L e h re n - L e rnen. Zur m athemat ik-didakt ischen<br />
L e h rerb ild u ng am Beispiel der Primarstufe. Leipzig: Klet t, S.149.<br />
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Der Grundschulverband e.V. Hannover, S. 6 3.<br />
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Rasch, R. 2 003. „... immer d er Dritt e war’s“. In: <strong>Grundschule</strong> Sprachen, Heft 9 , 2003,<br />
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Reinho ld, S. 2002. „Gesch ichten als Ko mmu nikatio nsanlass im Mathem at ikunterricht.“<br />
In: Prax is Grund sch ule, Heft 2 , S. 26-30.<br />
S c h i p p e , rW.<br />
/ Drö ge, R: / Ebeling, A. 20 00. Handbu ch <strong>für</strong> den Mathem atikunterricht .<br />
4. Schuljahr. Hannover: Schro e d e l .<br />
Bos, W. / Lankes, E.M. / u.a. 2003. Erste Ergeb nisse aus IGLU. Mü nst er: Wa x m a n n .
Morteza nimmt sich eine Aufgabenkarte aus<br />
d er Löwenzahn-Werkstat t. Ein e Karte mit<br />
einem dicken rot en Klebepu nkt – eine<br />
„Mussaufgabe“. Er kommt zu mir an den<br />
Beratertisch. „Was muss ich da machen?“ Ich<br />
schüt tele d en Kop f und erinnere ihn an<br />
unsere Regeln: „Versuche erst, selber zu lesen.<br />
Wenn es zu schwierig ist, bitte ein anderes<br />
Kind, dir zu helfen. Wenn ihr beide es nicht<br />
schafft, dann darfst du zu mir kommen.“*<br />
Er geht wieder und macht sich an die <strong>für</strong><br />
ihn noch mühevolle Arbeit, die Buchstaben<br />
zu Wörtern zusammenzufügen. Er kann es<br />
schaffen. Das weiß ich. Deshalb muss er es<br />
zuerst alleine versuchen. Nach einiger Zeit<br />
steht er auf und lacht mich an. „Ich weiß<br />
jetzt“, sagt er, hängt sich den Fotoapparat aus<br />
der Forscherecke um den Hals und geht aufs<br />
Schulgelände.<br />
F o t o g r a f i e r den schönsten Lö wenzahn,<br />
den du finden kannst.<br />
Täglich gibt es solche Situationen. Und wie<br />
oft sind wir versucht, den Kindern die kleine<br />
Aufgabenstellung schnell mal vorzulesen!<br />
Eine Stärkung der <strong>Lesekompetenz</strong> in der<br />
Gr undschule bedeutet aber auch, möglichst<br />
v iele dieser sich t äglich erg e b e n d e n<br />
Gelegenheiten zum Üben zu nutzen.<br />
Die in der Pisa-Stu die getestete Lesek<br />
om petenz zielt au f d ie Fähigkeit, im<br />
Alltagsleben mit Texten unterschiedlicher Art<br />
– und dazu gehören Fließtexte, aber auch<br />
Symbole, Tabellen, Verzeichnisse usw. – praktisch<br />
umzugehen. Eine so beschriebene <strong>Lesekompetenz</strong><br />
wird besonders im Sachunterricht<br />
gebraucht und muss deshalb in diesem Fach<br />
auch besonders gefördert werden.<br />
Es ist das Ziel des Sachunterrichts, den<br />
Kindern zu ermöglichen, sich ihre Lebenswelt<br />
zu nehm end selb stständig zu erschließen<br />
(Bild ung splan <strong>Grundschule</strong>, Rahmenplan<br />
Sachunterricht).<br />
Dieser Anspruch ist sehr komplex und<br />
fordert eine große fachliche und methodische<br />
Kompetenz bei der Auseinandersetzung mit<br />
natürlichen, gesellschaftlichen und technischen<br />
Gegebenh eiten . Dement spre c h e n d<br />
vielfältig sind die Darstellungsformen schriftlicher<br />
Informationen, die <strong>für</strong> die Kinder dabei<br />
von Bedeutung sind. Sie müssen lernen,<br />
• diese Informationen zu dekodieren,<br />
• sie aufgabenbezogen zu bewerten und<br />
• sie <strong>für</strong> den Erwerb und <strong>für</strong> die Anwendung<br />
ihres Wissens zu nutzen.<br />
Genauso vielfältig sind die Möglichkeiten<br />
und die Notwendigkeiten im Sachunterricht,<br />
eigene Text e in ganz u nterschied lichen<br />
Formen selbstständig zu verfassen. Auch dies<br />
trägt bedeutend zur St ärkung der <strong>Lesekompetenz</strong><br />
bei.<br />
Zunächst ein mal sind hier<strong>für</strong> einige<br />
Grundsätze im Schulalltag zu beachten:<br />
• Die Kinder so oft wie m öglich anre g e n ,<br />
sich mit schrift lichen Informat ionen –<br />
un d seien sie no ch so klein – auseinander<br />
zu set zen: d ies aber nicht nur neb enb ei<br />
und u nverbindlich, so nd ern im<br />
Zusammenhang mit einem Au ftrag, der<br />
zum Entschlüsseln mo t iviert ; so lche<br />
I n f o rm ationen kö nnen Hinw eisschilder<br />
auf dem Schulgelände sein, Merkzet tel,<br />
Aufgab enst ellungen im Ta g e s p l a n .<br />
• Dab ei und b ei allem G eschriebenen gilt<br />
<strong>für</strong> d ie Kind er die Regel: Ich mu ss zu erst<br />
allein e versuchen, d en Text zu lesen, erst<br />
d ann darf ich mir Hilfe holen.<br />
• Mit Arbeitsergebnissen , d ie im Sachunterricht<br />
entst ehen, eine leseförd e r l i c h e<br />
Umgebung in der Schule gest alten: So<br />
kö nnen z.B. ein Po st er m it einem Rätsel<br />
zum Sachu nt errichtsthem a (m it Gewinnchance!),<br />
Infos zu Freizeitangebo ten im<br />
Stadtt eil, eine Tau schbö rse am schwarz e n<br />
B ret t „Su che – b iete“ u.Ä. im Klassen-<br />
Bei „Musa“ oder „Emel“ hätte<br />
dieser Arbeitsauftrag aber auch<br />
ein anderes Szenario auslösen<br />
können: Ein hilfloses Kind, das<br />
nicht weiß, was es tun soll, und<br />
lustlos und untätig herumsitzt.<br />
Denn der vorgegebene Arbeits -<br />
auftrag ist nicht so einfach zu<br />
bewältigen, wie es scheint. Das<br />
Erlesen der Aufforderung<br />
bedeutet noch nicht, die<br />
Aufgabe zu verstehen. Und das<br />
Verständnis kann an unbekann -<br />
ten Wortbedeutungen und an<br />
Sprachstrukturen scheitern. Der<br />
Fachbegriff „Löwenzahn“ wird<br />
durch die Zeichnung verdeut -<br />
licht, aber die Satzstruktur des<br />
Imperativs mit einem<br />
anschließenden Relativsatz ist<br />
nicht der all-tagskommunika -<br />
tiven Sprache der Kinder ent -<br />
nommen. Auch das Adjektiv im<br />
Superlativ ist in seiner<br />
Bedeutung eventuell noch<br />
sprachlich genau zu definieren.<br />
Die Lehrkraft muss bei<br />
K i n d e rn, deren Erst sprach e<br />
nicht Deu tsch ist , einen<br />
Balan ceakt vollz ieh en zwi -<br />
schen dem aufmun tern d e n<br />
„D as kann st du schon allein !“<br />
und einem ebenso bestärken -<br />
den „Da brauch st du noch<br />
meine Hilf e, das kannst du<br />
noch nicht allein können!“<br />
Das Kind, <strong>für</strong> das der z weit e<br />
Satz gilt, darf n ich t zu lang<br />
das Gef ühl haben, rat - und<br />
hilflos zu sein, weil son st sein<br />
I n t e resse an der Aufgabe spür -<br />
bar nach lässt. S. Kap. 1, 2, 4.
Für Kinder mit einer an dere n<br />
Erstsprache als Deutsch stellt<br />
sich die Erschließung der<br />
Lebenswelt nicht nur als eine<br />
fachlich und methodisch<br />
komplexe Aufgabe dar, sondern<br />
oft auch als eine ebenso<br />
komplexe sprachliche Aufgabe.<br />
Verstärkt sollten sie m it der<br />
Strategie der selbstständigen<br />
Nachfrage vertraut gemacht<br />
w e rden, damit sie sprachliche<br />
Hilfen rechtzeitig bekommen .<br />
Für sie sollte eher der<br />
G rundsatz gelten: Ich m uss mir<br />
Hilfe holen, anstatt wie <strong>für</strong> ein -<br />
sprachig aufwachsende: Erst<br />
dann darf ich mir Hilfe h olen.<br />
Das gilt besonders <strong>für</strong> das<br />
Ve rfassen eigener Texte. Ohne<br />
h i n reichende sprach liche Mittel<br />
ist das Schreiben von eigenen<br />
Texten nur eine große – zu<br />
g roße ? – Last <strong>für</strong> Kinder und<br />
w i rd wenig zur Stärkun g ihre r<br />
<strong>Lesekompetenz</strong> beitragen<br />
(s. Kap. 4 ).<br />
Förderung der<br />
<strong>Lesekompetenz</strong> sollte <strong>für</strong><br />
DaZ-Kinder immer auch<br />
Förderung der<br />
Sprachkompetenz beinhal -<br />
ten, und zwar auch so früh<br />
wie möglich<br />
(s. Kap. 1.2, 2).<br />
rau m, au f d en Fluren, in d er Pausenhalle<br />
a t t r a k t i v, also Int eresse weckend präsent<br />
i e rt w erden. Diese Präsent at ionen mü ssen<br />
aber gepflegt, das heißt re g e l m ä ß i g<br />
au sgewechselt bzw. akt ualisiert w erd e n ,<br />
so nst guckt kein Mensch mehr hin!<br />
• Zu jedem Thema einen Büchertisch einrichten.<br />
So lch e u nd ähn liche Grund sätze sind<br />
wichtig, um immer wieder zum selbstständigen<br />
U mgang m it Geschriebenem aufzufordern.<br />
Sie allein sichern aber noch nicht<br />
d en Erwerb d er Lesekom petenz, die im<br />
Sachunterricht gebraucht wird. Deshalb ist es<br />
notwendig, darüber hinaus die Begegnung<br />
mit ganz unterschiedlichen Textformen und<br />
die Schulu ng der Methoden <strong>für</strong> ihre<br />
Erschließung systematisch zu organisieren.<br />
„Es gehören auch anscheinend einfache<br />
methodische Schulungen wie die Benutzung<br />
eines Inhaltsverzeichnisses oder die Prüfung<br />
der Hinweise im Index eines Buches dazu. (...)<br />
Wenn solche Werkzeuge fehlen, bleibt es bei<br />
der Beschwö rung des Zieles >Selbstständigkeit
aum auskenn en, w ird es ein e Liste m it verschied<br />
enen Aufgab en fü r die Klassengemeinschaft<br />
geben, auch hier Symb ole <strong>für</strong><br />
die verschiedenen Dienste, d azu Fotos von<br />
den Kin dern mit ihrem Namen d aru n t e r. All<br />
dies – die Namensschilder mit d em<br />
G rup pensym bol, d ie Beschriftung d er<br />
Klassenecken , der Tagesplan , d ie Aufgabenl<br />
iste – sollte jed och nicht nur schöne<br />
D ekoration sein, sond ern immer w ieder mit<br />
A u ff o rd e ru ngen und Au fgab enstellu ngen<br />
v erbunden werd en w ie:<br />
• Wer hat in dieser Woche Milchdienst?<br />
• Die Schilder der Ecken sind durcheinander<br />
geraten!<br />
• Mit welcher Aufgabe v om Ta g e s p l a n<br />
möchtest du heute anfangen?<br />
So lernen d ie Kinder, d ie Symb ole zu<br />
deuten und <strong>für</strong> die eigene Orientierung zu<br />
nutzen.<br />
Die Eigenständigkeit, mit d er sich die<br />
Kinder, die ja „noch nicht lesen können“, mit<br />
H ilfe dieser Sym b ole im Klassenraum<br />
zurechtfinden und so ihre Arbeit und ihr Spiel<br />
schon ein Stück selbstständig organisieren<br />
kö nnen, ist auch eine Entlastung <strong>für</strong> die<br />
Lehrkraft. Bei der fünften Frage „Wann haben<br />
wir heute Turnen?“ ist sie sicherlich gelassener,<br />
wenn sie auf den an der Tafel dargestellten<br />
Tagesplan zeigen kann, als wenn sie zum<br />
fünften Mal antworten m uss: „Nach der<br />
zweiten Pause!“<br />
Für d ie Ordnung ihrer eigen en Schulsachen<br />
finden die Kinder selber Zeichen oder<br />
Bildsymbole. Das stärkt ihre Kompetenz im<br />
U mgang m it Sy mb olen und das Sichzurechtfinden<br />
mit ihren Heften, Stiften und<br />
Büchern. Damit wird auch das Sammeln und<br />
O rd nen , eine weitere Methode des Sachunterrichts<br />
(vgl. Meier 2003), von Anfang an<br />
geübt und mit in die Verantwortung der<br />
Kinder gelegt. Anders als durch eine vorgegebene,<br />
evtl. von ihnen nicht nachzuvollziehende<br />
Ordnung ist durch das selbstständige<br />
Stru k t u r i e en r u nd selb st ständ ige Kennzeichnen<br />
ihrer Sachen die Chance vielleicht<br />
größer, das übliche Chaos im Ranzen und in<br />
Ablagekörben zu verringern.<br />
Nach der Orientierung im Klassenraum und<br />
der Strukturierung der eigenen Schulsachen<br />
ist die Orientierung auf dem Schulgelände an<br />
der Reihe. Die Kinder erforschen die Gebäude,<br />
was man in ihnen tun kann und wo gearbeitet<br />
wird. Sie lernen die Menschen kennen, die<br />
<strong>für</strong> sie wichtig sind und sie erkunden das<br />
Gelände: Wo kann man spielen und welche<br />
Regeln gibt es da? Wo darf man nicht sein?<br />
Welche Besonderheiten gibt es an unserer<br />
Schule?<br />
Alles Erforschte soll festgehalten werden,<br />
soll zueinander in Beziehung gesetzt werden,<br />
damit das Ganze sichtbar wird und damit es<br />
zur vertiefenden Orientierung genutzt werden<br />
kann. Ein Plan oder ein Modell wird also<br />
mit den Kindern, vielleicht im Sandkasten in<br />
der Klasse, gebaut. Probleme tauchen auf:<br />
„Wie können wir zeigen, dass dieses Haus die<br />
Pausenhalle ist? Wie können wir darstellen,<br />
dass im Gebüsch hinter der Tur nhalle nicht<br />
gespielt werden darf?“ Sie werden diskutiert,<br />
und die Kinder finden Lösungen, die ihrem<br />
eigenen Darstellungsvermögen entsprechen:<br />
ein Bild, ein Symbo l, ein Anlau t (P wie<br />
Pausenhalle) oder schon das ganze Wort.<br />
Sehr motiviert stehen sie in der nächsten<br />
Zeit vor ihrem Schulplan und „lesen“ die<br />
Informationen, die sie dort gemeinsam festgehalten<br />
haben.<br />
Ein nächster Schritt zur Erweiterung der<br />
Lesek omp etenz kann im Sachunterr i c h t<br />
durch die Orientierung im Wohngebiet erreicht<br />
werden.<br />
„Hier wohnen wir“ heißt das Thema. Die<br />
Häuser aller Kinder werden besucht, die Wege<br />
dorthin erkundet, um sich bald nachmittags<br />
alleine besuchen zu können. Dabei üben sie<br />
die Orientierung an markanten Gebäuden, an<br />
Parks, an Brücken, an Straßenschildern. Das<br />
alles w ird auf ein em verg r ö ß e rten St adtteilp<br />
lan wied ererkannt , gelesen also. Die<br />
Kinder entdecken dabei Kartenzeichen: ein<br />
Kreuz <strong>für</strong> die Kirche, der Park ist grün, der<br />
kleine See blau gezeichnet.<br />
Erste „Einführung ins Kartenverständnis“<br />
also – und nicht erst in der 3. Klasse!
Den Fachwortschatz des<br />
Sachunterrichts einzuführen,<br />
zu erläutern und Bedeu -<br />
tungen zu klären, sodass er<br />
von den Kindern sachgerecht<br />
verstanden und benutzt wer -<br />
den kann, ist ein zentrales<br />
Anliegen des Unterrichts mit<br />
Kindern anderer Erst -<br />
sprachen, denn das Fach -<br />
vokabular ist eine Domäne<br />
der Schule und kann haupt -<br />
sächlich nur dort von ihnen<br />
erworben werden.<br />
Es macht aber einen großen<br />
Unterschied, ob<br />
Fachausdrücke auf der Basis<br />
intuitiv beherrschter deutscher<br />
Strukturen oder aber auf<br />
noch nicht abgesicherten<br />
Sprachkenntnissen einer<br />
Zweitsprache eingeführt<br />
werden. Hier sollten Übungs -<br />
formen und Überprü -<br />
fungsmöglichkeiten bereit -<br />
gestellt werden, ob jedes<br />
Kind die notwendigen<br />
Begriffsklär ungen auch tat -<br />
sächlich verstanden hat<br />
(s. Kap. 2, 3, 4).<br />
Alle Kinder haben Freude an<br />
so ungewöhnlichen Dingen<br />
wie „Hosentaschenwörtern“.<br />
Trotzdem ist zu überlegen,<br />
ob die hier vorgestellten<br />
Arbeitsformen <strong>für</strong> DaZ-<br />
Kinder nicht eher eine<br />
Erschwernis beim Lernen<br />
darstellen. Wenn es in ihrer<br />
Familie niemanden gibt, der<br />
über das notwendige<br />
Fachwortwissen verfügt, kön -<br />
nen die Kinder ihre Aufgabe<br />
nicht oder eventuell nur<br />
falsch lösen. Beides ist<br />
gleichermaßen misslich. Bei<br />
solcher Aufgabenstellung<br />
sollten <strong>für</strong> alle Kinder<br />
Möglichkeiten gefunden wer -<br />
den, sich zu informieren,<br />
sodass kein Kind sich wegen<br />
seiner familiären Lebens -<br />
umstände zurückgesetzt<br />
fühlen muss<br />
(s. Kap. 1, 2, 3).<br />
In allen Sachgesprächen mü ssen wir auf<br />
B e g r i f s k l ä ru ng, au f d ie Einführung neu er<br />
F a c h b e g r i ffe u nd au f ihre sachgemäße<br />
Ve rwen du ng acht en . Au ch dies von Anfang<br />
an. Es d ient der Erw e i t e rung d es Wo rtschatzes<br />
u nd st ärkt somit die Lesekom -<br />
petenz, denn Fach wörterkenntnis ist eine<br />
wicht ige Vorausset zu ng zu m Ve r s t ä n d n i s<br />
von Sachtexten.*<br />
Eine gute Möglichkeit <strong>für</strong> die Kinder, ihren<br />
Wortschatz zu erweitern, ist dabei die Arbeit<br />
mit „Hosentaschenwörtern“.<br />
Kümmere dich um dein Wort und erzähl uns<br />
mor gen, was du darüber herausgefunden hast.<br />
Thema Bäume. Die Kinder haben scho n<br />
viel über ihren Klassenbaum herau sgefund<br />
en. Sie w issen, wie die Teile des Baum es<br />
heißen: Stamm, Rinde, Äste, Zweige, Knospen,<br />
Blätter, Blüten. Nun sollen sie weitere<br />
W ö rt e r, die alle etw as mit Bäum en zu tu n<br />
haben, kennen lernen.<br />
Jeden Tag bekommen immer drei Kinder<br />
ein Kärtchen mit einem „Baumwort“ – so,<br />
dass die anderen Kinder es nicht sehen können.<br />
Sie nehmen es – am besten in der Hosentasche<br />
– mit nach Hause mit der Auff o rd<br />
e ru ng, sich d arum zu küm mern. N icht<br />
imm er können sie es schon selber lesen. Dann<br />
m üssen sie jemanden bitten, es ihnen vorz u l esen.<br />
Sich darum kümmern heißt, herausf i n d e n ,<br />
was das Wort bedeutet, was es mit dem Baum<br />
zu tun hat und es anderen erklären können.<br />
Häufig wird so ein Begriff zum Gesprächsthema<br />
<strong>für</strong> die ganze Familie.<br />
Am nächsten Tag stellen die drei Kinder<br />
ihre Wörter den anderen im Morgenkreis vor.<br />
Die Erklärungen, die sie dazu geben, schreibt<br />
die Lehrerin od er der Lehrer mit und<br />
anschließ end in Schönschrift auf eine<br />
Karteikarte. Das Wortkärtchen wird mit auf<br />
die Kart e gek lebt, u nd zu r weitere n<br />
Auseinandersetzung mit seinem Wort malt<br />
das Kind noch ein Bild dazu. Alle so gestalteten<br />
Kart e i k a rt en w erden an die Wa n d<br />
gehängt und ergeben im Laufe der Zeit, wenn<br />
alle Kind er nach und nach ein Wo rt<br />
v o rgestellt und erklärt haben, ein gro ß e s<br />
„Wandlexikon“. Wie oft stehen die Kinder<br />
davor, suchen ihr Wort und die Wörter ihrer<br />
Freunde und unterhalten sich als „Experten“<br />
mit Wörtern aus der „Baumfachsprache“!<br />
Immer wieder zum Lesen, zur Au seinandersetzung<br />
mit Geschriebenem anregen – das<br />
ist ein täglicher Grundsatz im Schulalltag.<br />
Da<strong>für</strong> sind Dokumentationen von gemeinsamen<br />
Erlebnissen und Aktivitäten in der<br />
ersten Klasse besonders geeignet:<br />
• „ R e g e n s p a z i e rgang“, do kum entiert m it<br />
den Bildern und den kleinen Texten der<br />
Kinder auf einem Poster<br />
• „ A u f regend e Geschicht en au s u nsere r<br />
Klasse“ – festgehalten in einem Klassentagebuch<br />
• „Unser Laternenfest“ – Fotos, dazu von den<br />
Kindern geschriebene Bildunterschriften<br />
All das würdigt die Mühe und Arbeit der<br />
Kinder. Sie sind stolz darauf, ihre Beiträge so<br />
schön präsentiert wiederzufinden u nd<br />
deshalb motiviert, sie immer wieder zu lesen.
. . . und auch schreiben. Deshalb bekommen<br />
d ie Kind er m öglichst viele Aufgabenst<br />
ellungen und Arbeitsanw eisu ngen im<br />
Sachunterricht in schriftlicher Form, und sie<br />
werden möglichst häufig aufgefordert, auch<br />
ihre Arbeitsergebnisse schriftlich darzustellen.<br />
Eine Unterr i c h t s f o rm, die dies besonders<br />
begünstigt, ist die Werkstattarbeit.* Hier werden<br />
zu einem Thema vielfältige Materialien,<br />
Anregungen und Arbeitsaufträge in unterschiedlichen<br />
Te x t f o rm en angeb ot en. Das<br />
e rf o rd e rt von den Kin dern gro ße Leseanstrengungen,<br />
bietet ihnen viel Lesetraining<br />
und fördert das selbstständige Lernen.<br />
Der Umgang mit Sachtexten im 2. Schuljahr<br />
k ann d ie Lesek ompet enz der Kinder<br />
wesentlich steigern, aber nur dann,<br />
• wenn sie eine Chance haben, die Texte<br />
auch entschlüsseln und nutzen zu können,<br />
d.h. wenn diese ihrem jeweiligen Lesevermögen<br />
entsprechen,<br />
• und wenn sie „Texte und Bilder nutzen“ als<br />
eine Metho de im Sachu nterricht (vgl.<br />
Meier 2003) durch verschiedene Übungen<br />
immer wieder trainieren können.<br />
„Auch die Prüfung eines Textes mit der<br />
Frage nach seiner Ergiebigkeit <strong>für</strong> ein bestimmtes<br />
Thema oder eine spezifische Frage<br />
ist eine dieser vorbereit en den Arbeit en.<br />
Diesen Text dann zu lesen, im Sinne des<br />
Wortes zu erschließen und <strong>für</strong> die gefragte<br />
Sache auszuwerten, ist eine nicht gerade einfache<br />
Aufgabe. Sie muss bewusst und über<br />
lange Zeit b earbeitet und als Fähigkeit<br />
entwickelt werden.“ (Meier 2002, S. 305)<br />
Deshalb sollte mit dieser Aufgabe auch<br />
mö glichst früh b ego nnen werd en. Das<br />
Angebot an Sachtexten <strong>für</strong> Kinder ist <strong>für</strong> fast<br />
alle Themen sehr groß. Es gibt viele schön<br />
gestaltete Sachbücher mit informativen Fotos<br />
und Texten. Häufig sind diese Texte aber <strong>für</strong><br />
Leseanfänger zu schwierig und zu umfangreich.<br />
Viele Bücher haben zud em kein<br />
I n h a l t s v e rzeichnis, mit dessen Hilfe die<br />
Kinder sich im Buch orient ieren kö nnt en.<br />
Wir m üssen d ie Bü cher also, wenn die<br />
Kinder sie als Arb eit sm aterial nutzen so llen,<br />
p r ä p a r i e ren. Ein zu umfangreicher Te x t<br />
k ann zum Beispiel durch einen vere i n f a c ht<br />
en und gekürzten ersetzt werden, der ab er<br />
imm er no ch d ie wichtigsten Inform a t i o n e n<br />
enthält . Dieser gekürzte Text wird auf eine<br />
K a r t e i k a rt e geschrieben u nd mit<br />
e n t s p rechender Seitenkennzeichnu ng zum<br />
Buch gelegt . Der Origin alt ex t ist dann ein<br />
Angebo t <strong>für</strong> „lesestarke“ Schü lerinnen u nd<br />
S c h ü l e r.<br />
D ie Su che nach einer bestimm ten<br />
I n f o rmat io n in ein em Bu ch kann du rch ein<br />
I n h a l t s v e rzeichnis, das in Form eines<br />
Fragenkat alo gs form u l i e rt ist , sehr erl<br />
e i c h t e rt werden. So kö nnen d ie Kind er ganz<br />
gezielt nach Ant wort en au f ihre Fragen<br />
suchen.<br />
Dazu ein Beispiel zum kleinen Buch über<br />
Meerschweinchen von J. Reichen:<br />
Man braucht eine Sammlung ausgesuchter<br />
kleiner Sachtexte z.B. aus Kinderzeitschriften.<br />
Die Kinder wählen sich daraus einen Text aus,<br />
der sie besonders interessiert. Sie lesen ihn,<br />
überlegen: „Was habe ich Neues, Wichtiges,<br />
I n t e ressantes erf a h ren?“, entwerfen Fragen<br />
dazu, üben das deutliche Vorlesen des Textes<br />
und lesen ihn bei Gelegenheit, vielleicht im<br />
Abschlusskreis am Ende des Schulvormittags,<br />
den anderen Kindern vor. Diese müssen so<br />
gut zuhören,** dass sie die anschließend<br />
gestellten Fragen zum Text beantworten können.<br />
Gut eignen sich da<strong>für</strong> auch eigene Texte<br />
der Kinder, die bei der Bearbeitung eines<br />
Themas entstanden sind. Sie erfahren so noch<br />
einmal eine besondere Würdigung.<br />
Diese Übung fördert:<br />
• den Erwerb von Sachkenntnissen,<br />
• die Fähigkeit, sachbezogene Fragen zu formulieren,<br />
• die Vorlesekompetenz und<br />
• bei den Zuhörern das Hörverstehen.<br />
Wenn die Kinder, deren<br />
Erstsprache nicht Deutsch ist,<br />
bei der Werkstattarbeit gezielt<br />
die Möglichkeit bekommen, in<br />
Partner- und Gruppenarbeit <strong>für</strong><br />
ihre Lese- und Schreibaufgaben<br />
Anregungen, Verbesserungs -<br />
vorschläge und sprachliche<br />
Hilfe zu erhalten, werden sie<br />
die <strong>für</strong> sie schwierigen<br />
Aufgaben auch bewältigen<br />
können.<br />
Für die höheren Klassenstufen<br />
gilt das in verstärktem Maße<br />
(s. Kap. 2, 5).<br />
Mit dem guten Zuhören ist es<br />
nur dann getan, wenn man<br />
alles verstehen kann , was<br />
gesagt wird. Genau das ist aber<br />
das eventuelle Problem bei<br />
K i n d e rn mit einer andere n<br />
Erstsprache als Deutsch, dass<br />
wir als Lehrkräfte und die<br />
Kinder selbst nicht sicher wis -<br />
sen, ob und was sie alles ver -<br />
standen haben. Hier muss die<br />
Lehrkraft außero rd e n t l i c h<br />
b e h a rlich und auch erf i n -<br />
d u n g s reich nach We g e n<br />
suchen, die das Te x t v e r s t e h e n<br />
e rmöglichen (s. 1 , 2).
D as Erarbeiten eig ener Te x t d a r s t e l l u n g e n<br />
trägt, wie schon erwähnt, viel zur Stärkung<br />
der <strong>Lesekompetenz</strong> bei. Hier<strong>für</strong> eignen sich ab<br />
Klasse 2 kurze Textformen wie:<br />
• B e o b a c h t u n g s p oto r kolle, z.B. vom Ent -<br />
wicklungsprozess einer Blume, von jahreszeitlichen<br />
Ve r ä n d e rungen des Lieb lingsbaums,<br />
• eigene Begriff s e r k l ä rungen (z.B. <strong>für</strong> ein<br />
Pferdelexikon),<br />
• E r k u n d u n g s e gebnisse r (z.B. Fre i z e i t m ö glichkeiten<br />
im Stadtteil),<br />
• Kartei-Seiten nach gemeinsam aufgestellten<br />
Kriterien („Kleine Tiere auf unserem<br />
Schulgelände“).<br />
Der Umgang mit allen bisher eingeführten<br />
Te x t f o rmen wird in beiden Klassenstufen<br />
weiter vertiefend geübt und neue Textformen<br />
werden eingeführt.<br />
„Bei der Arbeit an einem Thema empfiehlt<br />
es sich, die Arbeit mit Texten und Bildern<br />
imm er wieder einzup lanen. D ie unterschiedlich<br />
ent wickelt e Lesefähigkeit der<br />
Kinder und der sachliche Anspruch der Texte<br />
erfordern Zeit und Mühe. Es empfiehlt sich,<br />
immer wieder Phasen einzuplanen, in denen<br />
ind ivid uell und g emeinsam an der Erschließung<br />
von Texten gearbeitet wird. Dazu<br />
sind Arbeitstechniken wie Unt erstre i c h e n ,<br />
H e r a u s s c h reib en, Not izen machen (z.B.<br />
Fragen notieren), Nachschlagen einzuüben<br />
und gezielt zu nutzen.“ (Meier 2003, S. 23)<br />
Ebenso wie im Deutschu nterricht d er<br />
Umgang mit dem Wörterbuch systematisch<br />
eingeübt werden muss, müssen die Kinder<br />
auch im Sachunterricht lernen, mit Nachschlagew<br />
erken umzugehen: mit Bestim -<br />
m u n g s b ü c h e rn, Schü lerlexika, Kinder-<br />
Suchmaschinen u.Ä. Dabei werden grundlegende<br />
Fähigkeit en wie alp habetisch e<br />
Reihenfolge beachten, Schlagwörterverzeichnisse<br />
nutzen u nd gezielt es, aufgabenb ezo -<br />
genes Recherchieren trainiert. Entscheidend<br />
<strong>für</strong> erf o l g reiches Arbeiten und <strong>für</strong> eine<br />
Stärkun g dieser Method en kompetenzen ist<br />
auch hier wiederum die Kompatibilität von<br />
Lesefähigkeit und Text.<br />
„Kinder brauchen in ALLEN Schuljahren<br />
L e h rerInnen, (...) d ie sich um dre i e r l e i<br />
bemühen:<br />
• sich zu verg e w i s s e rn, welche Lesefähigkeiten<br />
sie voraussetzen können,<br />
• die Leseanforderungen den Fähigkeiten der<br />
Kinder anzupassen,<br />
• sich nicht abzufinden mit Rückständen,<br />
s o n d e rn <strong>für</strong> die Entwicklu ng d er Lesefähigkeiten<br />
zu sorgen.“<br />
(Andresen 2002, S. 141)<br />
Den sehr unt erschiedlichen Lesefähigkeiten<br />
in diesen beiden Klassenstufen muss<br />
also Rechnung getragen werden. Manche<br />
Kinder brau chen Unterstü tzung, andere<br />
brau chen Herausford e rungen zur weit ere n<br />
Entwicklung ihrer Lesefähigkeit.<br />
Deshalb müssen wir bei der Arbeit mit<br />
Nachschlagewerken die Aufgaben diff e re nziert<br />
stellen und Hilfe anbieten. Solche Hilfe<br />
kön nen et wa geleitet e Aufgabenstellungen<br />
sein, die besonders bei der selbstständigen<br />
I n f o rm a t i o n s b e s c h a fung der Kind er aus<br />
umfangreicheren Büchern, aus dem Internet<br />
oder auf CD-ROMs sinnvoll sind. Die Kinder<br />
w e rd en dabei durch gezielte Fragen oder<br />
Anweisungen unterstützt. So wird besonders<br />
beim Umgang mit den neuen Medien ein<br />
q u a l i f i z i e rtes Erlernen dieser Te c h n i k<br />
g e f ö rd e rt und eine Zeit raubend e,<br />
abschweifende Suche verhindert.
Bei vielen Sachunterricht-Themen ergibt es<br />
sich, dass die Kinder über längere Zeit Daten<br />
sammeln, diese vergleichen, mit den Daten<br />
a n d e rer in Beziehu ng set zen und sie<br />
auswerten. Da<strong>für</strong> sind Tabellen nützlich. Der<br />
Weg zum Tabellenlesen geht ü ber das<br />
m o t i v i e rende eigene Tab ellenanlegen. Ein<br />
Beispiel:<br />
Übersichtlich dargestellte Daten erleichtern<br />
den Vergleich. So macht es Sinn, die Kinder<br />
im Zusammenhang mit solchen Aufgaben<br />
auch in die gru nd legend en Ta b e l l e nfunktionen<br />
d es Wo rd - P ro gramm s einzuführen.<br />
Wann immer sich eine Gelegenheit ergibt –<br />
und es sind im Laufe von vier Schuljahren<br />
viele – sollten diese Fähigkeiten geübt werden.<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> ein kontinuierliches<br />
Training dieser und aller anderen Textformen,<br />
die im Sachunterricht vorkommen, ist allerdings<br />
eine Grundausstattung in jeder Klasse.<br />
Wenn die Kinder mit brennenden Fragen<br />
etwa zu Beobachtungen auf ihrem Schulweg,<br />
zu aktuellen Ereignissen (Erdbeben, Vulkanausbruch,<br />
Sonnenfinsternis…) in die Schule<br />
kommen, dann sollten sie auch möglichst<br />
zeitnah nach Antworten suchen können. Das<br />
Vertrösten auf spätere Gelegenheiten lässt das<br />
Interesse verblassen und eine motivationsreiche<br />
Situation ungenutzt verstreichen. Die<br />
Kinder brauchen also neben d en Mö glichkeit<br />
en hand elnd zu forschen, z.B. an<br />
Experimentiertischen in den Klassen oder in<br />
einer Sachu nterricht werkst att der Schule,<br />
auch eine „Handbibliothek“ bestehend aus<br />
S a c h b ü c h e rn <strong>für</strong> Kinder, Lexika und Bestimmungsbüchern.<br />
Und sie brauchen die<br />
Mö glichkeit , sich jederzeit auf einem Stadt -<br />
teilplan, auf dem Stadtplan von Hamburg, auf<br />
einer Deut schlandkart e, Euro p a k a rte u nd<br />
Weltkarte orientieren zu können. Eine solche<br />
Grundausstattung <strong>für</strong> die Klassen ist leider<br />
noch nicht in allen Schulen vorhanden. Der<br />
Sachunterricht sollte aber wenigstens bei der<br />
Lehr- und Lernmittelverteilung im gleichen<br />
Maße b edacht w erden wie d ie andere n<br />
Fächer.<br />
Vielfält ige Te x t f o rmen sind d am it im<br />
Sachunterricht eingeführt und der Umgang<br />
mit ihnen ist geübt worden. Nun gilt es, die<br />
erworbenen Kompetenzen der Kinder auch zu<br />
nutzen, d.h. ihnen die Anwendu ng ihre s<br />
Wissens in authentisch en Situationen zu<br />
ermöglichen, z.B.:<br />
• die Bahnverbindungen <strong>für</strong> den Ausflug ins<br />
Museum aus dem Streckenplan des HVV<br />
heraussuchen<br />
• „Wie kommen wir vom Bahnhof Blankenese<br />
ins Treppenviertel?“ – den Weg im<br />
Stadtplan finden<br />
• „ Welche Informat ionen b iet et uns<br />
www.sachunterricht-online.de zum Thema<br />
Feuerwehr?“<br />
• Tabellen zum Strom- oder Wasserverbrauch<br />
der Schule anlegen<br />
Solche Aufträge geben dem Erwerb der<br />
Lesefähigkeiten erst einen Sinn und fördern<br />
den praktischen und selbstständigen Umgang
mit unterschiedlichen Textformen in realen<br />
Alltagssituationen. Genau diese <strong>Lesekompetenz</strong><br />
hat PISA getestet.<br />
„ Z u rech t wird in der angelaufen en<br />
Diskussion nach PISA… die kritische Frage an<br />
unsere Schule gestellt, ob unsere Kinder und<br />
Jugendlichen im Unterricht wirklich lernen,<br />
Bildungsplan <strong>Grundschule</strong>, Rahmenplan Sachunterricht, Hamburg.<br />
selbstständig und problemorientiert schriftliche<br />
Texte zu nutzen.“ (Spinner 2002, S. 93)<br />
Eine Schule, die sich in der dargestellten<br />
Weise oder ähnlich im Sachunterricht um die<br />
Förderung der <strong>Lesekompetenz</strong> bemüht, würde<br />
dazu wohl ein Stück beitragen können.<br />
Andresen, U. „Wenn Kinder nicht „rechtzeitig“ lesen gelernt haben“, in: Sprachliches Handeln<br />
in der <strong>Grundschule</strong>.<br />
Meier, Richard. 2002. Freie Arbeit im Sachunterricht. In: Drews, U., Wallrabenstein, W. (Hrsg.).<br />
Freiarbeit in der <strong>Grundschule</strong>, Frankfurt a.M.<br />
Meier, Richard. 2003. „Methoden im Sachunterricht“. In: <strong>Grundschule</strong> Sachunterricht, Heft 18.<br />
Reichen, J. „Meerschweinchentext.“ In: Heimtiere.<br />
Spinner, Kaspar H. 2002. „Kann man Leseleistung messen?“ In: Sprachliches Handeln in der<br />
<strong>Grundschule</strong>.
D ie kind liche Lese-Schre i b s o z i a l i s a t i o n<br />
(»early literacy«) b eginnt in der Familie.<br />
E l t e rn schauen mit ihren Kin dern Bild erb<br />
ücher an und führen vorlesebegleitende<br />
D ialoge, die eine spezifische Interaktionsstruktur<br />
aufweisen. So gilt Vorlesen als komp<br />
r i m i e rteste Spracherw erbssituat ion ü berhaupt.<br />
Entsprechend bezeichnet Hurrelmann<br />
(1994) den Umgang mit Kinderbüchern als<br />
„Schaukelstuhl“ zwischen Mündlichkeit und<br />
Schriftlichkeit. Kinder entdecken beim<br />
Betrachten von Bilderbüchern Bezüge zwischen<br />
Erlebtem und Abgebildetem (»Dekontextualisierung«).<br />
Und in (oftmals ritualisiert<br />
en) Sing- und Sprachspielen lernen sie<br />
zudem, Sprache unter formalen Kriterien zu<br />
b etrachten, w ob ei sie beim Vorlesen auf<br />
G emeinsamkeit en und Unt erschiede zwisc<br />
h e n mündlicher und schriftlicher Sprache<br />
aufmerksam werden. Eine alltägliche Schriftverwendung<br />
in der Familie hilft den Kindern<br />
also, die Funktion und den Gebrauchswert<br />
v on Schrift zu erkennen u nd so mit<br />
Schriftnutzung als Sinn stiftend zu erleben.<br />
Das Ausmaß der frühen literalen Erlebnisse,<br />
in denen Bücher dem einzelnen Kind<br />
p ersö nlich bedeut sam werd en , bestimm t<br />
daher die Einstellung des Kindes zur Schrift<br />
maßgeblich. Aus zahlreichen Untersuchungen<br />
mit Kindern, Jugendlichen sowie leseund<br />
schreibunk und igen Erwach senen ist<br />
bekannt, d ass Menschen mit gro ß e n<br />
P rob lemen im Schriftspracherw erb d iese<br />
frühen literalen Erfahrungen nicht gemacht<br />
haben und sie auf Grund ihrer nur sehr gering<br />
ausgeprägten Lese- und Schreibkompetenzen<br />
die Funktion von Schrift <strong>für</strong> sich nicht nutzen<br />
k onnt en (daher auch der Begriff »funkt<br />
io naler« Analp habet ism us) 1 . Mangeln de<br />
Erfahrungen mit Sprache und Schrift sowie –<br />
infolgedessen – eine gering ausgebildete phonologische<br />
Bewusstheit gelten nach heutigem<br />
Erkenntnisst and als b edeutend st e Risikof<br />
a k t o ren innerhalb des komp lexen Bedingungsgefüges<br />
des Schriftspracherwerbs.<br />
Nun ist Schrift nicht gegen die Alltagswelt<br />
der Kinder durchsetzbar (Dehn 1996). Daraus<br />
lassen sich prinzipiell mehrere pädagogischdidaktische<br />
Schlüsse ziehen:<br />
1. Es gilt, d ie schulische Allt agsw elt der<br />
Kinder literal zu gestalten (Bambach 1989)<br />
u nd so d ie Teilhabe an »element are r<br />
Schriftkultur« (D eh n 1 996 ) in d en<br />
Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, um<br />
den Kindern literale Erf a h run gen zu<br />
ermöglichen, denen sie in ihrer vorschulischen<br />
Sozialisation verschlossen blieben2 .<br />
Bewährt hat sich ferner eine enge Zusamm<br />
enarb eit von Schule und Bib liothek<br />
(Milhoffer 1991).<br />
Im weiterführenden Lese- und Literaturunterricht<br />
hat sich eine handlungs- und<br />
p ro d u k t i o n s o r i e n t i e te r Maxime (Haas/<br />
Menzel/Spinner 1994) durchgesetzt, die es<br />
ermöglicht, Kinder auch mit ihren persönlichen<br />
Gefühlen u nd Erf a h rungen an<br />
Literatur Anteil haben zu lassen und Texte<br />
somit persönlich sinnvo ll w erd en zu<br />
lassen.<br />
2. Diese schulischen Bestrebungen können<br />
ihre Wirkung am besten dann entfalten,<br />
wenn ihre Inhalte bei den Kindern auf<br />
» f ru c h t b a ren Boden« fallen, sodass die<br />
Kinder an bisherige Erfahrungen anknüpfen<br />
können. Insofern wäre es wichtig, bereits<br />
vor der Schule Wert auf literale Erfahrungen<br />
zu legen. Umgang mit Büchern<br />
war schon immer Bestandteil von elementarp<br />
äd ago gischer Arb eit (St iftu ng Lesen<br />
u.a. 1998), ebenso wie ritualisierte Sprachund<br />
Singspiele, die eine wichtige Funktion<br />
<strong>für</strong> d ie metasprachliche Ent wick lung<br />
haben. Der gezielte Einbezug von Schrift<br />
hing egen w ird häufig als »Schu lvorbereitung«<br />
verdammt, während insbesondere<br />
sozial-emotionale Ziele betont werden<br />
(Kretschmann 2003). Dabei könnte Schrift<br />
als Visualisierung der ansonsten flüchtigen<br />
Laut sprach e Kindern helfen, ihre Au fmerksam<br />
keit zu nehm end vo n der<br />
1 In Abgrenzung zum natürlichen, primären An-Alphabetismus, der wörtlich übersetzt bedeutet, dass jemand<br />
nicht des Alphabetes kundig sei. Davon kann bei den betr offenen Menschen, die jahrelang eine Schule<br />
besucht haben, nicht die Rede sein (vgl. zum Thema: Döbert/Hubertus 2000, Hubertus/Nickel 2003,<br />
Egtoff 1997).<br />
2 Das Prinzip der Selektion von Kindern mit geringen literalen Erf a h rungen u nd d eren S eparierung au f So nderschulen<br />
muss angesichts der erwiesenen Ineffizienz von Sonderschulmaßnahmen (Wocken 2000) - <strong>für</strong> die es<br />
eine Reihe systemischer Gründe gibt - als nicht angemessen und kontraproduktiv angesehen werden.
Bedeutungsebene der Sprache auf die lautliche<br />
Ebene zu richten1 (Osburg 1997) und<br />
zudem ein Schriftbewusstsein auszubilden.<br />
Erste Ansätze hierzu sind mittlerweile zu<br />
erkennen (Ulich 2003, Tenta 2002).<br />
3. Da Kinder nur eine begrenzte Zeit in institutionellen<br />
Lernarrangements verbringen,<br />
w ä re es angebracht, den Interv e n t i o n shorizont<br />
weiter zu ziehen und das familiäre<br />
Wirkumfeld von Kindern stärker in den<br />
Blick zu nehmen. Eine frühe Intervention<br />
ist angezeigt, w eil au s diversen Untersuchungen<br />
hinlänglich bekannt ist, dass<br />
die Gruppe der bei Schuleintritt schwächsten<br />
Schülerinn en und Schüler ihre re l a t i v e<br />
Position beibehalten bzw. der Unterschied<br />
zu d er Grupp e der durc h s c h n i t t l i c h e n<br />
Schülerinnen und Schüler oft noch größer<br />
wird (Helmke 1997). Dieser Effekt wird oft<br />
als »Matthäus-Effekt« (»Wer hat, dem wird<br />
gegeben«) bezeichnet: Alle Schülerinnen<br />
und Schüler verbessern ihre Fähigkeiten,<br />
aber die Schülerinnen und Schü ler mit re l ativ<br />
hohen Komp etenzen pro f i t i e en r wesentlich<br />
stärker vom schulischen Angebot als<br />
a n d e re: Die Leistungsschere öffnet sich. Aus<br />
einer Reihe von Unt ersuchungen ist fern e r<br />
bekannt , dass präventive bzw. interv e-<br />
n i e rende Maßnahmen dann am eff e k t i v s t e n<br />
sind, wenn sie (a) möglichst früh einsetzen<br />
und (b) möglichst lange, also bis in die<br />
Schulzeit hinein, durc h g e f ü h t rwerd<br />
e n .<br />
Dieser Zusammenhang ist in den angelsächsischen<br />
Ländern schon längst erkannt word<br />
en. Auch hier zu Land e w urden erste<br />
Programme aufgelegt, die gezielt soziokulturell<br />
benachteiligte Familien in den Blick<br />
nehmen. »Mama lernt Deutsch (Papa auch)«<br />
ist an Eltern mit Migratio nshinterg ru n d<br />
gerichtet und soll ihnen helfen, ihre Kinder<br />
b esser bei der schulisch en Integration zu<br />
unterstützen. Solche reinen Elternbildungsmaßnahmen<br />
wurden in letzter Zeit erweitert<br />
um Programme, die sowohl Eltern als auch<br />
ihre Kinder einbeziehen.<br />
»HIPPY« richtet sich ebenfalls an Eltern<br />
mit Migrationshintergrund. In einem zweijährigen<br />
Hausb esu ch spro gramm w erd e n<br />
Müt ter d urch geschult e Laienhelferinnen<br />
angeleitet , tägliche Aktivitäten m it Bilderbüchern<br />
oder Arbeitsblättern durchzuführen.<br />
Die m ittlerweile recht gro ße Ve r b re i t u n g<br />
dieses Programms spricht <strong>für</strong> seinen Erfolg.<br />
»Opstap je« wird zurzeit evalu iert , do ch<br />
zeichnet sich auch hier ein ähnlicher Erfolg<br />
ab. Dieses Programm richtet sich an Eltern<br />
und ihre 2-4jährigen Kinder aus Familien in<br />
belasteten Lebenslagen. Dies schließt explizit<br />
sozial benachteiligte Familien ohne Migrat<br />
i o n s h i n t e g rru<br />
nd ein. Au ch hier w ird ein<br />
zweijähriges Hausbesuchsprogramm durchgef<br />
ü h rt. G eschulte Laienhelferinnen (Mütter<br />
au s der Zielgrup pe) stellen altersgere c h t e ,<br />
a n regende Materialien bereit und zeig en<br />
modellhaft entwicklungsfördernde elterliche<br />
Verhaltensweisen auf. Die Ziele richten sich<br />
auf eine Stärkung d er elt erlichen Erziehun<br />
gsko mp et enz, die Ve r b e s s e ru ng d er<br />
E l t e rn-Kind-Interaktion und auf die Förderung<br />
der kognitiven, motorischen, sozialen<br />
und emotionalen Entwicklung der Kinder.<br />
Keines der Programme jedoch legt seinen<br />
Schwerpu nkt au f Sprach- un d Literal<br />
i t ä t s f ö rd e ru ng. Solche familienzentriert e n<br />
Literalitätsprogramme sind hingegen unter<br />
dem Oberbegriff »Family Literacy« in den<br />
USA und Großbritannien weit verbreitet. Die<br />
Vielzahl von Variationen solcher Programme<br />
ist schier unüberb lickb ar, die Eff i z i e n z<br />
vielfach beschrieben. Entsprechend der vielen<br />
Variant en unterscheid en sich auch d er<br />
k o n k rete Aufb au u nd die Zielsetzung der<br />
einzelnen Projekte zum Teil beträchtlich. Der<br />
t h e o retische Hint erg rund so wie die wissenschaftlichen<br />
Forschungsergebnisse dieser<br />
Programme in den angelsächsischen Ländern<br />
1 In jüngster Zeit werden Trainings der phonologischen Bewusstheit populär (Küspert/Schneider<br />
2000). Trotz der erwiesenen Erfolge im statistisch-psychologischen Sinne (Schneider et al. 1998;<br />
2000) wird vor allem aus (sprachheil-)pädagogischer Sicht (Schmid-Barkow 1999) Kritik geübt.<br />
Trainings zur phonologischen Bewusstheit reduzieren metasprachliche Entwicklung auf den metaphonologischen<br />
Aspekt. Andere Aspekte bleiben unberücksichtigt,<br />
• bleiben als Handlungen, in denen metaphonologische Operationen gefördert werden ohne subjektive<br />
Bedeutung <strong>für</strong> die schriftsprachliche Tätigkeit. Der einzige Sinn, Phoneme aus dem kontinuierlichen Strom<br />
der Lautsprache zu isolieren, ist, den alphabetischen Aufbau der Schriftsprache zu erfassen, Sprache somit zu<br />
verschriften und die eigenen Handlungskompetenzen erweitern zu können,<br />
• bewerten die Lese- und Schreibtätigkeit als technische Angelegenheit (-Kulturtechnik-) und blenden die Rolle<br />
der Teilhabe an Schriftkultur aus. Dass die technische Fähigkeit des Lesens und Schreibens nicht automatisch<br />
zur kompetenten Nutzung dieser Fähigkeit führt, belegt u.a. ein Detail der PISA-Studie (Baumert et al. 2000),<br />
nach der 42 Prozent der befragten Jugendlichen nie zum Ver gnügen lesen. Einen derart hohen Anteil von<br />
Leseunlust konnten die PISA-Forscher in keinem anderen Land finden.<br />
Zudem kann die diesbezügliche Forschung leider keine Daten zum Einfluss literaler Erfahrung anbieten. Es ist zu<br />
vermuten, dass Kinder aus literal geprägten Familien stärker von einem Training der phonologischen<br />
Bewusstheit profitieren können als Kinder ohne Schrifterfahrungen.
sind stärker entfaltet in Nickel (2004 i.V.). An<br />
dieser Stelle soll der Fokus auf die praktischen<br />
Inhalte derartiger Programme begrenzt werden.<br />
Mit »Family Literacy« kann prinzipiell der<br />
G eb rau ch lit eraler Praktiken, d ie Zu sammenarbeit<br />
von Schule und Familien, oder es<br />
kö nnen generat ionsüberg r eifende Interv e ntionsprogramme<br />
gemeint sein. Die folgenden<br />
A u s f ü h ru ngen w erden sich auf letztere s<br />
beziehen, also auf die übergreifende Arbeit.<br />
Z i e l g ru ppe des Ansatzes sind Elt ern mit<br />
geringer formaler Bildung und/oder negativen<br />
Schulerfahrungen samt ihrer Kinder im<br />
Vorschulalter. Für diese Familien – so die<br />
Erfahrung – wirkt Family Literacy häufig als<br />
„bridge to literacy« »from generation to generation«.<br />
Das Charakteristische an Family-Literacy-<br />
Programmen ist ihr Aufbau in drei Teilen:<br />
• In den Sitzungen mit Eltern verbessern die<br />
E l t e rn ihre eigenen Gru n d b i l d u n g skompetenzen.<br />
Zudem erhalten sie Informationen<br />
darüber, wie ihr Kind in sprachlicher<br />
und literaler Hinsicht lernt und wie<br />
sie dieses Lernen unterstützen können. In<br />
den Elternsitzungen bereiten die Eltern das<br />
wöchentliche gemeinsame Treffen vor.<br />
• In den Sitzungen mit Kindern wird der<br />
Schwerpunkt auf sprachliche, kreative und<br />
literale Aktivitäten gelegt.<br />
• In den gemeinsamen Sitzungen führen die<br />
Eltern lern- und entwicklungsförderliche<br />
Aktivitäten mit ihren Kindern durch. Die<br />
Kursleiterinnen sind dabei supervisorisch<br />
tätig. In den kommenden Sitzungen mit<br />
Eltern werden die gemachten Erfahrungen<br />
reflektiert.<br />
Im Wesentlichen basiert Family Literacy<br />
auf drei Säulen <strong>für</strong> zwei Generationen, die<br />
k oo perativ miteinand er u nd am gemeinsamen<br />
Gegenstand tätig werden. Dabei bringt<br />
f a m i l i e n o r i e n t i te e r Literalisierung Elem ente<br />
aus Vorschulpädagogik, Erwachsenenbildung<br />
u nd Elternb ildu ng zusam men, entfalt et<br />
jedoch durch seinen generationsübergreifend<br />
en, systemischen Charakter eine höhere<br />
Qualität als jede dieser einzelnen Komponenten<br />
<strong>für</strong> sich getrennt. Die konkrete Praxis von<br />
Family Literacy könnte beispielhaft wie folgt<br />
aussehen, wobei eine Reihe weiterer Bereiche<br />
denkbar ist: 1<br />
• In der »Elternsitzung« erfahren die Eltern<br />
die Bedeutung von kreativen Aktivitäten<br />
<strong>für</strong> die kindliche Entwicklung. Dabei werden<br />
sie mit einer Reihe kre a t i v e r<br />
Arbeitsweisen vertraut gemacht wie z.B.<br />
Malen, Modellieren, Anfertigen von<br />
Collagen etc. Es wird besprochen, wie diese<br />
Aktivitäten einfach und kostengünstig zu<br />
Hause durchgeführt werden können.<br />
• In der »Kindersitzung« werden die Kinder<br />
ermutigt zu experimentieren. Ihnen wird<br />
die Möglichkeit gegeben, möglichst viele<br />
G eräte, Werk zeuge und Mat erialen<br />
auszuprobieren.<br />
• In der »gemeinsamen Sitzung« probieren<br />
Eltern etc. kreative Aktivitäten zusammen<br />
mit den Kindern aus.<br />
• D ie »Elternsitzung « dient dazu, die<br />
gesellschaftliche Bedeutung der Schrift im<br />
persönlichen Umfeld zu erkennen. Es wird<br />
gemeinsam erarbeitet, an welchen Stellen<br />
im persönlichen Alltag Lesen und<br />
Schreiben eine Rolle spielt oder spielen<br />
könnte.<br />
• D ie »Kind ersitzung« soll den Kind ern<br />
helfen, sich der Sprache und der Schrift in<br />
i h rer Umwelt bewu sst(er) zu werd e n .<br />
Beispielsweise werden mit Hilfe einer<br />
Einkaufsliste die Namen der Lebensmittel<br />
erarbeitet. Dabei können Geschmack und<br />
die Beschaffenheit der Lebensmittel verbal<br />
beschrieben werden.<br />
• Die »gemein sam e Sitzung« kö nnte au s<br />
einem Einkaufsgang best ehen, bei dem<br />
Eltern zusammen mit ihren Kindern verschiedene<br />
Lebensmittel auf der Grundlage<br />
einer gem einsam erstellt en Einkaufsliste<br />
besorgen und probieren. Auf dem Weg<br />
zum Su permarkt k önnten Sch ild er,<br />
Symbole und Straßennamen aufmerksam<br />
1 Die folgende Übersicht geht partiell zurück auf die Zuarbeit von Yvonne Zirra und Markus Rahde, beide<br />
Studierende an der Universität Bremen. Vgl. auch: Brooks et al. 1996, NCFL 2000 sovle: The Basic Skills<br />
Agency (o.J.). Developing Family Literacy. Four 30minute Training Programmes for Teachers (Video),<br />
London. Weiter e Bereiche könnten sich beispielsweise auf die sprachlich-kommunikative Entwicklung (z.B.<br />
durch den Einsatz von Handpuppen), die Entwicklung des Wortschatzes, die Entwicklung von Weltwissen<br />
oder die indviduelle Entscheidungsfähigkeit richten.
etrachtet werden. Alternativ bietet sich<br />
die Erkundung der Schriftvielfalt in der<br />
Nähe der häuslichen Wohnung oder/und<br />
auf dem Weg zum Kindergarten an.<br />
• In der »Elt ernsitzung« erf a h ren Elt ern ,<br />
welch e Sp iele w elche speziellen Fert i gkeiten<br />
fördern können und wie diese Spiele<br />
sowohl im Kindergar ten bzw. in der Schule<br />
als auch zu Hause durchgeführt werden<br />
können.<br />
• In der »Kindersitzung« liegt der Fokus auf<br />
sozialen Fertigkeit en, die zum Spielen<br />
benötigt werden. Dazu zählen beispielsweise:<br />
teilen können, gewinnen und verl<br />
i e ren kö nnen, mit einer möglichen<br />
Wendung der Spielsituation umgehen können<br />
usw.<br />
• In der »gemeinsamen Sitzung« betrachten<br />
Eltern und Kinder eine Reihe von Spielen<br />
<strong>für</strong> zu Hause oder <strong>für</strong> den Schulgebrauch,<br />
um später einige dieser Spiele gemeinsam<br />
auszuprobieren.<br />
• Die »Elternsitzung« soll den Eltern zu einer<br />
Bewusstseinsbild ung bezüglich der Bedeutu<br />
ng regelm äßigen Vo rlesens b zw.<br />
Betrachtens von Bilder- und Kinderbüchern<br />
dienen. Sie können somit einen<br />
Überblick über das Angebot an Kinderb<br />
ü c h e rn und -kassett en erhalten u nd<br />
dadurch die Möglichkeiten erkennen, die<br />
sich ihnen und ihren Kindern bieten.<br />
• Die »Kindersitzung« macht die Kinder mit<br />
einer Bibliothek vertraut; sie können sich<br />
d o rt Bücher anschau en oder mit nach<br />
Hause nehmen. Ziel ist es, einer Geschichte<br />
zuhören zu können, sie nacherzählen zu<br />
können oder einen möglichen weiteren<br />
Verlauf antizipieren zu können.<br />
• Die »gemeinsam e Sitzung« können die<br />
Eltern nutzen, um mit ihren Kindern eine<br />
Bücherei zu besuchen. Dort können sie<br />
eine Reihe von Büchern und Kassetten<br />
betrachten und einer Geschichte zuhören,<br />
die von der Bibliothekarin vorgelesen wird.<br />
Vorlesebegleitende Dialoge werden modellhaft<br />
erlebt. Natürlich können die Eltern<br />
auch selbst vorlesen oder sich Bücher zum<br />
Vorlesen mit nach Hause nehmen.<br />
• In der »Elternsitzung« erfahren die Eltern<br />
die Wicht igkeit der einzelnen Entwick-<br />
lungsstufen des Schriftspracherwerbs. Die<br />
Eltern lernen Mittel und Wege kennen, wie<br />
sie ihre Kind er auf ihrem jew eilig en<br />
Entwicklungsniveau unterstützen können.<br />
F e rner gewinnen die Eltern einen<br />
Überblick über eine Reihe von Materialien<br />
und Akt ivität en, w elch e die Schre i bfertigkeit<br />
ermutigen und unterstützen, wie<br />
beisp ielsw eise: Um gang mit Schere n ,<br />
Kreide, Farben, Filz, Zeichenstiften jeder<br />
A rt , G emälden, Bildern, Gesch icht en,<br />
Reimen, Liedern etc.<br />
• In der »Kindersitzung« verfassen Kinder<br />
erste »Briefe« und können m it allen<br />
möglichen Materialien ihre gestalterischen<br />
Qualität en ent wick eln; durch Bast eln,<br />
Schneiden, Malen usw. entwickelt sich<br />
zudem ihre Fingerfertigkeit.<br />
• In der »gemeinsamen Sitzung« können die<br />
Eltern mit Kindern verschiedene Aktivitäten<br />
aus dem Bereich des Malens und des<br />
frü hen Schreibens auspro b i e ren. Dab ei<br />
erkennen sie die jeweiligen Entwicklungsniveaus<br />
ihres Kinder.<br />
Auch d ie Stiftun g Lesen re s ü m i e rt: „»Die<br />
Eltern unterrichten und die Kinder erreichen«<br />
ist ...p d er zurzeit Erfolg verspre c h e n d s t e<br />
Ansatz zur Ve r b e s s e ru ng d er Lese- u nd<br />
Schreibkompetenz in breiten, sozial benachteiligten<br />
Bevölkerungsschichten“ (Franzmann<br />
u.a. 2002, 186).<br />
Die angelsächsischen Erf a h rungen mit<br />
dem familienzentrierten Ansatz zeigen, dass<br />
Familienprogramme sinnvoll an bestehende<br />
Bildungsinstitutionen (Kindergarten, Schule,<br />
E rwachsenenbildu ng) angebu nden werd e n<br />
können. Die Ergebnisse ermutigen, diesen<br />
Bereich systematischer und auf eine mögliche<br />
Adaptation hin zu untersuchen. Es bleibt zu<br />
hoffen, dass diese Aktivitäten in ein größeres<br />
Forschungs- und Modellprogramm münden.<br />
Daneben wäre es wün sch ensw ert, dass<br />
schu lische Einrichtu ngen die Bedeutu ng<br />
dieses Ansatzes <strong>für</strong> sich erkennen und ihn im<br />
Rahmen ihrer Möglichkeiten, also auf lokaler<br />
Basis, praktizieren. Erste eigene Ansätze lassen<br />
sich in Hamburg sowie in Graz vernehmen.<br />
Auf wissenschaft licher bzw. bildungspolitischer<br />
Eb ene fin den diese Aktivitäten ihre<br />
E n t s p rechungen in Auffassu ngen der<br />
Universität Bremen und des Bundesverbandes<br />
Alphabetisierung.<br />
I n s b e s o n d e re <strong>für</strong> Schulen in sozialen<br />
Brennpunkten bietet sich eine Einbindung<br />
familienorientierter Bildungsarbeit in das jeweilige<br />
Schulprogramm an. Wenn es möglich<br />
ist, die Chancen auf Bildungst eilh ab e<br />
soziokulturell benachteiligter Kinder durch
eine Veränderung ihrer Alltagswelt zu verg<br />
r ö ß e rn, dann sollte ü berlegt werden , in<br />
welcher Form Schule zur Bildungsinstitution<br />
eines Stadtteils werden kann. Dabei soll nicht<br />
verschwiegen werden, dass die Erfahrungen<br />
mit ähnlichen Ansät zen auch Gre n z e n<br />
aufzeigen, z.B. wenn ökonomische, psychische<br />
und soziale Probleme der Familien so<br />
sehr kum ulieren, dass an dieser Stelle<br />
Maßnahmen der Sozialarbeit und der psychotherapeutischen<br />
Unterstützung notwend<br />
ig wären. Gleichzeitig gilt es, d iese<br />
sozialp ädago gische u nd -therapeut ische<br />
Arbeit stärker mit schulischer Bildungsarbeit<br />
zu verknüpfen.<br />
Es kö nnte sinnvo ll sein, Elternbildu ng hier zu<br />
Land e als originäre Aufgab e staat licher<br />
Bild ungsinstitutionen zu sehen. Generell bedarf<br />
es dazu meiner Ansicht nach einer gru n d l e g e -n<br />
den Änderung in Richt ung einer „familienzent<br />
r i e rten Bildun gspolitik“ (Achenbach 20 03)<br />
und damit einer Änderung der gesamtgesellschaftlichen<br />
Auffassung von Schule. In<br />
einer solchen Auffassung könnte sich Schule –<br />
mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet –<br />
<strong>für</strong> alle Menschen in ihrem Einzugsgebiet<br />
zuständig fühlen und sich als Lern- wie auch<br />
als Lebensmittelpunkt eines Stadtteils oder<br />
einer Kommune begreifen.<br />
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