Uni on 58 - European University Viadrina Frankfurt (Oder)
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[UNI<strong>on</strong>]<br />
Antrittsvorlesung<br />
Verheugen hielt Antrittsvorlesung als H<strong>on</strong>orarprofessor<br />
zum Thema „Demokratie und europäische Integrati<strong>on</strong>“<br />
Rund 400 Gäste aus der <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g>versität und dem<br />
öffentlichen Leben hörten am 20. April 2010<br />
die Antrittsvorlesung v<strong>on</strong> Günter Verheugen als<br />
H<strong>on</strong>orarprofessor an der Europa-<str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g>versität.<br />
Der ehemalige EU-Kommissar und Vizepräsident<br />
der Europäischen Kommissi<strong>on</strong> in Brüssel<br />
war auf Vorschlag aller drei Fakultäten am 15.<br />
Februar 2010 zum H<strong>on</strong>orarprofessor an der<br />
Europa-<str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g>versität ernannt worden und hält<br />
nun Lehrveranstaltungen zum Thema „Europäisches<br />
Regieren”, so die Denominati<strong>on</strong> der H<strong>on</strong>orarprofessur.<br />
„Ich freue mich, dass Sie bereit sind, Ihren reichen<br />
Erfahrungsschatz und Ihre tiefreichenden<br />
Kenntnisse des europäischen Projekts hier an<br />
der Europa-<str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g>versität an unsere Studierenden<br />
weiterzugeben“, hieß der Dekan der Juristischen<br />
Fakultät, Prof. Dr. Matthias Pechstein,<br />
den neuen Professor im Namen aller Fakultäten<br />
willkommen. Und Günter Verheugen bot in seiner<br />
Antrittsvorlesung spannende Einblicke in<br />
die europäische politische Praxis, indem er das<br />
Verhältnis v<strong>on</strong> „Demokratie und europäischer<br />
Integrati<strong>on</strong>“ beleuchtete und das vielzitierte<br />
demokratische Defizit einem kritischen Praxistest<br />
unterzog.<br />
„Der Gründungsmythos der Europäischen <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong><br />
ist rund fünfzig Jahre nach Inkrafttreten der<br />
Römischen Verträge verblasst. Auf die Normalisierung<br />
folgt schleichende Entfremdung, die alle<br />
Schattierungen v<strong>on</strong> Gleichgültigkeit und<br />
Desinteresse bis hin zu vehementer Ablehnung<br />
aufweist, häufig verbunden mit dem Vorwurf<br />
des demokratischen Defizits“, so Prof. Günter<br />
Verheugen. In der Europadebatte – auch innerhalb<br />
der europäischen Instituti<strong>on</strong>en – sei dieses<br />
„Demokratiedefizit“ kaum jemals in Frage<br />
gestellt worden. Denn die Europäische <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong><br />
könne anders als ihre Mitgliedstaaten nicht auf<br />
die Idee der Volkssouveränität zurückgeführt<br />
werden, weil es ein europäisches Volk nicht gebe.<br />
Zudem sei die Europäische <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong> kein<br />
Staat, s<strong>on</strong>dern ein enger Verbund v<strong>on</strong> Staaten,<br />
bei dem die Mitgliedstaaten großen Wert darauf<br />
legten, dass ihr die staatlichen Attribute<br />
und Symbole fehlen. Daher dürfe die Exekutive<br />
auch nicht „Regierung“ heißen und die „Minister“<br />
hießen „Kommissare“. Auch der grundlegende<br />
EU-Vertrag, der fast alle Elemente einer<br />
Verfassung enthalte, dürfe nicht so genannt<br />
werden, und selbst Fahne und Hymne seien offiziell<br />
nicht vorgesehen. Dennoch zeige die Dynamik<br />
der europäischen Integrati<strong>on</strong> eine Evoluti<strong>on</strong><br />
v<strong>on</strong> demokratischen Elementen: Der Weg<br />
des Europäischen Parlaments v<strong>on</strong> einer nicht<br />
gewählten beratenden Versammlung hin zu einer<br />
direkt gewählten und mit Gestaltungsmacht<br />
versehenen Volksvertretung sei das eindrücklichste<br />
Beispiel.<br />
Auf der anderen Seite seien grundlegende Richtungsentscheidungen<br />
der Europäischen <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong><br />
nur möglich, wenn sie v<strong>on</strong> den Mitgliedstaaten<br />
entsprechend ihrer Verfassungsordnung legitimiert<br />
würden. Während also für alle Demokratien<br />
das Mehrheitsprinzip k<strong>on</strong>stitutiv sei, gelte<br />
es für die Europäische <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong> nicht: zwar seien<br />
Mehrheitsentscheidungen in genau definierten<br />
Bereichen der gemeinschaftlichen Politik mög-<br />
FOTO: HEIDE FEST<br />
lich; sie seien aber ausdrücklich nicht vorgesehen,<br />
wenn es um die Änderung der vertraglichen<br />
Grundlagen gehe. „Da die gesamte K<strong>on</strong>strukti<strong>on</strong><br />
auf der souveränen Gleichheit ihrer<br />
Mitglieder beruht, kann man meiner Meinung<br />
nach in diesem Bereich auch nicht v<strong>on</strong> einem<br />
Demokratiedefizit sprechen“, räumte Verheugen<br />
diese Kritik aus dem Weg.<br />
Ganz anders sehe dies aus, wenn es um Entscheidungsprozesse<br />
in bereits vergemeinschafteten<br />
Politikbereichen gehe. Es leuchte nicht<br />
ein, warum Gemeinschaftspolitik nicht genauso<br />
demokratisch organisiert werden könne wie<br />
die Politik in den Mitgliedstaaten. Damit verbunden<br />
sei die Frage, ob die europäische Integrati<strong>on</strong><br />
nati<strong>on</strong>ale Parlamentsrechte und damit<br />
das demokratische Grundprinzip aushöhle; eine<br />
Ansicht, die das Bundesverfassungsgericht<br />
teile und deshalb auch verlangt habe, den nati<strong>on</strong>alen<br />
Parlamenten ausreichend rechtliche<br />
und sachliche Substanz einzuräumen. In der<br />
Praxis aber sei die Integrati<strong>on</strong> in Europa so weit<br />
vorangeschritten, dass eine „Revierabgrenzung“<br />
zwischen nati<strong>on</strong>alen und europäischen<br />
Politikfeldern nicht mehr möglich sei, was zu<br />
einem Kompetenzverlust der nati<strong>on</strong>alstaatlichen<br />
Parlamente führe.<br />
Eine weitere Herausforderung sei die niedrige<br />
Beteiligung an europäischen Wahlen, die ohne<br />
eine Kopplung der europäischen „Regierung“<br />
an die Wahlergebnisse und einen in europäischer<br />
Öffentlichkeit geführten europäischen<br />
Wahlkampf nicht steigen würde, so die Prog -<br />
nose Verheugens. Abzuwarten aber bleibe, wie<br />
das neue direktdemokratische Element des europäischen<br />
Bürgerbegehrens angenommen<br />
werde. Direktdemokratische Elemente aber<br />
würden, so das Zwischenfazit Verheugens,<br />
nicht ausreichen, den demokratischen Charak-<br />
ter der Europäischen <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong> zu sichern. Die Ursache<br />
liege an anderer Stelle: „Solange wir als<br />
Europäer an unseren Nati<strong>on</strong>alstaaten festhalten,<br />
solange bleibt die Hauptverantwortung für<br />
den Fortgang der europäischen Integrati<strong>on</strong> in<br />
den Händen der Mitgliedsstaaten. Und der europäische<br />
Superstaat ist keine realistische Opti<strong>on</strong>;<br />
die Idee eines europäischen Bundesstaates<br />
wird der historischen Einzigartigkeit Europas<br />
nicht gerecht als einem Ort, an dem die Völker<br />
ihre jeweils eigenen Lebensformen entwickeln<br />
und bewahren. Er könnte die kulturelle Diversität,<br />
die Europa so sehr auszeichnet, nicht in<br />
ausreichender Weise respektieren, geschweige<br />
denn schützen.“ Das aber impliziere, dass die<br />
Vertreter der nati<strong>on</strong>alen Regierungen auch deren<br />
Interessen vertreten. „Das tun sie aber<br />
nicht, weil sie in politisch schwierigen Fragen<br />
eher zu Paketlösungen neigen – dem berühmten<br />
Kuhhandel.“ Auch die öffentlichen Sitzungen<br />
des Rates seien eine „reine Schaufensterveranstaltung“,<br />
die eigentlichen „Deals“ würden<br />
ohne jede öffentliche K<strong>on</strong>trolle gemacht.<br />
Der Kern des Problems also liege, so der profunde<br />
Kenner der europäischen Politik, an anderer<br />
Stelle: „In der Praxis ist die Europapolitik leider<br />
eine Domäne der Beamtenschaft auf allen Ebenen.<br />
Politische Führung und politische K<strong>on</strong>trolle<br />
finden oft überhaupt nicht statt. Die Demokratiedefizite<br />
der Europäischen <str<strong>on</strong>g>Uni</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong> sind das<br />
Ergebnis mangelhafter politischer Führung und<br />
mangelhafter politischer K<strong>on</strong>trolle. Die eigentliche<br />
Arbeit wird in unzähligen Kommissi<strong>on</strong>en<br />
und Arbeitsgruppen und Expertengruppen getan,<br />
in Abwesenheit der Politik. Daran zu arbeiten<br />
ist Aufgabe der Zukunft.“<br />
MICHAELA GRÜN<br />
Die Antrittsvorlesung v<strong>on</strong> Günter Verheugen besuchten vor allem die <strong>Viadrina</strong>-Studierenden, die derzeit<br />
aus rund 80 Ländern der Welt kommen.