ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen
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<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009<br />
ARCHIVTHEORIE<br />
UND PRAXIS<br />
ve. Da sich ihre Quellenbestände zunächst primär religiösen<br />
Fragestellungen zu widmen sche<strong>in</strong>en, wurden sie von den Schulen<br />
seltener konsultiert. Dass aber gerade kirchliche <strong>Archive</strong> für<br />
e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit prädest<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d, soll im Folgenden am<br />
Beispiel e<strong>in</strong>es Geschichtsprojektes dargestellt werden, das das<br />
Archiv des Bistums Passau und das Gymnasium Vilshofen an der<br />
Donau geme<strong>in</strong>sam durchgeführt haben. Im Zentrum stand dabei<br />
das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945.<br />
1. Kirchliche Quellen zum Kriegsende<br />
Die Ereignisse während des Waffengangs und der E<strong>in</strong>marsch der<br />
alliierten Truppen haben gerade während der letzten Jahre, nicht<br />
zuletzt bed<strong>in</strong>gt durch die Er<strong>in</strong>nerungsveranstaltungen zum 60.<br />
Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005, neue Aktualität gewonnen,<br />
die auch für den Unterricht nutzbar gemacht werden kann.<br />
Für das Projekt wurde e<strong>in</strong> bislang weitgehend unbekannter, für<br />
die lokal- und regionalgeschichtliche Forschung aber ungeme<strong>in</strong><br />
wichtiger Quellenkorpus aus dem Jahr 1945 untersucht: Die Be -<br />
richterstattungen katholischer Geistlicher über die Jahre der<br />
Diktatur, des Krieges, des E<strong>in</strong>marsches und der ersten Wochen<br />
der Besatzungszeit. Die Dokumente entstanden auf Veranlassung<br />
des bischöflichen Ord<strong>in</strong>ariats Passau unmittelbar nach dem<br />
Ende der Kampfhandlungen. Schon am 14. Mai 1945, also nur<br />
wenige Tage nach der Besetzung des ostbayerischen Raums und<br />
der bed<strong>in</strong>gungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht,<br />
forderte der Passauer Generalvikar Dr. Franz Seraph Riemer von<br />
den Pfarreien des Bistums e<strong>in</strong>en Bericht an. Ob im Bereich der<br />
jeweiligen Seelsorgesprengel Kriegshandlungen stattfanden und<br />
ob dabei Kirchen oder andere kirchliche Gebäude beschädigt<br />
wurden, wurde erfragt. Auch über Todesopfer oder Verletzte unter<br />
den Pfarrangehörigen sowie über eventuelle Störungen des kirch -<br />
lichen Lebens sollte dem bischöflichen Ord<strong>in</strong>ariat Meldung<br />
gemacht werden. Zusätzlich wies die oberhirtliche Stelle die<br />
Seelsorger an, „sonstige wichtig sche<strong>in</strong>ende Angaben und Berichte“<br />
über die Kriegszeit weiterzuleiten. 5 Insbesondere die zuletzt<br />
zitierte Formulierung und e<strong>in</strong>e nochmalige E<strong>in</strong>forderung von<br />
Berichten durch die bischöfliche Behörde im Juli 1945 erlaubte es<br />
den Seelsorgern, die Übergangszeit <strong>in</strong> ihren Geme<strong>in</strong>den umfassend<br />
darzustellen.<br />
Gerade <strong>in</strong> diesem Punkt liegt der Wert für den Geschichtsunterricht.<br />
Die Priester schreiben nicht nur über religiöse Fragen,<br />
sondern berichten über politische, gesellschaftliche oder militärische<br />
Ereignisse <strong>in</strong> ihren Pfarreien. Dies ist so bedeutend, da<br />
gerade <strong>in</strong> der Zeit des Übergangs kaum staatliche oder kommunale<br />
Stellen amtliche Berichte verfassten oder Zeitungen erschienen.<br />
Es liegen also kaum verwertbare Quellen vor. Umso überraschender<br />
ist es, dass die zeitgenössischen Berichte der katholischen<br />
Priester bislang kaum Beachtung gefunden haben. Zwar<br />
hat Diözesanarchivar Herbert W. Wurster aus Anlass des 50jährigen<br />
Kriegsendes im „Passauer Bistumsblatt“ e<strong>in</strong>en ersten<br />
Überblick über das Archivgut gegeben, 6 doch ist bis heute, mit<br />
der Ausnahme e<strong>in</strong>er nicht publizierten Zulassungsarbeit von<br />
Susanne Geier über das Kriegsende im Bayerischen Wald, 7 ke<strong>in</strong>e<br />
umfassende Analyse der Berichterstattung im Bistum Passau <strong>in</strong><br />
Gang gekommen. Ähnlich ist die Situation <strong>in</strong> anderen Diözesen,<br />
deren Klerus ebenfalls Berichte zum Kriegsende erstellte. Auch <strong>in</strong><br />
den Erzbistümern München und Freis<strong>in</strong>g sowie Freiburg und<br />
den Diözesen Würzburg und Eichstätt existieren zwar umfangreiche<br />
Bestände, 8 e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Analyse des Berichtswesens<br />
kam h<strong>in</strong>gegen nicht <strong>in</strong> Gang. Erst zum 60. Jahrestag des Kriegs-<br />
endes wurden die Berichte von der Forschung entdeckt. Insbesondere<br />
das Erzbistum München und Freis<strong>in</strong>g hat aus Anlass des<br />
historischen Jubiläums die Dokumente e<strong>in</strong>em breiten Publikum<br />
zugänglich gemacht und alle 562 vorhandenen Kriegs- und E<strong>in</strong> -<br />
marschberichte des Diözesanbereichs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zweibändigen<br />
Edition publiziert. 9 Dieser Schritt hat weit über die konfessionelle<br />
Teilöffentlichkeit h<strong>in</strong>aus reges Interesse geweckt und fand <strong>in</strong><br />
den Medien starken Widerhall. 10 Ebenfalls zur 60. Wiederkehr des<br />
Endes des Zweiten Weltkriegs erschien für das Bistum Würzburg<br />
e<strong>in</strong>e Edition der dortigen Berichte, welche die Zeithistoriker<strong>in</strong><br />
Verena von Wiczl<strong>in</strong>ski zusammengestellt hat. 11<br />
Beide Editionen haben <strong>in</strong>zwischen E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> bayerische Schulbücher<br />
gefunden. In e<strong>in</strong>em Unterrichtswerk der 9. Jahrgangsstufe<br />
werden die Entstehungsgeschichte der Berichte sowie die Quellen<br />
der Pfarrei St. Sylvester im Münchner Stadtteil Schwab<strong>in</strong>g und<br />
der Bericht des Stadtdekans der Aschaffenburger Pfarrei St. Peter<br />
und Alexander für den Geschichtsunterricht am Gymnasium<br />
nutzbar gemacht. 12<br />
2. Archivpädagogisches Projekt<br />
Dieses offensichtliche Interesse an den Berichten aus München<br />
und Würzburg nutzt das anzuzeigende Passauer Projekt. Hier<br />
geht es vor allem um e<strong>in</strong>e archivpädagogische Aufbereitung e<strong>in</strong>er<br />
ausgewählten Region, für welche von den dortigen Priestern<br />
Berichte über Diktatur, Kriegsverlauf, Kriegsende und Besatzung<br />
erstellt wurden. Beim Untersuchungsraum handelt sich um das<br />
Dekanat Osterhofen, e<strong>in</strong>e bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
weitgehend konfessionell geschlossene katholische Region an der<br />
Donau zwischen Regensburg und Passau. Schüler<strong>in</strong>nen und<br />
Schüler e<strong>in</strong>es Grundkurses K12 des Gymnasiums Vilshofen<br />
haben zusammen mit ihrem Lehrer Christian Kuchler die Dokumente<br />
der Seelsorger im Archiv des Bistums Passau gesichtet und<br />
ausgewertet. Dabei g<strong>in</strong>g es den jungen Forschern vorrangig um<br />
weltliche Fragestellungen wie etwa die Verarbeitung der Kriegsfolgen,<br />
die Integration von Flüchtl<strong>in</strong>gen, die zeitgenössische<br />
E<strong>in</strong>schätzung der NS-Schuld und den Umgang mit ausländischen<br />
Zwangsarbeitern <strong>in</strong> der überwiegend agrarisch strukturierten<br />
Region. Für den Geschichtsunterricht waren dagegen re<strong>in</strong><br />
theologische Angaben der katholischen Geistlichen weniger von<br />
Bedeutung.<br />
Das Projekt mit dem Titel „Das Kriegsende zwischen Donau, Isar<br />
und Vils“ stieß <strong>in</strong> der lokalen Öffentlichkeit auf sehr große<br />
Aufmerksamkeit. Über mehrere Wochen h<strong>in</strong>weg wurden die<br />
Rechercheergebnisse der Gymnasiasten zu den e<strong>in</strong>zelnen Pfarreien<br />
der Region von der lokalen Tagespresse, der „Osterhofener<br />
Zeitung“, publiziert. Der Medienpartner beriet die Jugendlichen<br />
dabei, wie ihre Beiträge neben der wissenschaftlichen Genauigkeit<br />
auch e<strong>in</strong> hohes Maß an journalistischer Qualität erhalten<br />
konnten.<br />
Nachdem die Artikelserie bei der Bevölkerung großen Anklang<br />
fand, ermöglichte es die Stadt Osterhofen den Ertrag der Archiv -<br />
recherche gesammelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heft zu publizieren. Neben e<strong>in</strong>em<br />
knappen E<strong>in</strong>leitungskommentar zu den Berichten dokumentiert<br />
das nun vorliegende Werk alle Schülerarbeiten. 13 Mit der Publikation<br />
dieser Sammlung fand e<strong>in</strong> Projekt se<strong>in</strong>en Abschluss, das<br />
neben dem Erwerb von archivpädagogischen E<strong>in</strong>blicken bei den<br />
teilnehmenden Jugendlichen <strong>in</strong>sbesondere Kompetenzen im<br />
Bereich der Medienerziehung herauszubilden vermochte.<br />
Christian Kuchler, Osterhofen