Fall zu Art 4 GG
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Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 1 von 8<br />
<strong>Fall</strong> 7<br />
Das Kreuz mit dem Kruzifix<br />
Nach langjährigen Debatten wird das Schulgesetz<br />
des Landes X durch einen neuen § 12a<br />
ergänzt. Dieser lautet:<br />
§ 12a<br />
An den staatlichen Schulen kann in<br />
jedem Klassenzimmer ein Kruzifix<br />
aufgehängt werden. Die Schulleitung<br />
bestimmt die näheren Einzelheiten,<br />
insbesondere hinsichtlich<br />
Ort und <strong>Art</strong> des Kruzifixes.<br />
Zur Begründung wird angeführt, daß das Kruzifix<br />
den Schülern die christlichen Grundwerte<br />
verdeutlichen und näherbringen soll. Insbesondere<br />
soll eine bessere Integration ausländischer<br />
Schüler anderer Konfessionen erreicht<br />
werden, indem diese die für sie oft fremde Religion<br />
des Christentums kennenlernen und so<br />
ein besseres Verständnis für westliche Werte<br />
und Normen entwickeln.<br />
Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erheben<br />
die Eltern E des Schülers C (12 Jahre), der<br />
eine staatliche Schule des Landes X besucht,<br />
Verfassungsbeschwerde gegen diese Ergän<strong>zu</strong>ng.<br />
Zur Begründung machen sie geltend,<br />
daß sie bislang ihren Sohn streng nach den<br />
Werten des Korans erzogen hätten. Durch die<br />
zwangsweise Konfrontation ihres Sohnes mit<br />
einem Kruzifix in den Unterrichtsräumen greife<br />
der Staat un<strong>zu</strong>lässig in ihre Grundrechte ein.<br />
Frage 1: Ist die Verfassungsbeschwerde<br />
der E <strong>zu</strong>lässig?<br />
Der Direktor der im angrenzenden Land Y gelegenen<br />
Pflichtschule P ist von der Gesetzesänderung<br />
im Nachbarland so begeistert, daß<br />
er an seiner Schule in allen Klassenzimmern<br />
direkt über der Tafel ein 60 cm hohes Kruzifix<br />
anbringen läßt. Dies wird von den – sich in der<br />
Mehrheit befindlichen – Schülern christlichen<br />
Glaubens begrüßt. Eine kleine Gruppe von<br />
Schülern anderer Glaubensrichtungen ist mit<br />
dieser Maßnahme jedoch alles andere als ein-<br />
verstanden und bleibt dem Unterricht unter<br />
Protest fern. Nachdem mehrere Gespräche<br />
mit dieser Schülergruppe und ihren Eltern ohne<br />
Erfolg bleiben, beugt sich der Direktor der<br />
starren Haltung und läßt die Kruzifixe nach<br />
zehn Tagen wieder aus den Unterrichtsräumen<br />
entfernen. Daraufhin nehmen auch die<br />
Schüler wieder am Unterricht teil. In der Folge<br />
erteilt die Schule jedoch wegen der zehn Tage<br />
Fehlzeit jedem von ihnen einen formell rechtmäßigen<br />
schriftlichen Verweis. In der Begründung<br />
wird ausgeführt, daß in dem Aufhängen<br />
der Kruzifixe kein hinreichender Grund für ein<br />
Fernbleiben von der Schule <strong>zu</strong> sehen sei, da<br />
sich die Schüler insoweit nicht auf die Religionsfreiheit<br />
berufen dürften. Auch die schulpflichtige<br />
15jährige Schiitin A erhält einen solchen<br />
schriftlichen Verweis. Nachdem sie hiergegen<br />
erfolglos Widerspruch eingelegt hat,<br />
erhebt sie form- und fristgerecht Anfechtungsklage<br />
beim <strong>zu</strong>ständigen Verwaltungsgericht.<br />
Dabei wird sie von ihren Eltern wirksam vertreten.<br />
Sie blieb dem Unterricht fern, weil sie sich<br />
durch das Kruzifix un<strong>zu</strong>mutbar in ihrer Glaubensfreiheit<br />
beeinträchtigt fühlte und meint, die<br />
Schulleitung habe dies bei der Erteilung des<br />
schriftlichen Verweises nicht ausreichend berücksichtigt.<br />
Frage 2: Hat die Klage der A Aussicht auf<br />
Erfolg?<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 2 von 8<br />
Frage 1<br />
Lösung <strong>Fall</strong> 7<br />
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />
Es stellt sich die Frage, ob die Verfassungsbeschwerde<br />
der E gemäß <strong>Art</strong>. 93 I Nr. 4a <strong>GG</strong><br />
i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerf<strong>GG</strong> <strong>zu</strong>lässig<br />
ist.<br />
Anmerkung:<br />
Achten Sie auf die <strong>Fall</strong>frage. Hier war nur nach<br />
der Zulässigkeit gefragt!<br />
I. Beschwerdeberechtigung, § 90 I BVerf<strong>GG</strong><br />
Die E sind als natürliche Personen Träger von<br />
Grundrechten und damit als „jedermann“ beschwerdeberechtigt.<br />
Sollten sie Ausländer sein,<br />
so können sie sich allerdings nur auf die sogenannten<br />
Jedermannrechte und nicht auf die sogenannten<br />
Bürger- oder Deutschengrundrechte<br />
berufen. Die hier in Frage kommenden <strong>Art</strong>. 4 I<br />
und 6 II 1 <strong>GG</strong> sind Menschenrechte.<br />
II. Beschwerdegegenstand, § 90 I BVerf<strong>GG</strong><br />
Beschwerdegegenstand sind sämtliche Akte der<br />
„öffentlichen Gewalt“ (vgl. <strong>Art</strong>. 1 III, 20 III <strong>GG</strong>).<br />
Als „öffentliche Gewalt“ in diesem Sinne sind alle<br />
drei Gewalten <strong>zu</strong> verstehen. § 12a XSchG ist<br />
somit als Akt der Legislative tauglicher Beschwerdegegenstand.<br />
III. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerf<strong>GG</strong><br />
1. Möglichkeit der Grundrechtsverlet<strong>zu</strong>ng<br />
Die E müssen geltend machen können, in einem<br />
ihnen <strong>zu</strong>stehenden Grundrecht oder grundrechtsgleichem<br />
Recht verletzt <strong>zu</strong> sein, § 90 I<br />
BVerf<strong>GG</strong>.<br />
In Frage kommt hier eine Verlet<strong>zu</strong>ng des elterlichen<br />
Erziehungsrechts in religiöser und weltanschaulicher<br />
Hinsicht. 1 Geschützt wird es durch<br />
die Zusammenschau von <strong>Art</strong>. 4 I und <strong>Art</strong>. 6 II 1<br />
<strong>GG</strong>, die nebeneinander anwendbar sind und<br />
sich nicht gegenseitig verdrängen. 2 Nach dem<br />
Bundesverfassungsgericht ist es „Sache der Eltern,<br />
ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in<br />
Glaubens- und Weltanschauungsfragen <strong>zu</strong> vermitteln,<br />
die sie für richtig halten. Dem entspricht<br />
das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen<br />
fern<strong>zu</strong>halten, die den Eltern falsch oder<br />
1 Zum Schutzbereich des Elternrechtes aus <strong>Art</strong>. 6 <strong>GG</strong> vgl.<br />
Jarass/Pieroth <strong>GG</strong>, <strong>Art</strong>. 6, Rdnr. 32<br />
2 Jarass/Pieroth, <strong>Art</strong>. 6, Rdnr. 31.<br />
schädlich erscheinen.“ 3 Der neue § 12a XSchG<br />
schafft die Grundlage dafür, daß der C in Zukunft<br />
möglicherweise beim Schulbesuch mit einem<br />
Kruzifix als Symbol christlichen Glaubens<br />
zwangsweise konfrontiert wird. Gerade weil er<br />
aufgrund seines Alters in seinen Anschauungen<br />
noch nicht gefestigt sein wird, kann dies <strong>zu</strong> einer<br />
mentalen Beeinflussung des C in Glaubensfragen<br />
führen und so seine Erziehung streng nach<br />
den Wertvorstellungen des Koran behindern oder<br />
sogar in Frage stellen. Eine Grundrechtsverlet<strong>zu</strong>ng<br />
der E aus <strong>Art</strong>. 4 I und 6 II 1 <strong>GG</strong> scheint<br />
somit <strong>zu</strong>mindest möglich.<br />
2. Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit<br />
a. Die E sind Inhaber des religiösen Erziehungsrechts<br />
für C und damit in eigenen Rechten betroffen.<br />
Anmerkung:<br />
An der eigenen Betroffenheit würde es fehlen,<br />
wenn die E sich auf ein Verlet<strong>zu</strong>ng der Glaubensfreiheit<br />
ihres Sohnes berufen würden. Dies<br />
wäre eine un<strong>zu</strong>lässige Popularklage.<br />
b. Der neue § 12a XSchG ist bereits in Kraft getreten<br />
und ist nicht bloß virtuell für die Zukunft gedacht,<br />
so daß auch eine gegenwärtige Betroffenheit<br />
vorliegt.<br />
c. Fraglich ist jedoch die unmittelbare Betroffenheit<br />
der E. Unmittelbarkeit in diesem Sinne liegt vor,<br />
wenn die angegriffene Rechtsnorm <strong>zu</strong>r Aktualisierung<br />
und Konkretisierung gegenüber dem<br />
Beschwerdeführer keines Voll<strong>zu</strong>gsaktes mehr<br />
bedarf, also „self-executing“ ist und daher direkt<br />
in den Rechtskreis des Beschwerdeführers eingreift4.<br />
Im vorliegenden <strong>Fall</strong> wird jedoch allein<br />
durch § 12a XSchG noch nicht in den Rechtskreis<br />
der E eingegriffen. Denn ohne das Aufhängen<br />
eines Kruzifixes durch die Schulleitung<br />
wird der C noch gar nicht mit diesem christlichen<br />
Symbol, welches das religiöse Erziehungsrecht<br />
der E beeinträchtigen könnte, konfrontiert. Es<br />
bedarf also noch weiterer Voll<strong>zu</strong>gsakte, so daß<br />
§ 12a XSchG nicht „self-executing“ ist und die E<br />
nicht unmittelbar in ihren Grundrechten betroffen<br />
sind.<br />
Zu denken ist jedoch an eine Ausnahme vom<br />
Unmittelbarkeitserfordernis. Eine solche liegt<br />
vor, wenn die ausführende Behörde zwar nach<br />
dem Gesetz noch einen Voll<strong>zu</strong>gsakt vor<strong>zu</strong>nehmen<br />
hat, ihr dabei jedoch keinerlei eigener Auslegungs-<br />
oder Entscheidungsspielraum verbleibt,<br />
da die Norm dann trotz der formalen Zwi-<br />
3 BVerfG, NJW 95, 2477 (2478) – „Kruzifix“<br />
4 <strong>zu</strong>r Unmittelbarkeit: Hemmer/Wüst/Christensen Staatsrecht<br />
I, Rdnr. 47 ff; Jarass/Pieroth <strong>GG</strong>, <strong>Art</strong>. 93, Rdnr. 56; ferner<br />
BVerfGE 72, 39 (43); 81, 70 (82)<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 3 von 8<br />
schenschaltung eines Voll<strong>zu</strong>gsaktes quasi „selfexecuting“<br />
wirkt 5 . Der neue § 12a XSchG eröffnet<br />
der Schulleitung jedoch ein Ermessen, ob<br />
sie Kruzifixe aufhängt und wie sie dies tut. Ein<br />
ausreichender Entscheidungsspielraum ist damit<br />
vorhanden.<br />
Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der<br />
Unmittelbarkeit wird gemacht, wenn es den Beschwerdeführern<br />
un<strong>zu</strong>mutbar ist, <strong>zu</strong>nächst den<br />
in der Norm vorgesehenen Voll<strong>zu</strong>gsakt ab<strong>zu</strong>warten<br />
und gegen diesen auf dem Verwaltungsrechtsweg<br />
vor<strong>zu</strong>gehen. Dies ist insbesondere<br />
der <strong>Fall</strong>, wenn es sich um straf- oder bußgeldbewehrte<br />
Verbotsgesetze handelt. Im vorliegenden<br />
<strong>Fall</strong> ist § 12a XSchG selbst nicht straf- oder<br />
bußgeldbewehrt. Die Norm enthält auch nur eine<br />
Ermächtigung für die Schulleitung und keine<br />
Verbotsregelung. Eventuelle Ordnungsmaßnahmen,<br />
die der C <strong>zu</strong> fürchten hätte, wenn er –<br />
auf Geheiß seiner Eltern – nicht <strong>zu</strong>r Schule ginge,<br />
hätten zwar auch eine <strong>Art</strong> Strafcharakter, beträfen<br />
aber nur den C selbst und nicht direkt seine<br />
Eltern. Zudem steht die Verhängung von<br />
Ordnungsmaßnahmen im Ermessen der Schule,<br />
so daß damit nicht zwangsläufig <strong>zu</strong> rechnen ist.<br />
Auch wäre es den E <strong>zu</strong><strong>zu</strong>muten, <strong>zu</strong>nächst ab<strong>zu</strong>warten,<br />
ob überhaupt Kruzifixe aufgehängt<br />
werden, um dann dagegen im Wege der Unterlassungsklage<br />
vor<strong>zu</strong>gehen.<br />
Somit liegt hier keine unmittelbare Grundrechtsverlet<strong>zu</strong>ng<br />
der E vor. Auch eine Ausnahme vom<br />
Unmittelbarkeitserfordernis ist unter keinem Gesichtspunkt<br />
<strong>zu</strong> erblicken.<br />
B. Ergebnis Frage 1<br />
Frage 2<br />
Die Verfassungsbeschwerde der E ist aufgrund<br />
der fehlenden Beschwerdebefugnis un<strong>zu</strong>lässig.<br />
Die Klage der A hat Aussicht auf Erfolg, wenn<br />
sie <strong>zu</strong>lässig und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit<br />
I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO<br />
Die streitentscheidenden Normen des YSchG<br />
berechtigen und verpflichten ausschließlich die<br />
Schulen als Träger öffentlicher Gewalt, sind also<br />
öffentlich-rechtlich. Damit ist auch die Streitigkeit<br />
öffentlich-rechtlich (Sonderrechtstheorie). Wegen<br />
der fehlenden doppelten Verfassungsunmittelbarkeit<br />
ist sie <strong>zu</strong>dem nichtverfassungsrechtlicher<br />
<strong>Art</strong>.<br />
Nach einer früheren Ansicht bestand allerdings<br />
bei solchen Verhältnissen, in denen der Bürger<br />
in einer besonderen Nähebeziehung <strong>zu</strong>m Staat<br />
5 Bonner Kommentar, <strong>Art</strong>. 93, Rdnr. 567 ff. (590).<br />
stand – sogenannte besondere Gewaltverhältnisse<br />
6 –, ein nicht justiziabler rechtsfreier<br />
Raum 7 . Hier<strong>zu</strong> gehörte auch das Schulverhältnis,<br />
so daß der A hiernach gar kein Rechtsweg<br />
offenstünde. Diese Ansicht ist jedoch seit der<br />
Einführung des Grundgesetzes und damit des<br />
<strong>Art</strong>. 19 IV <strong>GG</strong>, welcher gegen sämtliche Akte der<br />
Exekutive den Rechtsweg eröffnet, nicht mehr<br />
haltbar.<br />
Der Verwaltungsrechtsweg ist damit gegeben.<br />
Anmerkung <strong>zu</strong>m besonderen Gewaltverhältnis:<br />
8<br />
Die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis<br />
wurde im 19. Jahrhundert von Paul Laband und<br />
Otto Mayer begründet.<br />
Sie wurde entwickelt aus der Theorie vom „allgemeinen<br />
Gewaltverhältnis”, dem der Bürger im<br />
Verhältnis <strong>zu</strong>m Staat unterworfen sein sollte.<br />
Das besondere Gewaltverhältnis sei durch eine<br />
besonders enge Beziehung des Gewaltunterworfenen<br />
<strong>zu</strong>m Staat gekennzeichnet.<br />
Als besondere Gewaltverhältnisse wurden dabei<br />
vor allem angesehen:<br />
• das Beamtenverhältnis<br />
• das Wehr- und Ersatzdienstverhältnis<br />
• das Schul- und Hochschulverhältnis<br />
• das Strafgefangenenverhältnis<br />
Die Entwicklung dieser Theorie steht im Kontext<br />
<strong>zu</strong> der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes.<br />
Schon im 19. Jahrhundert wurde für jeden staatlichen<br />
Eingriff in Freiheit und Eigentum eine gesetzliche<br />
Ermächtigung gefordert (Vorbehalt des<br />
Gesetzes). Aus der Sicht von Otto Mayer war<br />
die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis die<br />
Grundlage für eine Einschränkung dieser Forderung<br />
eines Vorbehalts des Gesetzes. Diese<br />
weitgehende Einschränkung des rechtsstaatlichen<br />
Gesetzesvorbehalts führte da<strong>zu</strong>, daß weder<br />
im Strafvoll<strong>zu</strong>gsverhältnis, noch im Schulverhältnis,<br />
noch im Dienstverhältnis der Beamten<br />
und nicht einmal im schlichten Anstaltsnut<strong>zu</strong>ngsverhältnis<br />
Anweisungen und Eingriffe der<br />
Verwaltung einer gesetzlichen Ermächtigung<br />
bedurften. Dabei spricht die Gleichset<strong>zu</strong>ng des<br />
Schülers mit Strafgefangenen und die Gleichset<strong>zu</strong>ng<br />
der Beamten mit den Insassen einer<br />
geschlossenen psychiatrischen Anstalt für sich.<br />
Nach der Schaffung des Grundgesetzes setzte<br />
eine erneute Diskussion der Theorie des besonderen<br />
Gewaltverhältnisses ein. Dabei wurde die<br />
Theorie des besonderen Gewaltverhältnisses<br />
unter dem neuen Terminus „verwaltungsrechtli-<br />
6<br />
Nach Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, 1924,<br />
S. 101.<br />
7<br />
Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1,1924, S. 101.<br />
8<br />
Zum sog. Sonderstatusverhältnis und dessen <strong>Fall</strong>gruppen:<br />
Hemmer/Wüst/Christensen Verwaltungsrecht I, Rdnr. 96 ff<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 4 von 8<br />
ches Sonderverhältnis” mit gewissen Einschränkungen<br />
fortgeführt. Diese Sonderverhältnisse<br />
sind danach Rechtsverhältnisse, in denen<br />
Grundrechte und in gewisser Weise auch der<br />
Gesetzesvorbehalt gelten, aber sie sind spezifischen<br />
Einschränkungen unterworfen. Diese ergeben<br />
sich aus dem Zweck oder der Funktion<br />
des jeweiligen Sonderverhältnisses. Akte in diesem<br />
Sonderverhältnis sollen nur überprüfbar<br />
sein, soweit sie das jeweilige Grundverhältnis<br />
betreffen und nicht das Betriebsverhältnis.<br />
Unter der Geltung des Grundgesetzes ist auch<br />
diese abgeschwächte Auffassung problematisch.<br />
Wesentlich für das Grundgesetz ist die<br />
Grundrechtsbindung jeglicher öffentlicher Gewalt<br />
und das System explizit festgeschriebener<br />
Gesetzesvorbehalte im Grundrechtskatalog,<br />
verbunden mit einer lückenlosen Rechtsweggarantie.<br />
Keines dieser Elemente wird in der Theorie<br />
vom verwaltungsrechtlichen Sonderverhältnis<br />
gewahrt. Immer noch dient diese Theorie <strong>zu</strong><br />
Einschränkungen von Freiheitsrechten, die mit<br />
Be<strong>zu</strong>g auf den Anstaltszweck über das nach<br />
dem Grundgesetz <strong>zu</strong>lässige Maß weit hinausgehen.<br />
Als Beispiel sei hier auf eine badenwürttembergische<br />
„vorläufige Schulordnung über<br />
Schülerzeitschriften” vom 25.8.1970 verwiesen.<br />
Dort heißt es: „Das Grundrecht der Pressefreiheit<br />
steht auch den Schülern für die Schülerzeitschriften<br />
<strong>zu</strong>. Es findet seine Schranke in den<br />
Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen<br />
Bestimmungen <strong>zu</strong>m Schutze der Jugend,<br />
dem Recht der persönlichen Ehre und der<br />
Schulordnung.”<br />
Die heute vorherrschende Meinung verwendet<br />
daher lediglich den Begriff „Sonderstatusverhältnis“<br />
9 bzw. verzichtet vollkommen auf eine<br />
besondere Klassifizierung. Danach ist anerkannt,<br />
daß sowohl die Lehre vom Gesetzesvorbehalt<br />
als auch die Grundrechte im „Sonderstatusverhältnis“<br />
gelten. Andererseits wird aber<br />
auch nicht bestritten, daß diese Beziehungen<br />
tatsächlich gewisse Eigenarten aufweisen, die<br />
entsprechend dieser Eigenarten auch besonderer<br />
Regelungen bedürfen. 10<br />
II. Statthafte Klageart<br />
Die Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren<br />
des Klägers.<br />
Die A begehrt die Aufhebung des schriftlichen<br />
Verweises. Die Anfechtungsklage könnte statthafte<br />
Klageart. Der schriftliche Verweis müßte<br />
daher die Vorausset<strong>zu</strong>ngen eines Verwaltungsaktes<br />
i.S.d. § 35 VwVfG (des Landes Y) erfüllen.<br />
9 Stelkens/ Bonk/ Sachs, VwVfG, § 35, Rdnr. 116; Hesse,<br />
Grundzüge des VerfR, Rdnr. 322 ff.<br />
10 So z.B. Ronellenfitsch, DöV 81, 939 ff.; Thiele, ZBR 83,<br />
348 f.<br />
Fraglich sind hier insbesondere die Merkmale<br />
der Außenwirkung und der Regelung.<br />
1. Eine Außenwirkung kann nur dann angenommen<br />
werden, wenn der Bürger der Verwaltung<br />
als selbständiger Rechtsträger gegenübersteht.<br />
Sie fehlt dagegen, wenn die Maßnahme ihre<br />
Wirkung nur innerhalb der Behörde entfaltet und<br />
nicht in einen anderen Rechtskreis eingreift, sogenanntes<br />
Behördeninternum 11 . Da die Schüler<br />
in einem besonderen Näheverhältnis <strong>zu</strong>m Staat<br />
stehen, muß hier differenziert werden: Dient eine<br />
Maßnahme lediglich dem ordnungsgemäßen<br />
Ablauf des Schulbetriebes - beispielsweise ein<br />
Reinigungsauftrag an die Klasse, Einteilung in<br />
Gruppenarbeit, Stundenpläne etc. -, so liegt ein<br />
bloßes Behördeninternum vor. Ist dagegen die<br />
persönliche Rechtsstellung eines Schülers betroffen<br />
- beispielsweise Abiturnoten, Verset<strong>zu</strong>ngszeugnisse<br />
- , so greift die Maßnahme in<br />
den externen Rechtskreis des Schülers ein und<br />
hat Außenwirkung. 12 Der an die A gerichtete<br />
schriftliche Verweis diente nicht bloß dem reibungslosen<br />
Ablauf des allgemeinen Schulbetriebes,<br />
sondern griff gezielt in die persönliche<br />
Rechtsstellung der A als Reaktion auf ihr angebliches<br />
Fehlverhalten ein, so daß eine Außenwirkung<br />
<strong>zu</strong> bejahen ist.<br />
Anmerkung:<br />
Früher wurde die Unterscheidung danach getroffen,<br />
ob das sogenannte Grundverhältnis (Außenwirkung)<br />
oder das sogenannte Betriebsverhältnis<br />
(keine Außenwirkung) berührt war<br />
(s.o.). 13 Zum Grundverhältnis gehörten Begründung,<br />
Beendigung und wesentliche Änderungen<br />
des besonderen Gewaltverhältnisses, <strong>zu</strong>m Betriebsverhältnis<br />
die Maßnahmen, die sich im<br />
Rahmen der Zugehörigkeit <strong>zu</strong>m Gewaltverhältnis<br />
abspielten. Mit der <strong>zu</strong>nehmenden Abwendung<br />
vom Begriff des besonderen Gewaltverhältnisses<br />
hin <strong>zu</strong> der Bezeichnung als Sonderstatusverhältnis<br />
14 , verlor auch das da<strong>zu</strong>gehörige<br />
Begriffspaar Grundverhältnis/ Betriebsverhältnis<br />
seine Bedeutung. 15 Inhaltlich kommen die neue<br />
und die alte Einteilung aber oft <strong>zu</strong>m gleichen Ergebnis.<br />
Allerdings tangieren einige Maßnahmen,<br />
die früher dem Betriebsverhältnis <strong>zu</strong>geordnet<br />
worden wären, die persönliche Rechtsstellung<br />
des Betroffenen und haben daher heute Außenwirkung.<br />
Beispiel: Durchsuchung der Zelle<br />
eines Strafgefangenen.<br />
11<br />
Vgl. hier<strong>zu</strong> Hemmer-Skript, VerwR I, Rdnr. 86 ff.<br />
12<br />
Stelkens/ Bonk/ Sachs, VwVfG, § 35, Rdnr. 116 f.<br />
13<br />
Ule, VVDStRL, 15 (1957), 52.<br />
14<br />
Vgl. da<strong>zu</strong> schon oben unter Punkt A.I.; <strong>zu</strong>dem Erichsen,<br />
Wolff-FS, S. 242 ff.<br />
15<br />
Stelkens/ Bonk/ Sachs, VwVfG, § 35, Rdnr. 117 – m.w.N.<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 5 von 8<br />
2. Weiterhin müßte der schriftliche Verweis auch<br />
einen Regelungscharakter besitzen. Dies ist nur<br />
der <strong>Fall</strong>, wenn die Schule damit beabsichtigte,<br />
eine Rechtsfolge <strong>zu</strong> setzen. 16<br />
Bevor die Verset<strong>zu</strong>ng des Schülers in eine Parallelklasse<br />
oder gar die Entlassung aus der<br />
Schule als einschneidendere Ordnungsmaßnahmen<br />
erfolgen können, muß der Schüler vorher<br />
grundsätzlich durch einen schriftlichen Verweis<br />
abgemahnt werden. Die Rechtsfolge besteht<br />
also darin, daß der schriftliche Verweis als<br />
milderes Mittel die notwendige Vorausset<strong>zu</strong>ng<br />
für härtere Ordnungsmaßnahmen schafft, die<br />
sonst aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
nicht erlassen werden dürften. Damit beinhaltet<br />
der schriftliche Verweis eine Regelung 17 .<br />
Anmerkung:<br />
Keinen Regelungscharakter und damit auch<br />
keine Verwaltungsaktqualität haben dagegen die<br />
sog. Erziehungsmaßnahmen, wie <strong>zu</strong>m Beispiel<br />
das Nachsitzen, da sie nicht als Vorausset<strong>zu</strong>ng<br />
für Ordnungsmaßnahmen ausreichen und daher<br />
keine Rechtsfolgen auslösen; hier bliebe als<br />
Rechtsschutzmöglichkeit nur die Feststellungsklage<br />
oder die Leistungsklage in Form der Unterlassungsklage.<br />
Somit stellt der schriftliche Verweis einen Verwaltungsakt<br />
dar. Die Anfechtungsklage ist statthaft.<br />
III. Klagebefugnis, § 42 II VwGO<br />
Die A müßte geltend machen können, daß sie<br />
durch den schriftlichen Verweis in ihren Rechten<br />
verletzt wurde, wobei schon die Möglichkeit einer<br />
Rechtsverlet<strong>zu</strong>ng ausreicht (Möglichkeitstheorie).<br />
In Frage kommt eine Verlet<strong>zu</strong>ng des<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong>, da das durch den Verweis bestrafte<br />
Fernbleiben von der Schule bei A auf Glaubensgründen<br />
beruhte. Fraglich ist jedoch, ob die<br />
Grundrechte vorliegend überhaupt gelten. Dies<br />
wurde früher mit dem Hinweis auf einen im<br />
Sonderstatusverhältnis entstehenden rechtsfreien<br />
Raum 18 und mit der Annahme, daß der Bürger<br />
innerhalb des Sonderstatusverhältnisses auf<br />
seinen Grundrechtsschutz verzichtet, abgelehnt.<br />
19<br />
Die Annahme eines generellen Grundrechtsverzichts<br />
stößt jedoch nach dem heutigen Verständnis<br />
der Grundrechte als Audruck einer objektiven<br />
Werteordnung und nicht bloß als Abwehrrechte<br />
gegen den Staat schon grundsätz-<br />
16<br />
Näher hier<strong>zu</strong> Hemmer-Skript, VerwR I, Rdnr. 66 ff.<br />
17<br />
Vgl. hier<strong>zu</strong> auch Hemmer-Skript, VerwR I, Rdnr. 99.<br />
18<br />
Vgl. da<strong>zu</strong> schon oben unter Punkt A.I.<br />
19<br />
Krüger, DVBl 50, 629; Thieme, DöV 56, 523 f.<br />
lich auf Probleme. 20 Zudem ist die Annahme eines<br />
Verzichts eine reine Fiktion und greift insbesondere<br />
in solchen Fällen nicht, wo das Sonderstatusverhältnis<br />
zwangsweise herbeigeführt<br />
wird, <strong>zu</strong>m Beispiel im Rahmen der Schul- und<br />
Wehrpflicht oder bei den Strafgefangenen. Im<br />
Gegenteil: Gerade in diesen Fällen sind die<br />
Grundrechte der Betroffenen besonders stark<br />
gefährdet und daher auch dementsprechend<br />
schutzbedürftig. Zudem ergibt sich die Anwendbarkeit<br />
der Grundrechte auch aus einem Gegenschluß<br />
aus <strong>Art</strong>. 17a <strong>GG</strong>. Dort sind Grundrechte<br />
für Soldaten zwar einschränkbar, aber sie<br />
gelten nach der Vorstellung des Grundgesetzes.<br />
Eine Verlet<strong>zu</strong>ng des <strong>Art</strong>. 4 <strong>GG</strong> erscheint daher<br />
als möglich. Die Klagebefugnis ist damit gegeben.<br />
IV. Form und Frist, §§ 74, 81, 82 VwGO<br />
Laut Sachverhalt wurde die Klage form- und<br />
fristgerecht eingelegt.<br />
V. Zwischenergebnis<br />
Die Klage ist <strong>zu</strong>lässig.<br />
B. Begründetheit<br />
Die Klage ist begründet, soweit der schriftliche<br />
Verweis rechtswidrig und die A dadurch in ihren<br />
Rechten verletzt ist, § 113 I 1 VwGO.<br />
I. Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes<br />
1. Ermächtigungsgrundlage<br />
Nach dem aus <strong>Art</strong>. 20 III <strong>GG</strong> resultierenden<br />
Vorbehalt des Gesetzes bedürfen Eingriffe der<br />
Verwaltung in die Rechtssphäre eines Bürgers<br />
grundsätzlich einer ermächtigenden Grundlage.<br />
Fraglich könnte sein, ob dieser Grundsatz auch<br />
für Eingriffe im Rahmen eines Sonderstatusverhältnisses<br />
gilt. Eine schon oben erwähnte frühere<br />
Ansicht 21 , die innerhalb dieser Verhältnisse<br />
einen rechtsfreien Raum annahm, in dem auch<br />
die Grundrechte nicht galten, verneinte hier konsequent<br />
die Geltung des Vorbehalts des Gesetzes.<br />
22<br />
Nachdem die Geltung der Grundrechte jedoch<br />
allgemein auch im Bereich der Sonderstatusverhältnisse<br />
anerkannt wurde, war für Eingriffe<br />
auch hier zwangsläufig eine Ermächtigungsgrundlage<br />
erforderlich; <strong>Art</strong>. 1 III, 20 III <strong>GG</strong>. Streit<br />
herrschte jedoch über die Qualität einer solchen<br />
Grundlage: 23 Die einen ließen schon den durch<br />
Verwaltungsvorschriften konkretisierten An-<br />
20<br />
Hier<strong>zu</strong> ausführlich Hemmer-Skript, StaatsR I, Rdnr. 90 ff.<br />
und 108.<br />
21<br />
Vgl. oben unter Punkt A.I und III.<br />
22<br />
Hier<strong>zu</strong> Krüger, DVBl 50, 628 f.; Mann, DöV 60, 410 f.<br />
23<br />
Ausführlich da<strong>zu</strong> Klein DVBl, 87, 1102; Kiepe DöV, 79,<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09<br />
400.
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 6 von 8<br />
staltszweck bzw. das Sonderstatusverhältnis<br />
selbst als Ermächtigungsgrundlage ausreichen<br />
24 . Dies hatte jedoch <strong>zu</strong>r Konsequenz, daß<br />
das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts letztlich<br />
leer lief, da der Exekutive für den Bereich der<br />
Sonderstatusverhältnisse eine originäre Rechtsset<strong>zu</strong>ngsbefugnis<br />
<strong>zu</strong>erkannt wurde und sie dadurch<br />
von dem Erfordernis einer förmlichgesetzlichen<br />
Ermächtigung für Eingriffe in die<br />
Grundrechte der Betroffenen befreit wurde. Dagegen<br />
forderte ein anderer Teil der Literatur im<br />
Einklang mit der allgemeinen Grundrechtsdogmatik,<br />
daß auch im Bereich der Sonderstatusverhältnisse<br />
Grundrechte nur durch oder aufgrund<br />
eines Gesetzes eingeschränkt werden<br />
können. Dem ist auch das Bundesverfassungsgericht<br />
in seinem Urteil <strong>zu</strong>m Strafvoll<strong>zu</strong>g gefolgt.<br />
25<br />
Dabei ist allerdings <strong>zu</strong> berücksichtigen, daß an<br />
die Bestimmtheit dieser Gesetze nicht so strenge<br />
Maßstäbe angesetzt werden wie im allgemeinen<br />
Bürger-Staat-Verhältnis, so daß weitgehende<br />
Generalklauseln <strong>zu</strong>lässig sind und sogar<br />
der gesetzlich geregelte Anstaltszweck ausreichen<br />
kann. Die Grenze bildet auch hier die Wesentlichkeitstheorie.<br />
26<br />
Im vorliegenden <strong>Fall</strong> besteht für die in die persönliche<br />
Rechtsstellung der A eingreifende Ordnungsmaßnahme<br />
mit § 61 YSchG als formelles<br />
Gesetz eine den Anforderungen des Vorbehalts<br />
des Gesetzes genügende Ermächtigungsgrundlage.<br />
2. Formelle Rechtmäßigkeit<br />
Von der formellen Rechtmäßigkeit kann laut<br />
Sachverhalt ausgegangen werden.<br />
3. Materielle Rechtmäßigkeit des Verweises<br />
a. Tatbestandsvorausset<strong>zu</strong>ngen<br />
Die A hat in Kenntnis der Schulpflicht den Unterricht<br />
nicht besucht. Die Vorausset<strong>zu</strong>ngen des<br />
§ 61 i.V.m. § 26 I YSchG sind damit gegeben.<br />
b. Ermessen<br />
§ 61 YSchG eröffnet der Schule ein Ermessen.<br />
Das Gericht kann daher die Ordnungsmaßnahme<br />
nur in dem durch § 114 VwGO gesteckten<br />
Rahmen auf Ermessensfehler überprüfen.<br />
aa. Ermessensüberschreitung aufgrund Verlet<strong>zu</strong>ng<br />
von <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong><br />
Hier könnte die Ordnungsmaßnahme des Verweises<br />
einen unverhältnismäßigen Eingriff in<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> darstellen und somit eine Ermessensüberschreitung<br />
begründen. Fraglich er-<br />
24<br />
Gross, NJW 69, 2186 f.; Böckenförde/ Grawert, AöR 1970,<br />
25 (37).<br />
25<br />
E 33, 1; speziell <strong>zu</strong>m Schulverhältnis E 47, 46 (78 ff.).<br />
26<br />
Zur Wesentlichkeitstheorie Hemmer-Skript, StaatsR I,<br />
Rdnr. 118 und 127.<br />
scheint, ob die Schulleitung bei Erteilung des<br />
Verweises die Bedeutung des <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> verkannt<br />
hat.<br />
(1) Schutzbereich des <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong><br />
Die Schülerin A bleibt dem Unterricht aufgrund<br />
der angebrachten Kruzifixe fern, woraufhin der<br />
Verweis ergeht. <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> schützt die Glaubensfreiheit<br />
sowohl in positiver als auch in negativer<br />
Hinsicht. Geschützt sind demnach Entscheidung<br />
jedes einzelnen für und auch gegen<br />
einen Glauben. Daraus resultiert auch das<br />
Recht, kultischen Handlungen eines anderen<br />
Glaubens ab<strong>zu</strong>lehnen und ihnen fern<strong>zu</strong>bleiben<br />
(sogenannter status negativus). 27<br />
Anmerkung:<br />
Geschützt ist auch das Recht, seine eigenen<br />
Überzeugungen <strong>zu</strong> verschweigen.<br />
A lehnt als Schiitin den christlichen Glauben ab.<br />
Das religiös motivierte Fernbleiben vom Unterricht<br />
fällt damit als Ausübung der gewährten negativen<br />
Glaubensfreiheit grundsätzlich in den<br />
Schutzbereich von <strong>Art</strong>. 4 <strong>GG</strong>.<br />
Der Schutzbereich des <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> ist also eröffnet.<br />
(2) Eingriff in den Schutzbereich<br />
A blieb wegen des 60 cm großen über der Tafel<br />
angebrachten Kruzifixes dem Unterricht fern.<br />
Aufgrund der in § 26 YSchG festgelegten allgemeinen<br />
Schulpflicht führen die Kruzifixe in Unterrichtsräumen<br />
da<strong>zu</strong>, daß die Schüler der Schule<br />
P von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit<br />
mit diesem Symbol konfrontiert werden.<br />
Dieses „Lernen unter dem Kruzifix“ könnte einen<br />
Eingriff darstellen, wenn das Kruzifix ein christliches<br />
Symbol und nicht nur Ausdruck der vom<br />
Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur<br />
wäre. Das Kruzifix gehört nach wie vor <strong>zu</strong><br />
den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums.<br />
Es ist gerade<strong>zu</strong> sein Glaubenssymbol<br />
schlechthin. Es versinnbildlicht unter anderem<br />
die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des<br />
Menschen von der Erbschuld. Die Ausstattung<br />
eines Raumes mit einem Kruzifix wird bis heute<br />
als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers <strong>zu</strong>m<br />
Christentum verstanden und ist daher nicht bloß<br />
Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten<br />
abendländischen Kultur. 28<br />
Zweifelhaft könnte jedoch sein, ob das Kruzifix<br />
auch die nötige Intensität besitzt, also eine ausreichend<br />
starke Einwirkung auf die Schüler ausübt,<br />
denn es zwingt weder Schüler <strong>zu</strong> besonderen<br />
Handlungsweisen oder <strong>zu</strong>r Identifikation<br />
noch hat es direkten Einfluß auf die im Unter-<br />
27 Hemmer/Wüdt/Christensen Staatsrecht I, Rdnr. 195; Jarass/Pieroth<br />
<strong>GG</strong>, <strong>Art</strong>. 4, Rdnr. 11<br />
28 So BVerfG, NJW 95, 2477 (2479); anders Minderheitsvo-<br />
tum auf S. 2482.<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 7 von 8<br />
richt vermittelten Lehrinhalte. Zu bedenken ist<br />
aber, daß die Schule nicht nur bloßes Wissen<br />
vermitteln, sondern auch einen Erziehungsauftrag<br />
<strong>zu</strong> erfüllen hat, indem sie die Persönlichkeitsstruktur<br />
und das Sozialverhalten der Schüler<br />
positiv beeinflussen und fördern soll. In diesem<br />
Zusammenhang hat ein 60 cm großes Kruzifix<br />
über der Tafel – wie im vorliegenden <strong>Fall</strong> –<br />
einen starken appellativen Charakter und weist<br />
die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als<br />
vorbildhaft aus.<br />
Es liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> vor.<br />
(3) Rechtfertigung<br />
Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein.<br />
Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos<br />
gewährleistet, so daß es nur den verfassungsimmanenten<br />
Schranken, also den Grundrechten<br />
Dritter und anderen Rechtsgütern von<br />
Verfassungsrang, unterliegt. 29<br />
(a) Eine Rechtfertigung könnte sich aus<br />
dem aus <strong>Art</strong>. 7 I <strong>GG</strong> abgeleiteten staatlichen Erziehungsauftrag<br />
ergeben, der auch die Festlegung<br />
der Erziehungsziele und Ausbildungsgänge<br />
umfaßt. 30 Da<strong>zu</strong> gehört, wie <strong>Art</strong>. 7 III <strong>GG</strong> deutlich<br />
macht, auch die Vermittlung religiöser Inhalte.<br />
Der sich daher zwischen <strong>Art</strong>. 7 I <strong>GG</strong> und<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> ergebende Konflikt ist im Wege der<br />
praktischen Konkordanz <strong>zu</strong> lösen, welche einen<br />
möglichst schonenden Ausgleich der widerstreitenden<br />
Interessen verlangt, ohne daß ein<br />
Grundrecht völlig <strong>zu</strong>rücktritt. 31 Einerseits kann<br />
somit aufgrund von <strong>Art</strong>. 7 I, III <strong>GG</strong> nicht verlangt<br />
werden, daß der Staat bei der Erfüllung seines<br />
Erziehungsauftrags völlig auf religiöse Bezüge<br />
verzichten muß. Auf der anderen Seite ergibt<br />
sich aus der negativen Glaubensfreiheit des<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong>, daß religiöse Zwänge so weit wie<br />
möglich <strong>zu</strong> vermeiden sind. Das bedeutet insbesondere,<br />
daß die Schule ihre Aufgabe im religiös-weltanschaulichen<br />
Bereich nicht missionarisch<br />
auffassen und keine Verbindlichkeit für<br />
christliche Glaubensinhalte beanspruchen darf.<br />
Die Bejahung des Christentums darf sich insofern<br />
nur auf die Anerkennung des prägenden<br />
Kultur- und Bildungsfaktors, nicht aber auf bestimmte<br />
Glaubenswahrheiten beziehen. 32 Der<br />
Staat schafft durch die Kruzifixe Lage, in der der<br />
einzelne Schüler ohne Ausweichmöglichkeiten<br />
dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den<br />
Handlungen, in denen dieser sich manifestiert,<br />
und den Symbolen, in denen er sich darstellt,<br />
ausgesetzt ist. Aus der Glaubensfreiheit des<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> folgt auch der Grundsatz staatlicher<br />
Neutralität gegenüber den unterschiedli-<br />
29<br />
Hemmer-Skript, StaatsR I, Rdnr. 140 ff.<br />
30<br />
BVerfGE 34, 165 (181).<br />
31<br />
Hesse, Grundzüge des VerfR, Rdnr. 317 ff.<br />
32 BVerfG, NJW 95, 2477 (2480).<br />
chen Religionen und Bekenntnissen. 33 Der<br />
Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder<br />
gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher<br />
Überzeugungen <strong>zu</strong>sammenleben, kann<br />
die friedliche Koexistenz nur gewährleisten,<br />
wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität<br />
bewahrt. Er darf daher den religiösen Frieden in<br />
einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden.<br />
Dieses Gebot findet seine Grundlage nicht nur in<br />
<strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong>, sondern auch in <strong>Art</strong>. 3 III, 33 I sowie<br />
<strong>Art</strong>. 140 <strong>GG</strong> i.V.m. <strong>Art</strong>. 136 I, IV und <strong>Art</strong>. I<br />
WRV. 34<br />
Das Anbringen der Kruzifixe in der Schule P überschreitet<br />
insofern die im Hinblick auf <strong>Art</strong>. 4 I<br />
<strong>GG</strong> gezogenen Grenze religiösweltanschaulicher<br />
Ausrichtung der Schule. Die<br />
Anbringung der Kruzifixe in der Pflichtschule P<br />
geht also über das im Rahmen von <strong>Art</strong>. 7 I <strong>GG</strong><br />
<strong>zu</strong>lässige unerläßliche Minimum an religiösen<br />
Zwangselementen hinaus und ist daher mit der<br />
durch <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> geschützten Glaubensfreiheit<br />
der A unvereinbar.<br />
(b) Eine Rechtfertigung könnte sich jedoch<br />
aus der Glaubensfreiheit der Schüler christlichen<br />
Glaubens an der Schule P herleiten lassen.<br />
Auch dieser Konflikt zwischen deren positiver<br />
Glaubensfreiheit (sog. status positivus) und<br />
der negativen Glaubensfreiheit der A (sog. status<br />
negativus), ist im Wege der praktischen<br />
Konkordanz <strong>zu</strong> lösen. Dabei kann jedoch der<br />
Umstand, daß im vorliegenden <strong>Fall</strong> die Mehrheit<br />
der Schüler das Anbringen der Kruzifixe begrüßt<br />
hat, kein Abwägungskriterium sein, denn gerade<br />
das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt<br />
in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten.<br />
Überdies verleiht <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> den christlich<br />
erzogenen Schülern nicht uneingeschränkt<br />
einen Anspruch darauf, ihre Glaubensüberzeugung<br />
in der Schule <strong>zu</strong> betätigen. Soweit die<br />
Schule religiöse Aktivitäten vorsieht, wie <strong>zu</strong>m<br />
Beispiel den Religionsunterricht oder das Schulgebet,<br />
müssen diese vom Prinzip der Freiwilligkeit<br />
geprägt sein und Andersdenkenden <strong>zu</strong>mutbare,<br />
nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten<br />
lassen. 35<br />
Wie bereits oben dargestellt, kann sich die A<br />
dem Kruzifix im Klassenzimmer während des<br />
Unterrichts nicht entziehen 36 , so daß ihre negative<br />
Glaubensfreiheit <strong>zu</strong> dieser Zeit völlig <strong>zu</strong>rückgedrängt<br />
wird. Dies ist mit dem Gebot praktischer<br />
Konkordanz nicht vereinbar.<br />
33<br />
BVerfG, NJW 95, 2477 (2478 f.); Jarass/Pieroth <strong>GG</strong>, <strong>Art</strong>. 4,<br />
Rdnr. 5.<br />
34<br />
BVerfG, NJW 95, 2477 (2478 f.).<br />
35<br />
BVerfG, NJW 95, 2477 (2480).<br />
36<br />
Vgl. oben unter Punkt B.I.3.b)aa)(2).<br />
RA Dr. Schlömer Januar 09
Juristisches Repetitorium Verfassungsrecht<br />
hemmer Lösung <strong>Fall</strong> 7, Seite 8 von 8<br />
(4) Zwischenergebnis<br />
Somit wurde die A durch das Anbringen des<br />
Kruzifixes in ihrem Grundrecht aus <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong><br />
verletzt. Genau dies hat die Schulleitung bei Erteilung<br />
des Verweises verkannt. Der gegenüber<br />
der A verhängte schriftliche Verweis bestrafte<br />
sie für ein Verhalten, <strong>zu</strong> welchem sie aufgrund<br />
ihrer religiösen Überzeugung aus ihrer Sicht<br />
wohl gezwungen war. Denn solange das Kruzifix<br />
in ihrem Klassenzimmer hing, wäre sie während<br />
des Unterrichts in ihrer Glaubensfreiheit beeinträchtigt<br />
gewesen. Dies hat die Schulleitung<br />
nicht hinreichend berücksichtigt, so daß der<br />
schriftliche Verweis wegen einer Ermessensüberschreitung<br />
ermessensfehlerhaft war. Daher<br />
ist vorliegend auch nicht <strong>zu</strong> entscheiden, ob die<br />
Schülerin aus <strong>Art</strong>. 4 <strong>GG</strong> ein Recht ableiten<br />
konnte, dem Unterricht fern <strong>zu</strong> bleiben. Das<br />
Verwaltungsgericht prüft nur, ob ein Ermessensfehler<br />
vorliegt und entscheidet nicht darüber, wie<br />
eine zweckmäßige Entscheidung ausgesehen<br />
hätte.<br />
bb. Zwischenergebnis<br />
Somit liegt ein Ermessensfehler vor.<br />
4. Zwischenergebnis<br />
Aufgrund des Ermessensfehlers war der schriftliche<br />
Verweis rechtswidrig.<br />
II. Rechtsverlet<strong>zu</strong>ng der A<br />
Als Adressatin des schriftlichen Verweises ist A<br />
auch in ihrem Grundrecht aus <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong> verletzt,<br />
da nicht ausreichend gewürdigt wurde, warum<br />
sie der Schule ferngeblieben ist.<br />
C. Ergebnis Frage 2<br />
Die Klage der A wird erfolgreich sein, da sie <strong>zu</strong>lässig<br />
und begründet ist. Das Verwaltungsgericht<br />
wird im Urteil den Verweis aufheben.<br />
Wiederholungsfragen<br />
1. Woran scheitert vorliegend die Verfassungsbeschwerde?<br />
2. Wann ist das Merkmal der „unmittelbaren Betroffenheit“<br />
bei einem Gesetz <strong>zu</strong> bejahen?<br />
3. Nennen Sie die Ausnahmen vom Grundsatz der Unmittelbarkeit.<br />
4. Sind Grundrechte, die mit keinem Gesetzesvorbehalt<br />
versehen sind, „unbeschränkt“? Erläutern Sie dies<br />
kurz für <strong>Art</strong>. 4 I <strong>GG</strong><br />
5. Ist die Lehre vom „Besonderen Gewaltverhältnis“<br />
heute noch haltbar?<br />
6. Worauf stellt man nach heute h.M. als Differenzierungskriterium<br />
bei Maßnahmen im „Sonderstatusverhältnis“<br />
ab?<br />
7. An welchen Prüfungspunkten der <strong>Fall</strong>ösung könnte<br />
diese Differenzierung vorgenommen werden müssen?<br />
Vertiefungsfragen<br />
1. Welche an den <strong>Fall</strong> anlehnende Problematik stellt<br />
sich bei den sog. Kopftuchfällen? Skizzieren Sie kurz<br />
die Entwicklungen diesbezüglich in der Rechtsprechung!<br />
2. Welches gemeinsame rechtliche Prinzip bildet den<br />
Hintergrund für die Schaffung von Organstreit und<br />
Bund-Länder-Streit?<br />
3. Wie sind die Zuständigkeiten innerhalb der Regierung<br />
verteilt?<br />
4. Wer ist Träger der Verwaltung und wie ist diese gegliedert?<br />
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