ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen
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<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009<br />
ARCHIVTHEORIE<br />
UND PRAXIS<br />
sen und ihrer Berufserfahrung entspricht. Komplexe Verfahren,<br />
deren exakte Durchführung überdies mit großem Personalaufwand<br />
überwacht werden müsste, s<strong>in</strong>d daher nicht anwendbar,<br />
obgleich unter theoretischer Betrachtung manches für sie sprechen<br />
würde, beispielsweise im Bereich der Vorsortierung. Hier<br />
gilt <strong>in</strong>des die alte Weisheit, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Katastrophensituation<br />
zwar alles vordergründig e<strong>in</strong>fach ist, aber gerade die Umsetzung<br />
des verme<strong>in</strong>tlich E<strong>in</strong>fachen oft Probleme bereitet und durch<br />
kaum vorhersehbare Friktionen belastet wird, die auch der<br />
unterschiedlichen Vorbildung der Freiwilligen geschuldet s<strong>in</strong>d.<br />
Die gesamte Organisation des EVZ zielt wegen der Schimmelgefahr<br />
auf e<strong>in</strong>e möglichst hohe Durchlaufgeschw<strong>in</strong>digkeit ab, die<br />
unter den gegebenen Umständen nur durch e<strong>in</strong>e Reduzierung der<br />
Komplexität zu erreichen ist. Der Aufbau des EVZ musste im<br />
laufenden Betrieb durchgeführt werden, ohne dass irgendwelche<br />
Erfahrungswerte oder feste Planungsgrundlagen vorlagen. Der<br />
Arbeitsprozess musste daher Stück für Stück verbessert werden,<br />
<strong>in</strong>dem erkannte Probleme möglichst schnell gelöst wurden.<br />
Voraussetzung dafür waren klare Leitungsstrukturen, die frühzeitig<br />
ausgebildet wurden. Es liegt auf der Hand, dass die Leitung<br />
beim Stammpersonal des Historischen Archivs liegen muss, das<br />
den gesamten Arbeitsprozess zu überblicken vermag, weil es<br />
alle<strong>in</strong>e dauerhaft vor Ort ist. Beratung von anderen Institutionen<br />
wie den Landschaftsverbänden, der FH Köln oder dem Landesarchiv<br />
NRW war zwar an verschiedenen Punkten sehr hilfreich,<br />
aber die Verantwortung muss gerade <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krisensituation bei<br />
nur e<strong>in</strong>er Stelle angesiedelt se<strong>in</strong>, und sie muss vor Ort wahrgenommen<br />
werden, denn grundlegende Entscheidungen mussten<br />
<strong>in</strong>sbesondere am Anfang häufig b<strong>in</strong>nen weniger M<strong>in</strong>uten gefällt<br />
werden, und das bei Tag und bei Nacht. Das konnte nur die<br />
Stammbesetzung des Historischen Archivs sicherstellen, die pro<br />
Schicht aus e<strong>in</strong>em „Archivar vom Dienst“ als Schichtleiter und<br />
e<strong>in</strong>em „Restaurator vom Dienst“ besteht (die auf ihrem jeweiligen<br />
Fachgebiet federführend s<strong>in</strong>d und übergreifende Fragen im<br />
E<strong>in</strong>vernehmen entscheiden) sowie aus drei bis vier weiteren<br />
Archivaren, die <strong>in</strong>sbesondere an Schlüsselstellen den Arbeitsprozess<br />
steuern und überwachen.<br />
Zwischenbilanz der Bergung<br />
Nach fast zwei Monaten hat sich e<strong>in</strong> mittlerweile nahezu reibungslos<br />
laufender Bergungsprozess entwickelt, der se<strong>in</strong>en Aus -<br />
gang bei den E<strong>in</strong>satzkräften von Feuerwehr und THW an der<br />
E<strong>in</strong>sturzstelle nimmt, von denen Archivare und Restauratoren<br />
das Bergungsgut unmittelbar übernehmen. Die Weiterverarbei-<br />
tung erfolgt getrennt nach nass (Gefriertrockung) oder trocken<br />
(E<strong>in</strong>lagerung) über das Erstversorgungszentrum, und der Prozess<br />
endet vorläufig bei der E<strong>in</strong>lagerung <strong>in</strong> zahlreichen näheren und<br />
weiteren <strong>Archive</strong>n, die dankenswerterweise Magaz<strong>in</strong>fläche<br />
bereitgestellt haben.<br />
Parallel dazu s<strong>in</strong>d die ersten Maßnahmen angelaufen, um möglichst<br />
zeitnah archivische Arbeiten wieder aufnehmen und die<br />
weiteren Schritte bei der Versorgung des beschädigten Archivgutes<br />
unternehmen zu können. So werden mit Unterstützung der<br />
Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft bis zum Sommer sämtliche<br />
F<strong>in</strong>dhilfsmittel digitalisiert, die Suche nach e<strong>in</strong>er Immobilie für<br />
die Wiedere<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Abteilung für Bestandserhaltung<br />
und Digitalisierung ist auf e<strong>in</strong>em guten Weg, und die Digitalisierung<br />
und Präsentation der mikroverfilmten Bestände soll bis<br />
zum Herbst begonnen werden. Damit wird das Historische<br />
Archiv auch für Bürger und Wissenschaft wieder – wiewohl<br />
e<strong>in</strong>geschränkt – präsent werden.<br />
Es ist derzeit noch bei weitem zu früh, den Erfolg der Bergung im<br />
E<strong>in</strong>zelnen zu bilanzieren. Die starke Durchmischung des Archivguts<br />
hat zur Folge, dass, abgesehen von E<strong>in</strong>zelstücken und von<br />
den Beständen, die sich nicht im Magaz<strong>in</strong>turm befanden, von<br />
ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Bestand genau angegeben werden kann, wie viel<br />
<strong>in</strong> welchem Zustand das Unglück überstanden hat. Fest steht<br />
jedoch, dass es gelungen ist, aus allen Etagen und damit aus allen<br />
Beständegruppen mehr oder m<strong>in</strong>der <strong>in</strong>takte Archivalien zu<br />
bergen. Totalverluste s<strong>in</strong>d daher allenfalls bei sehr kle<strong>in</strong>en Beständen<br />
zu befürchten, während es bei allen anderen Beständen<br />
mehr um die Frage nach dem Grad der Beschädigung und der<br />
Unordnung geht. Damit kann bereits jetzt mit e<strong>in</strong>em gewissen<br />
Optimismus <strong>in</strong> die Zukunft geblickt werden: Das Historische<br />
Archiv hat schwere Wunden davongetragen, es wird jedoch<br />
weiterh<strong>in</strong> zu den bedeutendsten Kommunalarchiven gehören,<br />
und die Bürger der Stadt Köln müssen nicht mit e<strong>in</strong>em völligen<br />
Verlust der historischen Dimension ihres kollektiven Bewusstse<strong>in</strong>s<br />
leben. Dass dies so ist, ist nicht zuletzt dem E<strong>in</strong>satz der<br />
vielen Freiwilligen an allen Stellen des Bergungsprozesses, aber<br />
auch im H<strong>in</strong>tergrund bei der organisatorischen und f<strong>in</strong>anziellen<br />
Bewältigung der akuten Katastrophe zu danken. Allerd<strong>in</strong>gs liegt<br />
die größte Arbeit noch vor uns: Die Rekonstruktion der Bestände<br />
und ihre technische Wiedernutzbarmachung durch Restaurierung,<br />
Re<strong>in</strong>igung und Reparatur, aber auch durch Digitalisierung<br />
und durch Schaffung e<strong>in</strong>es neuen Archivgebäudes. All das wird<br />
e<strong>in</strong>en langen Atem und die notwendigen Ressourcen <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzieller<br />
wie personeller H<strong>in</strong>sicht erfordern.<br />
Bett<strong>in</strong>a Schmidt-Czaia/Ulrich Fischer/Max Plassmann, Köln