GESCHICHTEN ERZÄHLEN Der allzeit hungrige Rabe gehörte zu den wichtigsten mythischen Figuren der Völker an der Westküste Nordamerikas. Man sagte ihm nach, er habe <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> mit Pfl anzen und Fischen gesegnet, <strong>um</strong> das Überleben zu sichern. Es gibt zahlreiche Varianten <strong>die</strong>ses Mythos <strong>um</strong> den Raben. Rabengeschichten <strong>Rund</strong> <strong>um</strong> den Globus Die Figur des Raben kennt man auf der ganzen <strong>Welt</strong> aus überlieferten Erzählungen, besonders aber in Nordamerika, Europa, Skandinavien und Sibirien. Ratgeber In den nordischen Mythen wurde der Hauptgott Odin (siehe S. 91) oft mit zwei Raben dargestellt, <strong>die</strong> auf seiner Schulter saßen. Sie hießen Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung), fl ogen jeden Tag durch <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> und berichteten ihm dann, was sie gesehen und gehört hatten. Schöpfer gur Im östlichen Teil Russlands und in der russischen Arktis ist der Rabengeist Kutkh nicht nur eine Schöpferfi gur, sondern auch der Urahn der Menschheit, ein mächtiger Schamane und cleverer Gauner. Einige der Rabengeschichten <strong>die</strong>ser Gegend ähneln denen der Ureinwohner Nordamerikas. Raben im Turm Seit Jahrhunderten leben Raben im Tower von London in England. Früher glaubte man, dass England zugrunde gehen würde, sobald <strong>die</strong> Raben den Turm verließen. Auch heute noch werden Raben dort gehalten und geschützt. Der Rabe, der das Licht stahl Die indianischen Ureinwohner an der Westküste Kanadas (darunter das Volk der Haida und das der Tlingit) kennen zahlreiche Mythen, <strong>die</strong> von einem Raben handeln – einem Zauberwesen, das seit Anbeginn der Zeit auf der Erde lebt. Als <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> gerade entstanden war, lag alles noch im Dunkeln. Um von einem Ort z<strong>um</strong> nächsten zu gelangen, <strong>um</strong> zu jagen, zu fi schen und sogar <strong>um</strong> Beeren zu sammeln, mussten <strong>die</strong> Menschen sich zu den ihnen vertrauten Bä<strong>um</strong>en, Felsen und Seen vortasten. Das Licht hielt der selbstsüchtige Sky Chief, der „Häuptling des Himmels“, in einer Kiste versteckt. Den Raben machte das so wütend, dass er sich einen Plan ausdachte, wie er in das Haus des Sky Chief gelangen und <strong>die</strong> Kiste stehlen könnte. Dazu verwandelte er sich in eine Piniennadel. Als <strong>die</strong> Tochter des Sky Chief an einer nahe gelegenen Quelle z<strong>um</strong> Wasserholen ging, ließ sich der Rabe vom Wind in ihren Krug wehen. Zurück im Haus trank sie einen Schluck aus dem Krug und <strong>die</strong> Piniennadel rutschte ihren Schlund hinab. Schöpfungsmythen Als der Rabe im Leib der Tochter war, verwandelte er sich in ein Menschenbaby, <strong>um</strong> geboren zu werden. Bei der Geburt hatte der zarte Junge rabenschwarzes Haar, glänzende schwarze Augen, eine kr<strong>um</strong>me Nase und er schrie wie eine Krähe. Der Sky Chief aber war dennoch völlig von ihm betört und tat alles, <strong>um</strong> ihn zufriedenzustellen. Viele Wochen lang blieb der Rabe als Menschenkind in seinem Haus. Eines Tages, als er <strong>die</strong> Kiste entdeckte, <strong>die</strong> das Licht der <strong>Welt</strong> enthielt, wollte der Rabe danach greifen. Der Sky Chief nahm sie ihm blitzschnell aus der Hand, doch das Kind schrie und schrie, bis der Großvater nachgab, so wie es viele liebende Großväter eben tun. Sobald der Rabe den Schatz in Händen hielt, öffnete er <strong>die</strong> Kiste und ließ den magischen Lichtball hinaus. Im nächsten Augenblick verwandelte er sich wieder in einen Vogel, nahm den Lichtball in den Schnabel und fl og durch den Rauchabzug aus dem Haus hinaus. Nachdem er über zahlreiche Gebirge, Flüsse und Ozeane gefl ogen war, wurde er müde und ließ <strong>die</strong> Hälfte des Lichts fallen. Es zerbrach in tausend Stücke, aus denen sich der Mond und <strong>die</strong> Sterne formten. Völlig erschöpft von seinen Reisen ließ der Rabe am Ende auch das restliche Licht fallen, wodurch der Himmel erstrahlte – sein kostbares Gut hatte sich in <strong>die</strong> Sonne verwandelt. 14 15