Déclaration Schuman - DE
50. Jahrestag
der Erklärung
von Robert Schuman
9. Mai 2000
[1950-2000]
Am 9. Mai 2000 feiert das gemeinschaftliche Europa seinen
50. Jahrestag.
Robert Schuman vollbrachte einen historischen Akt, als er
am 9. Mai 1950 der Bundesrepublik Deutschland und den
anderen beitrittswilligen europäischen Ländern vorschlug,
eine friedenserhaltende Interessengemeinschaft zu gründen.
Er reichte denjenigen, die kurz zuvor noch Feinde waren,
die Hand, und löschte damit nicht nur überkommene
Ressentiments und kriegsbedingte Feindbilder aus, sondern
setzte einen im System der internationalen Beziehungen
völlig neuen Prozess in Gang, indem er den alten Nationen
vorschlug, ihre Souveränität gemeinsam wahrzunehmen
und damit – wiederum gemeinsam – den Einfluss
zurückzugewinnen, die sie als Einzelstaaten offensichtlich
nicht mehr ausüben konnten.
Die EVP-ED-Fraktion des Europäischen Parlaments hat
Robert Schuman, einen der berühmtesten Gründerväter
Europas aus der politischen Familie der Christdemokraten,
in einer Feierstunde gewürdigt, die am 9. Mai 2000 in Brüssel
stattfand. Die vorliegende Broschüre beinhaltet die
Höhepunkte dieser Veranstaltung.
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50. Jahrestag
der Erklärung
von Robert Schuman
9. Mai 2000
[1950-2000]
[INHALT]
Ansprachen:
Schuman
> Hans-Gert POETTERING, 4
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament
> Nicole FONTAINE, 12
Präsidentin des Europäischen Parlaments
> Wilfried MARTENS, 18
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei
> José Maria GIL-ROBLES GIL-DELGADO, MdEP 24
Ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments,
Vorsitzender der Internationalen Europäischen Bewegung
> Jacques SANTER, MdEP 30
Ehemaliger Präsident der Kommission
> Botschaft der Jugend: 40
“Unsere Zukunft liegt in Europa”
Stéphanie VERILHAC (Frankreich)
Aleksandra AULEYTNER (Polen)
> Erklärung vom 9. Mai 2000 50
> Erklärung vom 9. Mai 1950 52
3
4
Hans-Gert POETTERING,
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament
[Ansprache von Hans-Gert POETTERING,
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Sehr geehrte Frau Präsidentin des Europäischen Parlaments, liebe Nicole Fontaine,
sehr geehrte ehemalige Präsidenten des Europäischen Parlaments und der
Kommission, lieber José Maria Gil-Roblés und lieber Jacques Santer, sehr geehrter
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei, lieber Wilfried Martens, sehr geehrte
Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!
Heute ehren wir einen großen französischen Patrioten, einen der größten
Staatsmänner Europas im 20. Jahrhundert : Robert Schuman. Er war ein Mann der
Versöhnung, der den Menschen seiner Zeit zugerufen hat: "Den Feinden von gestern
reichen wir die Hand, um uns zu versöhnen und um Europa gemeinsam aufzubauen".
Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um den 50. Jahrestag eines
historischen Ereignisses zu begehen, das uns besonders nahesteht: die Erklärung von
Robert SCHUMAN, die eigentliche Gründungsakte der Europäischen
Gemeinschaft und der heutigen Europäischen Union.
9. Mai 1950, mitten während des Kalten Krieges, als die Wunden des tragischen
Konflikts, nämlich des Zweiten Weltkrieges, der durch eine verbrecherische Politik
hervorgerufen wurde, die unseren europäischen Kontinent an den Rand des
Abgrundes führte, am 9. Mai 1950, als die Wunden noch nicht geheilt waren,
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[Ansprache von Hans-Gert POETTERING,
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion Im Europäischen Parlament]
handelten Robert Schuman und die Gründerväter Europas mit Mut, Weitsicht,
Geduld und Leidenschaft zugleich. Sie ließen die von Haß und Groll beherrschte
Vergangenheit hinter sich, um eine bessere Welt zu schaffen. Sie setzten ihr Vertrauen
in die Würde und den Wert des Menschen und in die Fähigkeit der Menschen, aus
früheren Fehlern zu lernen und so zu vermeiden, daß die Irrtümer und Fehler sich
wiederholen, als seien sie einer unaufhaltsamen Zwangsläufigkeit unterworfen.
Robert SCHUMAN, Konrad ADENAUER und Alcide De GASPERI forderten
Frankreich, Deutschland, Italien und die übrigen Länder Europas auf, ihre
materiellen Mittel und ihren politischen Willen zu vereinen und miteinander ihre
gemeinsamen Interessen im Rahmen von Einrichtungen zu entwickeln, denen die
Achtung des Rechts und Gleichheitsgrundsatzes zugrunde liegt. Durch den Erfolg
ihrer politischen Initiative gelang es diesen Staatsmännern, in Europa einen
richtigen Zivilisationssprung zu bewirken. Wir, Christliche Demokraten und
Europäische Demokraten, wissen, daß das Gemeinschaftsunternehmen von seiner
Gründung an eine moralische Bedeutung hatte und sich in die humanistische
Tradition einfügt, die das Fundament unserer Werte darstellt.
Welchen Inhalt und welche Tragweite hatte dieser Vorschlag, den Robert SCHUMAN
in seiner Funktion als Außenminister der französischen Republik am 9. Mai 1950
vorstellte? Es ging darum, die gesamte Kohle- und Stahlerzeugung Frankreichs,
Deutschlands, der Benelux-Länder und Italiens einer gemeinsamen Hohen Behörde
zu unterstellen, und deren Aufgabe darin bestehen sollte, die Handelshemmnisse zu
beseitigen und somit den wirtschaftlichen Wiederaufbau unserer zerstörten
Industrien zu erleichtern.
Diese erste Gemeinschaft konkreter Interessen sollte der Ausgangspunkt eines sich
allmählich fortentwickelnden Integrationsprozesses sein. Die Gemeinschaftsmethode,
die noch heute und in Zukunft für uns verpflichtend und Maßstab unseres Handelns
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sein muß, stützte sich auf die schrittweise Berücksichtigung der gemeinsamen
wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Europäer.
Was im Rückblick auf das Jahr 1945 gestaltet werden sollte, war "eine Vereinigung
der Interessen der europäischen Völker und nicht einfach die Aufrechterhaltung des
Gleichgewichts dieser Interessen", wie es Jean Monnet, der Wegbegleiter Robert
Schumans und der Ideengeber dieser neuen Methode formuliert hat.
Die eigentliche Erfindung des SCHUMAN-Plans war die Einrichtung eines völlig
neuen institutionellen Systems. An die Stelle der einfachen Zusammenarbeit
zwischen souveränen Staaten auf Regierungsebene trat der ausgewogene und
demokratische Dialog zwischen Mitgliedstaaten, parlamentarischer Versammlung,
gemeinsamer Hoher Behörde, der Vorläuferin der derzeitigen Kommission, und
Gerichtshof. Die Beschluß- und Handlungsfähigkeit innerhalb dieses Systems wurde
durch die Einführung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in den Bereichen
mit geteilter Souveränität gewährleistet. Die parlamentarische Kontrolle wurde
eingerichtet, was weltweit einzigartig war und ist. Die Rechtsprechung eines
Gerichtshofes, der über direkte Justizgewalt verfügt, und die Schaffung von
Eigenmitteln anstelle nationaler Beiträge machen die Originalität, die Effizienz und
die Überlegenheit dieses Systems aus, das in der Folge durch die Römischen
Verträge, die Einheitliche Akte, den Vertrag von Maastricht und den Vertrag von
Amsterdam gefestigt wurde.
Seit 1950 ermöglicht das gemeinschaftliche Europa es unseren Ländern,
miteinander durch die gemeinsame Ausübung ihrer Souveränität wieder jenen
Einfluß zu erlangen, den keiner dieser Staaten alleine ausüben könnte. Welche
Ausstrahlung hätte jede einzelne der europäischen Nationen, wenn sie sich an die
Nostalgie einer abgeschlossenen Vergangenheit geklammert hätte und isoliert
geblieben wäre? Welches Gewicht hätte Europa heute angesichts des
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[Ansprache von Hans-Gert POETTERING,
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion Im Europäischen Parlament]
Globalisierungsprozesses in der Welt, wenn der Aufruf von Robert SCHUMAN nicht
gehört worden wäre, und wenn wir nicht in der Lage gewesen wären, als Europäer
die Solidarität, die uns in unseren Lebensweisen, in unseren grundlegenden Werten
und in unseren strategischen Interessen vereint, in die Realität umzusetzen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Botschaft von Robert SCHUMAN hat auch nach diesem halben Jahrhundert
nichts an Aktualität und beispielhaftem Wert für unser künftiges Vorgehen
eingebüßt. Vor allem hat sie uns das wertvollste Gut gesichert, nach dem die
Menschen, die guten Willens sind, überhaupt streben können: ein Leben in Frieden
und in Freiheit. Dabei war sich Robert Schuman bewußt, Europa würde nicht in
einem einzigen großen Wurf entstehen, sondern mußte jeweils schrittweise am
konkreten Sachgegenstand zusammenfinden. Auch war nicht entscheidend, für alle
Probleme sofortige Lösungen zu finden, sondern Verfahren zu entwickeln, wie auf
zivilisierte und daher gewaltfreie Weise Probleme und Aufgaben schließlich auf
rechtlicher Grundlage einer Lösung nähergeführt wurden. Durch die europäischen
Institutionen, deren Entscheidungen für die sich anschließenden Länder verbindlich
sind, sollten die "ersten konkreten Grundlagen einer europäischen Föderation
geschaffen werden, die unerläßlich ist für die Wahrung des Friedens", so heißt es in
der Erklärung von Robert Schuman. Das Hauptwort, auf das es ankam, und auch
heute, im Jahr 2000, und in der Zukunft ankommt, ist der Frieden.
Der große Erfolg von Robert SCHUMAN und seinen Zeitgenossen - und ich möchte
auch an die historischen Leistungen von Winston CHURCHILL und Charles de
GAULLE erinnern - ist unbestritten. Wer hätte im Jahre 1950, in dieser von
Spannungen geprägten Zeit, als die Sowjetunion und der kommunistische
Totalitarismus halb Europa unterdrückten, sich vorstellen können, daß sich diese
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Völker Mittel- und Osteuropas, des Baltikums und des Balkans zu Beginn des sich
vor uns erstreckenden Jahrhunderts darauf vorbereiten würden, sich ungehindert
dem gemeinschaftlichen Europa anzuschließen?
Und doch war es Robert Schuman, der im Januar 1959 bei einem abendlichen
Tischgespräch mit jungen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg
sagte: "Meine lieben jungen Freunde, ich werde es nicht mehr erleben, aber Sie
können den Zusammenbruch des kommunistischen Systems noch erleben, denn
dieser wird noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts geschehen".
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, der nach Jean Monnet einzige
Ehrenbürger Europas, Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl, hat recht, wenn er sagte:
"Die Visionäre sind die eigentlichen Realisten". Robert Schuman war ein Visionär
und daher ein wirklicher Realist.
Unser Europa steht in institutioneller Hinsicht auf soliden und in moralischer
Hinsicht auf gerechten Fundamenten. Deshalb ist seine Anziehungskraft stark
geblieben. Europas Magnetismus hat sich als unwiderstehlich erwiesen und hat die
Zwangsjacke des kommunistischen Reichs abgeworfen.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde! Auch in der Gegenwart und in der
Zukunft wird es immer wieder Konflikte und Interessenunterschiede zwischen den
europäischen Völker geben. Das ist natürlich und gehört zum menschlichen wie
politischen Leben. Aber entscheidend ist, wie wir diese Konflikte bewältigen. Die
Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft. Die Geltung des Rechts bedeutet
friedliche Konfliktregelung. Deswegen muß auch der Europäische Gerichtshof, über
den im Rahmen der Reformen der Europäischen Union wenig gesprochen wird, mit
den notwendigen Mitteln ausgestattet werden, um zu raschen Entscheidungen zu
kommen, die den Rechtsfrieden unter den Europäern sichern.
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[Ansprache von Hans-Gert POETTERING,
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion Im Europäischen Parlament]
Lassen wir es nicht zu, aus opportunistischen und politischen Gründen das
europäischen Recht zu verbiegen oder gar zu verletzen. Das europäische Recht ist
die Grundlage für den Frieden zwischen den Völkern Europas im 21. Jahrhundert.
Dies ist das eigentliche Vermächtnis von Robert Schuman.
Lassen Sie uns heute unseren Gründervätern Ehre erweisen, denn ihnen ist es
gelungen, unserer Generation die Größe der Vergebung und den Glauben an eine
bessere Zukunft glaubwürdig zu vermitteln. Erweisen wir ihnen auch Ehre für die
Kraft ihrer Botschaft, die, die historische Perspektive der Wiedervereinigung des
gesamten europäischen Kontinents eröffnet. Natürlich erfordern die
Herausforderungen der derzeitigen Erweiterung die Erschließung neuer Ressourcen
und die Entwicklung entsprechender Verfahren, um die Union voranzubringen, und
wir hoffen, daß die derzeit stattfindende Regierungskonferenz die richtigen
Antworten auf diese Herausforderungen finden wird.
Diese Reform soll unter der französischen Präsidentschaft zum Abschluß gebracht
werden. Wir erwarten, daß diese Präsidentschaft sich an dem großen französischen
Europäer Robert Schuman orientiert, dessen politisches Handeln auch für uns im
21. Jahrhundert Vorbild, Beispiel und Verpflichtung ist.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, lassen Sie uns den Lehren und Grundsätzen der
Gründerväter treu bleiben. Lassen Sie uns entschlossen dazu beitragen, daß unsere
gemeinsame Zukunft von Erfolg gekrönt ist.
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Nicole FONTAINE, Präsidentin des Europäischen Parlaments
[Ansprache von Nicole FONTAINE,
Präsidentin des Europäischen Parlaments]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in danke Ihnen, daß Sie mich an der heutigen Sitzung, mit der Sie im Rahmen
unserer EVP-Fraktion der Erklärung von Robert SCHUMAN gedenken wollten,
haben teilhaben lassen.
Der Jahrestag dieser Erklärung berührt uns zutiefst, da wir die schwere und
erhebende Aufgabe haben, das Erbe von Robert SCHUMAN weiterzuführen.
Ich möchte gleich zu Beginn darauf hinweisen, daß ich den historischen Zufall
erstaunlich finde:
In dem gleichen Jahr, in dem sich Europa auf eine der größten Herausforderungen
vorbereitet, die es jemals zu bestehen hatte – die Herausforderung, die Erweiterung
zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen – feiern wir den 50. Jahrestag der
prophetischen Erklärung von Robert SCHUMAN.
Ich sehe in dieser heute besonders aktuellen Rückbesinnung auf die ursprüngliche Inspiration
des europäischen Aufbauwerks mehr als nur ein Zeichen, nämlich eine echte Hoffnung.
Wie Sie wissen, wollten wir im Europäischen Parlament diesen Jahrestag nutzen, um
die Grundlagen des europäischen Aufbauwerks intellektuell zu vertiefen. Gestern und
heute fand ein Kolloquium statt, und viele von Ihnen haben daran teilgenommen.
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[Ansprache von Nicole FONTAINE,
Präsidentin des Europäischen Parlaments]
Alle Redner haben den Mut der Verfasser der Erklärung vom 9. Mai 1950, Robert
SCHUMANs und Jean MONNETs, den visionären Charakter der zutiefst politischen
Botschaft, die sie enthielt, und ihre auffällige Aktualität unterstrichen.
Diese Botschaft läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen:
Es war zunächst eine Botschaft des Friedens, eines Friedens, der um den hohen Preis
Dutzender Millionen Toter wiedererlangt worden war, und den es in Europa
unumkehrbar zu machen galt durch ein Ineinandergreifen der wichtigsten
Wirtschaftszweige, das so stark sein sollte, daß der Krieg nicht nur undenkbar,
sondern unmöglich würde. Der Gang der Ereignisse hat diese Vorahnung so sehr
Wirklichkeit werden lassen, daß die jungen Generationen in der Überzeugung leben,
daß der Frieden in Europa selbstverständlich geworden ist, auch wenn uns die
dramatischen Ereignisse, die sich vor unseren Toren in den Ländern des ehemaligen
Jugoslawien abgespielt haben, wieder die harte Wirklichkeit vor Augen führten, daß
der Frieden ein sehr zerbrechliches Gut ist.
Es war sodann eine Botschaft der Solidarität und der Brüderlichkeit zwischen den
europäischen Völkern, die sich jahrhundertelang immer wieder bekämpft und
entzweit hatten. Das neue Europa sollte nicht auf einen Schlag entstehen, sondern
schrittweise und auf pragmatische Weise durch konkrete Maßnahmen gestaltet
werden, durch die eine Solidarität der Tat entstehen sollte. Wie weit sind wir doch
auf diesem Weg vorangekommen – durch die gemeinsame Agrarpolitik, die
Strukturfonds, die Soforthilfen, die gemeinsamen Programme – und was haben wir
sonst nicht alles erreicht!
Es war schließlich eine Botschaft der fruchtbaren Utopie, einer Utopie, die die Berge
souveränistischer Engstirnigkeit, die unüberwindlich schienen, versetzt hat.
Von dieser Utopie geleitet hat Europa in kurzer fünfzigjähriger Geschichte eine
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[1950-2000]
wahre Revolution vollbracht, auch wenn diese friedlich und einvernehmlich verlief.
Ob es sich um den großen Binnenmarkt, die einheitliche Währung, den freien
Personenverkehr, die gegenseitige Anerkennung der Diplome - eine wesentliche
Voraussetzung für die Niederlassungsfreiheit -, den Auftakt zu einem europäischen
Rechtsraum und einer glaubwürdigen europäischen Militärstreitmacht, die noch
andauernde Ausarbeitung einer Grundrechtscharta oder, was demnächst
unvermeidlich ist, eine ausreichende Harmonisierung unserer Steuer- und
Sozialgesetzgebungen handelt – alle diese freiwilligen Souveränitätsteilungen, die
niemand für möglich gehalten hätte, sind Wirklichkeit geworden, weil die visionäre
Entschlossenheit einiger die Staaten und Völker mitgerissen hat.
Es hat wenig Sinn, sich endlos darüber zu streiten, ob Europa föderal strukturiert ist
oder nicht. Jean MONNET und Robert SCHUMAN – um nur diese beiden zu
nennen – waren Pragmatiker. Was die europäischen Staaten veranlaßte, ihre
Souveränität zu teilen, waren weniger ideologische Überlegungen als vielmehr
Notwendigkeit und Realismus. Zu dem gewagten Weg, den Europa eingeschlagen
hat, dem Weg gemeinsamer Organe mit eigenen umfassenden Befugnissen und einer
vom Europäischen Parlament ausgeübten demokratischen Kontrolle gab es keine
glaubwürdige Alternative, denn die Erfahrung der ersten Jahrzehnte der Gemeinschaft
hat gezeigt, daß die bloße zwischenstaatliche Zusammenarbeit, so notwendig sie
natürlich immer noch ist, ihre Grenzen hat und angesichts solch umwälzender
Entwicklungen, wie ich sie beschrieben habe, die für sie charakteristische
Unentschlossenheit und damit die Stagnation nicht hätte überwinden können.
Eines der Geheimnisse der Dauerhaftigkeit dieses außergewöhnlichen Erfolgs, um
den uns der Rest der Welt beneidet, war indessen das ständige Bestreben der
Organe, die nationalen Identitäten zu bewahren und zu verhindern, daß die
größten und damit stärksten Länder die übrigen zu bloßen Befehlsempfängern oder
Mitgliedern zweiter Klasse degradieren.
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[Ansprache von Nicole FONTAINE,
Präsidentin des Europäischen Parlaments]
In einer Zeit, in der die Europäische Union sich darauf vorbereitet, die Zahl ihrer
Mitgliedstaaten nahezu zu verdoppeln, müssen wir alles tun, um dieses
Gleichgewicht mit seinen zahlreichen Implikationen für den institutionellen
Aufbau, das politische Gleichgewicht, die haushaltspolitische Solidarität oder die
Achtung des sprachlichen und kulturellen Pluralismus zu erhalten. Es muß
unbedingt erhalten werden, wenn wir nicht das verfälschen wollen, was das Wesen
und den dauerhaften Erfolg der Union ausmacht.
Was Europa aber in dieser Übergangsphase zu seiner neuen Zukunft am meisten
braucht, ist ein Wiederaufleben des Gründergeistes seiner Anfangsjahre, wie er in
der Erklärung von Robert SCHUMAN sichtbar wird.
Die Knüpfung engerer Beziehungen zwischen den Bürgern und den europäischen
Entscheidungsträgern, die Anpassung der europäischen Wirtschaft an die zunehmende
Globalisierung des Handels, das Aufholen des Rückstands Europas, das zum größten
Wirtschaftszentrum der Welt geworden ist, in den Kernbereichen der neuen Technologien
und der Forschung, die erfolgreiche Integration der neuen Staaten, die sich anschicken,
der Union beizutreten, nicht nur in wirtschaftlicher und politischer, sondern auch in
kultureller Hinsicht, die Verringerung der den internationalen Frieden gefährdenden und
immer größer werdenden Kluft zwischen den Ländern der Welt, die sich
weiterentwickeln, und denen, die in Armut stagnieren, die Einleitung von Maßnahmen,
um der Stimme Europas in den Regionen, in denen die universellen Menschenrechte mit
Füßen getreten werden, Geltung zu verschaffen – alle diese neuen verschiedenartigen
Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts können nur gemeistert werden,
wenn unsere Staaten eine unverbrüchliche politische Entschlossenheit unter Beweis
stellen, ohne die das europäische Aufbauwerk nicht hätte gelingen können.
In diesem Jahr, in dem die Regierungskonferenz stattfindet, die wahrscheinlich auf
lange Sicht den institutionellen Rahmen der neuen Union festlegen wird, möchte
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[1950-2000]
ich dem Wunsch Ausdruck geben, daß es unserer EVP-Fraktion gelingen möge, den
Regierungen unserer Mitgliedstaaten den visionären Geist zu vermitteln, von dem
die Gründererklärung vom 9. Mai 1950 beseelt war.
Für uns ist dies mehr als eine Treuepflicht gegenüber Robert SCHUMAN und Jean
MONNET; es ist die Verantwortung vor der Geschichte und vor Generationen von
Männern und Frauen, die ihre Erwartungen und Hoffnungen in ein Europa des
Friedens, der Solidarität und der Brüderlichkeit gesetzt haben.
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Wilfried MARTENS, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei
[Ansprache von Wilfried MARTENS,
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin des Europäischen
Parlaments, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
die Feierlichkeit, die die EVP-ED-Fraktion heute veranstaltet, erfreut das Herz all
derjenigen, die für das europäische Aufbauwerk eintreten. Tatsächlich messen wir 50
Jahre nach dem Appell des französischen Außenministers, Robert Schuman, in Paris,
den Weg, der seit einem halben Jahrhundert beschritten wurde. Die
Gründungserklärung vom 9. Mai 1950 war zweifellos Grundstein für den größten
Erfolg des letzten Jahrhunderts. Die totalitären Ideologien haben sich zerschlagen,
die innereuropäischen Kriege haben Ruinenfelder hinterlassen. Unsere Völker wären
sicher in Verzweiflung versunken, wenn das große europäische Vorhaben nicht
verwirklicht worden wäre und unserem Kontinent neuen Aufschwung verliehen
hätte. Dank des europäischen Unternehmens erlebten die Männer und Frauen dieses
Kontinents ein halbes Jahrhundert des Friedens, der Freiheit und der Demokratie.
Erlauben Sie mir, die Bedeutung des Wortlauts selbst der Erklärung vom 9. Mai
hervorzuheben, der die europäische Botschaft auf vier Pfeiler stützt, die ich die "vier
Pfeiler der Weisheit" nennen werde.
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[Ansprache von Wilfried MARTENS,
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei]
> Der erste Pfeiler beruht auf der Verwirklichung des Friedens durch ein politisches Vorhaben.
Robert Schuman erklärte am 9. Mai: "Europa ist nicht zustande gekommen, wir
haben den Krieg gehabt". Als der französische Minister Deutschland und den
anderen Ländern, die unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden hatten,
vorschlug, die Rachsucht der Vergangenheit zu überwinden, war dies weit mehr als
ein diplomatischer Akt. Es war ein Akt mit moralischer Tragweite, der seine Kraft aus
einer Konzeption des Menschen, dem Vertrauen in seine tieferliegende Natur
schöpfte. Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi haben ihre
Hoffnung auf die Versöhnung und die Ver-weigerung des Ausschlusses gegründet.
Diese Staatsmänner haben nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholt, die Fehler,
die durch das Diktat von Versailles und den Geist der Vergeltung, ausgehend von den
schlecht verheilten Narben des Ersten Weltkriegs, die Voraussetzungen für den
Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten, der noch mörderischer und noch
unmenschlicher war. Noch heute behält diese Botschaft der Versöhnung, der
Toleranz, der Gleichheit der Rechte, der Akzeptierung der Unterschiede und der
Ableh-nung jeglichen Nationalismus ihre volle Bedeutung in der Union der Fünfzehn
und bei den zahlreichen Völkern unseres Kontinents, die ihr beitreten wollen.
> Der zweite Pfeiler der Botschaft von Robert Schuman ist ein Appell an unsere
alten Länder, sich zusammenzuschließen, um den Herausforderungen einer Welt,
die in ständiger Veränderung begriffen ist, gegenüberzutreten.
Durch die Bündelung ihrer Kräfte und die Zusammenfassung ihrer Möglichkeiten ist es
den Europäern gelungen, im technologischen und wirtschaftlichen Rennen zu bleiben.
Sie sind heute eine große kommerzielle und monetäre Macht, und die Vereinigung all
ihrer wirtschaftlichen Trümpfe ermöglicht den Europäern, weltweit auf politischer und
diplomatischer Ebene eine immer größere Rolle zu spielen. Die Gründerväter haben
9. Mai 2000
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verstanden, daß die Europäer, damit sie im Rhythmus ihrer Zeit leben, auf ihr
"glänzendes Alleinsein" und die Einstellung "Jeder für sich" verzichten müssen.
Wie sollte man nicht verstehen, daß dieser Appell zum Zusammenschluß aktueller
denn je ist, während an der Schwelle dieses Jahrtausends neue Kräfte, neue
Kontinente, neue Technologien entstehen?
Wie soll die Gesamtheit der Werte bewahrt werden, die unsere gemeinsame
Zivilisation und unsere Kulturen begründen, wenn wir nicht für den
Zusammenschluß unserer Mittel und unserer Politiken eintreten?
Die europäische Identität setzt voraus, daß unser Kontinent als Macht in der Welt
auftritt, daß die Union mit demokratischen und repräsentativen Institutionen eines
gemeinsamen Interesses ausgestattet ist. Nur zu diesem Preis können sich die
verschiedenen nationalen und regionalen Kulturen entfalten, die den Reichtum
dieses Kontinents ausmachen.
> Der dritte Pfeiler, der Grundlage der Europäischen Gemeinschaft ist, geht auf den
in der Schuman-Erklärung erwähnten gemeinschaftlichen Grundsatz zurück.
Robert Schuman hat gesagt: "Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen
und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete
Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen". Diese
schrittweise Methode, die dem Empirismus von Jean Monnet viel verdankt, hat ihre
Früchte getragen. Die erste Gemeinschaft, die Gemeinschaft für Kohle und Stahl,
war der Anfang des Zusammen-schlusses auf beschränkten, jedoch strategischen
Grundlagen. Die EGKS machte einige Jahre später den Gemeinsamen Markt und
die Zollunion, später die gemeinsamen Politiken, den Binnenmarkt, möglich, der
wiederum notwendig war für die einheitliche Währung und sie möglich gemacht hat.
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[Ansprache von Wilfried MARTENS,
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei]
Diese Methode, die auf konkrete Solidarität setzt, geht einher mit einer wesentlichen
Bedingung: die Akzeptierung von Institutionen, die fähig sind, insbesondere durch
Mehrheitsbeschluß zu entscheiden, und die Respektierung dieser Beschlüsse durch
die Mitgliedstaaten. Wir sind an einer demokratischen Gemeinschaft beteiligt, die
sowohl legitim als auch wirksam sein muß, um funktionieren zu können.
Neben einem demokratischen Parlament, das die Völker vertritt, einem Rat, der die Staaten
vertritt, brauchen wir eine starke Kommission, die in der Lage ist, das gemeinsame
Interesse zu definieren und zu verwalten. Sollten die Befugnisse und die Unabhängigkeit
der Kommission ausgehöhlt werden, was nicht ihre politische Verantwortung ausschließt,
könnten das Gleichgewicht und der interinstitutionelle Dialog, die durch die
gemeinschaftliche Methode eingeführt wurden, nicht mehr wirksam werden.
Ich glaube, daß die derzeitige Regierungskonferenz in der Lage sein wird, den neuen
Bedürfnissen einer aus mehr als 25 Mitgliedern bestehenden Union zu entsprechen,
wenn sich ihre Ergebnisse von der Schuman-Erklärung leiten lassen. Wenn nicht, so
werden das Fehlen von Vorschriften, die Schwächung der Institutionen, die
Rückkehr zu den Versuchungen der bloßen Regierungszusammenarbeit die
Möglichkeiten der Union schmälern und die Zerstörung des Besitzstands im Keim
enthalten. Wir werden die ganze Energie und den ganzen Einfluß benötigen, die die
EVP-ED und die anderen europäischen politischen Kräfte einsetzen können, um
einen Minimal-Vertrag von Nizza zu vermeiden, der einen schweren Rückschlag für
Europa wäre und die Zukunftschancen verringern würde.
> Der vierte Pfeiler der Weisheit von Robert Schuman schließlich ist der Grundsatz
der Öffnung und liest sich im Text der Erklärung wie folgt: "Die französische
Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und
Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer
Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offen steht".
9. Mai 2000
[1950-2000]
Diese bereits in dieser Erklärung geplante Öffnung war Grundlage aller
Erweiterungsverfahren, die es zunächst zwei Ländern - Frankreich und
Deutschland -, dann sechs Ländern ermöglicht haben, sich um andere Länder des
Kontinents zu erweitern, die in der Lage waren und den Wunsch hatten, sich dem
ursprünglichen Vertrag anzuschließen.
Die umfassende Bewegung, die heute die Perspektive eines Beitritts von mehr als
zehn europäischen Staaten im Laufe dieses Jahrzehnts eröffnet, ergibt sich aus
dieser Vision. Die Länder Mittel- und Osteuropas, Zypern und Malta, die heute über
ihren Beitritt zur Union verhandeln, verfügen über ein äußerst reiches Erbe. Sie
werden ihre Kultur, ihren Schwung, ihren Willen, an dieser Union Europas
teilzunehmen, in die Union einbringen, sie werden jedoch auch messen, wie viel die
von Robert Schuman genannten Grundsätze zu ihrer eigenen Entwicklung, ihrer
Entfaltung in einer Werte- und Schicksalsgemeinschaft beitragen können.
Heute wie 1950 ist Europa eine Frage von Frieden oder Krieg. Das Wiederaufkommen
von Nationalismus, die Weigerung, die Minderheiten zu respektieren, hat bereits den
Krieg auf den Balkan gebracht. Stellen wir uns vor, was das frühere Jugoslawien an
Positivem hätte einbringen können, wenn die Lösung in Richtung auf Unabhängigkeit
seiner Völker die Wege der Toleranz und der Achtung des Rechts der Minderheiten und
des Willens, das gemeinsame Interesse in den Vordergrund zu stellen, das die
Schuman-Methode kennzeichnete, hätte beschreiten können.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, daß Robert
Schuman, Jean Monnet und die Männer dieser Pioniergeneration stolz wären, sich
mit uns diesem erneuten Appell der Grundprinzipien der Union anzuschließen, für
die wir eintreten. Wir haben nicht aufgehört, aus dieser Botschaft zu schöpfen, die
schließlich unseren Kontinent von der Angst und den Ressentiments befreit hat,
alles Gründe dafür, zu hoffen und eine bessere Zukunft zu bauen …
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José María GIL-ROBLES GIL-DELGADO, MdEP,
ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments,
Vorsitzender der Internationalen Europäischen Bewegung
[Ansprache von José María GIL-ROBLES GIL-DELGADO,
MdEP, ehemaliger Präsident des
Europäischen Parlaments, Vorsitzender der
Internationalen Europäischen Bewegung]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen
und Herren!
Wir versammeln uns heute, 50 Jahre nach der Erklärung von Robert Schuman, um den
Beginn der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl feierlich zu begehen, die die
erste Etappe der Union eingeleitet hat, die wir in den letzten 50 Jahren aufgebaut haben.
Heute wird der Begriff "historisch" so häufig verwendet, daß er beinahe schon banal
klingt. Aber die Erklärung von Robert Schuman war wirklich ein historisches
Ereignis, einer dieser Meilensteine, die es uns erlauben, den Lauf der Geschichte in
ein Vorher und Nachher aufzuteilen.
Zum ersten Mal wurde ein Prozeß zur Einigung unseres Kontinents eingeleitet, der
auf dem Willen basierte, Frieden zu schaffen, und nicht auf Macht, der gegründet
war auf der Bereitschaft, freiwillig einen Beitrag zu leisten, und nicht auf der
Herrschaft des einen über den anderen.
In der Erklärung ist nicht von einem wirtschaftlichen Ziel die Rede; es wird in ihr
noch nicht dieser große Wirtschaftsraum angesprochen, auf den einige heutzutage
die Europäische Union reduzieren möchten. Vielmehr ist ausdrücklich von einem
politischen Ziel die Rede, nämlich einer Europäischen Föderation.
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[Ansprache von José María GIL-ROBLES GIL-DELGADO,
Vorsitzender der Internationalen Europäischen Bewegung]
Genau das war das Ziel von Schuman und Adenauer – der zuvor grünes Licht für
die Erklärung gab – und auch das von De Gasperi, der sich ihr spontan anschloß.
Es war das Ziel der Politik all derjeniger, die die neuen internationalen Bewegungen
gründeten, zunächst die Union der europäischen Christdemokraten und später die
Europäische Volkspartei.
Heute, wo die Notwendigkeit einer politischen Union immer deutlicher zutage tritt,
dürfen wir dieser historischen Entwicklung nicht untreu werden und diesem Ziel
nicht den Rücken kehren.
Die europäische Bewegung, die ich heute hier vertrete, wird diesem Ziel nicht
entsagen, sondern es einmal mehr mit deutlicher Stimme verkünden, nämlich, daß
ohne eine europäische Föderation die "Einheit in der Vielfalt" nicht möglich ist und
daß wir die immer größere Zahl der Europäer, die beklagen, daß die Union ein
Demokratiedefizit hat, nicht zufriedenstellen können.
In der Erklärung wird ein ganz einfaches, aber geniales Instrument vorgeschlagen,
um dieses Ziel zu erreichen, nämlich allmählich konkrete Bande zwischen den
Europäern zu knüpfen, Bande, die unter den Europäern eine wirkliche Solidarität
geschaffen haben. Keine Solidarität der großen Worte und der Symbolik, sondern
eine starke Solidarität der Interessen und der gemeinsamen Arbeit. Was einst eine
nicht zu verwirklichende Utopie schien, ist schließlich im Laufe der letzten 50 Jahre
zu einer unbestreitbaren Realität geworden. Auf die Gemeinschaft für Kohle und
Stahl folgten die Zollunion und die Europäische Atomgemeinschaft, später der
Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion. Jeder dieser Schritte zum
Aufbau der Union hat einen weiteren Schritt erforderlich gemacht, bis letztendlich
dieses dichte Netz der Solidarität geschaffen wurde, auf dem heute die Union fußt.
Und genau heute können wir doch feststellen, daß die Währungsunion nicht nur ein
Schritt ist, bei dem es kein Zurück gibt – obwohl sie noch nicht ganz vollendet ist –
sondern, daß sie weitere Fortschritte bei der Wirtschaftsunion notwendig macht.
9. Mai 2000
[1950-2000]
Die Vorbereitung auf den Euro setzte die Sanierung unserer Volkswirtschaften
voraus, und seine Einführung hat letztendlich nicht nur stabile Wechselkurse
zwischen den Währungen unserer Länder geschaffen, sondern auch ein gesundes
Wirtschaftswachstum unserer Volkswirtschaften und eine bemerkenswerte
Verringerung der Arbeitslosigkeit ermöglicht. Das muß hervorgehoben werden,
insbesondere, da jetzt immer vom Wertverlust des Euro gegenüber anderen
Währungen die Rede ist.
Ferner ist es von größter Bedeutung, und gerade jetzt, wo wir diese "Krise" durchleben,
einen der starken Punkte der Erklärung Robert Schumans hervorzuheben, nämlich die
Schaffung von wahrhaft supranationalen, gemeinschaftlichen oder föderalen
Institutionen. Wie man diese letztendlich bezeichnet, spielt keine Rolle, wichtig ist,
daß diese Institutionen in der Lage sind, die gemeinsamen Interessen zu definieren
und durchzusetzen, wenn nötig, auch gegenüber den Eigeninteressen der jeweiligen
Mitgliedstaaten. Starke, unabhängige und demokratische Institutionen: das war der
andere Schwerpunkt des Vorschlags von Robert Schuman. Ohne sie wären die
Beziehungen nur oberflächlich und von kurzer Dauer, wie es bei allen rein
zwischenstaatlichen Organisationen der Fall war und ist.
Im währungspolitischen Bereich der Union fußt der Euro auf einer starken und
effizienten Institution: der Europäischen Zentralbank. Außerhalb der Union fehlt
jedoch eine entsprechende Stütze. Um seinen vollen Wert zu erreichen, benötigt der
Euro im übrigen wie jede Währung eine ihn stützende Wirtschaftspolitik. Wir brauchen
eine wirkliche Wirtschaftspolitik auf Gemeinschaftsebene, wie sie die Europäische
Bewegung am vergangenen Samstag in Prag gefordert und sich somit den zahlreichen
Stimmen angeschlossen hat, die selbige schon immer befürwortet haben.
Vor acht oder neun Jahren, kurz vor Abschluß des Maastrichter Vertrags, hörten
einige unter uns Delors voraussagen, daß, wenn einmal der Euro Realität sei, alle
Finanzministerien nach Brüssel übersiedeln müßten, wenn man nicht zusätzliche
27
28
[Ansprache von José María GIL-ROBLES GIL-DELGADO,
Vorsitzender der Internationalen Europäischen Bewegung]
Kompetenzen der Kommission als logische Konsequenz akzeptieren wolle. Nun
deutet die Reaktion der Finanzmärkte tatsächlich darauf hin, daß eine Wirtschaft,
die von elf Ministern gelenkt wird, die sich ab und zu treffen und einstimmig
Beschlüsse fassen müssen, nicht gerade ein Muster an Effizienz ist und zwangsläufig
negative Auswirkungen auf das Vertrauen in ihre Währung hat.
Ich weiß nur zu gut, daß bereits die bloße Entwicklung einer "Wirtschaftsregierung
der Union" Panik auslöst, insbesondere, wenn es sich um eine handlungsfähige und
effiziente Regierung handeln soll, die auf einer unabhängigen Institution – der
Kommission – fußen und der demokratischen Kontrolle des Europäischen
Parlaments unterliegen muß. Aber je länger wir damit warten, desto teurer wird es
uns zu stehen kommen. Die Erklärungen des ECOFIN-Rates und die
Zukunftsprojekte, die der Europäische Rat im Rahmen der Erfüllung seiner Aufgaben
erarbeitet, mögen großartig und vielversprechend sein, wie es auch in Lissabon der
Fall war. Aber die Wirtschaftsakteure halten sich an ihren Schutzpatron, den
Heiligen Thomas, und glauben nur, was sie mit eigenen Augen gesehen haben.
Wenn wir schon von unabhängigen und demokratischen Institutionen sprechen,
dann erlauben Sie mir, liebe Freunde, den letzten Punkt der Erklärung von Robert
Schuman anzusprechen, den ich heute hervorheben möchte.
In der Erklärung wird betont, daß die Hohe Behörde – angesehene Vorgängerin unserer
jetzigen Kommission – unabhängig von den nationalen Regierungen sein muß, aber
nicht von der damaligen Versammlung, dem heutigen Europäischen Parlament. Das
sind auch keine bloßen Worte, vielmehr ist im EGKS-Vertrag festgeschrieben, daß der
Kommission vom Parlament das Mißtrauen ausgesprochen werden kann. Von einem
demokratischen Standpunkt aus wäre es auch nicht anders vorstellbar.
Die Unabhängigkeit der Hohen Behörde und der jetzigen Kommission bedeutet,
daß wir das Gemeinwohl der Union definieren müssen, ohne uns von den
Eigeninteressen des einen oder anderen Mitgliedstaates oder der einen oder anderen
9. Mai 2000
[1950-2000]
Interessensgruppe, so legitim und hehr sie auch sein mögen, beeinflussen zu lassen.
Aber Unabhängigkeit kann und darf auch nicht Unverantwortlichkeit bedeuten
oder fehlende Kontrolle durch die Institution, die die Bürger mit dieser Aufgabe
betraut haben, nämlich das Parlament.
All diejenigen, die wegen des Sturzes der Santer-Kommission diese demokratische
Grundregel ignorieren wollten und wollen und diesen Vorfall als Vorwand anführen,
um das Vertrauen des Parlaments durch das Vertrauen des Rates zu ersetzen, um
somit angeblich das Gleichgewicht zwischen den Institutionen zu wahren, haben
diesen und insbesondere der Kommission keinen guten Dienst erwiesen.
Ich bin davon überzeugt, daß sowohl das Parlament als auch die Kommission
wirklich den Willen haben, diese auf dem Vertrauen des Parlaments basierende
Beziehung funktionsfähig zu machen. Wir haben in den letzten Tagen ermutigende
Signale gesehen, aufgrund derer wir die Hoffnung hegen können, daß wir dieses Ziel
auch weiterhin verfolgen werden.
Das reicht aber nicht aus; es ist notwendig, daß der Ministerrat und der Europäische
Rat sich ebenfalls loyal verhalten, daß sie zu dem Geist der Erklärung von Robert
Schuman zurückkehren und nicht der die Reform der Union gefährdenden
Versuchung erliegen, rein zwischenstaatliche Beziehungen anstreben zu wollen.
Nur so werden die Europäer wieder Vertrauen in das bekommen, was wir in den
letzten 50 Jahren aufgebaut haben, nämlich in ein sehr vielversprechendes und
realistischstes Vorhaben zur Schaffung von Frieden im 20. Jahrhundert.
Ich danke Ihnen!
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30
Jacques SANTER, MdEP, ehemaliger Präsident der Kommission
[Ansprache von Jacques SANTER,
MdEP, ehemaliger Präsident der Kommission]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Sehr geehrte Frau Präsidentin des Europäischen Parlaments,
Sehr geehrter Herr Präsident,
Meine Damen und Herren,
Liebe Kollegen!
Vor fünfzig Jahren, auf den Tag genau, verkündete der französische Außenminister, Robert
Schuman, der Welt die Wiedergeburt Europas. Nach dem infernalischen Mechanismus, der
zu drei deutsch-französischen Konflikten in weniger als 100 Jahren führte, darunter, wie Sie
wissen, zwei Weltkriegen, zielte die Schuman-Erklärung darauf ab, jene zu einen, die sich seit
jeher feindlich gegenübergestanden, jene zusammenzuführen, die sich jahrhundertelang
bekriegt hatten. An jenem 9. Mai 1950 wurde Europa aufgerufen, zu einem neuen
Mechanismus zu finden, der zuguterletzt in eine echte Schicksalsgemeinschaft von Partnern
münden sollte mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten.
Mit dem Schuman-Plan sollte es in Europa keine Alternative mehr geben zwischen
den Pfaden des Krieges und dem Weg des Friedens. Vergegenwärtigen wir uns noch
einmal die berühmte Passage aus der Erklärung vom 9. Mai 1950: „Die Vereinigung
der europäischen Nationen erfordert, daß der jahrhundertealte Gegensatz zwischen
Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muß in erster
Linie Frankreich und Deutschland erfassen."
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32
[Ansprache von Jacques SANTER,
Ehemaliger Präsident der Kommission]
Robert Schuman war kühn. Im Mai 1950 war der Zweite Weltkrieg, der tiefe Spuren
in Europa hinterlassen hatte, gerade fünf Jahre vorbei. Andere große Männer hatten
es vor ihm versucht, vergebens. Zwei davon möchte ich nennen: Gustav Stresemann
und Aristide Briand. Die Geschichte hat ihr Erbe zerstört. Schuman hatte jedoch
einmal mehr gewagt, die Versöhnung der Erbfeinde einzufordern.
Seither hat sich Europa verändert: seine Institutionen, seine Frauen und Männer sind
nicht mehr dieselben. Fünfzig Jahre nach der Verkündung des Schuman-Plans erlebt
Europa heute die längste Periode des Friedens und des Wohlstands seiner Geschichte.
Mehr noch: Unser Kontinent beginnt heute, sich die Inspiration Robert Schumans
ganz zu eigen zu machen. Andere Regionen der Welt folgen unserem Ansatz.
Die Schuman-Erklärung ist unbestritten der Gründungsakt für den Aufbau Europas.
Es scheint mir wichtig, auf den Elementen zu beharren, die dem unerhörten Erfolg
dieses Gründungsplans zugrunde liegen. Denn ich bin zutiefst davon überzeugt, daß
die Anerkennung dieser Elemente als Schlüsselprinzipien des europäischen
Aufbauwerks heute nicht mehr in allen Mitgliedstaaten der Union
selbstverständlich sind. Es ist jedoch der Konsens über diese Schlüsselprinzipien, der
es uns erlaubt, uns als Gemeinschaft zu definieren.
1.- Zunächst einmal ist da der Mensch. Schuman und Europa sind unauflösbar
miteinander verbunden. Robert Schumans persönliche Geschichte ermöglichte es
ihm, ein Europa in Frieden mit sich selbst zu entwerfen.
Geboren in Luxemburg-Stadt, am Kreuzweg von französischer und deutscher
Sprache und Kultur, besaß der Sohn eines lothringischen Vaters und einer
luxemburgischen Mutter, der in Frankreich wie in Deutschland studiert hatte,
Verständnis für die beiden großen Entwürfe von Europa, besaß er unmittelbaren
9. Mai 2000
[1950-2000]
Zugang dazu. Schuman war von der Überzeugung beseelt, daß Europa geeint
werden müsse, daß seine Vaterländer, die luxemburgische, lothringische und
elsässische Region, eines Tages eine Region bilden könnten, die befreundete
Nachbarn eint, statt als Front zu dienen. Doch Schuman war kein Träumer: eine
große Vision, Idealismus, ein ehrgeiziges Ziel, all dies galt es mit pragmatischen,
praktikablen und realistischen Mitteln anzugehen.
Ein echter europäischer Staatsmann muß Europa auf eine tragfähige Vision und
eine klare Strategie einschwören. Robert Schuman vermochte dies.
Das 20. Jahrhundert war zweifellos amerikanisch geprägt. Wird das 21. Jahrhundert
ein europäisches Jahrhundert sein? Viel hängt ab von der Vision, der Überzeugung
und dem Durchsetzungsvermögen unserer Staatsmänner, den heutigen, und
natürlich ihren Nachfolgern. Eines ist klar: das Europa des 21. Jahrhunderts kann es
sich nicht leisten, keine Vision zu haben, keine klare Strategie für die Zukunft, keine
starke Überzeugung.
Der fünfzigste Jahrestag der Schuman-Erklärung bietet Anlaß, sich mit Nachdruck
und Überzeugung ins Gedächtnis zu rufen, daß das Europa von heute die Frucht der
Weisheit und des Mutes seiner Gründerväter ist. Ihnen schulden wir unseren
Respekt und unsere Bewunderung. Die Grundsätze, die sie aufgestellt haben und
die das europäische Aufbauwerk während dieser letzten fünfzig Jahre geprägt
haben, müssen die europäische Politik des 21. Jahrhunderts weiterhin begleiten.
2. – Ich möchte nun zum zweiten Grundelement des Schuman-Plans kommen. An
jenem 9. Mai 1950, einem Dienstag, beschrieb Robert Schuman der Welt die
Entstehung und das Funktionieren dessen, was die Europäische Gemeinschaft für
Kohle und Stahl werden sollte. Außer dem Menschen gab es auch noch die Methode.
33
34
[Ansprache von Jacques SANTER,
Ehemaliger Präsident der Kommission]
Die Methode und die auf politischer Ebene gewählten Mittel gingen über die
Verpflichtungen des Europäischen Kongresses von Den Haag hinaus. Zunächst
sollte eine Souveränitätsübertragung in einem begrenzten, aber entscheidenden
Bereich erfolgen: Kohle und Stahl, kurz: bei den Kriegsindustrien. Dann: Gründung
einer völlig neuen Institution, der supranationalen Hohen Behörde, erste
Anerkennung der Existenz eines allgemeinen europäischen Interesses. Und
zuguterletzt: die Schaffung gemeinsamer Entscheidungsprozeduren mit Einführung
des qualifizierten Mehrheitswahlrechts in einem zwischenstaatlichen Rahmen.
Auf diese Weise haben Schuman und sein Ko-Architekt, Jean Monnet, in
Abstimmung mit den Gesprächspartnern in Deutschland, Italien und den drei
Benelux-Staaten das vorgezeichnet, was man inzwischen die Gemeinschaftsmethode
nennt. Zunächst nur angewandt auf eng begrenzte Bereiche, war diese Methode
darauf angelegt, allmählich auch andere Bereiche der Souveränität zu erfassen.
Indem der ursprüngliche Bereich supranationaler Entscheidungen auf zwei wichtige
Sektoren der Kriegsindustrie beschränkt wurde, war das Projekt sowohl bescheiden
genug, um einen Versuch zu wagen und einen konkreten Anfang zu machen, als
auch bedeutend genug, um unverzüglich das wichtigste Ziel umzusetzen: einen
neuen deutsch-französischen Krieg zu vermeiden, indem de facto eine gemeinsame
Kriegsindustrie entstand, die jede bewaffnete Auseinandersetzung zwischen
Industriepartnern unmöglich machte.
Heute bin ich der Meinung, daß wir in einem Umfeld, in dem wir eine nie
dagewesene Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung diskutieren und
die europäische Verteidigung endlich beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen,
behaupten können, daß der berühmte integrative „spill-over", daß die
Gemeinschaftsmethode funktioniert hat.
9. Mai 2000
[1950-2000]
Innerhalb einer europäischen Architektur mit vielfältigen Strukturen und variablen
Instrumenten, ist es eben dieses Festhalten an der Gemeinschaftsmethode, das die
Besonderheit des europäischen Aufbauwerks ausmacht. Die Nationen Europas, die
bereit sind, zu gleichen Bedingungen auf einen Teil ihrer Souveränität zu verzichten
zugunsten einer gemeinsamen Autorität, die diesen Souveränitätsbereich einheitlich
wahrnimmt, sind diejenigen, die effektiv und effizient am Aufbau Europas
mitwirken. Denn wer vom Aufbau Europas spricht, bezieht sich tatsächlich auf die
politischen Auswirkungen einer bislang vor allem wirtschaftlichen Integration.
Es ist genau diese Dynamik, die uns im Lauf der Zeit dazu veranlaßt hat, das
integrierte Europa als Werk sui generis zu betrachten. Die Europäische Union von
heute folgt nicht mehr den klassischen Formeln des öffentlichen Rechts. Sie wird
nach Maß gefertigt, nach der freien Wahl der Mitgliedstaaten.
Deshalb brauchen wir in Europa echte europäische Staatsmänner, deshalb müssen
wir diese Gemeinschaftsmethode, die uns eint, anwenden und weiterentwickeln.
3. – Bevor ich schließe, erlauben Sie mir, liebe Kollegen, zum wesentlichen Punkt
meiner Rede zu kommen. Der Erfolg des Schuman-Plans beruht vor allem auf
seiner Perspektive für die Zukunft, auf dem angestrebten Endziel.
Robert Schuman hat vor fünfzig Jahren die eigentliche Zielsetzung seines Projekts,
seine Finalität, durchaus nicht verschwiegen, als er, nachdem der die künftige EGSK
in Umrissen skizziert hat, bekräftigte, ich zitiere: „Durch die Zusammenlegung der
Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren
Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder
bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen
Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist." Ende des Zitats.
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36
[Ansprache von Jacques SANTER,
Ehemaliger Präsident der Kommission]
Es möge sich niemand über den Gründungsgeist der EGKS täuschen, er hat sich nie
auf ein Unternehmen rein wirtschaftlicher Natur beschränkt.
Gewiß waren die Mittel, das von Schuman gesetzte föderale Ziel zu erreichen,
anfangs beschränkt: fünf Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs mußte
Rücksicht genommen werden auf die nationalen Empfindlichkeiten, deren Gewicht
und Einfluß wir noch heute spüren.
Der eminent politische Charakter der Erklärung vom 9. Mai 1950 und damit auch des
Pariser Vertrags zur Gründung der EGKS ist über jeden Zweifel erhaben. Schuman
wollte kein industrielles, wirtschaftliches, gar finanzielles Forum, er wollte eine politische
Union zwischen den Staaten, den Völkern und den Nationen Europas. Jean Monnet
meinte seinerseits, daß die Gründungsväter nicht Staaten miteinander verbündeten,
sondern Menschen einten. Das ursprüngliche Ziel der Europäischen Gemeinschaften
war nie, eine Allianz der europäischen Volkswirtschaften aufzubauen. Diejenigen, die in
diesen Tagen an die Anfänge der europäischen Integration erinnern, haben die Pflicht,
dies zu bedenken. Was wir wollen, ist die Integration.
Wir, die Mitglieder der Fraktion der Europäischen Volkspartei, haben zusammen
mit den Europäischen Demokraten, die ihren Wunsch geäußert haben, uns in
diesen Überzeugungen zu folgen, den Ideen von Robert Schuman von Anfang an
beigepflichtet. Ich möchte noch weiter gehen: der Gedanke von der europäischen
Integration selbst wurde durch unser Handeln, unsere Überzeugungen geformt…
Das Wesen des integrierten Europas, die gemeinschaftliche Entscheidungsmethode,
spiegeln unsere Erwartungen wider.
Nach dem Vorbild unserer Fraktion ist die Union in ihrer Realität mehr als die
Summe ihrer Mitgliedstaaten. Sie schafft einen Mehrwert zugunsten des
europäischen Allgemeinwohls, zugunsten der europäischen Bürger. Die Strukturen
9. Mai 2000
[1950-2000]
und Institutionen der Union begünstigen einen Ansatz, der es den nationalen
Sensibilitäten zwar erlaubt, die gemeinsamen Beschlüsse zu beeinflussen, ihnen
jedoch keine Erpressung gestattet. Ein solcher Ansatz gibt sich kaum mit dem
kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden.
Zum Schluß möchte ich Karl Lamers und Wolfgang Schäuble meine Unterstützung
zusichern, wenn sie die Herausbildung eines föderalen „harten Kerns" in Europa
fordern. Ich persönlich spreche lieber von einem „gemeinschaftlichen Kern". Es gilt,
die geopolitischen Konzeptionen hinter uns zu lassen, reine Zweckbündnisse zu
überwinden, und die politische Dimension Europas zu berücksichtigen, denn alle, die
der Gemeinschaftsmethode anhängen, indem sie ihre politische Rolle akzeptieren,
wie sie von den Gründervätern definiert wurde, tragen zur Entwicklung Europas bei.
Ein starkes Europa braucht einen starken Kern. Es ist deshalb an der Zeit, glaube
ich, die deutsch-französische Achse für die übrigen Gründerländer zu öffnen, die
Länder, die dies wünschen. Unser Interesse ist es natürlich, daß Europa funktioniert.
Vor allem aber, daß es richtig funktioniert, indem es das Recht respektiert und die
diplomatischen Verfahren einhält, die sich seit 1950 herausgebildet haben. Es ist
heute an der Zeit, die Konsequenzen aus den entstandenen Solidaritäten zu ziehen.
Und bewies Robert Schuman nicht seinen Sinn für Formulierungen, als er am 9.
Mai 1950 sagte: „Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch
nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen
entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jean Monnet
Robert Schuman
Konrad Adenauer
Robert Schuman
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Stéphanie VERILHAC, (Frankreich)
[Botschaft der Jugend: “Unsere Zukunft liegt in Europa”,
Stéphanie VERILHAC, Frankreich]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich betrachte es als eine große Ehre, daß man mich gebeten hat, Ihnen zu diesem
Jahrestag der Geburt der europäischen Idee etwas über meinen Glauben an diese
europäischen Werte zu erzählen.
Über Europa und die europäische Einheit zu sprechen, ist immer schwierig, vor
allem vor einem Publikum, das von und für Europa lebt und sich dafür entschieden
hat, die europäische Einheit durch eine immer stärkere Erweiterung und Vertiefung
der Europäischen Gemeinschaft zu wahren und zu fördern. Diese Gemeinschaft
wird sehr oft schlecht gemacht und als Sündenbock für Mißstände oder Probleme
hingestellt, mit denen jeder einzelne in seinem täglichen Leben konfrontiert wird.
Aber Europa ist etwas ganz anderes als diese Festung Europa, die über Gesetze
beschließt. Es bietet Werte, Chancen und Herausforderungen, die mich heute stolz
darauf machen, eine europäische Bürgerin zu sein.
Der 9. Mai 1950 ist ein historisches Datum, denn an diesem Tag wurde das Europa,
wie wir es heute kennen, wirklich geboren, und zwar dadurch, daß die einfachen und
kraftvollen Ideen von Robert Schuman und Jean Monnet konkrete Formen annahmen.
Diese Ideen, die mehr als 50 Jahre alt sind, sind meiner Ansicht nach immer noch sehr
aktuell, da sie sich auf Werte stützen, die wir vielleicht ein wenig vernachlässigt haben,
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42
[Botschaft der Jugend: "Unsere Zukunft liegt in Europa",
Stéphanie VERILHAC, Frankreich]
die aber, so meine ich, immer noch wesentlich sind. Das Europa der Gründerväter war
eine Vision, die auf einer grundlegenden Idee basierte: die Europäer zu einigen und dabei
aus ihren Unterschieden Vorteile zu ziehen. Die Vision von Monnet, eine fruchtbare,
klare und präzise Methode auf der Grundlage eines Glaubens an die menschliche Seele,
an den Reichtum der kulturellen und sozialen Unterschiede hat diese großartige Idee von
einer immer engeren Union zwischen den Völkern zum Erfolg geführt.
Heute ist das Europa von Robert Schuman und Jean Monnet Wirklichkeit und
Hoffnung zugleich, ein Glaube und eine Herausforderung, die angenommen und
bewältigt werden müssen.
Wirklichkeit, weil sich die Grenzen und die Menschen in einer europäischen
Dimension bewegen, weil Treffen zwischen Jugendlichen aus verschiedenen Ländern
gang und gäbe sind, weil man nicht mehr in Kategorien nationaler Zugehörigkeiten
denkt, sondern sich eher als Teil eines vereinten Europa fühlt.
Europa, das bedeutet auch, zu glauben, zu glauben an den Menschen, an seine
Verschiedenheit und an das, was durch die Mischung der Unterschiede zwischen den
Menschen entstehen kann. Der Traum Schumans, daß sich alle Europäer vereinigen
würden, um für eine gemeinsame Sache zu streiten, ist vielleicht noch nicht ganz
verwirklicht, aber es wurden und werden immer noch täglich große Fortschritte erzielt. Und
die Erfahrung des politischen, kulturellen, freundschaftlichen Austauschs mit Jugendlichen
aus 15 europäischen Ländern, die mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und in
verschiedenen Kulturen heranwachsen, aber alle bestrebt sind, voranzukommen und ihren
Horizont zu erweitern, ist durch nichts zu ersetzen. In diesem Bereich ist die Europäische
Union wegen der hervorragenden Möglichkeiten, die sie für Austauschaktionen und Treffen
zwischen jungen Europäern bietet, ein wunderbarer Erfolg, der fortgesetzt werden muß,
indem sie sich immer wieder auf die Bürger anderer europäischer Länder zubewegt.
Für Schuman war Europa auch eine Herausforderung, und ich meine, daß jetzt zu
Beginn eines neuen Jahrtausends seine Vision von Tag zu Tag wirklicher wird. Es ist
manchmal schwierig, sich in einer Welt, in der sich alles mit der Geschwindigkeit
9. Mai 2000
[1950-2000]
von Netzen und nicht mehr von Menschen ändert, zurechtzufinden und seinen
Platz zu finden; in einer Welt, in der die Ängste stärkeres Gewicht haben als die
Hoffnungen und in der das Leben eines jungen Europäers an der Schwelle zum
Erwachsenen manchmal eher als Handicap denn als Chance betrachtet wird.
In einer Zeit der Regionalismen und der Tendenz zum Rückzug auf sich selbst, der
Angst vor der Zukunft und der Kleinstädterei hilft der Glaube an den Menschen, an
die Kraft der Tat und an die europäischen Ideen der Gründerväter bei der
Neuentdeckung der Werte. Europa ist eine Chance, eine gewaltige Möglichkeit, und
sei es nur deshalb, weil unsere Generation zum erstenmal keinen Krieg erlebt hat
und sich ihren Nachbarn nahefühlt, weil man die anderen Völker nicht länger als
Feinde, sondern als Freunde betrachtet, mit denen man sich austauschen und etwas
aufbauen möchte. Weil diese Überzeugung und dieser Glaube an die Aktion der
Jungen und den Reichtum ihrer Unterschiede jedem einzelnen die Möglichkeit
bietet, voranzukommen; weil man allein nichts ist, aber man jetzt die Möglichkeit
hat, zu reisen, außerhalb seines Landes zu arbeiten, mehrere Sprachen zu sprechen
und sich auf mehreren Gebieten auszukennen, und weil die Zukunft eher zu
vielversprechend als zu geschlossen ist. Die kühne Vorstellung, daß Kriege zwischen
den europäischen Völkern durch gemeinsame Institutionen verhindert werden
könnten, erweist sich von Tag zu Tag als immer richtiger, und deshalb glaube ich,
daß jeder stolz darauf sein muß, zu dieser Gemeinschaft zu gehören.
In einer Zeit, in der der Rückzug auf sich selbst für manche Menschen die Lösung
zu sein scheint, um Problemen aus dem Weg zu gehen, scheint mir die erneute
Beschäftigung mit den Gedanken der Gründerväter, ihrem Glauben an den
Menschen, die Tat und die wunderbare Synergie des Austausches zwischen den
Menschen das beste Mittel zu sein, um den Zweiflern die Hoffnung zurückzugeben.
Europa ist eine Herausforderung, Europa wird gebaut, aber muß täglich
weitergebaut werden und kann es jedem einzelnen ermöglichen, seinen Platz zu
finden und somit dort so gut, wie er es vermag, seine Spuren zu hinterlassen.
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Aleksandra AULEYTNER, (Polen)
[Botschaft der Jugend: “Unsere Zukunft liegt in Europa,
Aleksandra AULEYTNER, Polen]
Feier zum 50. Jahrestag der Erklärung
von Robert Schuman
Der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemocraten)
und Europäischer Democraten im Europäischen Parlament
Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich muß gestehen, daß es mich etwas befangen macht, heute anläßlich des 50.
Jahrestags der Erklärung von Robert Schuman vor einem so erlesenen Kreis zu
sprechen. Auch wenn Polen noch nicht Mitglied der Europäischen Union ist, so
fühle ich mich doch den gemeinsamen Werten und Konventionen tief verbunden.
Seit frühester Jugend bin ich der Überzeugung, daß ein wohlerzogener junger
Mensch nicht reden, sondern respektvoll schweigen und zuhören sollte, wenn er mit
anderen Menschen zusammentrifft, welche die Klugheit, Weisheit, Reife und die
gesellschaftliche Stellung besitzen, die man nur in einem langen und verdienstvollen
Leben erwerben kann.
Wenn ich heute von diesem Grundsatz abweiche, so geschieht dies, weil ich Ihre
Einladung als Geste der Sympathie und der Ermutigung für die Jugend all der
Länder begreife, die der Europäischen Union beitreten möchten. Es ist eine große
Ehre und eine große Verpflichtung, die Jugend dieser Länder hier in diesem
feierlichen Rahmen anläßlich der Erklärung vom 9. Mai 1950 zu vertreten.
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[Botschaft der Jugend: "Unsere Zukunft liegt in Europa,
Aleksandra AULEYTNER, Polen]
Mir ist diese Ehre nicht aufgrund meiner persönlichen Verdienste zuteil geworden,
sondern weil ich eine junge Europäerin bin. Ich kann daher nicht für mich in
Anspruch nehmen, im Namen der europäischen Jugend zu sprechen, doch ich
möchte Sie an einigen meiner Gedanken, Träume und Hoffnungen für unsere
Zukunft teilhaben lassen.
Als ich die Erklärung von Robert Schuman zum ersten Mal las, war ich begeistert
von der sehr direkten und konkreten Sprache. Hier wurden hohe und ehrgeizige
Ziele zur Schaffung eines friedlichen und vereinten Europa in einer Art
Arbeitsprogramm präsentiert, das sich vor allem an die Strategen richtete und
wenig Pathos enthielt. Die Erklärung beinhaltet nicht nur eine Vision, sondern auch
eine Methode. Diese Kombination erinnert mich an die intellektuelle Disziplin der
„Exerzitien" des Ignatius von Loyola, dessen Anhänger durch die Einhaltung
strenger und genauer Vorgaben Tüchtigkeit in weltlichen Dingen und innere
Vollkommenheit erlangten.
Die Verdienste von Robert Schuman sind nicht weniger beeindruckend. Auch wenn
er noch nicht heiliggesprochen wurde, so hat er doch ein wahres Wunder bewirkt.
Robert Schuman hat erreicht, daß die uralten Gegenspieler Frankreich und
Deutschland in der Kohle- und Stahlproduktion zusammenarbeiteten und so einen
Prozeß in Gang gesetzt, der es den europäischen Nationen ermöglichte, sich
zusammenzuschließen und sich gemeinsam zu entwickeln und Wohlstand zu
schaffen. Heute erscheint uns ein Leben in Frieden und ohne Krieg als etwas
Selbstverständliches. Meine Generation kennt die Schrecken des Krieges nur aus
den Geschichtsbüchern und aus dem Fernsehen. Trotzdem muß ich gestehen, daß
ich mich nicht völlig sicher fühlen kann, solange nicht alle Quellen der Feindseligkeit
zwischen den Nationen, Religionen und Ideologien beseitigt sind.
9. Mai 2000
[1950-2000]
Die Welt, in der wir leben, ist schon heute eng zusammengerückt. Durch den
technologischen Wandel, durch Kommunikations- und Verkehrsmittel können wir
Europäer andere Nationen ebenso schnell erreichen wie sie uns. Eine Festung
Europa oder einen exklusiven Club der Europäer aufzubauen und zu verteidigen, ist
weder wünschenswert noch möglich.
Vor fünfzig Jahren schrieb Robert Schuman „Europa wird nicht von heute auf
morgen entstehen, und es wird nicht nach einem einzigen Plan geformt werden.
Konkrete Erfolge werden die Bausteine sein, durch die zunächst eine echte
Solidarität entstehen wird".
Heute kann diese „echte Solidarität" nur in einer weltweiten Solidarität bestehen.
Die Welt im Jahr 2000 unterscheidet sich von der des Jahres 1950 nicht nur durch
die fünfzig Jahre und die zwei Generationen, die dazwischenliegen. Sie
unterscheidet sich so grundlegend wie Newtons Physik sich von den Theorien
Einsteins unterscheidet. Seit der Zeit des Robert Schuman hat nicht nur die Kohleund
Stahlproduktion ihre Bedeutung für die Nationen verloren, auch die
Volkswirtschaften und Finanzsysteme arbeiten nach völlig anderen Regeln. Das
Wissen besitzt heute einen weit größeren Stellenwert als die natürlichen Ressourcen,
und das Humankapital ist heute knapper als das Finanzkapital.
Die größten Gefahren für die Sicherheit Europas gehen nicht mehr vom Wettrüsten
oder der atomaren Bedrohung aus. Aktuellen Berichten zufolge stellt AIDS eine der
größten Gefahren für die Sicherheit der Welt dar. Ich denke, an dieser Stelle sollte
auch das anhaltende Problem der wachsenden Ungleichheit zwischen den
Nationen und Regionen und die anfällige Struktur des Weltfinanzsystems genannt
werden.
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[Botschaft der Jugend: "Unsere Zukunft liegt in Europa,
Aleksandra AULEYTNER, Polen]
Wie können wir das Vermächtnis der vor 50 Jahren abgegebenen Erklärung am
besten würdigen? Robert Schuman schrieb in seinen Memoiren "Pour l'Europe":
"Diese Vision eines ausgesöhnten, vereinten und starken Europa soll von nun an die
Losung der jungen Generation sein, die der Menschheit dienen will, einer
Menschheit, welche die Fesseln des Hasses und der Furcht abgeworfen hat und nach
endlos scheinenden Hindernissen in christlicher Brüderlichkeit lebt".
Aus meiner Sicht reicht es nicht aus, der Vision von Robert Schuman zu folgen. Die
Europäer von heute sollten denselben intellektuellen Mut und die Disziplin
beweisen, wie er es einst tat. Sie sollten Ziele setzen, die über den regionalen
Interessen stehen, so, wie es dieser große französische Staatsmann nach dem
Zweiten Weltkrieg getan hat. Durch die enormen Möglichkeiten, die uns die
Informationsgesellschaft und die Erfahrungen der Vergangenheit bieten, können wir
von anderen Regionen und Kulturen lernen und unsere eigenen Defizite
ausgleichen. Willfährigkeit und Nachgiebigkeit werden uns nicht voranbringen.
Die Vision von Robert Schuman, alle Grenzen innerhalb Europas niederzureißen,
wird heute im Zuge der Informationsgesellschaft in weit stärkerem Maße zur
Realität als das in der Nachkriegszeit der Fall war. Wir müssen deshalb entscheiden,
wie das Europa aussehen soll, in dem wir leben wollen, und damit stellt sich
zwangsläufig auch die Frage, wo dieses Europa enden soll.
In der Zeit der europäischen Aufklärung suchten Visionäre und Philosophen nach
einem Modell der moralischen Grundsätze für die europäische Politik.
Melebranche, Montesquieu, Rousseau und Fenelon versuchten, die traditionelle
Regierungsform zu finden, um von diesem Beispiel zu lernen. Vielleicht wird uns bei
unserer Suche nach neuen Strategien für Europa die wahre Bedeutung des Konzepts
der christlichen Brüderlichkeit bewußt, das Robert Schuman so sehr schätzte.
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Von links nach rechts: Jacques SANTER, Wilfried MARTENS,
Hans-Gert POETTERING, Nicole FONTAINE
und José Maria GIL-ROBLES GIL-DELGADO
[Erklärung vom 9. Mai 2000]
Am 9. Mai 1950 schlug Robert Schuman im Namen Frankreichs vor, die gesamte französischdeutsche
Kohle- und Stahlerzeugung einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, und
zwar im Rahmen einer Organisation, an der die übrigen Länder Europas teilnehmen könnten.
Dieser Vorschlag bildet den eigentlichen Gründungsakt der Europäischen Gemeinschaften und der
Union, dem unsere Völker 50 Jahre des Friedens und der fruchtbaren Zusammenarbeit verdanken.
Die EVP-ED-Fraktion möchte an diesem Gedenktag die Tragweite dieser historischen Äußerung
würdigen, die eine Versöhnung von Ländern bewirkt hat, die sich zuvor kriegerisch gegenüber standen.
Die Schuman-Erklärung hat eine neue Ära in den innereuropäischen Beziehungen eingeleitet: sie legte
den Schwerpunkt auf die Suche nach dem gemeinsamen Interesse, auf die Grundsätze der Gleichheit
und der Nichtdiskriminierung, auf die Werte von Toleranz und Rechtstaatlichkeit.
Auf der Grundlage der Schuman-Erklärung unterzeichneten die Gründerstaaten am 18. April
1951 in Paris den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKS. Mit diesem Vertrag wird die erste Europäische Gemeinschaft gegründet, die auf
starken und demokratischen Institutionen beruht und in Bereichen geteilter Hoheitlichkeit
über tatsächliche Befugnisse verfügt.
Die EVP-ED-Fraktion ist der Auffassung, daß die Erfahrung der vergangenen 50 Jahre die
politischen Grundsätze und die juristischen und institutionellen Verfahren, auf deren Grundlage
sich die Europäische Union entwickelt hat, in ihrer ganzen Bedeutung widerspiegeln. Auf der
Grundlage dieser Gemeinschaftsmethode werden die für die Konsolidierung, die Demokratisierung
und zur Stärkung der Effizienz der Institutionen erforderlichen Reformen vollzogen werden
können, derer die Union zur Bewältigung der Herausforderungen des neuen Jahrhunderts bedarf.
Die Sicherheit von Frieden und Stabilität, die unsere Länder erlebt haben, hat eine
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung begünstigt, sie hat den Völkern der sechs
Gründerländer zum Vorteil gereicht, und anschließend all den Ländern, die sich ihnen
angeschlossen haben, um die Union der 15 zu bilden. Die EVP-ED-Fraktion ist der
Auffassung, daß der laufende Erweiterungsprozeß dem großen Entwurf der Gründerväter in
jeder Hinsicht entspricht. Der Beitritt der Bewerberländer wird mittelfristig eine
Wiedervereinigung des Kontinents ermöglichen und damit die Vision von Robert Schuman,
Konrad Adenauer, Alcide de Gaspari und all den Staatsmännern bestätigen, die aus dem
europäischen Aufbauwerk ein regelrechtes Zivilisationsvorhaben gemacht haben.
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Salon de l’horloge, Palais du Quai d’Orsay, Paris 9.V.1950
[Erklärung vom 9. Mai 1950]
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der
Größe der Bedrohung entsprechen.
Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist
unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als
zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel
gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt.
Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache
Zusammenfassung : Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine
Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der
Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das
begonnene Werk muß in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen.
Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden
Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der
französich-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu
unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht.
Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung
gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern - die erste Etappe der
europäischen Föderation - und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der
Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.
Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, daß jeder Krieg
zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.
Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die
daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen
Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die
realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen.
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[Erklärung vom 9. Mai 1950]
Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung
gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des
Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer
seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können : die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.
So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung
einer Wirtschaftsgemeinschaft unerläßlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen
Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren.
Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen
Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden
Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen
Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist.
Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung
bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen:Die der gemeinsamen
Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen : die
Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl
und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten
Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den
anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft
dieser Industrien.
Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen
Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden,
vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar : die Anwendung eines
Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und
die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion
erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird
sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt
werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst
die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten.
Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung
der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher
Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die
Ausdehnung der Produktion gewährleisten.
Die Grundsätze und wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen
Gegenstand eines Vertrages werden, der von den Staaten unterzeichnet und durch die
Parlamente ratifiziert wird. Die Verhandlungen, die zur Ausarbeitung der
Ausführungsbestimmungen unerläßlich sind, werden mit Hilfe eines Schiedsrichters geführt
werden, der durch ein gemeinsames Abkommen ernannt wird. Dieser Schiedsrichter wird
darüber zu wachen haben, daß die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und hat im
Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung zu bestimmen, die dann
angenommen werden wird.
Die gemeinsame Hohe Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist,
wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer
Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird
von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in
Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen
werden Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Hohen Behörde
gewährleisten. Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behörde wird damit
beauftragt, zweimal jährlich einen öffentlichen Bericht an die Organisation der Vereinten
Nationen zu erstatten, der über die Tätigkeit des neuen Organismus, besonders was die
Wahrung seiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt.
Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums
an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die
Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso
wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, so lange diese bestehen.
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