Die Fantasie der Lippen - Experimenta.de
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»Fliehen?«, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte sie überrascht. »Warum <strong>de</strong>nn?«<br />
»Was?« Ungläubig blieb Esther wie angewurzelt stehen, <strong>de</strong>n Mund vor Erstaunen weit offen.<br />
»Du dachtest doch nicht etwa –« Rivka lachte bitter. »Geh und hol die restlichen Sachen, Esther.<br />
Und sage <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, sie sollen sich anziehen und ebenfalls ihren Koffer mitbringen.«<br />
Wie in Trance ging Esther zu ihren Geschwistern und teilte ihnen mit, sie müssten die Wohnung<br />
nun verlassen. Ihre Stimme war hohl und sie fühlte sich auf eine merkwürdige Weise abwesend.<br />
Als sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in ihrem Zimmer war und die schlafen<strong>de</strong> Rachel auf <strong>de</strong>n Arm hob, hörte sie ein<br />
Pochen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür.<br />
<strong>Die</strong> Zeit schien plötzlich stillzustehen. So viele Gedanken rasten gleichzeitig durch Esthers Kopf,<br />
dass es ihr vorkam, als wür<strong>de</strong> sie schon tagelang so dastehen und aus <strong>de</strong>m Fenster starren, nicht<br />
nur seit ein paar Sekun<strong>de</strong>n.<br />
<strong>Die</strong> Enttäuschung über ihre Mutter schnürte Esther die Kehle zu und war beinahe schlimmer als<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Zorn, die Wut, die Verzweiflung. Wie konnte ihr das nur angetan wer<strong>de</strong>n? Wie konnte nur<br />
zugelassen wer<strong>de</strong>n, dass sie alles verloren, alles hinter sich ließen, alles aufgaben? Sie wollte<br />
nicht aufgeben. Sie wollte kämpfen, sie wollte stark sein, sie wollte rennen. Sie wollte rennen<br />
und niemals wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kehren, sie verlangte so sehr nach <strong><strong>de</strong>r</strong> ihr unbekannten Kraft, die durch ihren<br />
Körper strömte, sie vorwärts trieb, ihrem Laufen einen Sinn verschaffte. <strong>Die</strong> ewige Straße unter<br />
ihren Füßen. Der Weg in die Freiheit, das Laufen auf diesem Weg – weglaufen. Immer fort, immer<br />
glücklich, immer befreit. Esther konnte kaum einen klaren Gedanken fassen; das Pulsieren in ihr<br />
verwirrte sie, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lärm ihrer Entschlüsse ängstigte sie. War sie entschlossen? War sie bereit? –<br />
Eigentlich wusste sie das nicht sicher. Floh sie nun, verriet sie ihre Familie.<br />
Aber war nicht sie diejenige, die verraten wor<strong>de</strong>n war? Von ihrer eigenen Mutter? Hintergangen,<br />
betrogen, belogen ... Je<strong>de</strong>s dieser Wörter versetzte Esther einen schmerzhaften Stich, aber die<br />
Wut, die durch diese Schmerzen ausgelöst wur<strong>de</strong>, war irgendwie befriedigend. Sie wür<strong>de</strong> nicht<br />
klein beigeben, nicht mitgehen wie ein braves Mädchen. Natürlich hatte sie keine Vorstellung von<br />
<strong>de</strong>m, was sie erwartete. Sie war sich nur <strong>de</strong>ssen bewusst, dass sie nicht an diesen frem<strong>de</strong>n Ort<br />
wollte. Wie schön wäre es doch, in ihr altes Leben zurückzureisen. Es war, als erinnere sie sich<br />
an das Leben einer Frem<strong>de</strong>n, von <strong><strong>de</strong>r</strong> sie in einem ihrer Bücher gelesen hatte. Eine erfun<strong>de</strong>ne<br />
Person, die in ihrer heilen perfekten Welt lebte. Aber in Wahrheit ... in Wahrheit war alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>s.<br />
Esther wirbelte herum und eilte in <strong>de</strong>n Gang. Sie achtete nicht auf das, was um sie herum geschah.<br />
Sie hörte nicht, wie Rachel von <strong>de</strong>n harschen Stimmen aufwachte und zu weinen begann, wie<br />
Rivka ohne Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch <strong>de</strong>n Männern von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gestapo folgte und Jakov Mirjam an <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand<br />
nahm. Esther blen<strong>de</strong>te alles aus, spürte nicht, wie sie gestoßen wur<strong>de</strong>, wie sie draußen auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Straße hinfiel und angebrüllt wur<strong>de</strong>. Sie rappelte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf und machte sich keine<br />
Gedanken darüber, wie leicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Koffer im Gegensatz zu Rachel war. Wie ihre Umhängetasche<br />
unbequem an ihrer Seite hing und <strong><strong>de</strong>r</strong> Riemen ihr immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die bloße Haut am Hals schürfte.<br />
Sie nahm nicht wahr, wohin genau sie geführt wur<strong>de</strong>n, sie konnte nicht genau sagen, was mit<br />
ihren Familienmitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n geschah. Was diese Männer taten. Warum sie sie zur Eile antrieben. Nur<br />
dass es lauter wur<strong>de</strong>, merkte sie irgendwann. Und dass Ruhe sich in ihr ausbreitete, selbst wenn<br />
sie dagegen ankämpfte. Es war gut so, es war schon in Ordnung. <strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n sich bekriegen<strong>de</strong>n<br />
Gedanken in ihrem Kopf wur<strong>de</strong>n bald leise. <strong>Die</strong> Seite, zu <strong><strong>de</strong>r</strong> sie nicht gehalten hatte, wür<strong>de</strong><br />
schlussendlich siegen. In <strong>de</strong>n Gassen <strong>de</strong>s Industrieviertels, durch das man sie trieb, stank es<br />
unangenehm. Der Schnee war grau wie die Mauern <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebäu<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rauch, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>n<br />
Schornsteinen quoll, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Himmel, selbst wenn sie sich nicht sicher war, ob er nicht von<br />
<strong>de</strong>m grauen Rauch ver<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Wolken selbst diese Farbe angenommen hatten.<br />
Immerhin hatte es aufgehört zu schneien, aber die Kälte blieb. Wenn es so sein sollte, sollte es so<br />
sein. – Nein, das sollte es nicht! Ein plötzlicher Schwall wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufflammen<strong><strong>de</strong>r</strong> Zweifel und Ängste<br />
Juli/August 2012 7<br />
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