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PDF-Download - Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft

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sinn<br />

stifter<br />

2007<br />

ausgewählte texte


sinn<br />

stifter<br />

2007<br />

ausgewählte texte


Inhalt<br />

Arend Oetker<br />

Auf ein Wort 4<br />

Horst Köhler<br />

Kreatives Deutschland<br />

Der Stoff, aus dem <strong>die</strong> Zukunft ist 6<br />

Gerald D. Feldman<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

Vom Verstehen und Missverstehen zweier<br />

<strong>Wissenschaft</strong>skulturen 20<br />

Andrei Ples¸u<br />

Der Atem des Lebens<br />

Macht und Ohnmacht der Sprache 44<br />

Die Autoren 62


4<br />

Auf ein Wort<br />

Dass Leistungsstärke und Wettbewerbsfähigkeit von<br />

Unternehmen, Regionen und ganzen Volkswirtschaften<br />

unmittelbar von Forschung und Entwicklung<br />

abhängen, ist heute eine bekannte Einsicht. Den Zusammenhang<br />

hat es schon immer gegeben; aber der Taktschlag<br />

des technologischen Wandels hat sich in den letzten<br />

Jahrzehnten stark beschleunigt. Der Weg von der Idee<br />

zum Produkt ist kürzer geworden und zugleich verschlungener.<br />

Heute weiß man: Der Innovationsprozess ist eine Zweibahnstraße,<br />

Wertschöpfung vollzieht sich in einem produktiven<br />

Prozess mit vielfältigen Transferbeziehungen zwischen<br />

allen Beteiligten. Als Bundespräsident Horst Köhler<br />

im Mai 2007 zu den 700 Gästen des <strong>Stifterverband</strong>es<br />

im Stuttgarter Opernhaus sprach, stellte er eine weitere,<br />

nicht minder wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> <strong>die</strong> deutsche<br />

Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt seiner Rede: Kreativität.<br />

Der Schirmherr des <strong>Stifterverband</strong>es zeigte in seiner<br />

Rede auf, wie sehr es darauf ankommt, <strong>die</strong>sen zuweilen<br />

schillernden Begriff mit Leben zu füllen. Bildung, Freiheit<br />

und Wettbewerb seien, so der Bundespräsident, <strong>die</strong><br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> Kreativität. Ich empfehle allen, <strong>die</strong><br />

sich über <strong>die</strong> Zukunft <strong>die</strong>ses Landes Gedanken machen,<br />

<strong>die</strong> Lektüre <strong>die</strong>ses umsichtigen Beitrages.<br />

Dass es <strong>für</strong> <strong>die</strong> Zukunft unserer Hochschulen nicht immer<br />

sinnvoll sein muss, sich vermeintlich erfolgreiche Konzepte<br />

immer bei den USA abzuschauen, hat uns eindrucksvoll<br />

der überraschend im Oktober 2007 verstorbene<br />

amerikanische Wirtschaftshistoriker Gerald D. Feldman<br />

aufgeschlüsselt. Geradezu absurd sei es, so schrieb Feldman,<br />

dass <strong>die</strong> deutsche Universitätsreform sich in Richtung<br />

Harvard oder Stanford orientieren könne oder solle.<br />

Unumgänglich seien jedoch wesentlich höhere Investitionen<br />

in <strong>die</strong> deutschen Hochschulen und eine nachdrückliche<br />

Verbesserung der Lehre. Mit Gerald Feldman verliert


<strong>die</strong> wissenschaftliche Welt einen ihrer angesehensten Repräsentanten.<br />

Als ganz besonderen Repräsentanten seiner Zunft kennen<br />

wir auch Andrei Ples¸u, den wunderbaren rumänischen<br />

Philosophen. Schon oft hat er uns mit seinen Reden und<br />

Beiträgen verblüfft und erstaunt. Wie kein anderer versteht<br />

er es meisterhaft, unterhaltsam und gleichzeitig tiefgründig<br />

über seine Gegenstände nachzudenken. Im vergangenen<br />

Sommer sprach er in Berlin über <strong>die</strong> Macht und Ohnmacht<br />

der Sprache. Und zeigte uns mit dem ihm eigenen<br />

Humor zweierlei: dass wir eine große Verantwortung <strong>für</strong><br />

unsere Sprache haben; wir müssen sie sorgsam hegen und<br />

pflegen. Und zum zweiten: dass wir alle immerfort über<br />

alles reden; vielleicht, so Ples¸u, wäre es besser, manchmal<br />

einfach still zu sein. Dann nämlich würden wir wieder besser<br />

hören und sehen.<br />

In <strong>die</strong>sem Sinne wünsche ich allen Lesern eine bereichernde<br />

Lektüre und ein gutes und erfolgreiches Jahr 2008.<br />

Dr. Arend Oetker<br />

Präsident des <strong>Stifterverband</strong>es<br />

5


6<br />

sinn<br />

stifter<br />

2007


Kreatives Deutschland<br />

Der Stoff, aus dem <strong>die</strong> Zukunft ist<br />

Von Horst Köhler<br />

Seit nun fast 100 Jahren wird in <strong>die</strong>sem wunderschönen<br />

Opernhaus <strong>die</strong> Schöpferkraft großer Künstler<br />

gefeiert. Aber wie wird eigentlich aus Tönen –<br />

Musik? Wie wird aus Wörtern eine Geschichte, <strong>die</strong> zu<br />

Herzen geht? Und was macht manche Verknüpfung von<br />

Libretto und Musik so unwiderstehlich, dass sie über Jahrhunderte<br />

<strong>die</strong> Menschen immer neu begeistert?<br />

Seit nun zehn Jahren zeichnet der Bundespräsident –<br />

unterstützt vom <strong>Stifterverband</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

und seinen Mitgliedern – wegweisende Forscher und<br />

Entwickler mit dem <strong>Deutsche</strong>n Zukunftspreis aus. Aber<br />

wie verläuft eigentlich der Weg von der Feststellung eines<br />

Problems zu seiner Lösung? Wie werden aus einer guten<br />

Idee viele gute Produkte? Wie entstehen Innovationen, <strong>die</strong><br />

uns das Leben leichter machen, <strong>die</strong> es bereichern?<br />

Ob in der Kunst oder in <strong>Wissenschaft</strong> und Forschung<br />

– immer kommt es vor allem auf eine Fähigkeit an: auf<br />

Kreativität.<br />

Nun ist allerdings <strong>die</strong> Kreativität in der Geschichte des<br />

menschlichen Fortschritts so etwas wie das Licht. Man<br />

weiß als Laie nicht so ganz genau, was es ist, aber man<br />

merkt sehr schnell, ob es heller oder schwächer strahlt<br />

oder gar völlig fehlt. Immerhin: An ihren Ergebnissen können<br />

wir Kreativität erkennen, und gelegentlich zeigt sie<br />

sich ganz offen, zum Beispiel wenn jemand in einer Nacht<br />

<strong>die</strong> Marseillaise schreibt oder eines schönen Tages im Fall<br />

eines Apfels das Gesetz der Schwerkraft entdeckt. Aber<br />

meist bewegt sich <strong>die</strong> Kreativität eher im Verborgenen und<br />

auf sehr verschlungenen Pfaden. Darum hat sie auch noch<br />

keiner zur Strecke und auf den Begriff gebracht, so viele<br />

Philosophen und Pädagogen, Neurowissenschaftler und<br />

Innovationsforscher, Unternehmer und Politiker ihr auch<br />

nachjagen.<br />

7


Horst Köhler<br />

8<br />

Die englische Philosophin Margaret Boden umschreibt<br />

das Phänomen „Kreativität“ kurz und knapp so: „Creative<br />

ideas are new, surprising and valuable“ – kreative Ideen<br />

sind neu, überraschend und wertvoll.<br />

Neu – das ist zum Beispiel <strong>die</strong> optische Formel, mit<br />

der Stefan Hell, der aktuelle Träger des <strong>Deutsche</strong>n Zukunftspreises,<br />

<strong>die</strong> Abbe’sche Beugungsgrenze überwunden<br />

und so <strong>die</strong> Grundlage <strong>für</strong> Lichtmikroskopie in ungekannter<br />

Schärfe gelegt hat.<br />

Überraschend – das war <strong>die</strong> Art und Weise, wie Melitta<br />

Bentz das Löschpapier ihrer Kinder verwendete, um<br />

endlich Kaffee ohne Satz genießen zu können.<br />

Nützlich und wertvoll – als das erwies sich Robert<br />

Boschs Gedanke, mit einem Magnetzünder das Gasgemisch<br />

in einem Motor zu einer kontrollierten Explosion<br />

zu bringen. Die Zündkerze verhalf dem Automobil zum<br />

Durchbruch und der Firma Bosch zu beispiellosem wirtschaftlichem<br />

Erfolg.<br />

Ausgetretene Denkpfade verlassen, vorhandenes Wissen<br />

auf ungeahnte Weise neu kombinieren, nie Dagewesenem<br />

<strong>die</strong> Bahn brechen – darin zeigt sich Kreativität. Sie<br />

abschließend zu erklären oder gar zu steuern, das dürfte<br />

wohl unmöglich sein. Kreativität kann man „nur zulassen<br />

oder verhindern“, sagt Hubert Markl, der ehemalige Präsident<br />

der Max-Planck-Gesellschaft. Und das bedeutet<br />

auch: Kreativität lässt sich doch ermöglichen, vielleicht sogar<br />

erleichtern.<br />

Und daran muss uns allen sehr gelegen sein. Wir alle<br />

wissen natürlich, wie wichtig Ideen und wie unverzichtbar<br />

Innovationen <strong>für</strong> das Wohlergehen unseres Landes sind.<br />

Wir wissen natürlich, dass <strong>die</strong> wichtigste Ressource, über<br />

<strong>die</strong> wir in Deutschland verfügen, in den Köpfen der Menschen<br />

zu erschließen ist. Und wir wissen natürlich, dass<br />

wir im internationalen Wettbewerb nur dann bestehen können,<br />

wenn wir mindestens so viel besser sind, wie wir teu-


er sind. Das ist ein Satz, den ich von einem Unternehmer<br />

aus Baden-Württemberg übernommen habe – und er ist<br />

mittlerweile fast schon zum geflügelten Wort geworden.<br />

Besser – das bedeutet vor allem: findiger und schneller<br />

bei der Entwicklung von Lösungen, <strong>die</strong> möglichst weltweit<br />

den Menschen das Leben erleichtern, vielleicht sogar<br />

verschönern. Wir wissen das natürlich alles. Aber handeln<br />

wir danach? Sorgen wir unermüdlich <strong>für</strong> <strong>die</strong> Bedingungen,<br />

<strong>die</strong> Kreativität zulassen oder gar ermutigen und<br />

erleichtern?<br />

Kreativität lebt von mindestens drei Voraussetzungen:<br />

von Bildung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Neugier schult, von Freiheit, <strong>die</strong> auch<br />

Unvorhersehbarem Raum gibt, und vom Wettbewerb, der<br />

immer auch ein Austausch von Ideen ist.<br />

Einfälle sind selten bloße Glücksfälle: „Der Zufall begünstigt<br />

nur den vorbereiteten Geist“, sagt Louis Pasteur.<br />

Eine solide Wissensbasis, <strong>die</strong> Fähigkeit, Informationen zu<br />

verknüpfen, das Vermögen, <strong>die</strong> eigenen Gedanken zu ordnen<br />

und zu Ende zu denken – schon in der Schule müssen<br />

<strong>die</strong>se Grundbedingungen <strong>für</strong> Kreativität geschaffen<br />

werden. Wir wissen, dass wir auf <strong>die</strong>sem Gebiet in<br />

Deutschland viel besser werden können – und ich sage<br />

ganz bewusst: besser werden müssen. Wie soll jemand später<br />

kühne Gedankengebäude errichten, wenn ihr oder ihm<br />

da<strong>für</strong> <strong>die</strong> erforderlichen Wissensbausteine fehlen – ganz<br />

zu schweigen von der Fähigkeit, <strong>die</strong>se auch solide zusammenzusetzen?<br />

Mit beidem müssen junge Leute ausgerüstet<br />

sein, besonders wenn sie unsere weiterführenden<br />

Schulen verlassen, denn sonst führen <strong>die</strong> eben nicht weiter.<br />

Das ist <strong>für</strong> alle Beteiligten auch anstrengend, ich weiß.<br />

Aber Thomas Edison sagt mit Recht: „Genie ist zu 1 % Inspiration<br />

und zu 99 % Transpiration.“ Lernen bedeutet nun<br />

eben mal auch Anstrengung: Wir brauchen mehr Bereitschaft<br />

dazu: sowohl auf der Seite der Lernenden wie der<br />

Lehrenden.<br />

Kreatives Deutschland<br />

9


Horst Köhler<br />

10<br />

Verstehen Sie mich recht: Ich rede nicht der alten Paukschule<br />

das Wort. Wir müssen uns vielmehr den Wert des<br />

spielerischen, des selbstständigen, des entdeckenden Lernens<br />

noch stärker bewusst machen, das übrigens nicht erst<br />

in der Schule beginnen darf, sondern schon im Elternhaus<br />

und in der Kita angeregt sein will. Und ich bin überzeugt<br />

davon, dass junge Menschen ihre kreativen Potenziale<br />

dann am besten entwickeln können, wenn es beim Lernen<br />

nicht allein um Fakten, sondern auch um Erfahren<br />

und Erleben geht. Erfahren und erleben – das sendet Impulse<br />

an alle Sinne. Das gilt insbesondere <strong>für</strong> <strong>die</strong> Naturund<br />

Technikwissenschaften, in denen wir vielleicht auch<br />

deshalb ein Nachwuchsproblem haben, weil im Schulunterricht<br />

das selbsttätige Experimentieren und <strong>die</strong> unmittelbare<br />

Naturbeobachtung oft zu kurz kommen. Deshalb<br />

ist es gut, dass Initiativen deutscher Unternehmen wie<br />

<strong>die</strong> „Wissensfabrik“ und <strong>die</strong> überall entstehenden Science<br />

Centers Kindern neue Möglichkeiten eröffnen, beispielsweise<br />

selbst mit einem Mikroskop <strong>die</strong> Geheimnisse<br />

einer Zelle zu entdecken, eigenständig einen Torbogen zu<br />

bauen und höchstpersönlich aus einem Stück Blech ein Designerstück<br />

zu machen.<br />

Deswegen ist es wichtig, dass <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong> ihrerseits<br />

auf <strong>die</strong> Forscher und Entwickler von morgen zugeht:<br />

etwa bei den jährlichen <strong>Wissenschaft</strong>ssommern im Rahmen<br />

der Aktion „<strong>Wissenschaft</strong> im Dialog“ oder mit den<br />

Kinderuniversitäten, <strong>die</strong> vielerorts inzwischen zum Hochschulrepertoire<br />

gehören – ich freue mich darüber!<br />

Zusammenhänge zu verstehen, Ordnung zu erkennen<br />

und damit schöpferisch umzugehen: Das ist übrigens auch<br />

ein Ziel guten Unterrichts in den musischen Fächern. Natürlich<br />

gehören Musik und Kunst schon deshalb auf den<br />

Stundenplan, weil sie auf beglückende und erfüllende<br />

Weise <strong>die</strong> Welt erschließen. Aber es ist durchaus erlaubt,<br />

auch ihre nützlichen Aspekte zu betonen – und einer da-


von ist, dass <strong>die</strong> musischen Fächer erwiesenermaßen besonders<br />

kreativitätsanregend sind. Doppelt kurzsichtig also,<br />

wenn es gerade Musik und Kunsterziehung sind, <strong>die</strong><br />

bei Stundenplankürzungen als Erste gestrichen werden!<br />

Dabei brauchen wir doch das Gegenteil von Unterrichtsausfall<br />

– und wir brauchen anderen Unterricht: Wenn<br />

Kinder wirklich ihren Begabungen und Bedürfnissen entsprechend<br />

beim Lernen gefordert und unterstützt werden<br />

sollen, dann muss <strong>die</strong> viel beschworene individuelle Förderung<br />

endlich überall mehr sein als ein Lippenbekenntnis.<br />

Individuelle Förderung ist viel wichtiger als eine<br />

ideologische oder parteipolitische Diskussion über Schulformen<br />

oder Schulstrukturen. Und weil wir so viel Wert<br />

legen müssen auf individuelle Förderung, sollte von nun<br />

an <strong>die</strong> Ausrede tabu sein, da<strong>für</strong> fehle es leider an Geld oder<br />

darauf seien <strong>die</strong> Lehrerinnen und Lehrer unzureichend<br />

vorbereitet.<br />

Ich bin überzeugt: Alle – zum Glück ja angelaufenen<br />

– Bemühungen um eine bessere Schule bleiben Stückwerk,<br />

wenn es nicht gelingt, <strong>die</strong> Lehrer wirklich praxisnäher<br />

auszubilden, ihnen mehr Unterstützung und Anerkennung<br />

<strong>für</strong> ihre wichtige Arbeit zu erweisen und so <strong>die</strong> Besten<br />

<strong>für</strong> den Beruf zu gewinnen. Unsere Lehrer sollen <strong>die</strong><br />

besten sein, unsere Kinder haben das ver<strong>die</strong>nt. Der <strong>Stifterverband</strong><br />

hat mit seinem Aktionsprogramm „Neue Wege<br />

in der Lehrerausbildung“ gute Ideen da<strong>für</strong> zusammengetragen<br />

und gefördert. Da<strong>für</strong> bin ich sehr dankbar.<br />

Jetzt soll auch <strong>die</strong> Fort- und Weiterbildung in den Blick<br />

genommen werden. Das ist ja ein Bereich, der in unserer<br />

Gesellschaft, in unserer Volkswirtschaft, <strong>die</strong> sich ständig<br />

neuen Anpassungen zu stellen haben, eher zu kurz kommt<br />

bei den bildungspolitischen Bemühungen. Dass sich aber<br />

in der Lehrerweiterbildung jetzt mehr tut, finde ich gut,<br />

denn wie sagen <strong>die</strong> Schüler in Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“<br />

so richtig: „Wir brauchen Lehrer, <strong>die</strong> sich ent-<br />

Kreatives Deutschland<br />

11


Horst Köhler<br />

12<br />

wickeln müssen, wenn sie uns entwickeln wollen.“ – Lehrer<br />

also, <strong>die</strong> Vorbilder sind in der Bereitschaft, immer wieder<br />

zu neuen Ufern aufzubrechen und ihre Schüler dorthin<br />

mitzunehmen. Und natürlich setzt das auch voraus,<br />

dass <strong>die</strong>se Lehrer Unterstützung bekommen: von der<br />

Schulverwaltung, von den Elternhäusern, von der Gesellschaft,<br />

von der Wirtschaft.<br />

„Bildung“, schreibt Hartmut von Hentig, „verleiht der<br />

Neugier Sinn.“ Bildung strukturiert den natürlichen Wissensdrang<br />

und hilft der Kreativität auf <strong>die</strong> Sprünge. Darum<br />

sollten wir <strong>die</strong> Institutionen stark machen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se<br />

Sprungstärke trainieren: <strong>die</strong> Schulen sowieso und <strong>die</strong><br />

Hochschulen natürlich auch.<br />

Wir wollen doch, dass <strong>die</strong> Universitäten und Fachhochschulen<br />

Pflanzstätten des Geistes sind, an denen Neugier<br />

und Forscherdrang in neues Wissen umgewandelt<br />

werden. Wir wollen doch, dass sie Orte sind, an denen<br />

Menschen ihren geistigen Horizont stetig erweitern – in<br />

der Stille einer Bibliothek ebenso wie in einem interdisziplinären<br />

Seminar oder einem multinationalen Laborteam.<br />

Wir wollen doch, dass möglichst viele junge Menschen an<br />

den Universitäten das Rüstzeug da<strong>für</strong> erwerben, mit ihren<br />

Ideen und Fähigkeiten in der Wissensgesellschaft Erfolg<br />

zu haben.<br />

Angesichts überfüllter Hörsäle, teilweise maroder Gebäude<br />

und fehlender Ausstattung in Labors und Bibliotheken<br />

muss man aber gelegentlich den Eindruck haben,<br />

dass <strong>die</strong> Bildung bei uns nach dem Grundsatz erfolgt: „Not<br />

macht erfinderisch.“ Nun kann ja zweifellos auch der Mangel<br />

ein wichtiger Motor <strong>für</strong> Kreativität sein. Das zeigt nicht<br />

zuletzt <strong>die</strong> Geschichte des <strong>Stifterverband</strong>es – 1920 von den<br />

Herren Haber und Schmidt-Ott als „<strong>Stifterverband</strong> der Notgemeinschaft<br />

der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Wissenschaft</strong>“ ersonnen.<br />

Aber dennoch sollten wir uns vor dem Irrglauben hüten,<br />

aus jeder Not ließe sich eine Tugend machen. Unse-


e Hochschulen sind – bei steigenden Belastungen – chronisch<br />

unterfinanziert. Im OECD-Vergleich liegen <strong>die</strong> deutschen<br />

Ausgaben <strong>für</strong> <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>renden seit Langem nur im<br />

Mittelfeld, und bezogen auf unsere Wirtschaftskraft – ich<br />

könnte auch sagen: hinsichtlich unseres Anspruchs auf<br />

weiteren Wohlstand – sind unsere Ausgaben <strong>für</strong> <strong>die</strong> Hochschüler<br />

unterdurchschnittlich. Das leisten wir uns, obwohl<br />

wir doch wollen, dass junge Menschen zügig und erfolgreich<br />

stu<strong>die</strong>ren können und dabei auf engagierte Hochschullehrer<br />

treffen, <strong>die</strong> wissenschaftlicher Mentor, Vorbild<br />

und Partner zugleich sind. Solche <strong>Wissenschaft</strong>ler gibt es<br />

– das zeigt uns zum Beispiel der Ars-legendi-Preis, den <strong>Stifterverband</strong><br />

und Hochschulrektorenkonferenz gemeinsam<br />

<strong>für</strong> exzellente Hochschullehrer ausloben. Wir brauchen<br />

mehr von <strong>die</strong>sen exzellenten Hochschullehrern. Eine Qualitätsoffensive<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> Lehre planen auch <strong>die</strong> Kultusministerkonferenz<br />

und der <strong>Wissenschaft</strong>srat. Ich bin froh darüber<br />

und gespannt auf das Ergebnis.<br />

Aber nicht allein der Staat – und das heißt nach der<br />

Föderalismusreform zunächst: jedes Bundesland – ist gefragt,<br />

wenn es um <strong>die</strong> Zukunft der Hochschulen geht. Auch<br />

<strong>die</strong> Wirtschaft trägt Verantwortung, denn sie ist angewiesen<br />

auf hervorragend ausgebildeten Nachwuchs und profitiert<br />

vom wissenschaftlichen „Output“ der Universitäten.<br />

Es ist gut, dass Unternehmen Stiftungsprofessuren übernehmen<br />

und Forschungsaufträge an Universitäten vergeben;<br />

es ist hilfreich, wenn sie Sanierungsmaßnahmen fördern;<br />

es ist richtig, wenn sie Stu<strong>die</strong>rende durch Stipen<strong>die</strong>nprogramme<br />

und Praktika unterstützen. Und wenn Sie<br />

als Unternehmen nicht wissen, wie Sie sich <strong>für</strong> <strong>die</strong> Hochschulen<br />

engagieren können: Fragen Sie den <strong>Stifterverband</strong>!<br />

Kreativität braucht ein solides Fundament an Bildung,<br />

und Kreativität braucht Freiheit, um sich entfalten zu können.<br />

Freiheit – das heißt aber auch: angemessene finanzielle<br />

Mittel.<br />

Kreatives Deutschland<br />

13


Horst Köhler<br />

14<br />

Jahr <strong>für</strong> Jahr führt uns <strong>die</strong> Statistik des <strong>Stifterverband</strong>es<br />

vor Augen, dass wir <strong>für</strong> Forschung und Entwicklung<br />

in Deutschland zu wenig ausgeben, das heißt, zu wenig<br />

in Zukunft investieren. Wir beschwören das Lissabon-Ziel<br />

und haben uns ihm doch bisher keinen Deut genähert –<br />

im Gegenteil: 2005 lagen <strong>die</strong> Aufwendungen <strong>für</strong> Forschung<br />

und Entwicklung in Deutschland bei 2,46 Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts. Sieht so <strong>die</strong> von Staat und Wirtschaft<br />

versprochene konsequente Anstrengung <strong>für</strong> Ideen<br />

und Innovationen aus, <strong>die</strong> unserem Land eine gute Zukunft<br />

sichern sollen?<br />

Die Bundesregierung hat nun immerhin ein Sechs-<br />

Milliarden-Programm aufgelegt – ein guter Einstieg. Jetzt<br />

müssen auch <strong>die</strong> Länder mitziehen. Hier in Baden-Württemberg<br />

brauche ich das eigentlich nicht zu sagen. Als einziges<br />

Bundesland übertrifft es <strong>die</strong> Drei-Prozent-Marke<br />

schon heute. Dieser Kurs sollte fortgesetzt werden.<br />

Mehr als zwei Drittel der FuE-Aufwendungen werden<br />

in Deutschland von der Wirtschaft erbracht. Immer öfter<br />

aber höre ich von Unternehmen: Wir verlagern Forschungs-<br />

und Entwicklungskapazitäten ins Ausland – dorthin,<br />

wo wir produzieren und wo unsere Märkte sind, wo<br />

schlicht auch <strong>die</strong> Kosten sehr viel niedriger sind. Das müssen<br />

wir erstmal zu Kenntnis nehmen. Aber dennoch sollten<br />

wir genauer nachfragen dürfen: Natürlich sind solche<br />

Verlagerungen ein ganz normaler Teil der Internationalisierung<br />

unserer Volkswirtschaft. Ich spreche also nicht<br />

prinzipiell gegen Verlagerung. Wir sind in Deutschland<br />

Profiteure der Globalisierung und haben nicht zuletzt auch<br />

unseren jetzigen erfreulichen Aufschwung gerade auch <strong>die</strong>ser<br />

Entwicklung zu verdanken. Es investieren ja auch viele<br />

ausländische Unternehmen in Deutschland, und auch<br />

sie schaffen dabei FuE-Kapazitäten. Zugleich ist aber doch<br />

Aufmerksamkeit geboten: Gerade <strong>die</strong> <strong>für</strong> Innovationen verantwortlichen<br />

Unternehmensteile haben eine besondere


Führungs- und Lenkungsfunktion. Wer <strong>die</strong>se Bereiche ins<br />

Ausland schickt, mag dort <strong>die</strong> Zusammenarbeit im Unternehmen<br />

erleichtern, auch kurzfristig Kostenvorteile nutzen.<br />

Aber <strong>die</strong> Frage ist, ob das langfristig immer <strong>die</strong> beste<br />

Antwort ist. Und volkswirtschaftlich betrachtet besteht ein<br />

hohes Interesse daran, dass der Export und der Import von<br />

FuE-Kapazitäten sich mindestens <strong>die</strong> Waage halten – und<br />

besser noch, sie neigt sich zum heimischen Standort – das<br />

sage ich, obwohl ich entschieden <strong>für</strong> Offenheit und Internationalität<br />

bin.<br />

Ich weiß, darauf kann ein einzelnes Unternehmen nur<br />

bedingt Rücksicht nehmen. Und ich bin der Letzte, der ein<br />

einzelnes Unternehmen hier bedrängte. Aber wenigstens<br />

sollte vor einer Verlagerung ins Ausland immer <strong>die</strong> alte<br />

Handwerkerregel beachtet werden: Dreimal messen, ehe<br />

man einmal schneidet. Sind also zum Beispiel <strong>die</strong> Personalkosten<br />

im Ausland auch nur mittelfristig wirklich so<br />

viel niedriger? Gelingt es auch dort, den Zusammenhalt<br />

zu schmieden, der hiesige Betriebsgemeinschaften auszeichnet,<br />

der oft <strong>die</strong> Unternehmenskultur auszeichnet? Ich<br />

glaube, dass wir in Deutschland eher noch zu wenig daraus<br />

machen, dass wir eine Unternehmenskultur haben, <strong>die</strong><br />

auf <strong>die</strong> Gemeinschaft von Management, Unternehmensführung<br />

und Belegschaft setzt. Diese Kultur ist gut, sie ist<br />

zukunftsfähig. Und es gibt Hinweise, dass gerade auch bei<br />

ausgelagerten Betrieben <strong>die</strong> Betriebsloyalität der Mitarbeiter<br />

gar nicht so groß ist – und das schafft neue Kosten.<br />

Und wenn ich manchmal den Einwand höre: Hierzulande<br />

finden wir ja längst nicht mehr genug hoch<br />

qualifizierte, gute Mitarbeiter, dann gebe ich darauf <strong>die</strong><br />

Frage zurück: Können Sie als Unternehmen nicht auch<br />

sehr viel mehr dazu beitragen, dass sich an <strong>die</strong>ser Situation<br />

etwas ändert, indem Sie auch mit Ihrem Beitrag jungen<br />

Menschen zeigen, wie spannend und zukunftsträchtig<br />

<strong>die</strong> beruflichen Herausforderungen zum Beispiel<br />

Kreatives Deutschland<br />

15


Horst Köhler<br />

16<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong>jenigen sind, <strong>die</strong> Natur- oder Ingenieurwissenschaften<br />

stu<strong>die</strong>ren?<br />

Die Unterstützung <strong>für</strong> Forschung und Entwicklung<br />

verlangt Entschlossenheit, Ausdauer und Mut: zum Beispiel<br />

<strong>die</strong> Entschlossenheit, Mittel zu konzentrieren statt sie<br />

mit der Gießkanne über alle möglichen Innovationsfelder<br />

zu verteilen; zum Beispiel <strong>die</strong> Ausdauer, beharrlich nach<br />

neuen Erkenntnissen und besseren Lösungen zu suchen,<br />

auch wenn sich damit nicht der schnelle Euro machen<br />

lässt; und zum Beispiel den Mut, kreativen Forschungsund<br />

Entwicklungsprojekten auch finanziell über <strong>die</strong> Hürde<br />

des Anfangs zu helfen. In Deutschland werden nur<br />

0,014 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in vielversprechende,<br />

aber noch risikoreiche Start-up-Projekte investiert,<br />

also in Existenzgründungen, Neugründungen – in den<br />

USA ist <strong>die</strong>ser Anteil doppelt so hoch.<br />

Die Hightech-Strategie der Bundesregierung zeigt, was<br />

wir besser machen können in der Innovationsförderung:<br />

nicht nur beim Wagniskapital, sondern zum Beispiel auch<br />

bei der Beteiligung der kleinen und mittleren Unternehmen,<br />

deren FuE-Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft ist.<br />

Und noch aus einer weiteren Quelle könnte es in<br />

Deutschland <strong>für</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und Forschung lebhafter<br />

sprudeln: Ich meine <strong>die</strong> privaten Stiftungen. Davon muss<br />

ich Sie nicht überzeugen, denn viele von Ihnen haben genau<br />

deswegen Stiftungen gegründet. Da<strong>für</strong> danke ich Ihnen.<br />

Und ich wünsche mir, dass Ihr Beispiel auch andere<br />

anstiftet – am besten so, dass <strong>die</strong> Förderung von <strong>Wissenschaft</strong><br />

und Forschung in Deutschland gleichsam zur Ehrensache<br />

der Bürger wird. Die anstehende Novellierung des<br />

Stiftungsrechts, zu der auch der <strong>Stifterverband</strong> wichtige<br />

Impulse gegeben hat, wird es künftig noch einfacher und<br />

attraktiver machen, privates Kapital in Stiftungen zu überführen<br />

und damit <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und andere gemeinnützige<br />

Zwecke zu unterstützen. Ich wünsche mir jeden-


falls Wachstum gerade auch beim Stiften, also beim Engagement<br />

<strong>für</strong> den Zusammenhalt und <strong>die</strong> Zukunftsfähigkeit<br />

unserer Gesellschaft. Hier können wir durch unseren<br />

persönlichen – nicht zuletzt finanziellen – Einsatz zeigen,<br />

dass uns an unserer Wirtschaftsordnung, an unserer freiheitlichen<br />

Gesellschaftsordnung wirklich etwas liegt.<br />

Gute Ideen brauchen Freiheit, aber sie brauchen auch<br />

das rechte Maß an Verlässlichkeit. Wer zum Beispiel ein<br />

langfristiges Projekt der Grundlagenforschung vorantreibt,<br />

sollte nicht jeden Tag darüber grübeln müssen, ob sein Vorhaben<br />

womöglich demnächst zugunsten kurzfristig verwertbarer<br />

Ziele zurückgestellt wird. Oder auch: Wer einer<br />

etwas verrückten, aber nicht unplausibel klingenden Idee<br />

nachgeht, soll nicht be<strong>für</strong>chten müssen, ein Misserfolg werde<br />

seine gesamte weitere Karriere überschatten oder gar ruinieren.<br />

Und wer gute Ideen hat und zur Reife bringt, der<br />

muss sich dabei auf den Schutz seines geistigen Eigentums<br />

durch <strong>die</strong> Rechtsordnung des Staates verlassen können.<br />

Freiheit und Sicherheit <strong>für</strong> neue Ideen: Auch der<br />

Faktor „Zeit“ ist dabei wichtig. Wir wissen, dass <strong>die</strong><br />

Innovationszyklen immer kürzer werden und der Veränderungsdruck<br />

zunimmt. Zeit ist deshalb eine kostbare<br />

Ressource, unverzichtbar <strong>für</strong> Kreativität: Ohne Muße kein<br />

Musenkuss. Nicht umsonst räumen innovative Unternehmen<br />

ihren Mitarbeitern Arbeitszeit zur freien Verwendung<br />

ein; nicht umsonst nutzen Hochschullehrer Sabbaticals,<br />

um ihre Forschung voranzubringen. Nicht wenige<br />

aber fliehen aus den deutschen Hochschulen und<br />

Forschungseinrichtungen und suchen andernorts Freiheit<br />

von Bürokratie, Gremienunwesen und Berichtszwängen.<br />

Im globalen Wettbewerb um <strong>die</strong> kreativsten Köpfe reicht<br />

es nicht, an den Patriotismus der <strong>Wissenschaft</strong>ler zu<br />

appellieren – wir müssen schon mehr da<strong>für</strong> tun, um ihnen<br />

den Rücken freizuhalten, bevor sie uns den Rücken<br />

kehren.<br />

Kreatives Deutschland<br />

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Horst Köhler<br />

18<br />

Mehr Freiheit: Das ist keine Einladung zum Müßiggang.<br />

Sättigung und Gewissheit – Besitzstand und Anspruch<br />

– können machtvolle Verhinderer von Kreativität<br />

sein. Da<strong>für</strong> gibt es auch in der deutschen <strong>Wissenschaft</strong>slandschaft<br />

manches Beispiel. Dagegen hilft vor allem eins:<br />

Wettbewerb. Man kann eine Lösung <strong>für</strong> ein Problem suchen<br />

oder kann versuchen, <strong>die</strong> beste zu finden. Spitze sein<br />

zu wollen – das erzeugt kreative Dynamik. Hätten wir etwa<br />

ohne <strong>die</strong> Exzellenzinitiative im universitären Bereich<br />

in den letzten Jahren soviel Aufbruch in der Hochschullandschaft<br />

erlebt? Und hätten wir ohne sie und den Pakt<br />

<strong>für</strong> Forschung und Innovation soviel Bereitschaft zur Zusammenarbeit<br />

von Menschen und Institutionen erlebt? Ich<br />

glaube nicht. Hier ist etwas Gutes in Gang gekommen. Und<br />

ich bin mir mit Minister Frankenberg völlig einig: Die Exzellenzinitiative<br />

muss über den bisherigen Zeitrahmen hinaus<br />

verlängert werden.<br />

Denn auch das beflügelt <strong>die</strong> Kreativität: Austausch –<br />

zwischen Fachkollegen, zwischen den Disziplinen (Kreativität<br />

ist nämlich notorisch undiszipliniert), zwischen<br />

Grundlagenforschung und Anwendungsorientierung,<br />

zwischen <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft. Wir brauchen<br />

nicht kleinkariertes Kästchendenken, wir brauchen Kommunikation,<br />

Kooperation, Austausch! „Die Grenze ist der<br />

fruchtbarste Raum der Erkenntnis.“ Dieser Satz des evangelischen<br />

Theologen Paul Tillich ist vielleicht eine der besten<br />

Antworten auf <strong>die</strong> Frage, wie das Neue in <strong>die</strong> Welt<br />

kommt. Und deswegen ist es richtig, auf interdisziplinäre<br />

Netzwerke und starke Cluster von <strong>Wissenschaft</strong> und<br />

Wirtschaft zu setzen. Da<strong>für</strong> gibt es in Deutschland gute<br />

Beispiele, aber der Austausch kann noch besser gelingen.<br />

Wie, dazu liefert der <strong>Stifterverband</strong> uns immer wieder gute<br />

Hinweise.<br />

Von Walther Rathenau stammt der Satz: „Die Klage<br />

über <strong>die</strong> Schärfe des Wettbewerbes ist in Wirklichkeit meist


nur eine Klage über den Mangel an Einfällen.“ Der <strong>Stifterverband</strong><br />

klagt nicht, sondern weist mit seinen Programmen<br />

<strong>für</strong> Schulen und Hochschulen und seinen Initiativen<br />

zur Vernetzung von <strong>Wissenschaft</strong> und Wirtschaft<br />

Wege ins Land der Ideen. Da<strong>für</strong> bin ich dankbar, und dazu<br />

wünsche ich weiterhin viel Erfolg.<br />

Kreatives Deutschland<br />

19


20<br />

sinn<br />

stifter<br />

2007


Amerika – unser Vorbild?<br />

Vom Verstehen und Missverstehen zweier Wirtschaftskulturen<br />

Von Gerald D. Feldman<br />

Dem Titel <strong>die</strong>ses Beitrags fehlt es nicht an einer<br />

gewissen historischen Ironie. Vor einem Jahrhundert<br />

hätte man bestimmt nicht das amerikanische,<br />

sondern das deutsche Universitätssystem als Vorbild betrachtet.<br />

In der Tat wurde das amerikanische System der<br />

Ausbildung von Graduates, also Hochschulabsolventen,<br />

nach deutschem Muster gestaltet. Die berühmteste unter<br />

den Institutionen, <strong>die</strong> den transatlantischen institutionellen<br />

Transfer begründeten, war <strong>die</strong> Johns Hopkins University<br />

in Baltimore. Gleichzeitig wurden sich jedoch deutsche<br />

<strong>Wissenschaft</strong>ler und führende Politiker der bedeutenden<br />

Entwicklungen in den Vereinigten Staaten bewusst<br />

und waren geneigt, manche von <strong>die</strong>sen zu übernehmen.<br />

Denn in Deutschland war man zunehmend besorgt über<br />

<strong>die</strong> zahlreichen Lehrveranstaltungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ordinarien<br />

durchführen mussten, und den Mangel an finanziellen Zuwendungen<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Wissenschaft</strong>en. Deshalb richtete man<br />

das Augenmerk auf <strong>die</strong> Rockefeller-Institute, <strong>die</strong> als bahnbrechende<br />

institutionelle Innovationen im Bereich der<br />

<strong>Wissenschaft</strong>sorganisation angesehen wurden. Von den<br />

Rockefeller-Institutionen gingen <strong>die</strong> Impulse zur Schaffung<br />

der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Institute<br />

aus, in denen man eine Partnerschaft zwischen der Industrie<br />

und dem Staat zur Förderung der <strong>Wissenschaft</strong>en<br />

anstrebte, <strong>die</strong> den Wettbewerb mit dem amerikanischen<br />

Modell aufnehmen konnte. Die Nachfolge <strong>die</strong>ses transatlantischen<br />

Transfers findet heute ihren Niederschlag in<br />

dem einzigartigen amerikanischen System der Graduate<br />

Education, das stark von dem alten deutschen Vorbild und<br />

von den Max-Planck-Instituten geprägt wird. Letztere, <strong>die</strong><br />

ursprünglich von den Rockefeller-Instituten inspiriert waren,<br />

stehen heute in einer Vielzahl von Bereichen an der<br />

vordersten Front der Forschung. Denjenigen, <strong>die</strong> das<br />

21


Gerald D. Feldman<br />

22<br />

Glück haben, dort ihre Forschung zu betreiben, bieten sie<br />

exzellente Bedingungen.<br />

Allerdings haben sich <strong>die</strong> amerikanische und <strong>die</strong> deutsche<br />

Hochschulbildung im letzten Jahrhundert in ganz<br />

verschiedene Richtungen bewegt. Die Vereinigten Staaten<br />

verfügen über ein enorm großes, kompliziertes und vielfältiges<br />

Hochschul-Bildungswesen im kontinentalen Maßstab,<br />

das private und öffentliche Institutionen beinhaltet.<br />

Es umfasst Elite-Universitäten und Elite-Four-Year-Colleges<br />

sowie <strong>die</strong> weniger elitären, aber auch sehr respektablen<br />

weiteren Universitäten, Four Year Colleges, Junior<br />

Colleges und Community Colleges. Sie alle bilden eine<br />

nichtregulierte, aber bemerkenswert effiziente Gruppe von<br />

Institutionen im Bereich des Hochschulwesens, <strong>die</strong> dem<br />

Bedarf eines demokratischen Massensystems an Hochschulbildung<br />

sehr gut Rechnung trägt. Dieses System erlaubte<br />

und erlaubt den Transfer von einer Institution zur<br />

anderen, zum Beispiel von einem Community College zu<br />

einem Four Year College und anschließend zu einer Universität.<br />

Ferner wurde <strong>die</strong> Spitzenforschung an den Universitäten<br />

verankert. Das berühmte Rockefeller-Institut <strong>für</strong><br />

Medizin wurde in eine Universität umgewandelt, während<br />

das Rockefeller Institute of Government der State University<br />

von New York beigeordnet ist. Die bedeutendste<br />

Rockefeller-Institution war lange Zeit <strong>die</strong> Rockefeller<br />

Foundation, <strong>die</strong> auch deutschen <strong>Wissenschaft</strong>lern in der<br />

Zwischenkriegszeit beachtliche finanzielle Zuwendungen<br />

gewährte.<br />

Sie ist nur eine in der Vielzahl privat finanzierter Stiftungen<br />

– <strong>die</strong> Ford-, Mellon-, MacArthur- und Carnegie-<br />

Stiftungen sind vielleicht <strong>die</strong> bekanntesten –, <strong>die</strong> Forschungsprojekte<br />

unterstützen. Dies unterscheidet sie klar<br />

von der <strong>Deutsche</strong>n Forschungsgemeinschaft, auch wenn<br />

<strong>die</strong>se oft ähnliche Forschungsaktivitäten verfolgt. Wenn<br />

man in den USA Spitzenforschung betreiben wollte, täte


man <strong>die</strong>s fast immer an Universitäten, wo eine derartige<br />

Forschung durch Regierungs-, Privat- oder Stiftungsverträge<br />

subventioniert wird. Professoren, Fachbereiche und<br />

Universitätsinstitute bewerben sich um <strong>die</strong>se Finanzierung<br />

und werden dabei von ihren Universitäten stark und effizient<br />

unterstützt. Denn auch <strong>die</strong> Universitäten profitieren<br />

von dem sogenannten Overhead, indem sie <strong>die</strong> anfallenden<br />

„indirekten Kosten“, das heißt <strong>die</strong> Kosten <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>für</strong><br />

Forschungsprojekte benötigten Einrichtungen und das<br />

Personal, den Geldgebern in Rechnung stellen. Zudem<br />

werden Hochschulen und Colleges durch Stu<strong>die</strong>ngebühren<br />

finanziert, <strong>die</strong> bei den Privatinstitutionen extrem hoch<br />

sind und bei den öffentlichen weitaus niedriger. Doch<br />

selbst <strong>die</strong> teuersten Universitäten und Colleges stellen ihren<br />

weniger wohlhabenden Stu<strong>die</strong>renden großzügige Stipen<strong>die</strong>n<br />

zur Verfügung. Trotzdem nehmen viele Studenten<br />

Anleihen auf, <strong>die</strong> zurückgezahlt werden müssen, sobald<br />

<strong>die</strong> Absolventen das College verlassen haben und erwerbstätig<br />

werden. Darüber hinaus, und <strong>die</strong>s ist kein<br />

unwesentlicher Faktor, vermachen <strong>die</strong> Alumni ihrer „Alma<br />

Mater“ oftmals riesige Vermögen. Diese privaten Spenden,<br />

<strong>die</strong> auch den öffentlichen Universitäten zugute kommen,<br />

sind von großer Bedeutung <strong>für</strong> <strong>die</strong> Hochschulbildung<br />

in Amerika. Schließlich ist noch ein weiterer wichtiger Faktor<br />

zu erwähnen: Zwar ist <strong>die</strong> Anzahl der Fakultätsmitglieder<br />

seit den 1960er-Jahren stark gewachsen, um <strong>die</strong><br />

Nachfrage abzudecken, und gleichzeitig wurden auch <strong>die</strong><br />

Gehälter deutlich erhöht, jedoch blieb das System der Beförderungen<br />

und Gehaltserhöhungen in Lehre und Forschung<br />

immer eng an <strong>die</strong> Produktivität gekoppelt. Auch<br />

eine unbefristete Stelle, <strong>die</strong> in Amerika einfacher zu haben<br />

ist als in Deutschland, da es mehr Stellen und kein<br />

Habilitationssystem gibt, hängt von der Erfüllung der Leistungskriterien<br />

in Forschung und Lehre ab. Nur wirklich<br />

produktive Professoren bekommen Gehaltserhöhungen.<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

23


Gerald D. Feldman<br />

24<br />

Zudem gibt es, wie jedermann weiß, eine klare Hierarchie<br />

unter den amerikanischen Hochschulinstitutionen, und<br />

wenn es um <strong>die</strong> Einstufungen von Fachbereichen, Colleges<br />

und Hochschulen geht, ist man nicht zimperlich: Die<br />

Konkurrenz ist permanent. Im Jahre 2000 haben <strong>die</strong> Vereinigten<br />

Staaten 2,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> Hochschulbildung veranschlagt; davon stammten nur<br />

34 Prozent aus öffentlichen Etats.<br />

Offensichtlich ist man in Deutschland seit 1945 einen<br />

anderen Weg gegangen. Die alte Ordinarienuniversität<br />

wurde aufrechterhalten, sogar als <strong>die</strong> deutschen Universitäten<br />

seit den 1960er-Jahren zu Massenuniversitäten wurden.<br />

So nahm <strong>die</strong> Zahl der Stu<strong>die</strong>renden enorm zu, ohne<br />

dass <strong>die</strong> Zahl der Professoren vergleichbar erhöht oder der<br />

Mittelbau adäquat erweitert wurde. Nicht nur, dass immer<br />

mehr Studenten in <strong>die</strong> Vorlesungen strömten, auch <strong>die</strong> Seminare<br />

konnten angesichts der überaus hohen Teilnehmerzahl<br />

nicht länger als eigentliche Seminare gelten.<br />

Während einerseits <strong>die</strong> finanziellen Probleme wuchsen,<br />

gab es andererseits keine Stu<strong>die</strong>ngebühren und deshalb<br />

wenig Ansporn <strong>für</strong> Stu<strong>die</strong>rende, ihr Studium zügig<br />

voranzutreiben, es baldmöglichst abzuschließen und erwerbstätig<br />

zu werden. Ein weiterer, oftmals übersehener<br />

Aspekt der fehlenden Stu<strong>die</strong>ngebühren ist, dass Professoren<br />

und andere, <strong>die</strong> eine Lehrtätigkeit ausübten, gegenüber<br />

den Studenten, <strong>die</strong> ihnen anvertraut waren, somit<br />

kein besonderes Verantwortungsgefühl an den Tag<br />

legten, denn schließlich handelte es sich nicht um zahlende<br />

Kunden.<br />

Ferner gab es kein wirkliches Leistungsprinzip, auf das<br />

<strong>die</strong> Universitätsprofessoren oder <strong>die</strong> Universitäten selbst<br />

verpflichtet wurden. Die Gehälterskala basierte eher auf der<br />

Grundlage des Lebensalters oder der Jahre der Lehrtätigkeit<br />

denn auf Leistung. Jede Hochschule oder jeder Fachbereich<br />

wurde als gleichwertig betrachtet, auch wenn <strong>die</strong>s


offenkundig wenig sinnvoll war oder ist. In der Tat galt –<br />

und gilt immer noch – <strong>die</strong> Idee der Einstufung und Bezahlung<br />

nach dem Leistungsprinzip in der deutschen akademischen<br />

Welt als unangemessen. Derartige Auffassungen<br />

werden durch das Ordinariensystem bestärkt, denn<br />

Stu<strong>die</strong>rende, <strong>die</strong> sich habilitieren und endlich eine Stelle<br />

antreten, werden zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt wenig begeistert davon<br />

sein, noch weitere Hürden nehmen zu müssen, um<br />

sich zu beweisen. Ferner hatten bis vor Kurzem alle Professoren<br />

Beamtenstatus, und <strong>die</strong>s, wie allseits bekannt, bedeutet<br />

in Deutschland weitaus mehr als in den USA. Ich<br />

glaube, ich war zeit meines Lebens ein Beamter, habe aber<br />

nie irgendwelche wohlerworbenen Rechte eingefordert, ja<br />

frage mich, ob ich überhaupt solche habe.<br />

Wie wir alle wissen, hat der Ruf nach Hochschulreformen<br />

immer mehr zugenommen, nicht nur in Deutschland,<br />

sondern in ganz Europa. Bestimmt kann man dem<br />

Bologna-Prozess in vielen Aspekten Beifall zollen, insbesondere<br />

den Bemühungen, <strong>die</strong> Qualifikationen zu vereinheitlichen,<br />

gemeinsame Abschlüsse zu entwickeln, <strong>die</strong> einheitliche<br />

Leistungsmaßstäbe widerspiegeln. Dies fördert<br />

ein lebenslanges Lernen und ermöglicht Studenten eine<br />

internationale Ausbildung, unbehelligt von den alten bürokratischen<br />

Hürden.<br />

In Deutschland ist man jedoch besorgt, ob man den<br />

Anforderungen der Globalisierung entsprechen kann, indem<br />

man <strong>die</strong> Kompetenzfähigkeit erhöht, Exzellenz fördert<br />

und <strong>die</strong> Studenten schneller in den Arbeitsmarkt<br />

integriert. In den Debatten richtet sich das Augenmerk<br />

darauf, Fakultäten und Universitäten, <strong>die</strong> ein hohes akademisches<br />

Niveau nachweisen, auszuzeichnen und Bachelor-<br />

und Master-Programme zu schaffen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> alten<br />

Examen und Diplome ersetzen. So können Stu<strong>die</strong>rende<br />

sich früher als üblich um eine Stelle bewerben, und Arbeitgeber<br />

können sichergehen, dass <strong>die</strong> Absolventen gut<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

25


Gerald D. Feldman<br />

26<br />

qualifiziert sind, was sie natürlich ermutigt, Studenten mit<br />

einem Bachelor- oder Master-Abschluss schnell einzustellen.<br />

Besonders wichtig in <strong>die</strong>sem Kontext ist <strong>die</strong> Tatsache,<br />

dass alle Reformbemühungen im Rahmen eines<br />

knappen Staatshaushalts stattfanden und somit permanent<br />

von dem Bestreben geleitet waren, <strong>die</strong> Reformen kostenneutral<br />

zu gestalten.<br />

Es ist kein Geheimnis, dass <strong>die</strong> deutschen Reformer<br />

ihre Reformpolitik fortwährend am Vorbild der Vereinigten<br />

Staaten orientierten. Die Literatur bezieht sich immer<br />

wieder auf <strong>die</strong> USA und auf deren Hochschulwesen. Delegationen<br />

von höheren Beamten, von Parlamentariern aus<br />

Bund und Ländern sowie von Pädagogen besuchen regelmäßig<br />

<strong>die</strong> USA, um sich zu informieren, was aus deren<br />

System übernommen werden kann. Vor Kurzem hat<br />

eine solche Delegation des Bildungsausschusses des Berliner<br />

Abgeordnetenhauses Kalifornien besucht, um sich<br />

einen Überblick über eine Vielzahl von Institutionen zu<br />

verschaffen, einschließlich meiner eigenen Universität,<br />

Stanford, San Francisco State University und noch ein<br />

oder zwei anderer Institutionen. Sie waren alles andere als<br />

lediglich Abgeordnete auf Auslandstour und schienen<br />

recht beunruhigt über <strong>die</strong> Vorwürfe aus dem eigenen<br />

Land, zum Vergnügen nach Kalifornien geflogen zu sein.<br />

Meiner Ansicht nach wäre eine solche Kritik nicht angebracht.<br />

Die Gruppe musste einen rigorosen Zeitplan einhalten,<br />

<strong>die</strong> Abgeordneten arbeiteten hart, stellten intelligente<br />

Fragen und machten sich Gedanken über das, was<br />

sie sahen.<br />

Mein Gefühl sagt mir allerdings, dass sie ihre Beobachtungen<br />

als eher verwirrend empfanden, was mich nicht<br />

überraschen würde. Einerseits erlebten sie einen exotischen<br />

institutionellen Smorgasbord, dazu vorgesehen, von<br />

vielfältigen Gruppen von Studenten aus sehr heterogenen<br />

ethnischen und wirtschaftlichen Milieus in Anspruch ge-


nommen zu werden. Andererseits standen sie – verständlicherweise<br />

– ehrlich ratlos vor der Frage, welche Erfahrungen<br />

denn nun <strong>für</strong> sie relevant und auf deutsche Verhältnisse<br />

übertragbar seien. Die Kommission setzte sich natürlich<br />

aus Mitgliedern mehrerer Parteien zusammen. Die<br />

Linksgerichteten unter ihnen zeigten sich – wenig überraschend<br />

– am meisten besorgt über Aspekte der von ihnen<br />

als unsozial wahrgenommenen Dimension des amerikanischen<br />

Hochschulwesens, vor allem bei den Stu<strong>die</strong>ngebühren.<br />

Gleichzeitig betonten einige Mitglieder der<br />

Kommission immer wieder – nahezu entschuldigend – das<br />

Gewicht, das in Deutschland aufgrund des Wettbewerbs<br />

der Exzellenz zugemessen wird. Deren Förderung war<br />

durch <strong>die</strong> sogenannte Exzellenzinitiative zur Sonderfinanzierung<br />

innovativer wissenschaftlicher Programme zustande<br />

gekommen.<br />

Die Kommissionsmitglieder sagten uns auch, dass <strong>die</strong><br />

Berliner Freie Universität viel eher als <strong>die</strong> Humboldt-Universität<br />

Vorreiter <strong>die</strong>ser Entwicklung wäre. Mich beeindruckte<br />

<strong>die</strong> offensichtlich beachtliche Spannung zwischen<br />

den zwei an den Tag gelegten Positionen: Einerseits der<br />

Vorstellung, man müsse privilegierte Eliteuniversitäten und<br />

Spitzenuniversitäten schaffen, <strong>die</strong> in einer globalisierten<br />

Welt wettbewerbsfähig sein und ausländische Studenten<br />

und <strong>Wissenschaft</strong>ler anziehen könnten, und andererseits<br />

dem Wunsch, das alte egalitäre System aufrechtzuerhalten<br />

und allen den freien oder zumindest, von den Gebühren<br />

her gesehen, erschwinglichen Zugang zu einer Hochschulbildung<br />

zu ermöglichen. Die gemeinsamen Nenner<br />

aller Delegationsmitglieder waren das Budgetproblem und<br />

<strong>die</strong> große Sorge um <strong>die</strong> Kosten.<br />

Nun ist <strong>die</strong> Quadratur des Kreises unmöglich, und ich<br />

glaube nicht, dass man es auch nur versuchen sollte. Ich<br />

halte es <strong>für</strong> sehr wichtig, nicht mit falschen Vorbildern aus<br />

den USA zu operieren, denn <strong>die</strong> sind wenig sinnvoll, wenn<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

27


Gerald D. Feldman<br />

28<br />

man deutsche Verhältnisse betrachtet. Denkt man an Spitzenuniversitäten<br />

wie Harvard, Princeton und Stanford,<br />

dann ist es geradezu absurd anzunehmen, dass <strong>die</strong> deutsche<br />

Universitätsreform in <strong>die</strong>se Richtung gehen könnte<br />

oder sollte. Harvard & Co. sind eher alte Institutionen –<br />

in den Vereinigten Staaten ist nicht alles so neu, wie <strong>die</strong><br />

Europäer sich <strong>die</strong>s manchmal vorstellen –, <strong>die</strong> sich über<br />

<strong>die</strong> Jahre ein enormes Vermögen erworben haben. So besitzt<br />

Harvard einen Stiftungsfonds von fast 27 Milliarden<br />

Dollar, Stanford und Yale haben Stiftungen von etwas weniger<br />

als 14 Milliarden Dollar. Die Stu<strong>die</strong>ngebühren bewegen<br />

sich zwischen 29.000 und 31.000 Dollar pro Jahr.<br />

Auch <strong>die</strong> führenden öffentlichen Universitäten der USA<br />

taugen wenig als Modell. Die University of California setzt<br />

sich aus neun Standorten zusammen, und ein zehnter ist<br />

gerade in Merced eröffnet worden. Berkeley und Los Angeles<br />

sind <strong>die</strong> berühmtesten, doch auch <strong>die</strong> anderen genießen<br />

ein beachtliches Ansehen. An der gesamten University<br />

of California gibt es 200.000 Studenten, von denen<br />

158.000 Undergraduates und über 40.000 Graduates<br />

sind. Berkeley hat 22.800 Undergraduates, also Studenten<br />

ohne Abschluss, und 9.000 mit Abschluss, also Graduates,<br />

Los Angeles 25.000 Undergraduates und mehr als<br />

10.000 Graduates. Die University of California in Los Angeles<br />

(UCLA) hat 7.000 Planstellen und insgesamt 10.400<br />

akademische Stellen. Undergraduates, <strong>die</strong> in Kalifornien<br />

wohnhaft sind, zahlen jährlich 6.800 Dollar Stu<strong>die</strong>ngebühren.<br />

Die Gebühren sollten in <strong>die</strong>sem Jahr erhöht<br />

werden, doch Gouverneur Schwarzenegger hat wegen des<br />

erhöhten Steueraufkommens davon abgesehen. Hochschulabsolventen,<br />

also Graduates, mit Wohnsitz in<br />

Kalifornien zahlen im Schnitt 8.700 Dollar, während auswärtige,<br />

also nicht aus Kalifornien stammende Undergraduates<br />

circa 25.000 Dollar und Graduates etwa 23.000<br />

Dollar pro Jahr zahlen. Man benötigt ein Jahr Aufenthalt


in Kalifornien, um als dort wohnhaft zu gelten; <strong>die</strong>se Bestimmung<br />

gilt jedoch nicht <strong>für</strong> ausländische Stu<strong>die</strong>rende,<br />

denen <strong>die</strong> Gebühren manchmal erlassen werden. Nachdem<br />

der Etat der University of California in den späten<br />

1990er-Jahren wegen der schlechten Wirtschaftslage lange<br />

Zeit gekürzt worden war, ist er im letzten Jahr wieder<br />

angestiegen.<br />

Um der wachsenden Studentenzahl Rechnung zu tragen<br />

und <strong>die</strong> Gehälter auf einem konkurrenzfähigen Niveau<br />

zu halten, ist das Drei-Milliarden-Dollar-Budget <strong>für</strong><br />

das Jahr 2005/06 vor Kurzem um 8,8 Prozent bzw. 234<br />

Millionen Dollar erhöht worden. 213 Millionen Dollar<br />

werden in den neuen Campus in Merced investiert. So<br />

wird in Kalifornien <strong>die</strong> Hochschulbildung offensichtlich<br />

als Wachstumsindustrie betrachtet, <strong>die</strong> permanent immer<br />

stärkerer Unterstützung bedarf. Diese Unterstützung beruht<br />

auf dem allgemeinen Konsens, dass der Staat und sein<br />

Wohlergehen auch davon abhängen, was <strong>die</strong> Universität<br />

leisten kann, und dass <strong>die</strong>se expan<strong>die</strong>ren muss, um leistungsfähig<br />

zu bleiben. Gleichzeitig wird auch von der<br />

Überzeugung ausgegangen, dass Hochschulbildung nicht<br />

kostenfrei zugänglich sein sollte. Ich mag hier nicht kommentieren,<br />

ob <strong>die</strong>s „sozial“ ist oder nicht. Doch man<br />

scheint sich bei uns einig zu sein, dass der Staat Kalifornien<br />

<strong>die</strong> Hochschulbildung zu einem mäßigen Preis<br />

ermöglichen sollte.<br />

Was bekommen <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>renden <strong>für</strong> ihr Geld und<br />

was sind <strong>die</strong> Erwartungen, <strong>die</strong> mit ihrer Ausbildung verbunden<br />

sind? Diese Fragen würde ich gerne beantworten,<br />

indem ich Sie auf <strong>die</strong> derzeitige Website des Fachbereichs<br />

Geschichte an der University of California in Berkeley verweise.<br />

Öffnen Sie <strong>die</strong>se Website, so werden Sie mit einer<br />

Seite unter dem Titel „Generational Transition“ begrüßt,<br />

auf der zwei Abbildungen sind. Die erste zeigt eine Gruppe<br />

von acht Personen, einschließlich mich, bei einem Fest<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

29


Gerald D. Feldman<br />

30<br />

zu Ehren der Emeriti. Ich befinde mich unter ihnen, obwohl<br />

ich erst im nächsten Jahr pensioniert werde; eigentlich<br />

hätte <strong>die</strong> Überschrift „314-Jahre-Gala“ lauten<br />

sollen, mit Bezug auf <strong>die</strong> Gesamtsumme der Jahre, <strong>die</strong> wir<br />

acht Professoren gemeinsam in Berkeley gelehrt haben.<br />

Das zweite Bild repräsentiert acht der zehn vor Kurzem<br />

eingestellten Assistant Professors, <strong>die</strong> zwei nicht abgebildeten<br />

waren noch nicht in Berkeley angekommen. Mit <strong>die</strong>ser<br />

Gegenüberstellung, und <strong>die</strong>s war Sinn und Zweck,<br />

sollten zugleich der Generationswechsel und <strong>die</strong> Kontinuität<br />

des Fachbereichs als auch ein Gemeinschaftsgefühl<br />

ausgedrückt werden. Und damit spiegeln <strong>die</strong>se Bilder<br />

sicherlich eine Universitätskultur wider, <strong>die</strong> sich sehr von<br />

der deutschen und insgesamt von der europäischen unterscheidet.<br />

Man muss allerdings tiefer schürfen, um einen umfassenderen<br />

Einblick in <strong>die</strong> Unterschiede zu gewinnen. Von<br />

den acht hier abgebildeten Senior-Professoren sind zwei<br />

Experten <strong>für</strong> Mitteleuropa, zwei <strong>für</strong> <strong>die</strong> amerikanische<br />

Geschichte im 20. Jahrhundert; einer ist <strong>Wissenschaft</strong>shistoriker<br />

mit Schwerpunkt modernes Frankreich, einer<br />

Spezialist <strong>für</strong> <strong>die</strong> Frühneuzeit Großbritanniens, einer <strong>für</strong><br />

moderne japanische Geschichte, und einer ist ein weltbekannter<br />

Fachmann auf dem Gebiet der chinesischen<br />

Geschichte. Von den acht Assistant Professors ist einer Experte<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> griechische Antike, einer <strong>für</strong> römische und<br />

einer <strong>für</strong> russische Geschichte; drei lehren <strong>die</strong> Geschichte<br />

der Vereinigten Staaten, während einer Lateinamerika<br />

lehrt. Der eine von den zwei Assistant Professors, <strong>die</strong> hier<br />

fehlen, arbeitet auf dem Gebiet der Geschichte Afrikas, der<br />

andere spezialisiert sich auf Südasien.<br />

Dies zeigt, dass <strong>die</strong> Auffassung von Geschichte und Geschichtslehre<br />

in Berkeley und – um <strong>die</strong>s hinzuzufügen, an<br />

anderen großen Universitäten in Amerika –, eine sehr kosmopolitische<br />

ist. Natürlich haben <strong>die</strong> hier aufgeführten


<strong>Wissenschaft</strong>ler ihren Doktor der Philosophie, sie sind der<br />

<strong>für</strong> ihre Forschung relevanten Fremdsprachen kundig und<br />

haben Feldforschung in den Ländern geleistet, <strong>die</strong> ihren<br />

Schwerpunkt bilden.<br />

Hinter <strong>die</strong>ser Abbildung der Assistant Professors stecken<br />

allerdings noch andere Aspekte. Erstens sind einige<br />

von ihnen <strong>die</strong> Nachfolger von Professoren, <strong>die</strong> bereits im<br />

Ruhestand sind, zum Beispiel <strong>die</strong> Historiker der griechischen<br />

und römischen Antike. Auch kann man voraussehen,<br />

dass <strong>die</strong> Senior-Professoren, <strong>die</strong> sich zu <strong>die</strong>ser Zeit<br />

emeritieren, demnächst durch jüngere Assistant Professors<br />

ersetzt werden. Mit anderen Worten, <strong>die</strong> aufgrund der Verabschiedungen<br />

frei gewordenen Stellen werden beibehalten,<br />

solange der Fachbereich insgesamt als effizient und<br />

effektiv gilt.<br />

Zweitens erfolgt <strong>die</strong> Berufung der Assistant Professors<br />

nach rigorosen Kriterien; es wird von ihnen erwartet, dass<br />

sie innerhalb von etwa sechs Jahren zum Associate Professor,<br />

somit zur unbefristeten Anstellung avancieren und<br />

anschließend <strong>die</strong> volle Professur erlangen, wenn sie nach<br />

den Regeln des Fachbereichs genügend veröffentlicht haben<br />

und ihren Lehr- und Verwaltungsverpflichtungen<br />

nachgekommen sind. Für ihre Produktivität können sie<br />

außerdem stete Gehaltserhöhungen erwarten, und es<br />

braucht nicht erwähnt zu werden, dass sich <strong>die</strong>se in ihren<br />

Pensionen niederschlagen werden. Sie haben ein Anrecht<br />

auf Freijahre, unsere Sabbaticals, und verschiedene<br />

Sonderfinanzierungen, Special Grants, <strong>die</strong> ihre wissenschaftliche<br />

Produktivität fördern sollen. Jedoch dürfen <strong>die</strong><br />

Assistant Professors nicht mit den in Deutschland vor Kurzem<br />

eingeführten Juniorprofessoren verwechselt werden.<br />

Drittens werden <strong>die</strong> Assistant Professors, sobald sie ihre<br />

Stelle antreten, mit der Lehre von Undergraduates und<br />

Graduates betraut. Sie halten Vorlesungen und veranstalten<br />

Seminare, letztere sowohl <strong>für</strong> Studenten, <strong>die</strong> den Ba-<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

31


Gerald D. Feldman<br />

32<br />

chelor-Abschluss anstreben, als auch <strong>für</strong> Graduierte, <strong>die</strong><br />

an ihrer Dissertation arbeiten. Sie nehmen Verwaltungsaufgaben<br />

wahr, einschließlich der Mitgliedschaft in Berufungskommissionen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Nachfolger <strong>für</strong> frei gewordene<br />

Professorenstellen bestimmen, so wie <strong>für</strong> meine zum<br />

Ende des nächsten Semesters.<br />

Kurzum: Die Assistant Professors sind mündig von<br />

dem Zeitpunkt an, an welchem sie den Ruf erhalten. Natürlich<br />

sind sie nicht stimmberechtigt, wenn es um ihre<br />

eigene Beförderung geht, doch abgesehen davon haben<br />

sie eine Stimme in den Berufungsverfahren, <strong>die</strong> Kandidaten<br />

von außerhalb der Universität betreffen. Auch in<br />

jeder anderen Hinsicht sind sie voll anerkannte und<br />

gleichberechtigte Mitglieder des Fachbereichs Geschichte,<br />

der einschließlich der Associate oder Full Professors<br />

circa 60 Personen umfasst. Den Assistant Professors stehen<br />

meistens bezahlte Graduate Students als Assistenten<br />

zur Seite, <strong>die</strong> da<strong>für</strong> bezahlt werden, Tests und schriftliche<br />

Prüfungen zu korrigieren und sie in ihrer Forschung<br />

zu unterstützen.<br />

Dem Fachbereich ist daran gelegen, gegenüber den Undergraduates<br />

seinen hohen Stellenwert bezüglich des Programmangebots<br />

und des leichten Zugangs zur Fakultät<br />

nachzuweisen. Gleichzeitig hebt man hervor, dass <strong>die</strong><br />

Promotionsordnung und <strong>die</strong> Promotionsprogramme <strong>für</strong><br />

Historiker zu den drei besten im Land gehören, mit Yale<br />

und Princeton auf Platz eins und zwei. Und natürlich rangieren<br />

wir oberhalb von Harvard. Der Fachbereich hat zudem<br />

seinen Freundeskreis, der jährlich großzügige finanzielle<br />

Zuschüsse gewährt. Allerdings müssen wir noch so<br />

freundliche Freunde finden wie der Fachbereich Politikwissenschaft,<br />

dem <strong>die</strong> zwei Alumni Charles und Louise<br />

Travers zwölf Millionen Dollar zur Finanzierung von Stipen<strong>die</strong>n<br />

<strong>für</strong> Undergraduates und Graduates und zum<br />

Zweck der Anwerbung und Beibehaltung von Fakultäts-


mitgliedern zur Verfügung gestellt haben. Der Fachbereich<br />

trägt nun den Namen der Stifter. Ich möchte hierzu noch<br />

anmerken, dass das Ehepaar Travers auch 5,5 Millionen<br />

Dollar <strong>für</strong> <strong>die</strong> Förderung des Football-Programms gespendet<br />

hat, was Europäern vielleicht etwas befremdlich<br />

anmutet. Den meisten Europäern fällt es ohnehin schwer,<br />

den amerikanischen Football selbst – geschweige denn dessen<br />

Rolle im Kontext der Universitäten – zu durchschauen.<br />

Doch gerade der Football, ein unerlässlicher Faktor des<br />

amerikanischen Fundraisings, ermöglicht den Universitäten<br />

auf effiziente Weise <strong>die</strong> Einwerbung finanzieller Mittel.<br />

Zugleich bestärken <strong>die</strong> regelmäßigen Spiele der Uniteams,<br />

<strong>die</strong> auf den jeweiligen Campus jeden Herbst stattfinden,<br />

<strong>die</strong> Identifikation mit dem College.<br />

Ich persönlich bin sehr dankbar, dass <strong>die</strong> deutsche Regierung<br />

1990 beschloss, <strong>die</strong> Schaffung eines Center of German<br />

and European Stu<strong>die</strong>s in Berkeley mit zehn Millionen<br />

Dollar zu finanzieren. Das Center <strong>die</strong>nt einem akademischen<br />

Kreis von über 300 Professoren und Graduierten<br />

und hat nicht nur in Berkeley, sondern in ganz<br />

Kalifornien das Interesse an deutschen und europäischen<br />

Angelegenheiten angeregt und unterstützt.<br />

Jetzt, wo <strong>die</strong> Gelder der deutschen Regierung aufgebraucht<br />

sind, übernimmt <strong>die</strong> Universität <strong>die</strong> finanzielle<br />

Unterstützung der Infrastruktur des Centers und fördert<br />

viele seiner Programme finanziell weiter. Eine zusätzliche<br />

Finanzierung erfolgt durch Zuschüsse des US Department<br />

of Education mit den sogenannten Title-VI-Stipen<strong>die</strong>n, <strong>die</strong><br />

jährlich 250.000 Dollar betragen. Natürlich müssen wir<br />

uns regelmäßig alle drei Jahre neu da<strong>für</strong> bewerben, und<br />

darüber hinaus wenden wir viel Zeit und Mühe auf, um<br />

Geldmittel aus privaten Quellen aufzutreiben. Besonders<br />

wichtig in <strong>die</strong>ser Hinsicht sind <strong>die</strong> durch den <strong>Stifterverband</strong><br />

verwalteten DaimlerChrysler- und <strong>Deutsche</strong>-Bank-<br />

Fonds. Allerdings ist man heute allgemein besorgt über das<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

33


Gerald D. Feldman<br />

34<br />

geringer werdende amerikanische Interesse an Europa, das<br />

angesichts der wachsenden Bedeutung des Mittleren Ostens,<br />

Südamerikas und Asiens <strong>für</strong> weltwirtschaftliche und<br />

weltpolitische Fragen bereits in relativ hohem Maße eingetreten<br />

ist.<br />

Unser Ziel allerdings war und ist, nicht nur einfach<br />

ein kontinuierliches Interesse, sondern ein lebendiges<br />

Interesse an Europa aufrechtzuerhalten. Ich glaube, in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht können wir schon beachtliche Erfolge verbuchen.<br />

Gleichwohl ist es ernüchternd zu beobachten,<br />

dass andere Fachbereiche und Institute keineswegs untätig<br />

sind. So haben <strong>die</strong> Middle Eastern Stu<strong>die</strong>s weitreichende<br />

Finanzmittel von Saudi-Arabien erhalten und <strong>die</strong><br />

Asian Stu<strong>die</strong>s sind in großzügiger Weise von Taiwan gefördert<br />

worden.<br />

Derartige Entwicklungen sind hinsichtlich der Anwerbung<br />

von Studenten und Fakultätsmitgliedern von<br />

großer Bedeutung, und man befindet sich im permanenten<br />

Wettbewerb um finanzielle Zuwendungen von<br />

außerhalb.<br />

Um <strong>die</strong>s zu betonen, ist Berkeley eine in hohem Maße<br />

wettbewerbsorientierte und anspruchsvolle Institution,<br />

an der es eine Menge Probleme gibt, <strong>die</strong> sich klar unterscheiden<br />

von den Problemen, <strong>die</strong> man hier in Deutschland<br />

hat. Berkeley ist zudem eher außergewöhnlich, eben weil<br />

es eine herausragende Forschungsuniversität ist, wohingegen<br />

sehr viele private und öffentliche Colleges und Universitäten<br />

über bedeutend kleinere Fachbereiche verfügen<br />

und weit weniger günstige Forschungsbedingungen anbieten.<br />

Andererseits gibt es natürlich auch Colleges und<br />

Universitäten, wo Lehre und Forschung noch attraktiver<br />

sind. Insgesamt jedoch hat das System einige Aspekte, <strong>die</strong><br />

von denjenigen, <strong>die</strong> glauben, dass Europa dem amerikanischen<br />

Modell folgen sollte oder könnte, nur ungenügend<br />

verstanden werden.


Nehmen wir zum Beispiel den Bachelor-Abschluss.<br />

Auch wenn das amerikanische Hochschulsystem viele<br />

Variationen aufweist, so basiert es doch ohne Unterschied<br />

auf der Verleihung des Bachelor-Titels, zumeist als<br />

Bachelor of Arts. Dieser Abschluss stellt nicht das Studium<br />

in einem Spezialfach dar, sondern eine Art Allgemeinbildung<br />

über vier Jahre, wobei in den letzten zwei Jahren ein<br />

bestimmtes Spezialfach als Major gewählt wird. Das Vier-<br />

Jahre-Studium ist also in eine Lower Division oder erste<br />

Hälfte und eine Upper Division oder zweite Hälfte eingeteilt.<br />

In den ersten zwei Jahren belegen Stu<strong>die</strong>rende,<br />

Freshmen und Sophomores, Grundlagenkurse, im Schnitt<br />

fünf pro Semester, aus den Bereichen Geistes-, Sozial- und<br />

Naturwissenschaften. In der zweiten Hälfte konzentrieren<br />

sie sich als Juniors und Seniors auf ihr Hauptfach,<br />

ihren Major, belegen aber auch andere Kurse, <strong>die</strong> sie interessieren.<br />

Professoren in Berkeley unterrichten in der Regel unabhängig<br />

von ihrem Rang und ihrem Renommee sowohl<br />

Undergraduates als auch Graduates. Ein typisches Beispiel<br />

ist George Smoot, nicht nur ein renommierter Physikprofessor<br />

und Forscher, sondern auch der <strong>die</strong>sjährige Nobelpreisträger<br />

<strong>für</strong> Physik. Unser Kanzler, der selbst Physiker<br />

ist, porträtierte Smoot, übrigens den zwanzigsten mit dem<br />

Nobelpreis ausgezeichneten <strong>Wissenschaft</strong>ler aus Berkeley,<br />

voller Stolz als „einen engagierten Lehrer in der besten Tradition<br />

der Nobelpreisträger aus Berkeley. Er arbeitet nicht<br />

nur mit Doktoranden, sondern beaufsichtigt auch <strong>die</strong> Forschung<br />

von Undergraduates in seinem Labor. Darüber hinaus<br />

lehrt er Physik 7B, den Einführungskurs <strong>für</strong> Majors<br />

in den Natur- und Ingenieurwissenschaften.“ Nicht unerwähnt<br />

sollte bleiben, dass sich <strong>die</strong> University of California<br />

in Berkeley auch insgesamt 24 Absolventen rühmt, <strong>die</strong><br />

Nobelpreisträger wurden. Einer von ihnen ist Andrew Fire<br />

von der Medical School der Stanford University, der den<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

35


Gerald D. Feldman<br />

36<br />

Nobelpreis <strong>für</strong> Medizin erhalten hat. Fire machte seinen<br />

Bachelor-Abschluss in Berkeley, wo er „nur so zum Spaß“<br />

Mathematik als Hauptfach belegte, bevor er sich anderen<br />

Gebieten zuwandte.<br />

Die Ausbildung der Undergraduates, <strong>die</strong> den Bachelor<br />

anstreben, ist ein integraler Bestandteil der Lehrverpflichtungen<br />

an einer amerikanischen Universität. So haben <strong>die</strong><br />

Stu<strong>die</strong>renden nicht nur <strong>die</strong> Möglichkeit, mit Professoren zu<br />

arbeiten, <strong>die</strong> bahnbrechende Forschung geleistet haben oder<br />

leisten, sondern sie werden auch von den besten Absolventen<br />

bzw. Doktoranden ausgebildet, <strong>die</strong> als Assistenten<br />

<strong>die</strong> Ausbildungsabschnitte oder Seminare leiten. Dabei ist<br />

es besonders wichtig, dass <strong>die</strong>se Veranstaltungen klein gehalten<br />

werden. Die großen Vorlesungen werden immer auch<br />

zusätzlich in kleinere Sektionen bzw. Labors aufgeteilt, <strong>die</strong><br />

<strong>für</strong> Stu<strong>die</strong>rende Pflicht sind. Diese sind auf je 25 bis 30 Teilnehmer<br />

beschränkt, während in den Proseminaren oder höheren<br />

Seminaren nie mehr als 15 Studenten – manchmal<br />

sind es nur fünf oder sechs – teilnehmen dürfen. Ich habe<br />

noch nie Seminare <strong>für</strong> Undergraduates oder Graduates mit<br />

mehr als 15 Teilnehmern gehalten. Mein letztes Undergraduate-Seminar<br />

hatte zehn und mein letztes Doktoranden-<br />

Seminar acht Studenten. Ein sogenanntes Seminar mit 50<br />

oder 60 Teilnehmern ist schon kein Seminar mehr, sondern<br />

meiner Ansicht nach ein Unding.<br />

Somit dürfte nun eindeutig feststehen, dass der amerikanische<br />

Bachelor bzw. der B.A. oder Bachelor-of-Arts-<br />

Abschluss etwas ganz anderes ist als der im Bologna-Programm<br />

und in Deutschland diskutierte. Auch der amerikanische<br />

Master-of-Arts-Abschluss weicht in hohem Maße<br />

von den hiesigen Vorstellungen ab.<br />

Der <strong>Stifterverband</strong> und andere Organisationen sind<br />

sehr bestrebt, Stu<strong>die</strong>renden und künftigen Arbeitgebern<br />

den Bachelor-Abschluss schmackhaft zu machen. Eines der<br />

Dokumente, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Bestrebungen unterstützen, sieht <strong>die</strong>


Sache so: Das Bachelor-/Master-System eröffnet den Stu<strong>die</strong>renden<br />

neue Möglichkeiten <strong>für</strong> eine Kombination attraktiver<br />

Qualifikationen sowie <strong>für</strong> eine flexiblere Verbindung<br />

von Lernen, beruflichen Tätigkeiten und privater Lebensplanung.<br />

Mit dem Bachelor ist ein Stu<strong>die</strong>nabschluss<br />

eingeführt, der bereits nach drei bis vier Jahren zu einem<br />

berufsbefähigenden Abschluss führt, sodass früher als bisher<br />

ein Berufseinstieg möglich ist. Vor allem aber ist <strong>die</strong>ses<br />

Stu<strong>die</strong>nsystem international kompatibel und bildet damit<br />

<strong>die</strong> Grundlage <strong>für</strong> mehr Mobilität im Studium weltweit.<br />

Ich glaube, <strong>die</strong>s ist eine wichtige und vielversprechende<br />

Reaktion auf <strong>die</strong> derzeitigen Probleme in<br />

Deutschland, indem man nämlich <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>ngänge verkürzt,<br />

Stu<strong>die</strong>rende so schnell wie möglich in <strong>die</strong> Erwerbstätigkeit<br />

einbringt, ein international kompatibles Stu<strong>die</strong>nsystem<br />

schafft und Mobilität während des Studiums<br />

ermutigt.<br />

Allerdings werden all <strong>die</strong>se Sachverhalte in den Vereinigten<br />

Staaten sehr anders wahrgenommen als in Europa.<br />

Der amerikanische Bachelor entstammt angloamerikanischen<br />

Vorstellungen von Hochschulbildung, deren<br />

Ziel <strong>die</strong> Allgemeinbildung der Stu<strong>die</strong>renden auf der<br />

Grundlage eines festen Programms von vorgeschriebenen<br />

und individuell ausgewählten Lehrveranstaltungen ist. Es<br />

wird vorausgesetzt, dass Absolventen mit einem Bachelor-Abschluss<br />

in der Lage sein werden, auf den verschiedensten<br />

Gebieten zu arbeiten und ihren Weg im Leben<br />

zu finden. Für eine weiterführende Ausbildung als<br />

Rechtsanwalt, Arzt, Journalist, Lehrer, Sozialarbeiter usw.<br />

setzt man das Studium bis zum Master-Abschluss fort;<br />

will man eine Karriere im akademischen Bereich oder<br />

Spitzenforschung betreiben, so dauert der Stu<strong>die</strong>ngang<br />

bis zum Dr. phil. noch weitere fünf oder sechs Jahre. Den<br />

amerikanischen Arbeitgebern muss man den Bachelor<br />

nicht erst schmackhaft machen; sie organisieren regel-<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

37


Gerald D. Feldman<br />

38<br />

mäßig Job Fairs auf dem Campus von Colleges und Universitäten,<br />

um vielversprechende Seniors, <strong>die</strong> kurz vor<br />

dem Abschluss stehen, <strong>für</strong> ihre Unternehmen anzuwerben.<br />

Sofern keine bestimmten technischen Fertigkeiten<br />

wie in den Ingenieur- oder Chemikerberufen erforderlich<br />

sind, scheinen Arbeitgeber ganz zufrieden damit zu sein,<br />

Bachelor-Studenten einzustellen, <strong>die</strong> Geschichte, Anglistik,<br />

Politische Ökonomie oder eine Fremdsprache als<br />

Hauptfach stu<strong>die</strong>rt haben. Ihr Augenmerk ist nämlich auf<br />

Erwerbstätige gerichtet, <strong>die</strong> Teamarbeit gelernt haben, effizient<br />

kommunizieren und Probleme lösen können und<br />

ansonsten persönlich und intellektuell flexibel sind. So<br />

drängen <strong>die</strong> Hochschulen quasi darauf, dass sich ihre Studenten<br />

gleichsam nach einem Major umsehen – „to shop<br />

around“, sagt man bei uns –, um herauszufinden, welches<br />

Studium ihnen zusagt, und <strong>die</strong> verschiedenen Möglichkeiten<br />

abzuwägen. Im Endeffekt finden <strong>die</strong> meisten<br />

Studenten ihren Weg ohnehin, entweder in den Privatsektor<br />

oder in <strong>die</strong> Graduate School, wo ein weiterführendes<br />

Studium zu Karrieren zumeist in der Rechtswissenschaft<br />

oder Geschäftswelt führt. In <strong>die</strong>sem Sinn hat<br />

der Bachelor-Abschluss vorwiegend mit der persönlichen<br />

Entwicklung, dem Erwachsenwerden und der Trennung<br />

vom Elternhaus zu tun und weniger mit einer Berufsausbildung<br />

an sich oder der Festlegung auf eine bestimmte<br />

Karriere. John Fire, der als Undergraduate Mathematik<br />

aus Spaß an der Sache stu<strong>die</strong>rte, belegt somit<br />

eine weit verbreitete Einstellung, was den Zweck des Bachelor-Abschlusses<br />

betrifft, auch wenn das Endergebnis<br />

in seinem Fall außerordentlich war. „Spaß“ allerdings ist<br />

eindeutig nicht ein Ziel des Bachelor-Studiums, so wie<br />

es in Deutschland aufgefasst wird, wo man den Master-<br />

Abschluss tendenziell nur als eine missliche Verlängerung<br />

des Bachelors ansieht, <strong>die</strong> so schnell wie möglich hinter<br />

sich gebracht werden sollte.


Sind <strong>die</strong> Vereinigten Staaten Vorbild <strong>für</strong> Deutschland<br />

im Bereich des Hochschulwesens? Eine bejahende Antwort<br />

hier beruht mit Sicherheit auf einem Missverständnis<br />

entweder der amerikanischen Kultur des Hochschulwesens<br />

oder der deutschen Kultur der Hochschulbildung<br />

oder beider. Auch wenn es der dringende Wunsch ist,<br />

mehr Privatmittel <strong>für</strong> deutsche Hochschulinstitutionen<br />

zur Verfügung zu haben oder mehr privatfinanzierte<br />

Hochschulen zu errichten, so ist es doch unvorstellbar,<br />

dass in absehbarer Zeit in Deutschland ein bedeutendes,<br />

überwiegend privat gefördertes Hochschulsystem entstehen<br />

könnte.<br />

Ähnlich wird auch <strong>die</strong> Exzellenzinitiative, wie vielversprechend<br />

auch immer sie sein mag, nicht zu Eliteuniversitäten<br />

führen, <strong>die</strong> mit den sogenannten Ivy-League-<br />

Schools oder den großen öffentlichen Universitäten wie in<br />

Berkeley, Los Angeles, Ann Arbor Michigan oder Illinois-<br />

Urbana vergleichbar sind. Zur Schaffung solcher Hochschulen<br />

wären enorme Geldsummen erforderlich. Wichtiger<br />

noch: Solche Hochschulen würden massive Strukturveränderungen<br />

und quasi einen drastischen Wandel in<br />

der Verwaltung voraussetzen. Auch <strong>die</strong> Vorstellung, dass<br />

Deutschland das amerikanische Four Year College duplizieren<br />

sollte oder könnte, wäre absurd. Schließlich entstammt<br />

<strong>die</strong>ses seinem eigenen spezifischen Kontext und<br />

ist <strong>die</strong> Reaktion auf Bedürfnisse und Notwendigkeiten, <strong>die</strong><br />

spezifisch <strong>für</strong> Amerika sind. Die zurzeit entstehenden deutschen<br />

Bachelor- und Master-Abschlüsse stellen hingegen<br />

Reformen dar, <strong>die</strong> ganz anderen Problemen Rechnung zu<br />

tragen versuchen, und werden deshalb ihre ganz anderen<br />

Spezifika haben – und es gibt keinen Grund auf <strong>die</strong>ser<br />

Welt, warum dem nicht so sein sollte. Nur wenn man das<br />

amerikanische Modell in seinem eigenen Kontext versteht,<br />

kann es überhaupt <strong>für</strong> Deutschland und Europa von<br />

irgendeinem Nutzen sein.<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

39


Gerald D. Feldman<br />

40<br />

Nach <strong>die</strong>sen Einwänden stellt sich natürlich <strong>die</strong> Frage,<br />

welche Aspekte des amerikanischen Systems, vorausgesetzt,<br />

sie werden in angemessener Weise übernommen,<br />

denn überhaupt nützlich sind? Der erste Aspekt ist meiner<br />

Meinung nach das Verständnis da<strong>für</strong>, dass Hochschulbildung<br />

ein wesentlicher Wert ist, in den man soviel<br />

wie möglich investieren sollte, weil er der Schlüssel zu erhöhter<br />

Konkurrenzfähigkeit in einer globalen Wirtschaft<br />

ist. Reformen können – und dürfen – nicht kostenneutral<br />

sein, denn Reformprogramme, <strong>die</strong> von fiskalischen Bedenken<br />

und Ängsten geprägt sind, können nur zu neurotischen<br />

Ergebnissen führen. Hochschulreformen können<br />

nicht als gigantische Sparmaßnahme betrachtet werden.<br />

Auch wenn ich über <strong>die</strong> heutige amerikanische Finanzpolitik<br />

keineswegs erfreut bin, so kann man <strong>die</strong>se doch keinesfalls<br />

als das Resultat übermäßiger Investitionen in <strong>die</strong><br />

Hochschulbildung betrachten.<br />

Der zweite Aspekt steht in engem Zusammenhang mit<br />

dem ersten: Die Anzahl der Lehrkräfte muss unbedingt erhöht<br />

werden, damit <strong>die</strong> Anzahl der Seminarteilnehmer verkleinert<br />

werden kann. Dann können sich <strong>die</strong> Dozenten<br />

ihren Studenten auch intensiver widmen. Die Ordinarienuniversität<br />

hat ausge<strong>die</strong>nt, und es gibt keinen Grund,<br />

<strong>die</strong> Habilitationsordnung beizubehalten. Allerdings muss<br />

dann das Leistungsprinzip Voraussetzung von Berufungen<br />

und Gehältern werden, und Leistung muss wirklich belohnt<br />

werden. Es ist erschütternd zu sehen, dass promovierte<br />

Frauen und Männer, <strong>die</strong> eine Universitätslaufbahn<br />

einschlagen und bereits lehren, immer noch nicht mündig<br />

sind. Dies ist in der Tat entwürdigend. Noch schlimmer<br />

ist es, wenn Akademiker nach vielen Jahren Studium<br />

und großen Investitionen aufseiten des Staates und der<br />

Gesellschaft über Jahre hinweg keine Chance auf eine feste<br />

Anstellung haben. Ich glaube einfach nicht, dass <strong>die</strong> sogenannten<br />

Juniorprofessuren <strong>die</strong> Lösung <strong>die</strong>ses Problems


sind, und meiner Meinung nach ist <strong>die</strong> neu eingeführte Besoldungsordnung<br />

nahezu grotesk. Nicht nur, dass sie jeden<br />

entmutigt, der eine akademische Laufbahn erwägt,<br />

sondern sie sieht auch nicht vor, dass leistungsbasierte<br />

Gehaltserhöhungen den späteren Pensionen angerechnet<br />

werden. Wenn es überhaupt ein Beispiel <strong>für</strong> eine Universitätsreform<br />

als Sparmaßnahme gibt, dann ist es <strong>die</strong>se Reform!<br />

Hier sollte man unbedingt von dem amerikanischen<br />

Modell lernen.<br />

Allgemein gesehen sollte man auch noch etwas anderes<br />

vom amerikanischen Beispiel lernen: Man sollte in<br />

Deutschland zumindest versuchen, den Stu<strong>die</strong>renden das<br />

Gefühl zu vermitteln, dass Experimentieren erlaubt ist,<br />

dass sie <strong>die</strong> Möglichkeit haben, verschiedene Fächer zu<br />

wählen und auszuprobieren, dass sie sich auch noch zu<br />

einem späteren Zeitpunkt auf einen bestimmten Stu<strong>die</strong>ngang<br />

festlegen und eine bestimmte Richtung einschlagen<br />

können.<br />

Hochschulstudenten sowohl in Deutschland als auch<br />

in Amerika sind bereits in genügend Angst um ihr Studium,<br />

ohne dass man noch einen weiteren Anlass zur Sorge<br />

hinzufügen sollte. Ich glaube nicht, dass wir mit all <strong>die</strong>sen<br />

Zwängen und Regulierungen Kreativität und Imagination<br />

fördern können – und schließlich sind <strong>die</strong>s doch<br />

<strong>die</strong> Eigenschaften, <strong>die</strong> wir am stärksten fördern wollen! In<br />

<strong>die</strong>ser Hinsicht frage ich mich doch, ob das amerikanische<br />

Modell, wesentlich höhere Mittel in <strong>die</strong> universitäre Forschung<br />

und Lehre zu investieren, in der Tat nicht ein wichtiges<br />

Instrument ist, um <strong>die</strong> Hochschulen selbst aufzuwerten<br />

und ihre Lage als Institutionen der <strong>Wissenschaft</strong><br />

und Lehre aufzubessern. So ketzerisch <strong>die</strong>ser Vorschlag<br />

auch klingen mag, ich würde vielleicht doch nahelegen,<br />

dass ein Teil der Finanzmittel und der bevorzugten Förderung,<br />

<strong>die</strong> den Max-Planck-Instituten zugedacht werden,<br />

mit größerem Nutzen den Hochschulen zugeeignet wer-<br />

Amerika – unser Vorbild?<br />

41


Gerald D. Feldman<br />

42<br />

den sollte. Somit könnte <strong>die</strong> Herausbildung von Elite-Institutionen<br />

ein gutes Stück weiter befördert werden.<br />

Über eines sollten wir uns alle Gedanken machen:<br />

nämlich <strong>die</strong> massive Verschlechterung der Bildung und<br />

Ausbildung an den Schulen, bereits bevor <strong>die</strong> Jugendlichen<br />

an <strong>die</strong> Universität kommen. Das ist ein ganz großes Problem<br />

in den USA, aber ich habe mir sagen lassen, dass es<br />

auch in Deutschland deutlich schlimmer geworden ist. Die<br />

Frage, ob unsere Stu<strong>die</strong>renden tatsächlich überhaupt vorbereitet<br />

sind auf <strong>die</strong> Hochschulbildung, <strong>die</strong> wir <strong>für</strong> sie zu<br />

gestalten versuchen, müssen wir uns ebenfalls stellen.


Amerika – unser Vorbild?<br />

43


44<br />

sinn<br />

stifter<br />

2007


Der Atem des Lebens<br />

Macht und Ohnmacht der Sprache<br />

Von Andrei Ples¸u<br />

Friedrich II. von Hohenstaufen soll – von dem<br />

Wunsch beseelt, <strong>die</strong> „Ursprache“ der Menschheit auf<br />

experimentelle Weise wiederzufinden – befohlen haben,<br />

zwei Neugeborene von jeglichem sprachlichen Stimulus<br />

und von jedem Kontakt zum menschlichen<br />

Sprachbereich zu isolieren. Die beiden Kinder wurden<br />

folglich zwar ausgezeichnet gepflegt, doch niemand richtete<br />

ein Wort an sie, und niemand sprach in ihrer Umgebung.<br />

Die beiden „Subjekte“, so hoffte der Kaiser, würden<br />

– angetrieben durch das angeborene Bedürfnis nach<br />

Kommunikation und ohne jedes äußere linguistische Modell<br />

– spontan beginnen, sich in der Ursprache der Zeit<br />

vor dem Turm zu Babel zu unterhalten. Doch trotz genauestens<br />

überprüfter guter körperlicher Verfassung und<br />

einer echt prinzenhaften physiologischen Versorgung verstarben<br />

<strong>die</strong> beiden Kinder nach nur wenigen Jahren, verloren<br />

in einem Abgrund der Stummheit. Friedrich II. hat<br />

folglich nichts über <strong>die</strong> Ursprache in Erfahrung bringen<br />

können. Doch er erfuhr – zu einem Preis, den nur Kaiser<br />

zahlen können – etwas viel Wichtigeres: Dass das Sprechen<br />

kein Anhang des Menschlichen ist, kein nebensächliches<br />

Teil in seinem biologischen und sozialen<br />

Haushalt. Das Sprechen ist <strong>für</strong> den Menschen eine Realität<br />

desselben Ranges wie Nahrung und Luft – und es ist<br />

als solches lebensnotwendig. Beim Sprechen geht es nicht<br />

um eine einfache „Kommunikations“-Übung, wie ein<br />

beachtlicher Teil der modernen Linguistik geneigt ist anzunehmen.<br />

Sprechen bedeutet, deinen Gesprächspartner<br />

aufzubauen oder zu vergiften.<br />

Das Wort ist kein Nebenphänomen des Lebens und<br />

der Intelligenz. Im Gegenteil – es ist <strong>die</strong> Quelle der beiden,<br />

ihr Lebensrhythmus, kurz gesagt, ihr Atem. Zwischen<br />

dem Hauch des Geistes, der Beseelung des Lebens<br />

45


Andrei Ples¸u<br />

46<br />

und dem Geist des Wortes herrscht folglich eine völlige<br />

Übereinstimmung. Lebendig sein und der Sprache mächtig<br />

sein sind zwei simultane Wirkungen derselben Ursache.<br />

Auf menschlicher Ebene gibt es kein „Leben ohne<br />

Wort“ und kein „Wort ohne Leben“. Diese konstitutive<br />

Identität zwischen Mensch und Sprache ist nicht bloß<br />

eine Metapher, sofern wir sie selbst im Lager der strengsten<br />

Philologie vorfinden. Das ist zum Beispiel <strong>die</strong> Meinung<br />

von Émile Benveniste: „Wir treffen den Menschen<br />

nie als von der Sprache getrennt an, und wir sehen ihn<br />

nie sie erfinden (…) Was wir finden, ist immer ein sprechender<br />

Mensch, ein Mensch, der zu einem anderen Menschen<br />

spricht, sodass <strong>die</strong> Sprache uns über <strong>die</strong> Definition<br />

selbst des Menschen lehrt.“ Von der Schicksalsgemeinschaft<br />

zwischen menschlicher Spezies und der Macht des<br />

Wortes konnte ein Schritt weiter gegangen werden, und<br />

zwar zur Behauptung, dass <strong>die</strong> Sprache wichtiger als der<br />

Sprecher ist. Hier kann man zur Veranschaulichung auf<br />

ein Fragment aus Heidegger kaum verzichten: „Der<br />

Mensch gebärdet sich, als sei er Bildner und Meister der<br />

Sprache, während doch sie Herrin des Menschen bleibt.<br />

Wenn <strong>die</strong>ses Herrschaftsverhältnis sich umkehrt, dann<br />

verfällt der Mensch auf seltsame Machenschaften. Die<br />

Sprache wird zum Mittel des Ausdrucks. Als Ausdruck<br />

kann <strong>die</strong> Sprache zum bloßen Druckmittel herabsinken<br />

(… ) Eigentlich spricht <strong>die</strong> Sprache. Der Mensch spricht<br />

erst und nur, insofern er der Sprache entspricht, indem<br />

er auf ihren Zuspruch hört.“ Das würde heißen, dass <strong>die</strong><br />

Sprache über dem Sprechen steht und dass jedes Wort<br />

über eine autonome Energie verfügt, <strong>die</strong> unabhängig von<br />

seinem philologischen Wesen und von seiner „Bedeutung“<br />

aktiv ist. Ohne <strong>die</strong>se effiziente Energie würde <strong>die</strong><br />

Lyrik der Welt – um nur ein Beispiel aufzugreifen – nichts<br />

weiter als eine eisige Wüste sein, ein Gebiet der strikten<br />

Information. Merleau-Ponty kann mit guten Recht be-


haupten, dass „<strong>die</strong> Sprache in einem gewissen Sinne der<br />

Bedeutung den Rücken kehrt“ und dass den Phonologen<br />

das Ver<strong>die</strong>nst zusteht, <strong>die</strong>ses „sublinguistische“ (oder supralinguistische?)<br />

Leben der Sprache erahnt zu haben.<br />

Die Macht des Wortes ist umfassender als sein linguistischer<br />

Wert – sie ist translinguistisch. Das Wort ist nicht<br />

nur signifikant, sondern auch erbaulich und stärkend. Es<br />

kann das Unkommunizierbare kommunizieren, eine Tatsache,<br />

<strong>die</strong> von der Forschung eher selten berücksichtigt<br />

wird, aber von den Schriftstellern aller Zeiten als eine<br />

Offenkundigkeit.<br />

Mit solchen Betrachtungen betreten wir ein Gebiet,<br />

das vor allem im deutschen Raum eine spektakuläre Geschichte<br />

hat. Von Jakob Böhme zu Franz von Baader, von<br />

Friedrich Schlegel und Wilhelm von Humboldt bis hin zu<br />

Walter Benjamin ist <strong>die</strong> „Magie“ der Sprache ein konstantes<br />

Thema, das mal auf metaphysischer Ebene, mal<br />

auf künstlerischer Ebene umgesetzt wird. Dasselbe Thema<br />

ist umfassend präsent auch im außereuropäischen<br />

Raum: in der linguistischen Theorie der Kabbala, dem<br />

Zen-Buddhismus, in den Sufi- oder Tantra-Techniken zur<br />

Verwendung der spirituellen Energie von bestimmten<br />

Buchstaben und Silben.<br />

Der zeitgenössische Mensch ist weit entfernt von <strong>die</strong>ser<br />

Art Verständnis der translinguistischen Tugenden der<br />

Sprache. Überlebt haben nur einige verschwommene Aberglauben<br />

betreffend <strong>die</strong> Verwendung „Unglück bringender“<br />

Termini. Sie werden wohl selber beobachtet haben, welche<br />

Kunstgriffe manchmal angewendet werden, um das<br />

Wort „Tod“ zu vermeiden. Es reicht aus, <strong>die</strong> lexikalischen<br />

Ticks der Todesanzeigen oder <strong>die</strong> pittoresken Ausweichmanöver<br />

des Argot zu analysieren, um zu bemerken, auf<br />

welche Weise <strong>die</strong> Sprache sogar in unseren Tagen verwendet<br />

werden kann, um das „böse Omen“ fernzuhalten.<br />

Jede Formulierung ist willkommen, um <strong>die</strong> Unheil ver-<br />

Der Atem des Lebens<br />

47


Andrei Ples¸u<br />

48<br />

kündende Präsenz des Wortes „sterben“ zu „sabotieren“:<br />

vom solennen Euphemismus (das Zeitliche segnen, <strong>die</strong><br />

letzte Reise antreten, einschlafen, von uns gehen, ins Jenseits<br />

kommen, verabschieden, <strong>die</strong>se Welt verlassen usw.)<br />

bis hin zur zynischen Verspottung (<strong>die</strong> Ra<strong>die</strong>schen von unten<br />

sehen, den Löffel abgeben, den Schirm zumachen, Harfe<br />

und Flügel fassen, sich steuerfrei machen, ein Stockwerk<br />

tiefer fahren, <strong>die</strong> Augen auf Null haben, den Holzpyjama<br />

anziehen, in <strong>die</strong> Kiste springen usw.).<br />

Aus dem, was wir bisher gehört haben, lässt sich ableiten,<br />

dass <strong>die</strong> Macht des Wortes sich auf zwei entscheidende<br />

Annahmen stützt. 1: Das Wort ist nicht einfach ein<br />

Werkzeug des Menschen, sondern es ist Teil seines Wesens,<br />

und 2: Es hat ein weitaus umfassenderes Aktionsfeld<br />

als das der einfachen Kommunikation. „Wir können <strong>die</strong><br />

Wörter benützen“, schreibt George Steiner, „um zu beten,<br />

zu segnen, zu heilen, zu töten, zu verstümmeln und zu foltern.<br />

Der Mensch schafft – und zerstört – durch Vermittlung<br />

der Sprache (…) Die autonome Macht des menschlichen<br />

Sprechens hat keinerlei Grenze.“ Wir sprechen demnach<br />

nicht nur, um unsere Gedanken auszudrücken. Wir<br />

sprechen oft – so wie Talleyrand <strong>die</strong>s formulierte –, um unsere<br />

Gedanken zu verbergen. Kierkegaard ging noch weiter:<br />

Wir sprechen oft, um <strong>die</strong> Tatsache zu verbergen, dass<br />

wir nicht denken.<br />

Wenn Sprache und Sprechen eine solche Macht haben,<br />

dann haben jene, <strong>die</strong> sie benützen, eine enorme Verantwortung.<br />

Kurz vor seinem Tod sagte Sokrates zu seinem<br />

Freund Kriton: „Das schlechte Verwenden der Wörter<br />

ist nicht bloß ein Sprachfehler, sondern eine Art und<br />

Weise, den Seelen Böses anzutun.“ (Phaidon, 115, e.)<br />

Nachlässig oder inkorrekt sprechen, keine Aufmerksamkeit<br />

der Genauigkeit der Wörter schenken, der Expressivität<br />

zulasten der Klarheit Vorrang geben und Klarheit<br />

unter Verachtung der Expressivität suchen – das sind


ebenso viele Modalitäten, ein gefährliches Toxin in das<br />

Umfeld einzubringen, in dem man sich bewegt. Der gute<br />

Geschmack wird gestört, der Anstand beleidigt, <strong>die</strong><br />

natürliche Ordnung der Dinge durcheinandergebracht<br />

und <strong>die</strong> Seele verunstaltet.<br />

Der Anspruch auf eine gute Verwendung der Sprache<br />

richtet sich vor allem an <strong>die</strong> Menschen und Institutionen,<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> das Sprechen ein Beruf ist: an <strong>die</strong> Presse in allen<br />

ihren Varianten, <strong>die</strong> Schule auf all ihren Ebenen, an <strong>die</strong><br />

Schriftsteller und Politiker. Das sind <strong>die</strong> „Kategorien“, <strong>die</strong><br />

Vorbilder schaffen. Aus <strong>die</strong>ser Ecke werden gültige und<br />

taugliche Kriterien <strong>für</strong> einen Lebensstil und ein menschenwürdiges<br />

Zusammenleben erwartet. Der Parlamentarier,<br />

der eine Rede hält, übermittelt nicht nur eine politische<br />

Botschaft, konterkariert nicht nur <strong>die</strong> Meinung eines<br />

Gegners – er bietet seiner Zuhörerschaft eine „manière<br />

d’être“ an, ein gewisses Verhaltens-Design, ein globales Gefühl<br />

der öffentlichen Ordnung und Werte.<br />

„Was würdest du als Erstes tun, wenn man dich mit<br />

den Regierungsgeschäften beauftragen würde?“, wurde einmal<br />

Konfuzius gefragt. Die Antwort lautete folgendermaßen:<br />

„Das Wesentliche ist, <strong>die</strong> Dinge korrekt zu benennen.<br />

Wenn <strong>die</strong> Bezeichnungen nicht korrekt sind, passen <strong>die</strong><br />

Wörter nicht mehr. Wenn <strong>die</strong> Wörter nicht mehr passen,<br />

gehen <strong>die</strong> Staatsgeschäfte schlecht. Wenn <strong>die</strong> Staatsgeschäfte<br />

schlecht gehen, können auch Rituale und Musik<br />

nicht gedeihen. Wenn Rituale und Musik nicht gedeihen<br />

können, sind Urteile und Strafen nicht länger gerecht.<br />

Wenn Urteile nicht mehr gerecht sind, weiß das Volk nicht<br />

mehr, wie es sich verhalten soll.“<br />

Wenn also <strong>die</strong> gemeinschaftliche Ordnung in solchem<br />

Maße von der Korrektheit der Sprache abhängig ist, bedeutet<br />

<strong>die</strong>s, dass erste und oberste Pflicht einer echten Regierung<br />

in der adäquaten Verwendung der Wörter besteht.<br />

Folglich, meine Damen und Herren, jedesmal, wenn Sie<br />

Der Atem des Lebens<br />

49


Andrei Ples¸u<br />

50<br />

in <strong>die</strong>sem Gebäude das Wort ergreifen, greifen Sie in <strong>die</strong><br />

intimste Struktur Ihrer Nation und Ihres Staates ein. Mit<br />

jedem gesprochenen Satz entscheiden Sie indirekt über <strong>die</strong><br />

Sprache, über <strong>die</strong> juristischen Grundlagen, über <strong>die</strong> Rituale<br />

und über <strong>die</strong> Künste. Sie sind – in jedem Augenblick<br />

– Gesetzesgeber, Sprachschöpfer, Pädagogen, Moralisten<br />

und Ästheten. Ich gebe zu, das ist eine enorme Belastung.<br />

Man kann einfach nicht das ganze Mandat lang Konfuzius<br />

sein …<br />

Die Tugenden und <strong>die</strong> ausstrahlende Macht der Sprache<br />

haben jedoch auch eine Kehrseite, und <strong>die</strong>se resultiert<br />

aus rhetorischem Missbrauch, ideologischer Missbildung,<br />

lexikaler Armut, grammatikalischem Primitivismus,<br />

schlechtem Geschmack und Falschheit. Es gibt Phänomene<br />

der Vergewaltigung der Sprache, der Amputierung<br />

ihrer Energie oder der abweichenden, manipulierenden<br />

Verwendung ihrer Ressourcen. Mit anderen Worten, der<br />

Sprache bleiben manchmal – öfter sogar, als uns lieb ist –<br />

Episoden der Machtlosigkeit, der Ohnmacht oder des Deliriums<br />

nicht erspart.<br />

Manchmal handelt es sich dabei um eher ungefährliche<br />

Mängel, <strong>die</strong> sei es <strong>die</strong> unzureichende Bildung, sei<br />

es <strong>die</strong> disharmonische Psychologie des Sprechers widerspiegeln.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Kategorie gehören konfuser, schwülstiger<br />

oder banaler Stil, Wortschwall und Bombastik, Sensationalismus,<br />

polemischer Exzess, Vulgarität, Übertreibung,<br />

grobianische Parteiergreifung, das Ersetzen des<br />

Sprechens durch leeres Gerede, Agrammatismus usw.<br />

Ernster und gefährlicher sind <strong>die</strong> bewusst destruktive<br />

Nutzung der Sprache, ihre politische Pathologie und ihre<br />

unmenschliche Instrumentalisierung. Wir sprechen in<br />

<strong>die</strong>sem Fall über den propagandistischen Missbrauch, der<br />

Desinformation, Lüge und Indoktrination miteinander<br />

verbindet. Wir sprechen über Brainwashing, Manipulation<br />

und psychischen Terror. Für jemand, der wie ich aus


dem europäischen Osten kommt, heißt all <strong>die</strong>s „hölzerne<br />

Sprache“. Ich gehe nicht ins Detail bei <strong>die</strong>sem bereits<br />

von einer umfangreichen Bibliografie abgedeckten Thema.<br />

Ich begnüge mich damit, Ihnen zu sagen, dass ganze<br />

Generationen seelisch und intellektuell verkrüppelt<br />

worden sind durch eine barbarische linguistische Formel,<br />

gebildet aus Stereotypien, manichäistischem Militantismus,<br />

aggressiven Hyperbeln, imperativem Ton und Redeschwulst.<br />

Die hölzerne Sprache ist ein Gemisch aus Armut<br />

und Redseligkeit. Eine Statistik belegt, dass <strong>die</strong> Sprache<br />

der sowjetischen Presse, <strong>die</strong> zur Erziehung des „neuen<br />

Menschen“ berufen war, nur 1.500 von insgesamt<br />

220.000 im Wörterbuch der russischen Sprache verzeichneten<br />

Wörtern verwendete. („Die russische Sprache<br />

ist heute eine Fremdsprache. Die Alltagssprache ist ein<br />

Gemisch aus dem Argot der Halbwelt und offiziellen Klischees“,<br />

schrieb Ernst Neizvestnii 1981). Viktor Klemperer<br />

spricht über <strong>die</strong> Unterjochung und Vergiftung der<br />

normalen deutschen Sprache zur Zeit des Dritten Reiches.<br />

Orwell hatte demzufolge Recht, eine enge Verbindung<br />

zwischen dem Verfall der Sprache und der Monstrosität<br />

einer jeden Diktatur zu sehen. Wir finden äquivalente<br />

Missbildungen im Nazi-Diskurs, im kommunistischen<br />

Diskurs und, bis zu einem Punkt, in einer<br />

gewissen Demagogie der Französischen Revolution. Es<br />

gibt eine Holzsprache des Maoismus, eine der westeuropäischen<br />

intellektuellen Linken und eine der rechtsextremen<br />

Xenophobien. Mit den von den beiden großen<br />

Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts hervorgerufenen<br />

linguistischen Desastern lässt sich sicherlich<br />

nichts vergleichen. Es schadet aber nicht, besondere Vorsicht<br />

walten zu lassen bei den bereits „holzigen“ Komponenten<br />

des EU-Diskurses (Integration, Triumphalismus,<br />

Antiamerikanismus), des „liberalen Fundamentalismus“<br />

– wie John Gray ihn nennt – der Säkularisa-<br />

Der Atem des Lebens<br />

51


Andrei Ples¸u<br />

52<br />

tion, des missionarischen amerikanischen Ethizismus,<br />

des Ökologismus, des Macho-Konservatismus und der<br />

Homo-Emanzipation. Durch <strong>die</strong> eigennützige Ausbeutung<br />

der Sprache kann jede Idee zu einem anämischen<br />

Schema, zum voraussehbaren Kunstgriff eines Dogmas<br />

reduziert werden. Jeder Sprecher ist ein potenzieller Manipulator<br />

seines Gesprächpartners. Jeder Diskurs ist ein<br />

Akt der Verführung – mit all den Risiken, <strong>die</strong> solch ein<br />

Akt voraussetzt. Und das vor allem in einer Epoche, in<br />

der Gott allem Anschein nach als Einziger das Schweigen<br />

gewählt hat.<br />

Die Holzsprache und das politische Regime, das sie repräsentiert,<br />

können ihrerseits einzig und allein durch <strong>die</strong><br />

Sprache, durch <strong>die</strong> subversiven Tugenden des widerstandsfähigen<br />

Wortes geheilt werden. Václav Havel sagte<br />

1989 in einer Rede, <strong>die</strong> er bei der Verleihung des Friedenspreises<br />

des deutschen Buchhandels nicht hatte halten<br />

dürfen: „Ich lebe in einem System, in dem Worte es vermögen,<br />

das ganze Regierungswesen zu erschüttern, in dem<br />

Worte sich als mächtiger erweisen können als zehn militärische<br />

Divisionen.“<br />

Es gibt, wie wir gesehen haben, mehrere Modalitäten,<br />

wie man durch und über <strong>die</strong> Sprache erkranken kann. So<br />

wie es mehrere Wege gibt, sich durch <strong>die</strong> Sprache zu retten.<br />

Für eine umfassende Inventur der klinischen Symptome<br />

und heilenden Rezepturen reicht <strong>die</strong> Zeit nicht aus.<br />

Ich beschränke mich auf drei zeitgenössische Dysfunktionen<br />

in ihrer Wechselfunktion mit drei möglichen Behandlungen.<br />

1.<br />

Wir leiden auf planetarischer Ebene an einer Inflation der<br />

Wörter. Es wird enorm viel geredet. Zu Vorträgen, Konferenzen<br />

und über das Fernsehen übertragenen Debatten<br />

kommt heute das gesamte Arsenal der neuesten Tech-


nologien hinzu: Internet und Mobilfunk in erster Reihe.<br />

Weil man von überall mit jedermann sprechen kann, tut<br />

man das auch. Die Mußezeit, <strong>die</strong> einem das Warten auf<br />

den Zug oder das Flugzeug bietet, eine lange Autofahrt,<br />

ein Waldspaziergang oder eine Kaffeepause werden nicht<br />

mehr als willkommene Gelegenheit zur Kontemplation<br />

genutzt. Lektüre, solitäre Reflexion oder das reine<br />

Schweigen haben ihre Attraktivität völlig eingebüßt. Das<br />

Urwort ist in unzählige Fragmente zerborsten: Das Wort<br />

wird von Wörtern verborgen. Weil wir zu viel sprechen,<br />

haben wir begonnen, schlecht zu hören, und haben das<br />

Sehen verlernt. Nicht immer war das so. Und es ist auch<br />

nicht überall so. Dazu sagt Claude Lévi-Strauss in Kapitel<br />

IV der Strukturellen Anthropologie: „Unsere Zivilisation<br />

behandelt <strong>die</strong> Sprache in einer Weise, <strong>die</strong> der fehlenden<br />

Mäßigung bezichtigt werden kann: Wir sprechen<br />

immer, jeder Vorwand ist willkommen, um uns auszudrücken,<br />

um zu fragen, zu kommentieren (…) Diese Art,<br />

<strong>die</strong> Sprache zu missbrauchen, ist nicht universell, sie ist<br />

nicht einmal häufig. Die meisten Kulturen, <strong>die</strong> wir als<br />

primitiv bezeichnen, sind geizig in der Verwendung der<br />

Sprache. Man redet nicht wannauchimmer und im Zusammenhang<br />

mit wasauchimmer. Die sprachlichen Manifestationen<br />

sind in <strong>die</strong>sen Kulturen oftmals auf sehr genaue<br />

Umstände begrenzt, außerhalb deren <strong>die</strong> Wörter geschont<br />

werden.“<br />

Die verbale Askese, <strong>die</strong> restaurierende Disziplin des<br />

Schweigens, der hygienische Rückzug aus dem inkontinenten<br />

Fluss des alltäglichen Geschwätzes könnte uns<br />

möglicherweise helfen, <strong>die</strong> ursprüngliche Frischheit des<br />

Ausdrucks, den wahren Wert eines jeden gesprochenen<br />

Wortes wiederzufinden. Wir werden also schweigen, sei<br />

es um das Unaussprechliche nicht zu verunreinigen (das<br />

ist der Vorschlag von Wittgenstein: „Wovon man nicht<br />

sprechen kann, darüber muss man schweigen.“), sei es um<br />

Der Atem des Lebens<br />

53


Andrei Ples¸u<br />

54<br />

den Zauber der Dinge nicht zu vermindern durch <strong>die</strong> Präzision<br />

ihrer Benennung (wie an einer Stelle bei Rilke, <strong>die</strong><br />

ich mit größtem Vergnügen in Erinnerung rufen möchte:<br />

„Ich <strong>für</strong>chte mich so vor der Menschen Wort, / Sie sprechen<br />

alles so deutlich aus: / Und <strong>die</strong>ses heißt Hund und<br />

<strong>die</strong>ses heißt Haus, / und hier ist Beginn und das Ende ist<br />

dort, / (…) sie wissen alles, was wird und war; / kein Berg<br />

ist ihnen mehr wunderbar.“).<br />

2.<br />

Eine zweite Bedrohung unserer zeitgenössischen Welt ist<br />

– so seltsam es auch scheinen mag – der Monolinguismus,<br />

<strong>die</strong> provinzielle Einkapselung im eigenen<br />

Idiom, <strong>die</strong> Verweigerung der linguistischen Andersartigkeit.<br />

Es ist das, was ich als das Erbe des Turms zu Babel<br />

bezeichnen würde. Statt zu vereinen, entzweit <strong>die</strong><br />

Sprache. Von stumpfsinnigen lexikalen Barrieren getrennt<br />

und vom Ehrgeiz der nationalen Sprache verwirrt, hinken<br />

<strong>die</strong> Menschen dem Zeitgeist hinterher und definieren<br />

sich durch ihre Ressentiments dem Ehrgeiz der anderen<br />

gegenüber. Eine Stadt – wo immer sie auch liegen<br />

mag –, in der sich der Sprecher von zwei-drei Weltsprachen<br />

mit niemand verständigen kann – es sei denn durch<br />

Zeichen –, ist zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt der Geschichte eine<br />

tote Stadt. Solche Städte gibt es, manche sogar im Herzen<br />

von Europa.<br />

Als Beispiel <strong>für</strong> den unsinnigen Monolinguismus bieten<br />

sich, aus meiner Sicht, all jene Länder an, in denen<br />

alle ausländischen Filme in der lokalen Sprache synchronisiert<br />

werden. Ausgehend vermutlich von der Voraussetzung<br />

eines verallgemeinerten Analphabetismus<br />

oder von der fraglichen Notwendigkeit, dem Publikum <strong>die</strong><br />

Anstrengung einer minimalen Untertitelung zu ersparen,<br />

beseitigt der Filmvertrieb gnadenlos einen wesentlichen<br />

Teil der Kunst des Schauspielers. Robert de Niro und Ju-


lia Roberts, Louis de Funès und Marcello Mastroianni<br />

sprechen mal Türkisch, mal Ungarisch, mal Deutsch. Dadurch<br />

wird ein Markenzeichen ihres Talents, ihr berufliches<br />

Können, das Geheimnisvolle ihrer Stimme und <strong>die</strong><br />

sonore Atmosphäre ihrer Interpretation durch zweitrangige,<br />

unpersönliche Leistungen ersetzt.<br />

Ein paradoxer Fall von Monolinguismus ist <strong>die</strong><br />

universelle Verbreitung der englischen Sprache. Ich kann<br />

nicht umhin, eine Spur von Mitleid <strong>für</strong> <strong>die</strong> britischen,<br />

kanadischen, US-amerikanischen und australischen Bürger<br />

zu empfinden, <strong>die</strong> – um in der weiten Welt zurechtzukommen<br />

– ihren linguistischen Raum gar nicht verlassen<br />

müssen. Es ist <strong>die</strong>s eine Verdammnis zur Monotonie,<br />

zur Überheblichkeit und kulturellen Armut. Kommunizieren<br />

zu können, ohne Anstrengung, ohne Risiko<br />

und ohne <strong>die</strong> – bereichernde – Herausforderung eines<br />

fremden verbalen Kleids, ist eine Modalität, Allgegenwärtigkeit<br />

ohne Beweglichkeit, Universalismus ohne Universalität<br />

zu erlangen.<br />

Der heilige Text bietet <strong>für</strong> <strong>die</strong> Episode des Turms<br />

zu Babel eine Wiedergutmachung, <strong>die</strong> nichts gemeinsam<br />

hat mit der Lösung der einzigen, vereinigenden Sprache,<br />

sei <strong>die</strong>s eine allgemein akzeptierte Lingua franca (Latein,<br />

Französisch oder Englisch), sei sie eine Art Artefakt von<br />

der Art des Esperanto. Die Antwort der liguistischen „Babylonie“<br />

ist ebenfalls eine Spezies der Multiplizität: Pfingsten.<br />

Den Aposteln wird auf einmal <strong>die</strong> „Gabe der Sprache“<br />

zuteil. „Und wurden alle voll des Heiligen Geistes<br />

und fingen an zu predigen mit anderen Zungen (…)<br />

Es hörte ein jeglicher, dass sie mit seiner Sprache redeten.“<br />

Anders gesagt, nach dem Verlust des alleinigen Idioms des<br />

Para<strong>die</strong>ses werden wir <strong>die</strong>ses nicht durch eine globale Utopie<br />

ersetzen können, sondern nur durch Zusammenlegung<br />

eines jeden einzelnen linguistischen Schatzes. Der glückliche<br />

Monolinguismus des Para<strong>die</strong>ses wird durch Xeno-<br />

Der Atem des Lebens<br />

55


Andrei Ples¸u<br />

56<br />

glossie (das heißt, durch Sprechen von Fremdsprachen)<br />

und Übersetzbarkeit auferstehen, also durch einen aufklärerischen<br />

Plurilinguismus.<br />

3.<br />

Die letzte Gefahr aber besteht eben in einer möglichen<br />

Fehlentwicklung des Plurilinguismus: <strong>die</strong> Vernachlässigung<br />

und Minimalisierung der eigenen Sprache und – extrem<br />

– ihre Verachtung. Bei Punkt zwei hatte ich vor dem<br />

Risiko gewarnt, nur in der eigenen Sprache zu sprechen.<br />

Jetzt möchte ich das Risiko verdeutlichen, das in der Minimalisierung<br />

oder sogar Aufgabe der Sprache liegt, in <strong>die</strong><br />

man geboren wurde.<br />

Mit Ihrer Erlaubnis nehme ich <strong>die</strong> deutsche Sprache<br />

als Beispiel. Deutsch ist eine Sprache, <strong>die</strong> ich spät gelernt<br />

habe, ich war schon über 25. Ein alter Philosoph, dem ich<br />

sehr eng verbunden war, sagte mir immer wieder, ich würde<br />

mich niemals wirklich gründlich mit der Philosophie<br />

auseinandersetzen können, ohne des <strong>Deutsche</strong>n mächtig<br />

zu sein. Ich hatte ihn, ehrlich gesagt, nicht sonderlich ernst<br />

genommen. Aber erst nachdem ich ein Humboldt-Stipendium<br />

(in Bonn) erhielt und einige Wochen im Goethe-Institut<br />

(in Passau) verbrachte, hat das in <strong>die</strong>ser Zeit angeeignete<br />

Deutsch mein Leben verändert. Plötzlich verstand<br />

ich nicht, wie ich bis dahin ohne <strong>die</strong>se mühsame Akquisition<br />

überhaupt hatte leben können. Jegliche fleißig erlernte<br />

Fremdsprache kann eine ähnliche Wirkung haben.<br />

Aber jede einzelne ist eine einzigartige, unwiederholbare<br />

Erfahrung, jede öffnet in Richtung eines Horizonts des<br />

Denkens und des Ausdrucks, der keine Entsprechung in<br />

anderen linguistischen Räumen hat. Im Namen <strong>die</strong>ser Einzigartigkeit<br />

haben wir alle <strong>die</strong> Pflicht, uns mit größtmöglicher<br />

Sorgfalt um unsere eigene Sprache zu kümmern. Wir<br />

haben <strong>die</strong> Pflicht, sie zu erhalten, ohne sie verknöchern<br />

zu lassen, sie zu erneuern, ohne zu entstellen, und da<strong>für</strong>


zu sorgen, dass sie bei dem Auftritt vor aller Welt in ihrer<br />

optimalen Version erklingt.<br />

Auf Ihnen, meine Damen und Herren, lastet <strong>die</strong> große<br />

Verantwortung der Pflege der deutschen Sprache. In<br />

erster Linie, weil Sie sie vor der ganzen deutschen Gemeinschaft<br />

sprechen, und dann, weil Sie <strong>die</strong> deutsche<br />

Sprache in allen internationalen Organismen vertreten.<br />

Ich ermutige sie keineswegs, den Gebrauch anderer Sprachen<br />

zu verweigern, <strong>für</strong> einen Pangermanismus zu militieren<br />

und sich arrogant abzuschotten. Aber ich möchte<br />

Sie ermutigen, den Klang der deutschen Sprache ins<br />

Rampenlicht zu rücken, so oft das nur möglich ist. Ich<br />

weiß, das ist nicht einfach. Ich weiß, dass ein historisch<br />

bedingter Komplex Sie Zurückhaltung üben lässt gegenüber<br />

jeglicher politischer oder kultureller Verwertung<br />

des „nationalen Spezifikums“. Sie erinnern sich, wohl<br />

leicht befremdet und verlegen, an Herders romantische<br />

Exzesse zum Thema Volksseele und Volksgeist, an <strong>die</strong><br />

Rhetorik von Fichte über <strong>die</strong> prinzipielle Überlegenheit<br />

des muttersprachlichen Deutschsprechers gegenüber den<br />

Benutzern anderer Sprachen, mit der Begründung dass<br />

das deutsche Volk „ein Urvolk“ und seine Sprache –<br />

„übersinnlich“ sei. Im Laufe der Zeit wurden alle möglichen<br />

Ungeheuerlichkeiten und Unsinnigkeiten behauptet.<br />

Ein gewisser Becanus glaubte zum Beispiel im<br />

16. Jahrhundert, dass Adam im Para<strong>die</strong>s Deutsch sprach<br />

– eine Sprache, <strong>die</strong> später vom babylonischen Durcheinander<br />

der Sprachen nicht betroffen gewesen sei, weil<br />

<strong>die</strong> Vorfahren der Germanen, <strong>die</strong> Kimbern, an dem Bau<br />

des Turms zu Babel nicht teilgenommen hätten. Und dass<br />

Gott sich erst später um <strong>die</strong> Übersetzung des Alten Testaments<br />

ins Hebräische gekümmert habe – nach deutschem<br />

Original!<br />

Glauben Sie ja nicht, dass anderen Völker <strong>die</strong> Lächerlichkeit<br />

solcher Hypothesen und Eitelkeiten erspart<br />

Der Atem des Lebens<br />

57


Andrei Ples¸u<br />

58<br />

geblieben sind. Vor nicht einmal zwei Jahrhunderten<br />

sprach Thomas Macauley über den absoluten Vorrang der<br />

englischen Sprache, indem er <strong>die</strong> Überlegenheit der Literatur<br />

beschwor, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se hervorgebracht hatte, im Vergleich<br />

zu allen anderen Literaturen der Welt. Madame de<br />

Stäel verlieh der französischen Sprache eine Eigenschaft<br />

sondergleichen. Im Unterschied zu allen anderen Sprachen<br />

sei sie nicht ein einfaches Instrument der Kommunikation,<br />

sondern musikalisches Instrument, das fähig<br />

sei, den Geist wie ein starkes Getränk zu erquicken.<br />

Ein schwedischer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts war<br />

– im Gegenteil – der Meinung, dass das Französische <strong>die</strong><br />

von der Schlange im Para<strong>die</strong>s gesprochene Sprache sei,<br />

während Gott Schwedisch sprechen würde. Für Araber<br />

ist das Arabische <strong>die</strong> höchste aller Sprachen, da es <strong>die</strong><br />

Sprache ist, in der Gott den Text des Korans diktiert hat.<br />

Und solcher Beispiele gibt es unzählige. Die Idee, <strong>die</strong><br />

Sprachen in „hochwertige und minderwertige“ einzuteilen,<br />

entbehrt jeglicher Grundlage. Ich würde eher behaupten,<br />

zwischen allen Sprachen besteht ein Verhältnis<br />

gegenseitiger Überlegenheit. Alle haben etwas Wertvolles<br />

und Unvergleichliches – von dem allgegenwärtigen<br />

Englischen bis zu den heute toten Sprachen, <strong>die</strong> im 18.<br />

und 19. Jahrhundert noch von vier-fünf Menschen gesprochen<br />

wurden. Wenn Heidegger sagt, dass von allen<br />

Sprachen nur Altgriechisch und Deutsch ihr philosophisches<br />

Potenzial vollends erfüllt haben, will er damit<br />

keineswegs behaupten, dass <strong>die</strong>ses Potenzial den anderen<br />

Sprachen fehlt – nur dass <strong>die</strong>se es noch nicht verwertet<br />

haben. „Jede Sprache“, sagte Wilhelm von Humboldt,<br />

„ist ein Versuch.“ Und wenn man erfährt, dass<br />

manche Indianer im Gebiet des Amazonas mehr Zeiten<br />

der Verben als Platon verwenden, oder aber dass <strong>die</strong><br />

Hopi-Sprache „besser <strong>für</strong> <strong>die</strong> Beschäftigung mit ondulatorischen<br />

Prozessen und Vibrationen als das moderne


Englische ausgestattet ist“ (George Steiner), so ist man<br />

geneigt, <strong>die</strong> Annahme von Heidegger mit einem gewissen<br />

Skeptizismus zu betrachten.<br />

Ein Kirchenvater wie Origenes schrieb <strong>die</strong> Geburt der<br />

Sprachen den Engeln zu. Da jedes Volk einen bestimmten<br />

Schutzengel hat, kann angenommen werden, dass<br />

eben <strong>die</strong>ser Engel auch der Schutzpatron seines Sprechens<br />

ist, jener also, der den lokalen Sprachen „Form“<br />

verleiht. Eine Sprache sprechen wäre demnach – aus dem<br />

Blickwinkel <strong>die</strong>ser Hypothese – das Gleiche wie das Vermitteln<br />

zwischen deiner Welt und der Welt der anderen,<br />

so wie der Engel zwischen der Welt der Menschen und<br />

der Welt Gottes vermittelt. Und wie <strong>die</strong> Stimme keines<br />

einzigen Engels aus dem kosmischen Konzert fehlen darf,<br />

so darf auch <strong>die</strong> Stimme keiner Nation aus der planetarischen<br />

Konstruktion fehlen. Der Philosophieprofessor,<br />

der mich anspornte, Deutsch zu lernen, pflegte eine Analogie<br />

anderen Typs zu machen. Es gibt, sagte er, eine<br />

internationale Konvention, <strong>die</strong> <strong>die</strong> astronomischen Observatorien<br />

in jedem Land dazu verpflichtet, <strong>die</strong> Daten<br />

zu erforschen und mitzuteilen, <strong>die</strong> auf „ihrem Teil des<br />

Himmels“ gesammelt werden können. Denn von jedem<br />

Ort der Erde sieht man den Himmel anders. Und das globale<br />

Bild wäre unvollständig, wenn <strong>die</strong> eine oder andere<br />

vorhandene Sternwarte verschwinden oder schweigen<br />

würde. Die nationalen Sprachen sind unser Teil des Himmels.<br />

Wir haben <strong>die</strong> Pflicht, sie allen zur Verfügung zu<br />

stellen. Nur im arabischen linguistischen Himmel finden<br />

wir mehr Wörter <strong>für</strong> Kamel und Pferd als in allen europäischen<br />

Sprachen zusammengenommen. Nur im linguistischen<br />

Himmel der Eskimos finden wir eine Vielzahl<br />

von unterschiedlichen Termini <strong>für</strong> Schnee, nur <strong>die</strong> Aborigines<br />

in Australien können ohne Zahlwörter leben und<br />

nur <strong>die</strong> Hopi-Sprecher können auf das Konzept Zeit verzichten.<br />

Der Atem des Lebens<br />

59


Andrei Ples¸u<br />

60<br />

Sie wissen besser Bescheid als ich, was nur im <strong>Deutsche</strong>n<br />

gesagt und gedacht werden kann. Mir bleibt jetzt<br />

nichts anderes mehr übrig, als Sie zu warnen, dass jedes<br />

Mal, wenn Sie Scheu oder „politically correct“ Skrupel dazu<br />

bewegen, nicht Deutsch zu sprechen, Ihr Teil des Himmels<br />

unerforscht bleibt und Ihr Engel melancholisch wird.


Der Atem des Lebens<br />

61


Die Autoren<br />

62<br />

Prof. Dr. Horst Köhler …<br />

… wurde 1943 im polnischen Skierbieszów geboren. Er<br />

stu<strong>die</strong>rte Wirtschaftswissenschaften in Tübingen und wurde<br />

1977 zum Dr. rer. pol. promoviert. 1981 trat er als Referent<br />

des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten<br />

Gerhard Stoltenberg in <strong>die</strong> Staatskanzlei ein. Ab 1982 arbeitete<br />

er im Leitungsstab des Finanzministeriums, wurde<br />

Leiter des Ministerbüros und übernahm <strong>die</strong> Grundsatzabteilung<br />

des Ministeriums. 1990 wurde er zum<br />

Staatssekretär ernannt. Nach fünf Jahren als Präsident des<br />

<strong>Deutsche</strong>n Sparkassen- und Giroverbandes übernahm er<br />

das Amt des Präsidenten der Europäischen Bank <strong>für</strong><br />

Wiederaufbau und Entwicklung in London. Horst Köhler<br />

wurde im Jahr 2000 Geschäftsführender Direktor des<br />

Internationalen Währungsfonds IWF in Washington, D.C.<br />

Am 23. Mai 2004 wählte <strong>die</strong> Bundesversammlung Horst<br />

Köhler zum neunten Bundespräsidenten. In <strong>die</strong>ser Funktion<br />

ist er zugleich Schirmherr des <strong>Stifterverband</strong>es. Der<br />

hier abgedruckte Text ist <strong>die</strong> Festrede, <strong>die</strong> Köhler anlässlich<br />

der Jahresversammlung des <strong>Stifterverband</strong>es am 11.<br />

Mai 2007 im Stuttgarter Opernhaus hielt.<br />

Prof. Gerald D. Feldman …<br />

… wurde 1937 in New York City geboren, promovierte<br />

1964 an der Harvard University. Ab 1963 war er Hochschullehrer<br />

an der University of California/Berkeley, ab<br />

1970 mit dem Schwerpunkt europäische Geschichte des<br />

20. Jahrhunderts.Von 1994 bis 2006 war er Direktor des<br />

Centers for German and European Stu<strong>die</strong>s in Berkeley. Gerald<br />

D. Feldman verstarb am 31. Oktober 2007. Arbeitsschwerpunkte<br />

von Feldman waren Forschungen zur deutschen<br />

Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Weimarer<br />

Zeit und des Nationalsozialismus. Gerald D. Feldman war<br />

Mitglied zahlreicher historischer Kommissionen wie der


zur Geschichte der <strong>Deutsche</strong>n Bank und der Dresdner<br />

Bank. Den hier publizierten Vortrag hielt Feldman anlässlich<br />

der Jahresversammlung des Landeskuratoriums<br />

Berlin/Brandenburg im Oktober 2006.<br />

Prof. Dr. Andrei Ples¸u …<br />

… wurde 1948 in Bukarest geboren. Er stu<strong>die</strong>rte Kunstgeschichte<br />

und Philosophie, war Lizenziat <strong>für</strong> Geschichte<br />

und Theorie der Kunst, bevor er als Professor an der<br />

Universität Bukarest Kunstgeschichte und Religionsphilosophie<br />

lehrte. In der Ceausescu-Ära politisch verfolgt,<br />

wurde er nach der Revolution in Rumänien zu einem der<br />

führenden politischen Köpfe des Landes. Von 1990 bis<br />

1991 war er Kulturminister, 1997 bis 1999 Außenminister<br />

Rumäniens. Nach der Wende gründete er in Bukarest<br />

das New Europe College, dessen Rektor er seitdem ist. Das<br />

NEC ist das erste und einzige Institute for Advanced Study<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> Geistes- und Sozialwissenschaften in Rumänien.<br />

Den hier publizierten Vortrag hielt Ples¸u am 14. Juni 2007<br />

zur Eröffnung des Kongresses „Die Macht der Sprache“,<br />

der gemeinsam vom Goethe-Institut und vom <strong>Stifterverband</strong><br />

initiiert worden war.<br />

Die Autoren<br />

63


Impressum<br />

Herausgeber<br />

<strong>Stifterverband</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Wissenschaft</strong> e. V.<br />

Barkhovenallee 1<br />

45239 Essen<br />

Telefon: (02 01) 84 01-0<br />

Telefax: (02 01) 84 01-3 01<br />

Internet: www.stifterverband.de<br />

E-Mail: mail@stifterverband.de<br />

Verantwortlich<br />

Michael Sonnabend<br />

Redaktion<br />

Michael Sonnabend<br />

Gestaltung und Layout<br />

SeitenPlan GmbH, Dortmund

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