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Vortrag von Annette Kurschus - Evangelische Kirche von Westfalen

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„Gott loben, das ist unser Amt ...“:<br />

Gotteslob und Weltverantwortung der <strong>Kirche</strong><br />

<strong>Vortrag</strong> am 12. September 2011 in Bielefeld<br />

<strong>von</strong> <strong>Annette</strong> <strong>Kurschus</strong><br />

I. Drei Schlaglichter und ein Problem<br />

I.1 Sonntagmorgen. Kantatengottesdienst in der Siegener Martinikirche<br />

Tags zuvor hat sich im Atomkraftwerk im japanischen Fukushima eine nukleare Katastrophe<br />

ereignet.<br />

Stromausfall in einem Reaktor – ausgelöst durch ein Erdbeben unter dem Meeresboden.<br />

Radioaktivität entweicht. Unheimlich unsichtbare tödliche Gefahr.<br />

Panik bricht aus. Angst geht um. Technik, <strong>von</strong> Menschen erdacht, ist den Menschen außer<br />

Kontrolle geraten.<br />

Goethes „Zauberlehrling“ gewinnt gruselige Aktualität.<br />

Die ganze Welt ist wie gelähmt. Alle wissen: Wir sitzen mit im Boot.<br />

Die Medien verbreiten stündlich neue Schreckensnachrichten.<br />

Auch an diesem Sonntagmorgen im März 2011.<br />

Kantatengottesdienst in der Siegener Martinikirche.<br />

Viele Menschen sind gekommen. Vermutlich haben sie zu Hause beim Frühstück noch die<br />

neusten Nachrichten gehört.<br />

Der Schreck sitzt ihnen in den Gliedern; manchen ist er erkennbar ins Gesicht geschrieben.<br />

Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu, meine Zier ...: Können wir so singen? Dür‐<br />

fen wir so singen? Ausgerechnet so – an diesem Morgen?<br />

Lass den Satan wittern, lass die Welt erzittern, mir steht Jesus bei ...: Müssen diese vertrau‐<br />

ten Worte und Klänge heute nicht zum weltverachtenden, zynischen Hohngesang werden?<br />

Wie können, wie wollen, wie sollen wir heute überhaupt unsere Stimmen erheben, wenn so<br />

viel Entsetzen und Zweifel das Herz und die Zunge gefangen halten?<br />

Die Kantate ausfallen lassen?<br />

Die Lieder streichen?


Weil es jetzt einfach nicht geht?<br />

Gotteslob – fehl am Platz?<br />

I.2 Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra in Ghana<br />

Einige Jahre liegt es mittlerweile zurück.<br />

Die Ärmsten haben zu sich nach Hause eingeladen.<br />

Mit Würde und mit einem beeindruckenden Stolz.<br />

Von überall her, aus sämtlichen Regionen der Erde, haben sich rund tausend Gäste aufge‐<br />

macht und sind der Einladung nach Afrika gefolgt.<br />

Unser Thema ist heikel: Es geht um die Folgen der Globalisierung, um wirtschaftliche Ge‐<br />

rechtigkeit, um das krasse Gefälle zwischen Reichtum und Armut, um die wachsende Kluft<br />

zwischen nördlicher und südlicher Hemisphäre.<br />

Auf dass alle das Leben in Fülle haben (Johannes 10,10): So lautet das biblische Motto.<br />

Wir diskutieren. Hart und kontrovers. Es wird laut zwischendurch; deutliche Worte fallen.<br />

Arm gleich gut; Reich gleich schlecht, gierig und böse – so einfach ist die Sache nicht.<br />

Mit banalen Verurteilungen und Polarisierungen kommen wir nicht weiter.<br />

Wir streiten – ja. Das ist anstrengend, aber letztlich gut, weil es die Achtung voreinander<br />

deutlich macht.<br />

Und: Wir feiern Gottesdienste.<br />

Beten, tanzen, singen, trommeln.<br />

Im Gottesdienst finden wir auf selbstverständliche Weise zueinander.<br />

Hier ist nicht bestimmend, was uns so schmerzlich unterscheidet.<br />

Im gemeinsamen Hören und Beten wachsen neue Gemeinschaft, neue Hoffnung und neue<br />

Perspektiven für die nächste Debatte.<br />

Die Afrikaner ziehen dazu das Kostbarste und Festlichste an, was sie besitzen.<br />

Wunderschön sehen sie aus in ihren farbenfrohen gottesdienstlichen Kleidern, besonders<br />

die Frauen<br />

Die reichen Gäste, auch wir aus Deutschland, haben vorsichtshalber nur die dritte Garnitur<br />

mitgebracht: Das ausgeblichene T‐Shirt, die verwaschene Jeans, die ausgetretenen Birken‐<br />

stocksandalen.<br />

Für Afrika müsste das doch angemessen sein.<br />

Ein wenig schäme ich mich für uns.<br />

2


Und ahne: Den Sinn für die Würde und Erhabenheit des Gotteslobs können wir hier bei un‐<br />

seren Gastgebern und in der großen christlichen Weltfamilie neu lernen.<br />

I.3 Morgenandachten im WDR, vor wenigen Wochen<br />

Entstanden mit langem Vorlauf, wie das üblich ist bei solchen regelmäßigen Radiosendun‐<br />

gen.<br />

Was im Juli über den Äther geht, wurde bereits im Mai aufgenommen.<br />

Über die Kostbarkeit unserer fünf Sinnesorgane spreche ich – eine Woche lang.<br />

An jedem Morgen geht es um einen Sinn.<br />

In WDR 5 ist diese Andacht übergangslos zwischen aktuelle Pressemeldungen und die neus‐<br />

ten Tagesnachrichten geklemmt.<br />

An diesem Tag ist der Geschmackssinn dran.<br />

Ich verbreite mich über Genüsse des Gaumens und der Zunge; rede da<strong>von</strong>, dass wir zu ei‐<br />

nem erfüllten Leben nicht nur das Nötigste brauchen, nicht nur das Nützliche zum Sattwer‐<br />

den, sondern auch das Köstliche und Überflüssige zum Genießen.<br />

Unmittelbar vorher brachten sie eine Reportage über die furchtbare Hungerkatastrophe in<br />

Somalia und den umliegenden Ländern. Die Menschen in Ostafrika, vor allem Kinder, gehen<br />

massenhaft zugrunde, weil sie nichts zu essen haben.<br />

Und die Nachrichten im Anschluss an meine Andacht beginnen sogleich wieder mit diesem<br />

erschütternden Thema.<br />

Wie mögen die Hörer und Hörerinnen des WDR das aufgenommen haben?<br />

Eine Andacht als absurdes Intermezzo? Unsensibel, weltfern, als habe die Verantwortliche<br />

mit ihrem Lob des Schöpfers entweder dicke Schwielen auf dem Gemüt oder die aktuelle<br />

Entwicklung der Erde komplett verschlafen? Konnten sie die Andacht überhaupt wahrneh‐<br />

men als Not‐wendige Erinnerung an den Grund, aus dem wir alles tun müssen gegen solche<br />

verheerenden Katastrophen? Sie sind schließlich nicht zuletzt Folge unserer eigenen Le‐<br />

bensweise ... .<br />

I.4 Das Problem<br />

Drei Schlaglichter nur.<br />

Drei ganz unterschiedliche Situationen, denen wir ohne Mühe jede Menge weiterer Beispiele<br />

hinzufügen könnten.<br />

3


Momentaufnahmen, die ein grundlegendes Problem anzeigen und uns fragen lassen:<br />

Was ist das eigentlich mit dem Lob Gottes in unserer Welt?<br />

Nicht mehr zeitgemäß?<br />

Nur etwas für naive Gemüter?<br />

Für eine <strong>Kirche</strong> am Puls der Gesellschaft, für eine <strong>Kirche</strong> mit Zukunft allenfalls schmückendes<br />

Beiwerk?<br />

Gott loben, das ist unser Amt ... , singt ein alter Choral aus dem 17. Jahrhundert, entstanden<br />

mitten im Dreißigjährigen Krieg nach Worten des 100. Psalms<br />

(EG 288, 5).<br />

Wir können ihn lächelnd beiseite schieben als Berufshymne der Chorsänger, Organisten und<br />

<strong>Kirche</strong>nmusikerinnen.<br />

Können ihn uns mit aufklärerischer Gebärde vom Leibe halten als das Bekenntnis frommer<br />

Romantiker.<br />

Wir können, ja wir müssen – redlicherweise! – fragen: Wofür eigentlich sollen wir Gott lo‐<br />

ben? Dafür, dass er alles so herrlich regieret? Oder dafür, dass er jedenfalls mich so freund‐<br />

lich geleitet hat? (EG 316, 2.3)?<br />

Im Blick auf manches Elend in der Welt und in unserem eigenen Lebensumfeld hätten wir<br />

beste Gründe, das Lob Gottes als zynische Lebensäußerung zu verweigern.<br />

Aber: Wir würden uns damit <strong>von</strong> der Quelle abschneiden, aus der sich unser christlicher<br />

Glaube nährt; uns des Atems benehmen, aus dem unser Leben seine Hoffnung gewinnt –<br />

und seine Kraft zum tätigen Widerstand.<br />

Im Atemholen sind nun einmal zweierlei Gnaden (Goethe, West‐östlicher Divan):<br />

Das Einatmen‐Müssen und das Ausatmen‐Können.<br />

Beides ist tatsächlich eine Gnade, ohne die auch unsere <strong>Kirche</strong> nicht leben kann.<br />

Einatmend geht die <strong>Kirche</strong> in sich, versammelt sich, hört auf Gottes Wort, singt, betet, feiert,<br />

gibt Gott in der Höhe die Ehre – ausatmend geht sie aus sich heraus, hin zu den Menschen<br />

in Not, jagt der Gerechtigkeit nach, dem Frieden auf Erden und dem Wohl für die Schöpfung.<br />

Einatmend antwortet sie Gott, indem sie ihn lobt – ausatmend übernimmt sie Verantwor‐<br />

tung für die Welt.<br />

4


Ohne diese zweierlei Gnaden des Atems kann <strong>Kirche</strong> nicht sein – oder sie ist nicht <strong>Kirche</strong>.<br />

II. Das Gotteslob als ureigene Aufgabe der christlichen Gemeinde<br />

Das Gotteslob der Christen hat „eine im Leben der Welt klaffende Lücke auszufüllen“, sagt<br />

Karl Barth. 1<br />

Ein steiler Satz.<br />

In kleinere Münze gewechselt heißt er:<br />

Die Welt, in der wir leben, kommt ohne unser christliches Gotteslob nicht aus.<br />

Die Gesellschaft braucht uns als <strong>Kirche</strong>.<br />

Es ist offensichtlich: Sie braucht unsere diakonischen Dienste, sie braucht unsere sozialen<br />

Einrichtungen, sie ist auf unsere ethischen Kompetenzen angewiesen.<br />

In diesen Bereichen sind wir längst einigermaßen unentbehrlich geworden.<br />

Diakonisches und soziales und weltverantwortliches Handeln ist unser Amt.<br />

Und: Die Welt braucht uns, weil wir Gott loben. Sie braucht uns um der nie versiegenden<br />

Quelle willen, aus der sich unser kirchlicher Einsatz speist; um der einzigartigen Wurzel wil‐<br />

len, aus der alles christliche Handeln seinen unerschütterlichen Antrieb empfängt.<br />

Die Kraft und der Glanz, die durch das Lob Gottes ins Leben kommen, sind unverzichtbar.<br />

Den Überschuss an Hoffnung und Gewissheit, den das Gotteslob unserer tätigen Liebe ver‐<br />

leiht, bringt niemand in die Welt – wenn wir´s nicht tun.<br />

III. Gott loben – was heißt das eigentlich?<br />

„Hast du heute schon dein Kind gelobt?“ fragten uns vor etlichen Jahren pädagogisch ambi‐<br />

tionierte Autoaufkleber – gewiss in bester, freundlicher Absicht. Es ist wahr: Kinder brauchen<br />

für ihre Entwicklung anderes als Tadel und Ermahnungen. Aber was sie suchen, wird durch<br />

das Wort „Lob“ nicht wirklich getroffen. Kinder suchen – wie Erwachsene auch – Ermutigung<br />

und Freiheit. Lob im pädagogischen Einsatz jedoch ist eher so etwas wie eine geschickt ge‐<br />

tarnte Aufforderung: „Weiter so!“.<br />

1 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/3, 992<br />

5


Das deutsche Wort loben hat eine reiche etymologische Verwandtschaft, die weit über die‐<br />

sen Geruch <strong>von</strong> fragwürdiger Pädagogik hinaus geht.<br />

Loben hängt sprachlich mit Erlaubnis zusammen – ebenso mit geloben, mit glauben und mit<br />

lieben.<br />

Dem Loben ist eine große Tiefe zu eigen; es beschreibt nicht einfach eine Geste, einen mo‐<br />

mentanen Akt, sondern dahinter steht ein Mensch mit seiner ganzen Existenz. Wer lobt, tut<br />

dies mit Herzen, Mund und Händen, er tut es mit Sinn und Verstand.<br />

Nun ist es mit dem biblischen Loben, also mit dem Lob Gottes, noch einmal eine ganz be‐<br />

sondere Sache.<br />

Hier wechselt die Grunddynamik des Lobens radikal ihre Richtung:<br />

Das Loben geschieht, anders als gewöhnlich, nicht <strong>von</strong> oben nach unten wie in der Pädago‐<br />

gik oder in dienstlichen Hierarchien – es vollzieht sich, umgekehrt, <strong>von</strong> unten nach oben: Die<br />

Kinder loben ihren Vater, die Geschöpfe loben ihren Schöpfer.<br />

In der hebräischen Bibel sind leben und loben geradezu gleichbedeutend – sie werden an<br />

einigen Stellen tatsächlich synonym verwendet.<br />

Gott loben – das ist der Inbegriff des Lebens.<br />

Der Tod ist daran zu erkennen, dass die Toten Gott nicht mehr loben können (etwa in Psalm<br />

115, 17f).<br />

Der Alttestamentler Claus Westermann bemerkt: „Es ist niemals der Tatsache ein Gewicht<br />

beigemessen worden, dass es im Hebräischen für danken keine Vokabel gibt! ... Wir sind<br />

genötigt, uns eine Welt vorzustellen, in der wohl das Bitten eine durchaus wesentliche und<br />

beachtliche Rolle spielt, wo aber der Gegenpol des Bittens nicht primär das Danken, sondern<br />

das Loben ist. Und dieses Loben ist ein so starker, lebendiger und weiter Begriff, dass er un‐<br />

ser Danken in sich fasst“ 2 .<br />

Das Lob in den Psalmen spricht nirgends die Sprache des pflichtgemäßen, geschuldeten<br />

Danks – vielmehr bricht sich überschäumende Freude darin Bahn (Ps 30, 12ff); das Lob ist<br />

der Jubel der Entronnenen (Ps 124, 6f); der wieder gefundene Atem des Lebens, das neu<br />

gewonnene Leben selbst (Ps 40, 3f).<br />

2 Claus Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, S.20<br />

6


Zu solchem Lob reicht die Sprache allein nicht aus, es will als Lied gesungen werden oder als<br />

Reigen getanzt sein – es ist tatsächlich der Inbegriff des Lebens.<br />

Gott loben ist wie Atem schöpfen.<br />

Diejenigen, die Gott loben, leben wirklich, weil erst sie die Kostbarkeit des Lebens wahrneh‐<br />

men und es als unverdientes Geschenk begreifen.<br />

Wir brauchen die Sprache des Lobens; wir müssen sie immer neu lernen und einüben, damit<br />

wir widerstandsfähig bleiben gegen die Mächte, die das Leben gefährden und die uns Resig‐<br />

nation und verzagtes Verstummen lehren wollen. 3<br />

IV. Loben als das „Segnen Gottes“<br />

Auf ein überraschendes Phänomen stoßen wir in einigen Psalmen, in denen Martin Luther<br />

das hebräische Wort für segnen mit loben übersetzt:<br />

Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat<br />

(Ps 103, 2). Segne den HERRN, steht da wörtlich. Ja, so ist das: Im Loben segnen wir Men‐<br />

schen Gott, indem wir zurückfließen lassen, was er uns schenkt. Gottes Segen bleibt keine<br />

Einbahnstraße. Da schwingt und strömt etwas hin und her zwischen Gott und Mensch. Im<br />

menschlichen Gotteslob kommt der göttliche Segen zu seinem Ziel.<br />

Das Neue Testament bleibt in dieser Spur und verfolgt sie weiter. Auch im Griechischen hän‐<br />

gen Loben und Danken eng miteinander zusammen – und zusätzlich ist darin, bereits im<br />

Wortstamm, die Freude enthalten.<br />

Der Apostel Paulus beginnt seine Schreiben gern mit einem Lob Gottes.<br />

In diesem Lob dankt er Gott für die Adressaten des Briefes: Für ihren Glauben, für ihr frucht‐<br />

bares Gemeindeleben, für den Einklang <strong>von</strong> Glauben und tätiger Liebe, für ihre Ausdauer in<br />

der Hoffnung (vgl. 1.Thess 1,2ff). Kein pädagogisches Lob ist dies, das den Gemeinden „mehr<br />

desselben“ empfiehlt – viel mehr eine Art prophetischer Rede. Wirkmächtige Rede, die<br />

durch das Lob Gottes in Kraft setzt, was bei den Menschen wachsen und gedeihen soll.<br />

3 Vgl. Ingo Baldermann, Ich werde nicht sterben, sondern leben. Psalmen als Gebrauchstexte, S.108 ff<br />

7


In den sog. „paränetischen“, mahnenden Teilen der apostolischen Briefe taucht der Lobpreis<br />

Gottes regelmäßig auf als unverzichtbares Merkmal christlichen Lebenswandels – und zwar<br />

nicht nur in Zeiten besonderer Hochstimmung und freudiger Glaubensgewissheit. Das Lob<br />

Gottes hat gerade in Anfechtung, Not und Verfolgung seinen Ort; da, wo wir etwas <strong>von</strong> den<br />

dunklen, fremden, verborgenen Seiten Gottes zu spüren bekommen.<br />

Ja, das Gotteslob der Christen hat „eine im Leben der Welt klaffende Lücke auszufüllen.“<br />

(Karl Barth).<br />

Mag sein, dass unser Gotteslob in unserer zerklüfteten Welt dann und wann ungewöhnlich<br />

erscheint und befremdlich.<br />

Es sagt nicht, was die anderen sagen; es wiederholt nicht, was in aller Munde ist.<br />

Es denkt nicht, was man allgemein so denkt.<br />

Es steht bisweilen quer zu prominenten Erwartungen und Ansprüchen;<br />

zu simplen Geläufigkeiten ohnehin.<br />

Ausgerechnet diese Fremdheit; ausgerechnet die andere, überraschende, manchmal heilsam<br />

störende Sicht, die das Gotteslob einnimmt, braucht die Welt <strong>von</strong> uns:<br />

„Ich will die Volkskirche“, schreibt Fulbert Steffensky: „Ich will die Volkskirche, mit ihrer Öf‐<br />

fentlichkeit, mit ihrem Einfluss auf Staat und Gesellschaft, mit ihrer Sichtbarkeit, mit ihren<br />

Bauten, mit ihrem Religionsunterricht, mit ihren Fakultäten, mit der Möglichkeit der öffentli‐<br />

chen Rede in den elektronischen Medien und in den Printmedien. Ich plädiere nicht für eine<br />

Flucht in die Innerlichkeit, nicht für eine Flucht vor der Verantwortung. ... Aber die Gefahr<br />

ist, dass wir in der Heutigkeit ersticken. ... Die Gefahr ist, dass die <strong>Kirche</strong> ihre Fremdheit und<br />

ihre kontrapräsentische Kraft verliert. Die Gefahr ist, dass die <strong>Kirche</strong> sich selbst geläufig wird<br />

und dass sie die blinde Geläufigkeit einer Gesellschaft nicht unterbricht.“ 4<br />

4 F. Steffensky, Schwarzbrotspiritualität, S.54<br />

8


V. Von der Kraft des Gotteslobs und dem Blick „nach unten“<br />

Wenn wir als christliche Gemeinde zusammen kommen, erklingt das Gotteslob unweigerlich.<br />

Es ist unser unverwechselbares Markenzeichen als <strong>Kirche</strong>.<br />

Wir haben es nicht erfunden.<br />

Lange vor uns war es in der Welt.<br />

Ehe wir waren, ehe es die <strong>Kirche</strong> gab, haben andere Gott gelobt.<br />

Haben geantwortet auf seinen Ruf, gedankt für seine Erwählung, ihn gepriesen für sein ret‐<br />

tendes und befreiendes Handeln.<br />

Haben daraus Kraft zum Leben gewonnen.<br />

Haben daraus Hoffnung geschöpft, die trägt.<br />

Wir als <strong>Kirche</strong> stimmen ein in das Lob der Kinder Israels;<br />

wir Heutigen reihen uns ein in die Tradition unserer Väter und Mütter im Glauben;<br />

ich als Einzelne bin aufgehoben im Lob der Gemeinde.<br />

Das Gotteslob lebt <strong>von</strong> der Gemeinschaft.<br />

Das ist sein Geheimnis, das macht es so stark:<br />

Es hängt nicht <strong>von</strong> mir ab.<br />

Es kann nicht verstummen.<br />

Wenn ich gerade nicht zu loben vermag, wenn ich gerade nicht singen oder beten kann,<br />

tun´s andere für mich mit.<br />

Diesen stellvertretenden Dienst, den in der Gemeinde andere Menschen für mich überneh‐<br />

men, übernimmt die <strong>Kirche</strong> für die Welt.<br />

Nicht blauäugig, nicht pausbäckig.<br />

Nicht tatenlos in den Himmel starrend.<br />

Gott die Ehre geben – das geht nicht, ohne sehr konkret den Menschen neben mir in den<br />

Blick zu nehmen: Das Leid, das ihn peinigt; das Unrecht, das ihm widerfährt; den Hunger, der<br />

ihn quält; die Armut, die ihm Teilhabe am Leben unmöglich macht; die moralischen Vorurtei‐<br />

le, die ihn ausgrenzen.<br />

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden (Lukas 2,14) – beides lässt sich nicht ausein‐<br />

ander reißen.<br />

9


Gott in der Höhe blickt mich „<strong>von</strong> unten“ an mit den Gesichtern derer, die auf den niedrigs‐<br />

ten und geschundensten Wegen der Erde unterwegs sind.<br />

Gott loben hat etwas mit deren Würde zu tun.<br />

Mit der Würde derer, denen gerade nicht nach Loben zumute ist.<br />

Das Lob Gottes aufgeben hieße unsere Hoffnung verraten.<br />

Das Lob Gottes verschweigen hieße der Welt und ihrem Unrecht Recht geben.<br />

Das Lob Gottes mickrig machen hieße den Menschen „dort unten“ vorenthalten, was Gottes<br />

wunderbares Ziel ist mit ihnen, mit uns und dieser Welt.<br />

VI. Von der politischen Existenz des Gotteslobs<br />

Wenn wir das Lob Gottes vernachlässigen und Gottes Ehre gering achten, vernachlässigen<br />

wir die Erde und achten unsere Mitmenschen gering.<br />

Umgekehrt heißt das:<br />

Wer Gott, den Schöpfer, lobt, wird sich für die Schöpfung einsetzen, die einst sehr gut war.<br />

(1. Mose 1,31)<br />

Gott loben heißt die Erde bewohnbar halten, so dass auch unsere Kinder und Kindeskinder<br />

noch gern und gut auf ihr leben können.<br />

Gott loben heißt die Vielfalt der Schöpfung achten, schützen und fördern – die Artenvielfalt<br />

bei Pflanzen und Tieren sowie die Vielfalt der Menschen unterschiedlichen Geschlechts, un‐<br />

terschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlicher Kultur, unterschiedlicher Religion, unterschied‐<br />

licher sexueller Orientierung .... .<br />

Gott loben heißt dem Klimawandel entgegenwirken, was nicht nur mit Erhaltung der Schöp‐<br />

fung zu tun hat, sondern ganz entscheidend mit Gerechtigkeit. Die verheerenden Folgen des<br />

Klimawandels tragen gegenwärtig diejenigen, die ihn am wenigsten verursacht haben: Die<br />

Menschen in den ärmsten und wirtschaftlich unterentwickeltsten Ländern der Erde.<br />

Gott loben heißt kritisch umgehen mit irreversiblen Technologien wie Atomkraft oder Gen‐<br />

technologie, die uns aus dem Ruder laufen und unter der Hand Herrschergewalt gewinnen<br />

und Schöpfermacht an sich reißen.<br />

10


Wer Gott, dem Anwalt der Schwachen und Benachteiligten, die Ehre gibt, wird in seinem<br />

Handeln und Entscheiden konsequent an der Option für die Armen festhalten. 5<br />

Gott loben heißt sensibel sein für jede Form <strong>von</strong> sozialer Ungerechtigkeit und sich nicht ab‐<br />

finden mit der unerträglichen Spaltung der Erdbevölkerung in Arme und Reiche.<br />

Gott loben heißt eintreten für Bildungsgerechtigkeit und dafür, dass alle Menschen an den<br />

vielfältigen Möglichkeiten des Lebens teilhaben können.<br />

Gott loben heißt einschreiten gegen alle Arten <strong>von</strong> Gewalt gegenüber Schwächeren.<br />

Gott loben heißt Familie unter stark veränderten Bedingungen neu verstehen, schützen, för‐<br />

dern und stärken.<br />

Einige Beispiele nur für die unterschiedlichen Weisen einer politischen Existenz des Gottes‐<br />

lob. Es geht um den unbedingten Einklang zwischen Gotteslob und tätiger Liebe.<br />

Die Beispiele zeigen:<br />

Gott loben befreit aus den scheinbar schicksalhaften Klauen der Unbilden dieser Welt; wer<br />

Gott lobt, ist gewiss: Wir sind den Schrecken und Ängsten und Problemen des Lebens nicht<br />

machtlos ausgeliefert.<br />

So macht Gottes Lob frei zum Handeln.<br />

Zur tätigen Verantwortung für die Welt.<br />

VII. Zwei exemplarische Formen des Gotteslobs: Beten und Singen<br />

5 Vgl. Gemeinsames Wort der <strong>Kirche</strong>n zur sozialen und wirtschaftlichen Lage 1997<br />

11


Lassen Sie mich an zwei ausgewählten Formen des Gotteslobs exemplarisch deutlich ma‐<br />

chen, wie es um den Zusammenhang <strong>von</strong> gottesdienstlicher und politischer Existenz steht:<br />

Am Beten und am Singen.<br />

VII.1 Gott loben im Gebet<br />

Wenn wir beten, reden wir zu Gott.<br />

Vielleicht ist das Gebet die ursprünglichste Form des Gotteslobs.<br />

Betend antworten wir dem, der uns geschaffen hat; betend betätigen wir uns als diejenigen,<br />

die wir nach Gottes Willen und Berufung sind: Als Gottes ansprechbare, lebendige Gegen‐<br />

über; als verantwortliche Geschöpfe, denen der Schöpfer mit der Pflege und Bewahrung der<br />

Schöpfung Großes anvertraut hat.<br />

Betend sind wir in einem grundlegenden Akt, wozu uns Gott ins Leben rief.<br />

Karl Barth etwa überschreibt die gesamte Lehre vom christlichen Lebenswandel mit dem<br />

Begriff „Anrufung“. 6<br />

Das Gebet wird bei ihm zum Kernbegriff der Ethik.<br />

Bei Dietrich Bonhoeffer finden wir dies übrigens ähnlich, wenn er in seinem Brief zu einer<br />

Taufe im Mai 1944 ausführt: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten<br />

und im Tun des Gerechten. 7<br />

In all unserem Tun und Lassen, in aller Verantwortung, die wir tätig übernehmen, gehen wir<br />

zuallererst da<strong>von</strong> aus, dass wir Wesen sind, die Gott anredet, die Gott hört und ernst nimmt.<br />

Wir bedienen nicht irgendein machtvolles höheres Wesen dort droben am Firmament dann<br />

und wann mit unserer Aufmerksamkeit, sondern da ist ein Gott, der sich gezeigt hat als per‐<br />

sonales Gegenüber, der uns in Leben rief als unverwechselbare Personen. Unser betendes<br />

Lob besteht darin, ihn nun auch unsererseits als lebendiges Gegenüber anzureden, zu hören<br />

und ernst zu nehmen; als Vater Jesu Christi, der auch unser himmlischer Vater ist und sich<br />

um uns sorgt.<br />

Im Gebet lässt Gott sich anreden und bewegen durch uns.<br />

6 Karl Barth, Das christliche Leben, Die Kirchliche Dogmatik IV,4.<br />

7 Gedanken zum Tauftag <strong>von</strong> D.W.R., in: Widerstand und Ergebung.<br />

12


Ja, mehr noch: Gott bestimmt den Lauf der Welt auch dadurch, dass er sich durch die Sei‐<br />

nen, die die Welt ins Gebet nehmen, bewegen lässt.<br />

Betend hat die <strong>Kirche</strong> Anteil am Weltregiment Gottes.<br />

So ernst nimmt uns der Schöpfer, so wichtig sind wir ihm, dass er unser Lob als Antwort, als<br />

Reaktion auf sein Wort will – nicht immer als Jubel, nicht immer als Dank; häufig als Bitte,<br />

bisweilen als Frage, oft als Klage auch. Der Akt der Reaktion, der Akt der Anrufung allein ist<br />

Lob seiner Ehre.<br />

Durch unser betendes Lob bezieht der lebendige Gott uns mit ein in sein Weltregiment.<br />

VII.2 Gott singend loben<br />

Wer Gott lobt; wer <strong>von</strong> ihm erzählen und den christlichen Glauben unter die Leute bringen<br />

will; wer zum Salz der Erde und zum Licht der Welt berufen ist, kommt mit Worten und Ge‐<br />

beten allein nicht aus.<br />

Der guten Mär bring ich so viel, / da<strong>von</strong> ich singn und sagen will, dichtet Martin Luther in<br />

seinem wunderschönen Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ (EG 24).<br />

Das Evangelium, das Lob Gottes, sprengt die Möglichkeiten des bloßen Sagens.<br />

Wer Gott lobt, braucht zusätzliche Ausdrucksformen.<br />

Vor allem Melodien und Lieder.<br />

Allein der biblische Psalter stellt eine einzige große Sammlung unterschiedlichster Lieder dar:<br />

Lieder, in denen überschwänglicher Lebensmut erklingt – inmitten <strong>von</strong> lebensmüden Fragen,<br />

verzweifelten Schreien nach Gerechtigkeit, kraftloser Traurigkeit und rachedurstigen Hassti‐<br />

raden.<br />

Es kommt nicht <strong>von</strong> ungefähr, dass die Reformation sich vor allem singend unter den Men‐<br />

schen ausgebreitet hat.<br />

Menschen singen, wenn ihr Herz voll ist.<br />

Singen kommt aus dem tiefsten Innern und geht buchstäblich unter die Haut.<br />

Gemeinsames Singen macht stark. Singen hilft. Gerade wenn es schwer wird.<br />

Denn: Im Singen trägt die Musik mich mit; Unerhörtes, nie Geahntes gewinnt Klang.<br />

Indem ich singe, geschieht etwas Eigenartiges:<br />

13


Ich bin buchstäblich außer mir; die Worte und Töne, die ich singe, kommen <strong>von</strong> außen auf<br />

mich zurück.<br />

Ich gebe etwas <strong>von</strong> mir – und empfange zugleich.<br />

Das erklärt, warum Menschen zu allen Zeiten in Notlagen gesungen haben und singen; Sin‐<br />

gen ist der Befreiungsakt schlechthin.<br />

Nicht <strong>von</strong> ungefähr haben die politischen Herrscher aller Zeiten versucht, die Lieder unter<br />

Kontrolle zu halten.<br />

Sie haben sich eigener Lieder bedient, um ihre Macht zu festigen.<br />

Und: Sie haben die Lieder der anderen gefürchtet.<br />

Denn Protest – auch Protest gegen die Mächtigen – kommt in der Geschichte immer als Pro‐<br />

testsong.<br />

Jedes christliche Lied, ob traditionell oder modern, ist <strong>von</strong> seinem Wesen her ein Protestlied<br />

gegen den Tod.<br />

Wer selber singt, hat es schon gespürt:<br />

Ich vermag zu singen, was ich niemals sagen würde.<br />

Lieder können viel mehr zu sagen wagen als eine Predigt es wagen kann.<br />

Das Lob in den Osterchorälen etwa ist dem, was ich mit meinem kleinen Glauben leben und<br />

mit meinen bescheidenen theologischen Weisheiten weiterzugeben vermag, weit voraus.<br />

Singend bringe ich nicht nur das zum Ausdruck, was in mir ist und was meiner Erfahrung ent‐<br />

spricht.<br />

Noch eine andere Dimension kommt darin zum Klingen; eine Dimension, die meine engen<br />

Grenzen sprengt und mich mitnimmt in das wunderbare Land der Hoffnung und der Gewiss‐<br />

heit.<br />

Singend strecke ich mich nach dem aus, was noch nicht ist – zaghaft vielleicht, nicht allem<br />

zustimmend, manchmal nur zögerlich einstimmend – und doch bin ich schon jetzt seltsam<br />

kraftvoll darin geborgen.<br />

Nicht ich muss den Ton halten – der Ton trägt mich.<br />

Wir loben Gott mit unserem Singen nicht, weil wir so fest glauben.<br />

Sondern wir loben und singen, um glauben zu lernen.<br />

14


Die EKD hat im Rahmen ihres Reformprozesses „<strong>Kirche</strong> im Aufbruch“ jedes Jahr bis zum 500.<br />

Reformationsjubiläum 2017 mit einem je eigenen Themenakzent versehen. Das Jahr 2012<br />

wird ein Jahr der <strong>Kirche</strong>nmusik sein – umgeben <strong>von</strong> Jahren der Bildung (2010), der Freiheit<br />

(2011), der Toleranz (2013), der Politik (2014), der Einen Welt (2016). Diese Themenkonstel‐<br />

lation macht sinnenfällig: Im kommenden Jahr der Musik, des Gotteslobs, werden wir uns<br />

singend und musizierend im Zentrum dessen befinden, was <strong>Kirche</strong> zu <strong>Kirche</strong> macht – und aus<br />

dem alles politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Tun der <strong>Kirche</strong> seinen Auftrag, sei‐<br />

ne Kraft und seine Verheißung empfängt.<br />

Im Beten und Singen geraten wir in Kontakt mit der Befreiungstat Gottes.<br />

Als die beiden Apostel Paulus und Silas in Philippi im Gefängnis sitzen, weil sie in der Öffent‐<br />

lichkeit mit ihrem Reden und Handeln Anstoß erregt haben, singen sie in ihrer Zelle mitten in<br />

der Nacht Loblieder (Apg 16, 25ff).<br />

Ist das absurd? Verrückt fromm? Naiv weltfremd?<br />

Hat dieser nächtliche Lobgesang etwas vom Mut der Verzweiflung, vergleichbar dem be‐<br />

rühmten Pfeifen im dunklen Keller?<br />

Die biblische Geschichte erzählt auf wunderbare Weise:<br />

Singend gewinnen die beiden neue Freiheit mitten in ihrer Bedrängnis.<br />

Türen öffnen sich, Ketten fallen ab.<br />

Neues, freies Leben wird möglich.<br />

Seltsam: Diese in die Enge getriebenen <strong>Kirche</strong>nleute bleiben dort im Gefängnis bei ihrem<br />

ureignen Lied. Sie loben Gott.<br />

Eher verständlich und durchaus angebracht wären Jammern und Klagen gewesen.<br />

So wie die Kollegen im Gefängnis jammern und klagen.<br />

Keine Zukunft, keine Chance.<br />

Die Versuchung liegt nahe, in diese Melodie einzustimmen.<br />

Sie hat doch Recht.<br />

Paulus und Silas erliegen dieser Versuchung nicht.<br />

Sie singen anders.<br />

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Und: Durch ihr Singen ereignet sich etwas!<br />

Weil es so anders ist, weil die Melodie auffällt, horchen die anderen auf, hören die anderen<br />

hin.<br />

Die Mitgefangenen – und die Gefängniswärter.<br />

Sogar diejenigen, die an der Macht sitzen und Einfluss haben.<br />

Sie hören das ungewohnte Lob – und geraten ins Nachdenken.<br />

Sie hören überraschende Töne – und sind in Bewegung gesetzt.<br />

Die Geschichte erzählt:<br />

Alles wird dadurch anders.<br />

Eine <strong>Kirche</strong>, die das Lob Gottes stark macht, die also bei ihrem ureigenen Thema bleibt, hat<br />

eine Ausstrahlung, die in die Welt wirkt.<br />

Sie lebt <strong>von</strong> einer Kraft, die die Welt verändern kann.<br />

Das Gotteslob der <strong>Kirche</strong> ist lebensnot‐wendig im wahrsten Sinne des Wortes.<br />

VIII. Das Gotteslob als Wahrnehmung <strong>von</strong> Weltverantwortung<br />

im Antworten auf Gottes Handeln<br />

Wieder ist Sonntagmorgen. Mitten im August 2011.<br />

Kantatengottesdienst in der Dresdener Frauenkirche.<br />

Ferienzeit. Noch mehr Touristen als sonst sind in der Stadt.<br />

Manche Spuren erinnern noch an den Deutschen <strong>Evangelische</strong>n <strong>Kirche</strong>ntag in dieser Stadt<br />

vor einigen Wochen.<br />

Singet dem Herrn ein neues Lied erklingt als erstes – die strahlendste der sechs Motetten <strong>von</strong><br />

Johann Sebastian Bach. Mit der jubelnden Fuge am Schluss: Alles, was Odem hat, lobe den<br />

HERRN. Halleluja!<br />

Danach, als musikalischer Rahmen der Predigt, folgt die Kantate Es ist dir gesagt, Mensch,<br />

was gut ist (BWV 45).<br />

Gotteslob und Weltverantwortung:<br />

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Hier, im Kantatengottesdienst in der Dresdener Frauenkirche, an diesem geschichts‐ und<br />

symbolträchtigen Ort, rückt uns der Zusammenhang auf unerwartete Weise unmittelbar<br />

auf den Leib.<br />

Alles, was Odem hat, lobe den HERRN!<br />

Und:<br />

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.<br />

Gott loben – und Gutes tun.<br />

Die Kantate nimmt im Eingangschor wörtlich den biblischen Text aus Micha 6,8 auf und setzt<br />

ihn grandios in Töne.<br />

Ein wohlmeinender, kirchenmusikalisch beschlagener Experte führt im Programmblatt ver‐<br />

meintlich erklärend aus:<br />

„Man wird in dieser Kantate mehr Gesetz und weniger Evangelium finden. Aber es ist wohl<br />

nicht <strong>von</strong> Schaden, sich ab und zu den großen Ernst des Wortes Gottes vor Augen zu führen,<br />

das uns in die Verantwortung rufen will, die wir uns allzu oft auf der billigen Gnade (Bon‐<br />

hoeffer) ausruhen.“<br />

Wie schade: Er hat es nicht verstanden.<br />

Wer die Worte aus Micha 6,8 in ihrem unmittelbaren Kontext aufsucht, wird Verblüffendes<br />

feststellen. Da ringt ein enttäuschter Gott um sein untreues Volk, führt ihnen seine Taten<br />

der Liebe vor Augen, erinnert sie an die Befreiung aus Ägypten, an die Bewahrung während<br />

der Wüstenzeit, damit ihr erkennt, wie der HERR euch alles Gute getan hat. (Micha 6, 3‐5).<br />

Dieses Gute ist im Blick, wenn es weiter heißt: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was<br />

der HERR <strong>von</strong> dir fordert.<br />

Die Wohltaten Gottes an seinem Volk sind gemeint.<br />

Was <strong>von</strong> Gott her gut ist, daran wird erinnert: Es ist dir gesagt!<br />

Nichts anderes, nicht mehr fordert der HERR <strong>von</strong> uns als das, was er zuvor selber seinen Leu‐<br />

ten zugute kommen ließ.<br />

Aus dem liebenden und befreienden Handeln Gottes an seinem Volk folgt, was ethisch gebo‐<br />

ten und <strong>von</strong> uns Menschen gefordert ist.<br />

Kirchliche Weltverantwortung ist Antwort auf Gottes Handeln.<br />

Christliche Aktivität ist Frucht des Evangeliums.<br />

Unser Tun des Gerechten wird durch das Gotteslob beflügelt und auf den Weg gebracht.<br />

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Wer Gott lobt, wer mit allen Sinnen und mit dem Verstand wahrnimmt, was Gott uns<br />

schenkt – der wird fähig und frei, dieses Geschenk zu bewahren, Verantwortung zu über‐<br />

nehmen, Konsequenzen zu ziehen.<br />

Alles, was Odem hat, lobe den HERRN!<br />

Und:<br />

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR <strong>von</strong> dir fordert.<br />

IX. Das Gotteslob hilft, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu gestalten<br />

Weil wir Gott loben, brauchen wir die Welt weder verklärend schön zu reden noch resigniert<br />

schlecht zu machen.<br />

Weil wir Gott loben, können wir die Welt nüchtern und aufmerksam in den Blick nehmen.<br />

Für Gott, den Schöpfer der Welt, müssen wir als <strong>Kirche</strong> keine Verantwortung übernehmen –<br />

wohl aber für die Erde, die er uns anvertraut hat, und für die Menschen, die mit uns auf die‐<br />

ser Erde leben.<br />

Kirchliche Weltverantwortung, christliches Tun, ist in den konkreten Auswirkungen an vielen<br />

Stellen verwechselbar.<br />

Was in den vielfältig spezialisierten Bereichen unserer Diakonie geschieht, leisten nicht‐<br />

christliche Organisationen auf ähnliche Weise.<br />

Was kirchliche Beratungsstellen vorhalten, bieten auch andere in vergleichbarer Qualität an.<br />

Dass wir für den Frieden in der Welt eintreten, dass wir unsere Stimme für die Schwachen<br />

und Ausgegrenzten erheben, dass wir uns für Bildungsgerechtigkeit einsetzen, gegen soziale<br />

Ungerechtigkeit kämpfen, mit Sorge den Klimawandel verfolgen, den interreligiösen Dialog<br />

suchen oder klare Positionen im Blick auf Atomkraft und Energiepolitik vertreten ... ‐ dies<br />

alles und manches andere verbindet uns mit gutmeinenden und verantwortlichen Menschen<br />

auch außerhalb der <strong>Kirche</strong>.<br />

Das ist so – und das ist gut so.<br />

Die Wurzel unseres Engagements allerdings unterscheidet uns; aus welchem Grund wir tun,<br />

was wir tun – das macht uns einmalig.<br />

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Dies dürfen wir nicht verschweigen.<br />

Es muss erkennbar bleiben, dass wir nicht als Gutmenschen handeln, nicht als ethische Bes‐<br />

serwisser auftreten, nicht als Wichtigtuer unseren Senf dazu geben.<br />

Unser Antrieb ist das Gute, das Gott an uns tat und immer wieder tut.<br />

Im gemeinsamen Gotteslob gewinnen wir Kontakt zu diesem Guten. Immer neu.<br />

Die Kraft, aus der wir handeln, kommt nicht zuerst aus uns.<br />

Sie geht über unsere eigene Kraft weit hinaus.<br />

Der Überschuss an Kraft und Hoffnung, der aus der Verheißung Jesu Christi entspringt,<br />

macht uns zu Salz der Erde und Licht der Welt.<br />

Zu Leuten, die aus gutem Grund weiter hoffen und weiter arbeiten, auch wenn augenschein‐<br />

lich nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu tun ist.<br />

Im Gottesdienst der versammelten Gemeinde wird diese Verheißung Jesu Christi laut.<br />

Er ist deshalb die unverzichtbare Quelle für den Gottesdienst in der Welt.<br />

Dietrich Ritschl schlägt für unseren Gottesdienst in der Welt eine mir sehr einleuchtende<br />

Unterscheidung vor:<br />

Er unterscheidet zwischen bleibend Wichtigem und jetzt Dringlichem („Issues<br />

of Lasting Importance" und "Issues of Momentary Urgency").<br />

„Zugang zum ersten“, sagt Ritschl, „haben wir durch Konfrontation mit dem zweiten, und<br />

das zweite verstehen wir letztlich nur aus der Vision des ersten. Über ‚bleibend Wichtiges’<br />

meditieren, beten und diskutieren wir in Ruhe, für ‚jetzt Dringliches’ kämpfen wir, weil wir<br />

daran meist schon schuldig geworden und in unserem Kampf schon zu spät sind. Die <strong>Kirche</strong>,<br />

die sich nur dem ‚bleibend Wichtigen’ widmet, verliert die Gegenwart und den Mitmen‐<br />

schen; wer sich nur dem ‚jetzt Dringlichen’ zuwendet, verliert die Frage nach Gott und nach<br />

der Legitimität seines Tuns.“<br />

Das bleibend Wichtige stets neu bedenken, es in der Sprache unserer Zeit neu benennen –<br />

und das jetzt Dringliche mutig und entschlossen anpacken:<br />

Dies ist unser Auftrag als <strong>Kirche</strong>, dem die Verheißung Jesu Christi gilt:<br />

Ich lebe, und ihr sollt auch leben. (Johannes 14,19)<br />

Die zweite These der Theologischen Erklärung <strong>von</strong> Barmen formuliert es so:<br />

Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit glei‐<br />

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chem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn wider‐<br />

fährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem<br />

Dienst an seinen Geschöpfen.<br />

X. „Tobe, Welt, und springe ...“<br />

Am Schluss noch einmal zurück in die Siegener Martinikirche.<br />

Sie erinnern sich: Sonntagmorgen. März 2011. Kantatengottesdienst.<br />

Einen Tag nach dem atomaren Super‐GAU in Fukushima.<br />

Wir haben die Kantate an jenem Morgen nicht ausfallen lassen.<br />

Die Lieder nicht gestrichen.<br />

Das Gotteslob ging nicht allen über die Lippen.<br />

Brauchte es auch nicht.<br />

Es wurde trotzdem laut.<br />

Die einen sangen für die anderen.<br />

Das Lob einiger erklang stellvertretend für viele, aus deren Seele und Kehle kein Lob kom‐<br />

men konnte:<br />

In Siegen. In Japan. Auf der ganzen Erde.<br />

Und siehe da:<br />

Immer mehr stimmten ein.<br />

Zögernd zunächst, dann zunehmend beherzter.<br />

Es hat uns gestärkt, das Gotteslob. Es hat uns getröstet, gemeinsam zu singen.<br />

Ausgerechnet an jenem vom Unglück überschatteten Sonntagmorgen.<br />

Unser Singen klang nicht falsch, es war nicht gelogen, nicht gezwungen, auch nicht zynisch.<br />

Nicht pausbäckig kam es daher, nicht polternd, nicht forsch.<br />

Behutsam suchten die Töne sich ihren Weg in die <strong>Kirche</strong>, in die Herzen und in die Welt; ge‐<br />

trost fanden sie zu immer mehr Festigkeit und Glanz; mit tastender Gewissheit sangen wir<br />

dem Grauen der Welt entgegen.<br />

Geklagt und gefragt haben wir natürlich auch, seufzend gebetet, sprachlos geschwiegen,<br />

fürbittend gedacht – nicht zuletzt kräftig gespendet.<br />

Und: Loblieder gesungen. Uns an die Kraft angeschlossen, aus der wir leben.<br />

Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu, meine Zier ...<br />

Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe …<br />

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Ich ahne: Es war das Beste, was wir an jenem Morgen tun konnten.<br />

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