Vortrag Dr. Hans-Jürgen Marcus/ PDF - Caritas-pb.de
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Armut als Herausfor<strong>de</strong>rung für die <strong>Caritas</strong><br />
08.03.2007 in Hil<strong>de</strong>sheim/ GF DiCV Pa<strong>de</strong>rborn<br />
<strong>Dr</strong>. <strong>Hans</strong>-<strong>Jürgen</strong> <strong>Marcus</strong>, Diözesan- <strong>Caritas</strong>direktor Hil<strong>de</strong>sheim und<br />
Sprecher <strong>de</strong>r Nationalen Armutskonferenz<br />
Die Nationale Armutskonferenz (nak) ist ein Zusammenschluss <strong>de</strong>r<br />
Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong> (AWO, <strong>Caritas</strong>, Diakonie, Rotes Kreuz, Jüdische Wohlfahrt,<br />
Paritätischer Wohlfahrtsverband), von Betroffenen- und Solidaritätsorganisationen<br />
(Bun<strong>de</strong>sarbeitsgemeinschaft <strong>de</strong>r Sozialhilfeempfänger, BAG Schuldnerberatung,<br />
BAG Wohnungslosenhilfe; die Tafeln, Verein Armut und Gesundheit…), <strong>de</strong>s<br />
Deutschen Gewerkschaftsbun<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sjugendrings. Die nak versucht<br />
Lobby für von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffene Menschen zu sein. Immer<br />
wie<strong>de</strong>r nimmt sie in sozialpolitischen Bilanzen zu einzelnen Aspekten <strong>de</strong>s<br />
Armutsthemas Stellung. Anfang November 2006 gab es unter Fe<strong>de</strong>rführung <strong>de</strong>r nak<br />
zum ersten Mal ein öffentlich sehr beachtetes Treffen von Armen auf nationaler<br />
Ebene im <strong>Caritas</strong>verband in Hil<strong>de</strong>sheim. Die nak wollte damit <strong>de</strong>utlich machen, dass<br />
es dringend an <strong>de</strong>r Zeit ist, Betroffene an <strong>de</strong>r Diskussion und an <strong>de</strong>n Vorschlägen für<br />
Lösungswege zu beteiligen.<br />
Wichtige Themen waren dabei folgen<strong>de</strong>:<br />
Arme Menschen erwarten, dass ihre Wür<strong>de</strong> gewahrt bleibt. Das be<strong>de</strong>utet,<br />
dass öffentlich mit Respekt über ihre Situation gesprochen wird (und nicht mit<br />
Generalverdächtigungen wie bei <strong>de</strong>n beliebten Missbrauchs<strong>de</strong>batten) und<br />
dass sie in Ämtern und Behör<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>voll behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.<br />
Arme Menschen sind bereit, ihr Engagement in gesellschaftliche<br />
Entwicklungen einzubringen. Sie wür<strong>de</strong>n gern mitwirken an politischen<br />
Beratungs- und Entscheidungsprozessen, insbeson<strong>de</strong>re wenn sie ihre<br />
Lebenssituation sehr nah betreffen.<br />
Arme Menschen brauchen Unterstützung insbeson<strong>de</strong>re durch niedrig<br />
schwellige Beratungsangebote um im Dschungel von Behör<strong>de</strong>n und<br />
Verordnungen Orientierung zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Arme Menschen brauchen die Verbesserung ihrer materiellen<br />
Lebenssituation, die ihnen ein Leben in Wür<strong>de</strong> im Sinne <strong>de</strong>s sozio-kulturellen<br />
Existenzminimums möglich macht.<br />
Ein solcher Ansatz <strong>de</strong>r Beteiligung von Betroffenen unterschei<strong>de</strong>t sich von vielen<br />
Diskussionen über die Köpfe <strong>de</strong>r Betroffenen hinweg.<br />
1. Was ist Armut?<br />
Wenn ein Kind Hunger hat, wenn es kein Trinkwasser gibt, wenn ein Kind kein<br />
Obdach hat o<strong>de</strong>r immer frieren muss, wenn es keine Medikamente bekommt und<br />
krank bleiben o<strong>de</strong>r sterben muss, dann ist es arm. Man kann sich leicht darüber<br />
verständigen wenn es solche absolute Armut gibt. Alle sind empört!<br />
Wenn ein Kind in einem Kin<strong>de</strong>rwagen gefahren wird, <strong>de</strong>r auf Schul<strong>de</strong>nbasis<br />
angeschafft wer<strong>de</strong>n musste,
2<br />
wenn ein Kind ein doppelt so hohes Risiko hat, in seiner sprachlichen, sozialen und<br />
gesundheitlichen Entwicklung beeinträchtigt zu sein wie ein Kind aus finanziell<br />
gesicherten Familien,<br />
wenn ein Kind keinen Nachhilfeunterricht in Anspruch nehmen kann, weil das aus<br />
<strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>rregelsatz von 1,76 € für Schulmaterial nicht zu finanzieren ist,<br />
wenn ein Kind nicht zum Geburtstag <strong>de</strong>r Freundin gehen kann, weil es die 6 Euro für<br />
das Geschenk nicht aufbringen kann,<br />
wenn ein Kind nicht in <strong>de</strong>n Schwimmverein gehen kann, weil es <strong>de</strong>n Mitgliedsbeitrag<br />
nicht finanzieren kann,<br />
dann ist es arm. Es ist auf eine Art arm, die nicht so leicht sichtbar ist, relative Armut<br />
nennen das die Experten, die von vielen immer noch geleugnet wird und die oft<br />
genug <strong>de</strong>n Eltern als Schuld zugeschrieben wird.<br />
Es ist ein Unterschied, ob jemand in Köln o<strong>de</strong>r Kalkutta arm ist. Armut bemisst sich<br />
immer am Wohlstand eines Lan<strong>de</strong>s. Armut ist damit ein relativer Begriff, <strong>de</strong>r<br />
Unterschie<strong>de</strong> markiert.<br />
Armuts<strong>de</strong>finition <strong>de</strong>r Vereinten Nationen. Danach lebt in absoluter Armut, wer<br />
weniger als einen Dollar pro Tag zum Leben hat (1 Mrd. Menschen). Weniger als 2<br />
Dollar 3,7 Mrd. Menschen.<br />
Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht bezieht sich nach <strong>de</strong>r Definition <strong>de</strong>r EU auf<br />
eine so genannte Armutsrisikoquote. Gezählt wer<strong>de</strong>n dabei Personen, <strong>de</strong>ren<br />
Einkommen weniger als 60 Prozent <strong>de</strong>s durchschnittlichen Haushaltseinkommens<br />
beträgt. Nach <strong>de</strong>m 2. Armuts- und Reichtumsbericht betrug diese Risikogrenze 938,-<br />
Euro auf <strong>de</strong>r Datenbasis von 2003. Mit weniger als 75 % befin<strong>de</strong>n sich Menschen in<br />
einer prekären Lage. Bei einem Einkommen von weniger als 40 % spricht man von<br />
strenger Armut.<br />
Eine wichtige Bezugsgröße in Deutschland ist <strong>de</strong>r Regelsatz bzw. die Höhe<br />
staatlicher Min<strong>de</strong>stsicherungsleistungen; <strong>de</strong>r Regelsatz liegt <strong>de</strong>rzeit bei 345,- Euro<br />
zzgl. Wohnungskosten und ggf. Hinzuverdienst. Die Anzahl <strong>de</strong>r Empfänger<br />
staatlicher Min<strong>de</strong>stsicherungsleistungen hat sich mit Inkrafttreten <strong>de</strong>s SGB II und XII<br />
mehr als verdoppelt. Aktuell leben 7,8 Mio Menschen von Sozialleistungen –darunter<br />
über 1,7 Mio Kin<strong>de</strong>r unter 15 Jahren.<br />
Natürlich hat Armut nicht nur eine materielle Dimension; gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 2. Armuts- und<br />
Reichtumsbericht geht von einem Lebenslagenansatz aus. Armut stellt eine<br />
Verletzung von Grundrechten dar und ist nicht nur eine finanzielle Frage. Sie umfasst<br />
auch Aspekte wie Zugang zu angemessenem Wohnen, eine qualitative<br />
Gesundheitsversorgung, Zugang zur Pflege und Betreuung von Kin<strong>de</strong>rn und älteren<br />
Menschen, Beschäftigungsmöglichkeiten und Gelegenheiten für lebenslanges<br />
Lernen o<strong>de</strong>r kulturelle Teilhabe.<br />
Menschen leben in extremer Armut, wenn sie ihre Ansprüche auf Sozialhilfe o<strong>de</strong>r<br />
ALG II nicht selbständig geltend machen können. Maßgeblich dafür sind Arbeits- und<br />
Wohnungslosigkeit, Einkommensarmut, Überschuldung, mangeln<strong>de</strong> Bildung,<br />
<strong>Dr</strong>ogenmissbrauch, Straffälligkeit sowie Krankheit 1 .<br />
1 Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift <strong>de</strong>s Rates<br />
<strong>de</strong>r EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006
3<br />
Armut kann politisch und gesellschaftlich immer nur das sein, worauf wir uns in<br />
einem gesellschaftlichen Diskurs verständigen, was Armut ist. Es gibt kein<br />
wissenschaftliches Instrumentarium, das <strong>de</strong>finieren könnte, was Armut ist. Armut zu<br />
<strong>de</strong>finieren heißt, die Fragen nach <strong>de</strong>r Verpflichtung zum Teilen <strong>de</strong>s gesellschaftlich<br />
erwirtschafteten Wohlstan<strong>de</strong>s zu stellen.<br />
2. Zwischen zweitem und drittem Armuts- und Reichtumsbericht<br />
„Die Bekämpfung <strong>de</strong>r Armut ist ein Schwerpunkt <strong>de</strong>r Politik <strong>de</strong>r neuen<br />
Bun<strong>de</strong>sregierung. Beson<strong>de</strong>rs die Armut von Kin<strong>de</strong>rn muss reduziert wer<strong>de</strong>n.“ So<br />
hieß es im ersten Koalitionsvertrag <strong>de</strong>r rot-grünen Bun<strong>de</strong>sregierung im Oktober<br />
1998. Acht Jahre später ist die Bilanz ernüchternd.<br />
Die so genannte Armutsrisikoquote ist von 1998 bis 2003 von 12,1 auf 13,5 %<br />
gestiegen. Vom Risiko <strong>de</strong>r Einkommensarmut betroffen wären <strong>de</strong>mnach in<br />
Deutschland über 11 Millionen Menschen. Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche sind<br />
überproportional von Armut betroffen. 19 % aller Jugendlichen o<strong>de</strong>r fast je<strong>de</strong>r fünfte<br />
lebt in Armut. Gegenüber 1998 ist das ein Anstieg um fast ein <strong>Dr</strong>ittel. Auch bei<br />
Kin<strong>de</strong>rn bis 15 Jahre ist <strong>de</strong>r Anteil mit 15 % überdurchschnittlich.<br />
Die Nationale Armutskonferenz hat <strong>de</strong>n 2. Armuts- und Reichtumsbericht <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>sregierung ausdrücklich begrüßt. Er leistet einen konstruktiven Beitrag zur<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung über die Lebenslagen armer Menschen in Deutschland. Derzeit<br />
laufen die Vorbereitungen für <strong>de</strong>n dritten Bericht Anfang 2009.<br />
Armutsberichterstattung qualifiziert die gesellschaftliche und politische Diskussion<br />
und ist unverzichtbar..<br />
Lei<strong>de</strong>r zeigt die Analyse im 2. ARB, dass <strong>de</strong>r Bericht unter <strong>de</strong>m Eindruck steht, die<br />
Reformpolitik <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung zu rechtfertigen. Wenn <strong>de</strong>r Bericht darauf<br />
hinweist, dass die Regelsätze in <strong>de</strong>r Sozialhilfe für Kin<strong>de</strong>r unter 7 Jahren um 10 %<br />
erhöht wur<strong>de</strong>n, gleichzeitig aber verschweigt, dass sie für über 7 jährige um 5 % und<br />
für 14- 18 jährige um 10 % gekürzt wur<strong>de</strong>n, dann ist das eben höchstens die halbe<br />
Wahrheit. Insgesamt kommt es zu einer schwierigen Vermischung von Analyse und<br />
politischer Bewertung. Man sollte diesen Bericht <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung in die Hän<strong>de</strong><br />
eines unabhängigen Sachverständigenrates legen.<br />
So geschieht es beispielsweise beim Kin<strong>de</strong>r- und Jugendbericht o<strong>de</strong>r beim Bericht<br />
zur Beurteilung <strong>de</strong>r gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen durch <strong>de</strong>n<br />
Sachverständigenrat. Auf <strong>de</strong>r Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens unter<br />
Einbeziehung <strong>de</strong>r Erfahrungen <strong>de</strong>r Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong> und Initiativen könnte dann<br />
eine öffentliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung über die Bewertung <strong>de</strong>r sozialen Lage in<br />
Deutschland erfolgen.<br />
Ist <strong>de</strong>r Bericht, so muss man sich fragen, wirklich auch ein Reichtumsbericht? Er<br />
leistet eine differenzierte Darstellung <strong>de</strong>r Vermögensentwicklung, aber es fehlt z.B.<br />
eine Darstellung <strong>de</strong>r Einkommensentwicklung und <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n<br />
Einkommensungleichheit. 1998, so <strong>de</strong>r 2. Armuts- und Reichtumsbericht, besaßen<br />
zehn Prozent <strong>de</strong>r reichsten Haushalte bereits fast 45 % <strong>de</strong>s gesamten<br />
Nettovermögens. 2003 sind es mit knapp 47 % noch einmal gut zwei Prozent mehr.<br />
Die unteren 10 % besitzen nichts mehr. Sie haben Schul<strong>de</strong>n. 3,13 Mio <strong>de</strong>utsche<br />
Haushalte sind überschul<strong>de</strong>t. Den leeren öffentlichen Kassen steht ein nicht
gekanntes Privatvermögen gegenüber. Während die Lohnzuwächse bei <strong>de</strong>n<br />
Niedrigverdienern unter <strong>de</strong>r Inflationsrate lagen konnten die Spitzenverdiener ihre<br />
Bezüge <strong>de</strong>utlich steigern. Bei <strong>de</strong>n DAX-Vorstän<strong>de</strong>n waren das 2005 15 % 2 . Die<br />
soziale Ungleichheit hat damit das höchste Niveau seit <strong>de</strong>r Datenerhebung 1984<br />
erreicht.<br />
4<br />
Erstmals beleuchtet <strong>de</strong>r Bericht die Lebenslagen von Menschen in ver<strong>de</strong>ckter und in<br />
extremer Armut. Nach Aussagen <strong>de</strong>s Berichts kommen auf drei Sozialhilfeempfänger<br />
noch einmal 1,5 bis 2 Sozialhilfeberechtigte, die ihren Anspruch nicht geltend<br />
machen. Das sind ca. 30-40 % Dunkelziffer). Im zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n<br />
Forschungsbericht von Hauser liegt die Dunkelziffer zwischen 40 und 50%, bei<br />
Migranten noch <strong>de</strong>utlich höher. Schlimmstenfalls muss angenommen wer<strong>de</strong>n, dass<br />
in Deutschland nur je<strong>de</strong> zweite Sozialhilfeberechtigte Sozialhilfe bezieht.<br />
Vor diesem Hintergrund ist die Aufregung zu sehen, die entsteht, wenn eine<br />
auflagenstarke Tageszeitung von Florida-Rolf berichtet, <strong>de</strong>r es sich in Florida gut<br />
gehen lässt und Sozialhilfe bezieht. Unbestritten: Sozialhilfemissbrauch kommt vor.<br />
Wer sich Sozialhilfe erschleicht ist ein Betrüger. Man vermutet <strong>de</strong>n Missbrauch bei<br />
4,44 % 3 Gleichzeitig wer<strong>de</strong>n 50 % berechtigter Sozialhilfeansprüche nicht<br />
eingefor<strong>de</strong>rt. Wohl kein Gesetzesvorhaben wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahren so schnell<br />
durch das parlamentarische Verfahren gebracht wie das gegen<br />
Sozialhilfemissbrauch. Es bezieht sich auf 950 Sozialhilfeempfänger, die im Ausland<br />
leben.<br />
Unzufrie<strong>de</strong>n muss man insgesamt mit <strong>de</strong>m Themenbereich Migrantinnen und<br />
Migranten sein. Insgesamt ist das Armutsrisiko <strong>de</strong>r Migranten dreimal so hoch.<br />
Vor allem fehlt die Darstellung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>r über 500.000 in Deutschland<br />
leben<strong>de</strong>n Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Im Armuts- und<br />
Reichtumsbereich kommt dieses Thema lediglich in einer Fußnote vor. Dabei wissen<br />
wir um die prekären Lebensbedingungen wie fehlen<strong>de</strong> gesundheitliche Versorgung,<br />
kaum Zugang zu Bildung und erst recht nicht zum Arbeitsmarkt.<br />
3. Armut und soziokulturelles Existenzminimum (Regelsätze)<br />
Die NAK hält das soziokulturelle Existenzminimum für eine wesentliche<br />
sozialpolitische Größe. Sozialhilfebezieher haben gemein, dass sie über einen<br />
kürzeren o<strong>de</strong>r längeren Zeitraum in Einkommensverhältnissen leben, die in direktem<br />
Zusammenhang mit Armut und Ausgrenzung stehen. Dabei soll Sozialhilfe ein<br />
soziokulturelles Existenzminimum festlegen und damit auch ein Min<strong>de</strong>stmaß an<br />
kultureller Teilhabe sichern. Das Niveau <strong>de</strong>s Regelsatzes ist nicht bedarfs<strong>de</strong>ckend.<br />
Eine Expertise <strong>de</strong>s DPWV weist nach, dass bei <strong>de</strong>r Neuberechnung <strong>de</strong>r Regelsätze<br />
für das Jahr 2005 durch willkürliche Festsetzungen die Summen klein gerechnet<br />
wur<strong>de</strong>n: Gera<strong>de</strong> mal 3,60 € stehen für die Schuhe von im Wachstum befindlichen<br />
Kin<strong>de</strong>rn zur Verfügung. 13,88 € für Kleidung; 1,41 € für Spielzeug. 1,33 € für<br />
Schulhefte, Malsachen und Schreibzeug. 1,26 € für Zoo-, Kino o<strong>de</strong>r Theaterbesuch.<br />
2 Lt. Manager magazin 7/2006 S. 33. Der Vorstandsvorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Deutschen Bank steigerte seine<br />
Vergütung in 2005 von 10,08 auf 11,90 Mio. €, also um 18 % (laut FR vom 24.03.06)<br />
3 Crome, M.: Armut –Sozialhilfe –Sozialhilfepraxis, in: Deutscher <strong>Caritas</strong>verband (Hrsg.): Jahrbuch<br />
2004, 34-39
5<br />
Basis <strong>de</strong>r Rechtsverordnung ist die jeweils zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Auswertung <strong>de</strong>r<br />
EVS. Dabei verblüfft es schon, dass sich auch für 2006 trotz <strong>de</strong>s Bezugs auf eine<br />
neue EVS, die ja nur ale fünf Jahre erhoben wird, „keine signifikanten<br />
Verän<strong>de</strong>rungen ergeben haben“ und bei <strong>de</strong>r Nachberechnung punktgenau wie<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Eckregelsatz errechnet wird, <strong>de</strong>r auch schon im Vorjahr und unter an<strong>de</strong>ren<br />
Ausgangsbedingungen galt. Tatsächlich sind bei <strong>de</strong>r Regelsatzberechnung<br />
Kürzungen in einzelnen Bereichen vorgenommen wor<strong>de</strong>n, die fachlich nicht<br />
begründbar sind und auch mit <strong>de</strong>m tatsächlichen Bedarf <strong>de</strong>r Betroffenen nichts zu<br />
tun haben. Es wird zwar eigentlich das Ausgabeverhalten <strong>de</strong>r untersten 20 % auf <strong>de</strong>r<br />
Einkommensskala herangezogen, allerdings wur<strong>de</strong>n auf einzelne Ausgabepositionen<br />
Abschläge vorgenommen, was letztlich be<strong>de</strong>utet, dass man so etwas wie ein<br />
„statistisches Warenkorbmo<strong>de</strong>l“ zu Grun<strong>de</strong> legt.<br />
Ist dieses Verfahren schon zweifelhaft genug, so verliert es noch mehr an Sinn, wenn<br />
man sich vor Augen führt, dass es keinen eigenen Regelsatz für Kin<strong>de</strong>r gibt, <strong>de</strong>r sich<br />
an <strong>de</strong>ren spezifischen Bedarf orientiert, was dann z:B. zu <strong>de</strong>r absur<strong>de</strong>n Situation<br />
führt, dass für sie zwar keine „Unterichtsgebühren (z.B. für Musik- und<br />
Nachhilfeuntericht) berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, wohl aber <strong>de</strong>r Betrag für „alkoholische<br />
Getränke und Tabakwaren“ abgeleitet wer<strong>de</strong>n kann. Aber auch die Berücksichtigung<br />
kin<strong>de</strong>rspezifischer Bedarfe lässt vermuten, dass die Schöpfer <strong>de</strong>s Regelsatzes auch<br />
für 2006 nie eine wirkliches Kind außerhalb <strong>de</strong>r Statistik erlebt haben. Mit 1,76 € pro<br />
Monat für Schulmaterial, 0,86 € für Spielzeug und 250 € im Jahr für die gesamte<br />
Bekleidung inkl. Schuhe wird <strong>de</strong>m kindlichen Bedarf wohl nicht annähernd<br />
entsprochen.<br />
Außer<strong>de</strong>m muss <strong>de</strong>r Regelsatz angehoben wer<strong>de</strong>n aufgrund von gestiegenen<br />
Energiekosten und erheblichen Zuzahlungen und Praxisgebühren im<br />
Gesundheitssystem. Im neuen Jahr folgt dann noch die Mehrwertsteuererhöhung.<br />
Über alles betrachtet betrifft <strong>de</strong>r Regelsatz weit über 5 Mio Menschen ganz direkt.<br />
Darüber hinaus je<strong>de</strong>n Bürger, <strong>de</strong>r Einkommensteuer zahlt. Wie die Tagesschau vom<br />
27.07.06 mel<strong>de</strong>t leben allein 2,5 Mio Kin<strong>de</strong>r unter 18 Jahren auf Sozialhilfeniveau;<br />
damit hat sich <strong>de</strong>ren Zahl seit 2004 fast verdoppelt, wie <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rschutzbund<br />
betont.<br />
Die Festlegung <strong>de</strong>r Regelsätze sollte zukünftig nicht auf <strong>de</strong>m Verordnungsweg,<br />
son<strong>de</strong>rn durch gesetzliche Regelung nach einer parlamentarischen Diskussion<br />
vollzogen wer<strong>de</strong>n. Das soziokulturelle Existenzminimum ist keine Verwaltungsfrage,<br />
son<strong>de</strong>rn gehört in die öffentliche und parlamentarische Debatte.<br />
Nach § 4 Der Regelsatzverordnung ist in <strong>de</strong>n Jahren ohne Neubemessung <strong>de</strong>r<br />
aktuelle Rentenwert Maßstab für die Fortschreibung <strong>de</strong>s Regelsatzes. Der<br />
Rentenwert hat aber mit <strong>de</strong>n Verbrauchsausgaben <strong>de</strong>r untersten 20 vom Hun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r<br />
nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte <strong>de</strong>r EVS nichts zu tun. Er<br />
orientiert sich an Faktoren, die mit <strong>de</strong>m soziokulturellen Existenzminimum nichts zu<br />
tun haben (z.B. <strong>de</strong>mographische Entwicklung). Schon jetzt steht die Aussage, dass<br />
die Rentenwerte bis 2009 nicht erhöht wer<strong>de</strong>n sollen. Bei berechtigter<br />
Inflationsunterstellung sinkt also das soziokulturelle Existenzminimum weiter.<br />
Geeigneter wäre hier eine Orientierung am Verbraucherpreisin<strong>de</strong>x für Deutschland<br />
(VPI).
4. Kin<strong>de</strong>rarmut und Bildungsarmut<br />
6<br />
War 1965 in Deutschland je<strong>de</strong>s 75. Kind auf Sozialhilfe angewiesen ist es heute<br />
je<strong>de</strong>s siebte. Das ist eine Versechzehnfachung. In Deutschland ist die relative<br />
Kin<strong>de</strong>rarmut seit 1990 stärker gestiegen als in <strong>de</strong>n meisten an<strong>de</strong>ren<br />
Industrienationen. 4 Dies zeigt, wie sehr wir in unserem Land von einer Infantilisierung<br />
und Familialisierung <strong>de</strong>r Armut sprechen müssen. Laut Studie <strong>de</strong>r Paritäten „Zu<br />
wenig für zu viele“ hat sich bei Kin<strong>de</strong>rn unter 15 Jahren die Zahl <strong>de</strong>rjenigen, die auf<br />
Sozialhilfeniveau leben, von 950.000 (En<strong>de</strong> 2004) auf 1,7 Mio erhöht. Das sind 14,2<br />
% o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s 7. Kind in Deutschland. Hauptursache ist neben <strong>de</strong>r Armut in<br />
Migrantenfamilien und <strong>de</strong>r hohen Arbeitslosigkeit die hohe Armut in Familien von<br />
allein Erziehen<strong>de</strong>n. Diese Frauen haben wegen mangeln<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rbetreuung<br />
geringe Chancen auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt. Staatliche Transferleistungen können das<br />
nicht kompensieren.<br />
Gleicher Zugang zur Bildung ist die beste Prävention gegen Armut.<br />
Kin<strong>de</strong>r aus Familien in Einkommensarmut haben ein doppelt so hohes Risiko,<br />
in ihrer sprachlichen, sozialen und gesundheitlichen Entwicklung beeinträchtigt<br />
zu sein wie solche aus finanziell gesicherten Familien.<br />
Kleinkin<strong>de</strong>r aus Unterschichtsfamilien hören nur einen Bruchteil <strong>de</strong>r Wörter<br />
wie die aus höheren Schichten.<br />
Sie haben weniger Kontakte zu Gleichaltrigen.<br />
Kin<strong>de</strong>r aus Familien, die lange in Armut leben, haben einen 9 Punkte<br />
geringeren IQ als Kin<strong>de</strong>r aus nie verarmten Familien.<br />
Der Fernsehkonsum in solchen Familien ist stark erhöht.<br />
Auch in <strong>de</strong>r Nachbarschaft dieser Familien wohnen häufig Arme.<br />
Es kann nicht hingenommen wer<strong>de</strong>n, dass in Deutschland 15 % eines<br />
Altersjahrgangs keinen Berufsabschluss erreichen. Bei jungen Menschen mit<br />
Migrationshintergrund bleibt sogar ein <strong>Dr</strong>ittel ohne Berufsabschluss.<br />
Von <strong>de</strong>r armen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben 13,6 % keinen<br />
allgemeinen Schulabschluss, fünf mal soviel wie sonst.<br />
42 % <strong>de</strong>r Armen besitzen keinen beruflichen Abschluss.<br />
Bildungschancen, so <strong>de</strong>r 2. Armuts- und Reichtumsbericht, wer<strong>de</strong>n vererbt. So<br />
hatten Sprösslinge von Gutverdienern eine 7,4 fach größere Chance, ein Studium<br />
aufzunehmen, als Kin<strong>de</strong>r aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialem Status. Ich<br />
erinnere: Bei PISA geht es wesentlich um die Verfestigung von sozialen Herkünften<br />
in Deutschland. Seit En<strong>de</strong> Oktober 2005 wissen wir: die Verfestigung sozialer<br />
Herkünfte hat in Deutschland noch weiter zugenommen. Kin<strong>de</strong>r aus reicheren<br />
Elternhäusern sind <strong>de</strong>nen aus ärmeren Verhältnissen im Stoff um durchschnittlich<br />
zwei Schuljahre voraus. Es geht um die zunehmen<strong>de</strong> Belastung für Bildungsteilhabe:<br />
Lernmittelfreiheit, Schulgebühren an privaten Schulen, Elternbeteiligung beim<br />
Schülertransport bis hin zu Studiengebühren. Es geht aber auch um die Zerstörung<br />
einer kleinteiligen sozialen Infrastruktur <strong>de</strong>r Jugendsozialarbeit, <strong>de</strong>r Schulsozialarbeit<br />
insbeson<strong>de</strong>re, aber auch von Schulschwänzerprojekten usw. Insbeson<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r in<br />
Armut profitieren von formellen Betreuungsformen für ihre schulischen Leistungen<br />
4 Vgl. dazu die Unicefstudie „Child Poverty in Rich Countries 2005“ und die Ergänzungsstudie <strong>de</strong>s<br />
RWI Essen „A Portrait of Child Poverty in Germany“ zu fin<strong>de</strong>n unter www.unicef.<strong>de</strong>
7<br />
und für ihre Sozialentwicklung. Sie sind diejenigen, die etwa durch Ganztagsschulen<br />
und Kin<strong>de</strong>rkrippen mehr Chancen erhalten.<br />
5. Armut und Gesundheit<br />
Das Thema „Armut und Gesundheit“ ist in <strong>de</strong>r Vergangenheit kaum in <strong>de</strong>n<br />
Armutsberichten berücksichtigt wor<strong>de</strong>n. Insgesamt fällt eine dünne Forschungslage<br />
auf. Die NAK hat eine spannen<strong>de</strong> Fachtagung veranstaltet. Die Ergebnisse liegen als<br />
sozialpolitische Bilanz vor. Das Thema ist aktuell gewor<strong>de</strong>n durch das GMG. Die<br />
Zuzahlungspflicht für Grundsicherungsempfänger hat zu einer faktischen Absenkung<br />
<strong>de</strong>s Regelsatzes geführt. Sozialhilfeempfänger müssen Zuzahlungen leisten und<br />
nichtverschreibungspflichtige Hilfsmittel selber bezahlen.<br />
Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit muss, insbeson<strong>de</strong>re bei<br />
Kin<strong>de</strong>rn und Menschen in extremer Armut intensiver analysiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Grundsicherungsempfänger dürfen nicht mit Praxisgebühren und Zuzahlungen<br />
zusätzlich belastet wer<strong>de</strong>n. Arme Menschen sind im letzten Jahr seltener zum Arzt<br />
gegangen. Wichtige Vorsorgeleistungen wer<strong>de</strong>n nicht in Anspruch genommen,<br />
Impfungen nicht in Anspruch genommen, Mutter-Kind-Kuren nicht wahrgenommen<br />
usw. Während Menschen mit weniger als 1.000,- € Einkommen im letzten Jahr um<br />
19,2 % weniger zum Arzt gegangen sind, waren es bei <strong>de</strong>nen mit über 3.000,- € nur<br />
8,2 %.<br />
Aus unserer Sicht zeigt dieses Thema erneut, dass unser Sozialstaat kerngesund ist,<br />
d.h. er ist im Kern gesund und wird an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn –also bei <strong>de</strong>nen, die beson<strong>de</strong>rs<br />
auf Sozialstaat und Solidarität angewiesen sind –immer brüchiger.<br />
Arme sterben früher. Das einkommensschwächste Fünftel stirbt etwa 7 Jahre früher<br />
als das einkommensstärkste Fünftel. Arbeitslose haben ein <strong>de</strong>utlich höheres<br />
Sterberisiko als gleichaltrige Erwerbstätige. Das geht aus einer Studie <strong>de</strong>s Instituts<br />
für medizinische Psychologie an <strong>de</strong>r Uni Leipzig hervor. Danach ist bei Menschen<br />
ohne Job die Sterblichkeit schon kurz nach Beginn <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit mehr als<br />
doppelt so hoch. Menschen, die zwei Jahre arbeitslos sind, haben ein viermal<br />
höheres Sterberisiko. Depression, Suchtkrankheiten, Erschöpfungssymptome,<br />
Bluthochdruck und Herzinfarkt treten bei Arbeitslosen häufiger auf. 5<br />
6. Armut und Arbeitslosigkeit (Hartz IV)<br />
Das <strong>de</strong>utsche Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Sozialstaates, in <strong>de</strong>m ein Großteil <strong>de</strong>r staatlichen<br />
Sicherungsleistungen über Sozialabgaben finanziert wird, die von <strong>de</strong>n Arbeitgebern<br />
und ihren fest angestellten Beschäftigten erbracht wer<strong>de</strong>n, ist an die Grenzen seiner<br />
Leistungsfähigkeit gestoßen.<br />
Die <strong>de</strong>mographische Entwicklung, das schwache wirtschaftliche Wachstum mit<br />
geringen Beschäftigungsimpulsen, <strong>de</strong>r Rückgang sozialversicherungspflichtiger<br />
Beschäftigung und die gefähr<strong>de</strong>te Nachhaltigkeit <strong>de</strong>r sozialen Sicherungssysteme<br />
markieren die sich gegenseitig bedingen<strong>de</strong>n Problemfaktoren <strong>de</strong>r bun<strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschen<br />
Gesellschaft.<br />
5 Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung vom 14./15.08.06
8<br />
Dazu gehört es allerdings, sich über die Situation in Deutschland zu verständigen:<br />
Stimmt es nach wie vor, dass es um mutige Reformen geht, die das Wachstum<br />
anheizen und in <strong>de</strong>ren Folge dann die Arbeitslosigkeit erfolgreich beseitigt wird?<br />
„Verschwin<strong>de</strong>t das Gespenst <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit, das sich in Deutschland eingenistet<br />
hat, wenn man eine konsequent unternehmensfreundliche Angebotspolitik macht –<br />
so fragt mit Recht <strong>de</strong>r im letzten Jahr verstorbene Peter Glotz.“ 6 O<strong>de</strong>r geht es nicht<br />
darum, die nicht realistische Unterstellung auf Wie<strong>de</strong>rherstellung von<br />
Vollbeschäftigung aufzugeben und zu fragen, wie Menschen sinnvoll leben können,<br />
auch wenn sie keine Arbeitsplätze fin<strong>de</strong>n? Damit sind wir bei <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>s zweiten<br />
und dritten Arbeitsmarktes, <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>s Niedriglohnsektors, <strong>de</strong>r<br />
Grundsicherung usw.<br />
Wir müssten dazu aber zu einem Ansatz zurückkommen, <strong>de</strong>r die strukturellen<br />
Themen unseres Arbeitsmarktes in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund rückt und die Verdrehung dank<br />
Hartz IV wie<strong>de</strong>r aufgibt, dass nicht die Arbeitslosigkeit unser Problem Nr. 1 ist,<br />
son<strong>de</strong>rn die Arbeitslosen. Hartz IV hat viel dazu beigetragen, dass die Arbeitslosen<br />
und Sozialhilfeempfänger unter Generalverdacht gestellt wor<strong>de</strong>n sind, <strong>Dr</strong>ückeberger<br />
zu sein. Natürlich hat das in Deutschland große Tradition, selbst bei <strong>de</strong>n<br />
Bun<strong>de</strong>skanzlern. Von „kolektivem Freizeitpark“ (Kohl) war da die Re<strong>de</strong> und vom<br />
„Recht auf Faulheit“ (Schrö<strong>de</strong>r). Noch nicht lange istes her, dass <strong>de</strong>r ehemalige<br />
Wirtschaftsminister Clement Hartz IV- Empfänger als Parasiten bezeichnete.<br />
Das Risiko <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit ist bei Menschen ohne Berufsausbildung um ein<br />
Mehrfaches höher als bei qualifizierten Erwerbslosen. Bei Personen mit<br />
Hochschulabschluss ist die Quote im Jahr 2002 mit 3,3 % kaum höher als Mitte <strong>de</strong>r<br />
70er Jahre. Bei Personen mit mittlerer Ausbildung hat sie sich etwa verdoppelt. Das<br />
strukturelle Problem ergibt sich bei <strong>de</strong>n Personen ohne Berufsausbildung. Lag <strong>de</strong>ren<br />
Arbeitslosenquote Mitte <strong>de</strong>r 70er Jahre mit 5 % ungefähr doppelt so hoch wie bei <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren Gruppen, liegt sie heute mit 20 –25 % etwa drei bis vier mal höher als die<br />
Quote <strong>de</strong>r Personen mit Berufsausbildung. 7 Deutschland belegt bei <strong>de</strong>r<br />
Arbeitslosenquote <strong>de</strong>r Geringqualifizierten einen Spitzenplatz im internationalen<br />
Vergleich. Geboten ist also eine spezifische Entlastung gering qualifizierter Arbeit bei<br />
<strong>de</strong>n Lohnnebenkosten. Die Ausweitung eines Niedriglohnsektors spezifisch für die<br />
Gruppen <strong>de</strong>r gering Qualifizierten kann zu seiner Reduzierung <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit<br />
führen. Hier bedarf es ergänzen<strong>de</strong>r sozialer Leistungen. Denn wer ganztags arbeitet,<br />
sollte mehr verdienen als in <strong>de</strong>r Grundsicherung.<br />
Gera<strong>de</strong> diese arbeitslosen Menschen können selbst mit individueller Beratung nur<br />
schwer in <strong>de</strong>n ersten Arbeitsmarkt vermittelt wer<strong>de</strong>n. Sie brauchen spezifische<br />
Begleitung und müssen immer wie<strong>de</strong>r motiviert wer<strong>de</strong>n, um eine komplexe<br />
Problematik Stück für Stück aufzuarbeiten.<br />
Die Integration von Langzeitarbeitslosen in <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt gelingt nicht. Dies ist<br />
nicht nur darin begrün<strong>de</strong>t, dass keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>enlosigkeit und Fixierung auf die Ein Euro Jobs in <strong>de</strong>n<br />
Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen.<br />
6 Beck, ebd. S.21<br />
7 ifo Schnelldienst 23/2002, S.27
Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und insbeson<strong>de</strong>re die steigen<strong>de</strong> Zahl von<br />
Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen (Minijobs und Ich AGs) dürften<br />
wesentlich zur Steigerung <strong>de</strong>r Armutsquote beigetragen haben.<br />
9<br />
Natürlich geht es um eine Bekämpfung <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit. Aber warnen muss man<br />
vor <strong>de</strong>r Illusion, dass das Thema Armut sich durch eine Belebung <strong>de</strong>s Arbeitsmarktes<br />
erledigt. Arbeitslosigkeit hat eben auch damit zu tun, dass Menschen ohne<br />
Berufsausbildung kaum noch Chancen auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt haben. Während die<br />
Aka<strong>de</strong>mikerarbeitslosigkeit heute etwas genauso hoch ist wie in <strong>de</strong>n 70er Jahren, hat<br />
sich die Arbeitslosigkeit <strong>de</strong>r Menschen ohne Berufsausbildung etwa vervierfacht.<br />
Konnte man im ausgehen<strong>de</strong>n Jahrtausend noch von einem gesellschaftlichen<br />
Fahrstuhleffekt sprechen, in <strong>de</strong>m alle gesellschaftlichen Klassen und Schichten nach<br />
oben beför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n, muss man nach Agenda 2010 und insbeson<strong>de</strong>re Hartz IV<br />
wohl eher von einem Paternostereffekt sprechen. In <strong>de</strong>m Maße, wie die einen nach<br />
oben gelangen, wer<strong>de</strong>n die an<strong>de</strong>ren nach unten transportiert.<br />
7. Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Armut von Kin<strong>de</strong>rn und<br />
Jugendlichen in Deutschland<br />
a) Erhöhung <strong>de</strong>r Grundsicherung<br />
Die Nationale Armutskonferenz hat eine Erhöhung <strong>de</strong>r Regelsätze um 20 % also auf<br />
420 € gefor<strong>de</strong>rt. Darin sind eingerechnet <strong>de</strong>r Wertverlust <strong>de</strong>s Regelsatzes in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahren, die zusätzlichen Kosten etwa für Praxisgebühren und Zuzahlungen,<br />
ein Teil <strong>de</strong>r gestiegenen Energiekosten und die beschlossene Erhöhung <strong>de</strong>r<br />
Mehrwertsteuer.<br />
Die Nationale Armutskonferenz for<strong>de</strong>rt, dass es für Kin<strong>de</strong>r eine eigenständige<br />
Grundsicherung geben muss. Kein Kind darf in seiner Grundversorgung abhängig<br />
sein von <strong>de</strong>r materiellen Situation seiner Eltern. Wir brauchen einen eigenen<br />
Regelsatz für Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich an <strong>de</strong>ren spezifischen Bedarf orientiert. Die absur<strong>de</strong><br />
Situation ist nicht länger hinzunehmen, dass für Kin<strong>de</strong>r zwar keine<br />
„Unterichtsgebühren (z.B. für Musik- und Nachhilfeunterricht) berücksichtigt wer<strong>de</strong>n<br />
–und das bei 4,5 Mrd. Euro Ausgaben für Nachhilfe in Deutschland im letzten Jahr -,<br />
wohl aber <strong>de</strong>r Betrag für „alkoholische Getränke und Tabakwaren“ abgeleitet wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
b) Schaffung einer Infrastruktur für frühe Betreuung und Bildung<br />
Ein weiteres wichtiges Steuerungselement zur Bekämpfung von Armut ist die<br />
Familienpolitik. Sie muss weit stärker als bisher an <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Armen<br />
ausgerichtet wer<strong>de</strong>n. Eine große Zahl von Kin<strong>de</strong>rn wird von <strong>de</strong>n durchaus<br />
begrüßenswerten Maßnahmen <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung zur Verbesserung <strong>de</strong>r Situation<br />
von Familien nicht genügend erreicht o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st nicht wirksam genug geför<strong>de</strong>rt.<br />
Ihnen hilft vor allem die Bereitstellung institutioneller För<strong>de</strong>rleistungen. In dieser<br />
Hinsicht könnte sich <strong>de</strong>r kostenlose Zugang zu Kin<strong>de</strong>rtagesstätten als ein richtiger<br />
Weg erweisen.<br />
Die Stichpunkte seien hier noch einmal genannt: Schaffen von ausreichen<strong>de</strong>n<br />
Krippen- und Tagesbetreuungsangeboten; Ganztagsbetreuung in Kin<strong>de</strong>rtagesstätten
und Schulen…<br />
c) Reform <strong>de</strong>s Bildungssystems<br />
10<br />
Bessere Bildungspolitik, die im Vorschulalter anfangen muss, soll nicht nur zur<br />
Eigenverantwortung befähigen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>r Denkschrift weist bereits darauf<br />
hin, dass auch <strong>de</strong>r Wille zur Solidarität vom Bildungssystem vermittelt wer<strong>de</strong>n muss.<br />
Und Solidarität mit <strong>de</strong>n Schwächen <strong>de</strong>r Gesellschaft wird immer notwendig sein.<br />
Natürlich gehören dazu auch Kin<strong>de</strong>rgärten und Schulen, die armutssensibel sind.<br />
Langfristig geht es um die Aufgabe <strong>de</strong>r frühen schulischen Selektion. Persönlich bin<br />
ich davon überzeugt, dass mehr Professionen an <strong>de</strong>utschen Schulen beteiligt<br />
wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
Lebens-, Entfaltungs- und Beteiligungschancen setzen Eigenverantwortung ebenso<br />
voraus wie Solidarität. Bei Vermittlung dieser Kompetenzen kommt <strong>de</strong>m<br />
Bildungssystem eine Schlüsselrolle zu.<br />
Vor allem Bildung und Qualifizierung bieten in einer hoch entwickelten komplexen<br />
Gesellschaft und unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Globalisierung die Chance, einen<br />
Arbeitsplatz zu erhalten und so dauerhaft vor Armut gesichert zu sein. Dem steht das<br />
<strong>de</strong>rzeitige <strong>de</strong>utsche System <strong>de</strong>r Elementar- und Schulbildung durch die<br />
herkunftsbedingte Zuweisung ungleicher Entwicklungschancen entgegen. Was wir<br />
brauchen, ist Entschlossenheit auf allen Ebenen, um Chancengerechtigkeit praktisch<br />
zu realisieren und die vorhan<strong>de</strong>nen Fähigkeiten zur Entwicklung von<br />
Eigenverantwortung und Solidarität in Erziehung, Bildung und Ausbildung zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Ein neuer Geist <strong>de</strong>r Wertschätzung und <strong>de</strong>r Beteiligung muss die im Bildungssystem<br />
vorhan<strong>de</strong>nen Ten<strong>de</strong>nzen zur Ausgrenzung überwin<strong>de</strong>n.<br />
c) Über Armut öffentlich mit Respekt re<strong>de</strong>n<br />
Man muss in Deutschland lernen, mit mehr Respekt von <strong>de</strong>n Armen und über Armut<br />
und soziale Ausgrenzung zu re<strong>de</strong>n. Die unzulässigen Individualisierungen<br />
gesellschaftlicher Problemlagen sind zu vermei<strong>de</strong>n. Eine Sozialberichterstattung in<br />
<strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn und auch auf kommunaler Ebene könnte dazu einen Beitrag<br />
leisten.<br />
d) Arbeitsmarktpolitik<br />
Wir müssten hier zu einem Ansatz zurückkommen, <strong>de</strong>r die strukturellen Themen<br />
unseres Arbeitsmarktes in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund rückt und die Verdrehung dank Hartz IV<br />
wie<strong>de</strong>r aufgibt, dass nicht die Arbeitslosigkeit unser Problem Nr. 1 ist, son<strong>de</strong>rn die<br />
Arbeitslosen. Hartz IV hat viel dazu beigetragen, dass die Arbeitslosen und<br />
Sozialhilfeempfänger unter Generalverdacht gestellt wor<strong>de</strong>n sind, <strong>Dr</strong>ückeberger zu<br />
sein.<br />
e) Engagement <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft<br />
Verbän<strong>de</strong> und Kirchen sind vielfach tätig. Es braucht dieses zivilgesellschaftliche<br />
Engagement. Auch <strong>Caritas</strong> und Kirche müssen hier ihren Beitrag leisten, in<strong>de</strong>m sie<br />
öffentlich Stellung nehmen, wenn respektlos über Arme gere<strong>de</strong>t wird; wenn es darum<br />
geht, dass Gemein<strong>de</strong>n Räume bereitstellen, in <strong>de</strong>nen Betroffene sich organisieren;
11<br />
in<strong>de</strong>m sie eintreten für lokale Bündnisse gegen Armut und soziale Ausgrenzung und<br />
nicht zuletzt in<strong>de</strong>m sie immer wie<strong>de</strong>r einen scharfen Blick dafür entwickeln, wo im<br />
eigenen Bereich soziale Ausgrenzung oft genug unbewusst geschieht.<br />
Die <strong>Caritas</strong> in Deutschland hat sich in <strong>de</strong>n letzten Jahren kontinuierlich<br />
mo<strong>de</strong>rnisiert. Betrachtet man die bei<strong>de</strong>n Funktionen „Dienstleister“ und<br />
„Anwalt“ muss man wohl eher von einer halbierten Mo<strong>de</strong>rnisierung sprechen.<br />
Der anwaltschaftliche Bereich steht weitgehend aus.<br />
Möglicherweise muss man auch <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Anwaltschaftlichkeit neu<br />
problematisieren. Insbeson<strong>de</strong>re im Blick auf seine assistentialistischen und<br />
einseitig professionellen Konnotationen. Min<strong>de</strong>stens muss <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />
Teilhabe nah an <strong>de</strong>n Anwaltsbegriff treten. Für Anwälte gilt gera<strong>de</strong> nicht:<br />
„Mitgefangen, migehangen!“<br />
Unter <strong>de</strong>m Aspekt „Teilhabe“ stelt sich für die <strong>Caritas</strong> gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r örtlichen<br />
Ebene die Frage, welche Möglichkeiten zur Selbstorganisation für „Klientinnen<br />
und Klinenten“ entstehen. Gleichzeitig geht es um Nähe zu Selbsthilfe- und<br />
Solidaritätsgruppen.