Bert Brechts Lyrik. Außenansichten - im Shop von Narr Francke ...
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Hans Vilmar Geppert<br />
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong><br />
<strong>Außenansichten</strong>
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong>
Hans Vilmar Geppert<br />
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong><br />
<strong>Außenansichten</strong>
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />
detaillierte bibliografische Daten sind <strong>im</strong> Internet über abrufbar.<br />
Umschlagabbildung: Bronzeskulptur „<strong>Bert</strong>olt Brecht“ <strong>von</strong> Fritz Cremer; aus Wik<strong>im</strong>edia<br />
Commons, Autor: SpreeTom, lizenziert unter GNU-Lizenz für freie Dokumentation.<br />
© 2011 <strong>Narr</strong> <strong>Francke</strong> Attempto Verlag GmbH + Co. KG<br />
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen<br />
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Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.<br />
Internet: www.francke.de<br />
E-Mail: info@francke.de<br />
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach<br />
Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-7720-8404-1
Inhalt<br />
1 Vorwort: „Stehend an meinem Schreibpult“<br />
<strong>Außenansichten</strong> <strong>von</strong> <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
2 „Warum soll mein Name genannt werden?“<br />
Ein lyrisch-politisches Programm <strong>im</strong> Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
3 „Sieh den Balken dort!“<br />
Zur Sinnlichkeit der Chiffren in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> . . . . . . . . . . . . . 29<br />
4 „Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen?“<br />
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> und die Tradition der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
5 „Verwisch die Spuren!“<br />
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> Lesebuch für Städtebewohner <strong>im</strong> Mediendialog . . . . . . . . 69<br />
6 „Ein kräftiges WENN NICHT“<br />
Zur Logik des Engagements in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
7 „Vergnügungen“<br />
Dialektik als kreative Alltagslogik <strong>im</strong> Kinderbuch, in der Werbung<br />
und in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> später <strong>Lyrik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
8 „Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?“<br />
Zur Kontinuität der Argumentation in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong><br />
Buckower Elegien ............................................... 131<br />
Anhang<br />
<strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> Buckower Elegien neu geordnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157<br />
Literaturverzeichnis .............................................. 163
1<br />
Vorwort: „Stehend an meinem Schreibpult“<br />
<strong>Außenansichten</strong> <strong>von</strong> <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong><br />
„Stehend an (s)einem Schreibpult“ erinnerte sich Brecht, dies wohl <strong>im</strong> Sommer<br />
1955, 1 plötzlich „(s)einer Kindheit in Augsburg“ (1179/25.294). 2 Mein eigenes<br />
Stehpult dagegen stand lange Jahre, <strong>von</strong> 1984 bis 2009, tatsächlich in Augsburg,<br />
und ich sah ebenfalls oft über es hinweg „durchs Fenster“ –nicht auf einen<br />
„Holderstrauch“, lediglich auf Nelken, eine Latschenkiefer, Zwergwacholder<br />
und andere genügsame Terrassenpflanzen. Und statt einer plötzlichen „mémoire<br />
involontaire“, einer „unwillkürlichen Erinnerung“, wie Brecht sie<br />
erlebte, einer klassisch modernen, poetischen Figur, erinnere ich mich heute<br />
eher einer postmodernen Zitat-Collage, wie sie damals nahe lag. 3 Ich assoziiere<br />
heute als eng zusammen gehörig ein anderes Brecht-Gedicht, das sofort <strong>im</strong><br />
Gedächtnis haftete, einen Text <strong>von</strong> Ilse Aichinger, über den ich lange grübeln<br />
musste, und einen 56 x 28 cm großen Farbholzschnitt <strong>von</strong> Heiner Bauschert<br />
(1928 – 1986, seit 1982 mein freundlicher Nachbar in Kilchberg bei Tübingen),<br />
den ich ebenfalls „stehend an meinem Schreibpult“ vor Augen hatte:<br />
Sieh den Balken dort am Hang<br />
Aus dem Boden ragend, krumm und, ach<br />
Zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang.<br />
Einstmals freilich war er dick genug<br />
Dünn genug, lang genug, kurz genug<br />
Und trug mit drei anderen ein Dach.<br />
(<strong>Bert</strong>olt Brecht, Der Balken, 1941, 982/15.42)<br />
Ich wollte mich auf einem Querbalken niederlassen. Ich wollte wissen, was ein<br />
Querbalken ist, aber niemand sagt es mir.<br />
(Ilse Aichinger, Der Querbalken, 1963) 4<br />
1 Im Gedicht Schwierige Zeiten, vollständig zitiert unten Kap. 7 „Vergnügungen“ Dialektik als<br />
kreative Alltagslogik <strong>im</strong> Kinderbuch, in der Werbung und in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong>.<br />
2 Im Text zitiert werden die folgenden Ausgaben: <strong>Bert</strong>olt Brecht, Die Gedichte: Zusammenstellung:<br />
Jan Knopf, Frankfurt 2000, zitiert nach Seitenzahl; sowie, nach dem Schrägstrich:<br />
<strong>Bert</strong>olt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. <strong>von</strong><br />
Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, 31 Bde., Berlin/We<strong>im</strong>ar<br />
und Frankfurt/M. 1988 – 2000, zitiert nach Band und Seitenzahl.<br />
3 Ich musste zum Anfang des Wintersemesters 1984/1985 so gut wie gleichzeitig ein Seminar<br />
vorbereiten über Ilse Aichingers Kurzgeschichten und einen Vortrag <strong>im</strong> Rahmen einer <strong>Bert</strong>-<br />
Brecht-Ringvorlesung, letzteres sehr kurzfristig in Auftrag gegeben. Insofern fühlte ich mich<br />
damals auch <strong>Brechts</strong> Gedichttitel Schwierige Zeiten ein bisschen nahe.<br />
4 Ilse Aichinger, Meine Sprache und Ich. Frankfurt/M. 1978, S. 161.
8 Vorwort: „Stehend an meinem Schreibpult“<br />
(Heiner Bauschert, Baumstützen II, 1980) 5<br />
Kommen nur (exzentrische) Komparatisten oder (verrückte) Semiotiker<br />
darauf, 6 hier Zusammenhänge zu sehen? Der rhetorische Begriff für Bezüge<br />
zwischen Fernliegendem wäre Xenikon, „Verfremdung“. 7 Ist das für den<br />
Umgang mit Brecht so ganz falsch? Haben die drei „Balken“–auch Bauscherts<br />
Baumstützen werden <strong>von</strong> aufgesägten „Balken“ dargestellt – nicht auf den<br />
5 Vgl. Rudolf Bayer, Heiner Bauschert. Holzschnitte 1979 – 1985. Mit einem Werkverzeichnis der<br />
Holzschnitte. Heilbronn 1985, S. 63. Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis <strong>von</strong> Nanna<br />
Bauschert-Engel.<br />
6 Zu Max Benses Definition einer ästhetischen Zeichenfunktion: „3.1 2.2 1.3“, über die ich<br />
damals ebenfalls eigentlich ständig nachdachte, vgl. unten Kap. 3 „Sieh den Balken dort!“ Zur<br />
Sinnlichkeit der Chiffre in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong>; vgl. auch Verf., Ilse Aichinger „Der Querbalken“.<br />
Semiotik und Interpretation. In: Walter Seifert (Hrsg.), Literatur in Medien und Unterricht.<br />
Festschrift für Albrecht Weber zum 65. Geburtstag. Köln, Wien 1987, S. 69 – 78.<br />
7 Vgl. z. B. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. 5. Aufl., München 1983,<br />
S. 39 f.; zur Einführung vgl. z. B. Kaspar Spinner, Theorien der Verfremdung. In: Verf. und<br />
Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. II, Tübingen und<br />
Basel 2005, S. 85 – 94.
<strong>Außenansichten</strong> <strong>von</strong> <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> 9<br />
zweiten und dritten Blick viel gemeinsam? Könnte nicht diese „Außenansicht“<br />
auf <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> nun in der Tat in ein Hauptthema dieser jetzigen Aufsatzsammlung:<br />
„Brecht und die moderne <strong>Lyrik</strong>“, zumindest einführen? Gewiss,<br />
Ilse Aichinger entwirft Netze und Wirbel vieler Assoziationen. Sie „entautomatisiert“,<br />
8 man kann auch sagen, abstrahiert normierte sprachliche<br />
Bedeutungen und situative Kontexte. Brecht abstrahiert eine gegenständliche<br />
Situation bzw. ein „Ding“, indem er es anschaulich, aber auch zeitlich („einstmals<br />
freilich“) perspektiviert. In beiden Texten ist die „wahre“ Bedeutung des<br />
Balkens nur als „abwesende“ zu begreifen. 9 Jedes Mal wird der Text so in seine<br />
Sequenz, aber auch in seine Tiefe hinein dynamisiert: Man soll sowohl das<br />
vorgestellte „Ding“ als auch die weiteren Aussagen darüber <strong>im</strong>mer neu<br />
befragen. Die „Balken“ werden zu etwas produktiv „Unbekanntem“. 10 Aichingers<br />
Querbalken könnte, so fährt ihre Erzählung fort, ein „Schiffsbestandteil“<br />
sein, oder zu einer „verschwundenen Synagoge“ gehören, oder zu einem<br />
„Galgen“ oder zu einem „Kreuz“, oder er könnte auch einfach nur Teil einer<br />
„Kreuzung (<strong>von</strong>) Linien“ sein, z. B. eines Schriftzeichens und so fort.<br />
Gegenständlich, als „Ding“ sieht erst recht der Holzschneider seine gekreuzten<br />
Balken, aber er sieht, gestaltet und druckt eben <strong>im</strong>mer einen Aus-„Schnitt“,<br />
<strong>im</strong>mer ein genau gesuchtes Holz- bzw. Balken-Fragment – anders aber prinzipiell<br />
vergleichbar <strong>Brechts</strong> Balken, der <strong>im</strong>mer „zu kurz, zu lang“ ist. <strong>Brechts</strong><br />
Balken nun ist aber auch „zu dick, zu dünn“. Das bedeutet, die fragmentarischgegenständliche<br />
Abstraktion ergänzend, eine konzeptionelle, sprachlichbegriffliche<br />
Abstraktion, die den „Balken“ in ein System gegensätzlicher<br />
Attribute hinein stellt, ihn hier aber auch geradezu sichtbar zugleich auflöst. 11<br />
Das kommt der unfassbaren Zeichenhaftigkeit des „Balkens“ bei Aichinger<br />
erstaunlich nahe. Vergleichbar löst sich das „Ding“ <strong>im</strong> Holzschnitt auf –<br />
abstrahierend wirkt hier der Schnitt, die Selektion der Drucktiefe, die Farbwahl<br />
be<strong>im</strong> Mehrfachdruck, die Anordnung der zwei Druckplatten –, das Holz-„Ding“<br />
löst sich auf in eine Konfiguration <strong>von</strong> Linien, Farben (<strong>im</strong> Original braun, grün<br />
und rot), Hell-Dunkel-Effekten und weißen Flächen; und all das konzentriert<br />
sich neu: Das Holz bzw. diese „Balken“ erzählen <strong>von</strong> Baumstützen, die selbst<br />
„abwesend“ sind, so wie Brecht <strong>von</strong> der „abwesenden“ Nützlichkeit und<br />
Aichinger <strong>von</strong> der abwesenden Wahrheit der „Balken“ erzählen.<br />
8 Eugenio Coseriu, Thesen zum Thema ‚Sprache und Dichtung‘. In: Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.),<br />
Beiträge zur Textlinguistik. München 1971, S. 184 – 188, S. 184.<br />
9 Ein Schlüsselbegriff der „Postmoderne“, insbesondere, wenn man sie als Fortsetzung und<br />
Radikalisierung der „Moderne“ versteht, vgl. z. B. Peter V. Z<strong>im</strong>a, Die Dekonstruktion. Einführung<br />
und Kritik. Tübingen und Basel 1994, S. 34 ff.<br />
10 „Der Dichter [. . .] kommt an be<strong>im</strong> Unbekannten“ (Arthur R<strong>im</strong>baud, sog. Seherbrief, in: Walter<br />
Höllerer [Hrsg.], Theorien der modernen <strong>Lyrik</strong>. Reinbek 1965, S. 70).<br />
11 Vgl. programmatisch z. B. Jacques Derrida, Die différance. In: Peter Engelmann (Hrsg.),<br />
Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990,<br />
S. 76 – 113.
10 Vorwort: „Stehend an meinem Schreibpult“<br />
Damit wächst die Polysemie, die „offene“ und <strong>im</strong>mer aus sich heraus „erneute“<br />
12 Bedeutungsvielfalt dieser abstrakt aufgelösten „Dinge“ und Zeichen, eine<br />
offene Vielfalt, die gleichwohl, und das scheint mir nun sehr wichtig, alles<br />
andere als beliebig ist. 13 Die Ding-Zeichen erzählen: <strong>von</strong> „Welt“, <strong>von</strong> „Zeit“,<br />
aber auch <strong>von</strong> Subjektivität. Bei Brecht ist der anschauliche Gegensatz <strong>von</strong> „alt“<br />
und „jung“, jetziger Schwäche und einstiger Stärke auf viele „tragende“<br />
Konstruktionen anwendbar: vital-subjektive, intellektuelle, gemeinschaftsbildende,<br />
auch politische. Sein lyrisches Oeuvre enthält viele „Haus“- und<br />
Architektur-Metaphern. Darauf wird hier <strong>im</strong>mer wieder zurück zu kommen<br />
sein. Das ist <strong>von</strong> „Schiff“, „Synagoge“, „Galgen“ oder „Kreuz“ bei Aichinger<br />
nicht grundsätzlich verschieden. Auch die aus der Perspektive des „dort am<br />
Hang“ Vorbeigehenden evozierte Situation, eine Situation der ruhelosen<br />
Reise, des Exils oder der verlorenen Zeit kann man mit Aichingers Gestus<br />
des <strong>im</strong>mer weiter Suchens und Fragens verbinden. Das hat ja bei beiden<br />
Dichtern auch deutliche biographische Hintergründe.<br />
Mit anderen Worten, es geht in allen drei zunächst so fremd wirkenden<br />
Beispielen um Erfahrungen <strong>von</strong> Zeitlichkeit, die an den fragmentarischen und<br />
künstlerisch verfremdeten „Balken“-Zeichen sichtbar werden und die auch<br />
Sprecher (lyrisches Ich, Erzählerin) und Adressaten dieser Texte mit wachsender<br />
Intensität zu betreffen scheinen, zumindest betreffen können. Es ist<br />
klar, dass der Gedanke nutzlosen, einsamen Alterns bei Brecht das sehende und<br />
sprechende Subjekt des Gedichts beschäftigt, ja erschüttert. Aichingers Suche<br />
nach dem „wahren“ Querbalken – zuletzt der Querbalken eines Kreuzes? –<br />
erinnert an eine Suche nach dem Gral oder dem Stein der Weisen oder einer<br />
anderen Wahrheit. Wird nicht aber gerade auch das auf-„geschnittene“ Holz<br />
bei Bauschert, das ja ebenfalls an lebendige Baumstützen und noch radikaler<br />
eben an Bäume nur noch erinnern kann, zu einer Zeit-Signatur? Gerade die<br />
sinnliche Medialität des Holzes macht das in den Jahresringen anschaulich<br />
bezeugte, stetige Altern des Baumes, aber auch die Unregelmäßigkeiten der<br />
Maserung, deren Verschlingungen um die Astlöcher herum, die Zufälle der<br />
Überkreuzungen und nun eben auch der Ein-„Schnitte“ zu Zeit- und Lebenslinien.<br />
Wie bei Brecht spricht die Zeitlichkeit der Holz-Balken <strong>von</strong> der<br />
Zeitlichkeit derer, die sie bearbeitet haben und derer, die sie betrachten.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer, und es geht ja jetzt nur darum, einen methodischen<br />
Zugang plausibel zu machen: Die „Außenansicht“ des Vergleichs <strong>von</strong> fern<br />
Liegendem kann nicht nur ganz einfach anregend sein, sie kann auch auf tiefere<br />
Gemeinsamkeiten moderner Ästhetik und Poetik hinweisen. Viele Stichworte<br />
sind ja bereits gefallen: Abstraktion, Verfremdung, Verwandlung der „Dinge“<br />
in Zeichen- und Wahrnehmungs-Konfigurationen, Chiffren, Semantik des<br />
12 Paul Hoffmann, Das erneute Gedicht. Mit einem Vorwort <strong>von</strong> Uwe Kolbe, Frankfurt/M. 2001.<br />
13 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Dt. <strong>von</strong> Günter Memmert, Frankfurt 1973.
<strong>Außenansichten</strong> <strong>von</strong> <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> 11<br />
„Abwesenden“, Polysemie, um nur ein paar Schlüsselbegriffe zu nennen, –<br />
diese Texte und Bilder nehmen Teil an der „entautomatisierenden“, „offenen“,<br />
vieldeutigen, das „Unbekannte“ suchenden Poetik der Moderne. 14 Geht es<br />
nicht in den drei Beispielen, so verschieden sie sein mögen, um das „Unbekannte“<br />
in der Subjektivität, in der Zeit oder in der Wahrheit?<br />
Dass gerade auch <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> <strong>von</strong> einer entschieden modernen Poetik<br />
ausgeht, wurde lange nicht gesehen, oft geradezu ausgeblendet. In Hugo<br />
Friedrichs Standardwerk Die Struktur der modernen <strong>Lyrik</strong> (1956), lange ja fast<br />
wie eine Art Bibel gelesen, kam Brecht nicht vor. Dann wollten umgekehrt in<br />
den 70er Jahren viele Studierende <strong>von</strong> solch einer „Moderne“, zu der Brecht<br />
nicht zu zählen schien, nichts wissen („wem nützt eine Dichtung, die niemand<br />
versteht?“), und viele Brecht-Spezialisten wollten das auch nicht. Sofern dies<br />
einen Themenschwerpunkt der folgenden Aufsätze darstellt, kann es vielleicht<br />
<strong>im</strong>mer noch als „Außenansicht“ gelten.<br />
Exzentrisch wirkte es auf alle Fälle, ich erinnere mich noch lebhaft an die<br />
Reaktion, bzw. Nicht-Reaktion der Hörer, als ich mich <strong>im</strong> Rahmen einer<br />
Ringvorlesung zu <strong>Bert</strong> Brecht – das wurde und wird in Augsburg ganz einfach<br />
erwartet – in Konkurrenz zu vielen Beiträgen zum Theater als einziger mit<br />
<strong>Lyrik</strong> beschäftigte, noch dazu nicht mit der viel gesungenen provozierenden<br />
und frechen oder der eindeutig parteiischen, sondern mit einer eher nachdenklichen,<br />
zweifelnden, ja leisen <strong>Lyrik</strong>, für die in der Tat das Motto sprach:<br />
Warum soll mein Name genannt werden? Aber die Entscheidung für diese <strong>Lyrik</strong>,<br />
bei der ich für alle weiteren „Aufträge“ blieb, war eine glückliche Entscheidung;<br />
und die anfängliche Pflicht – ich gebe es zu – wurde (Spaß wäre zu wenig)<br />
zur Freude und wurde auf alle Fälle zu einem anhaltenden Interesse. Insbesondere<br />
die Freude an der „späten“ <strong>Lyrik</strong>, wie etwa an den Buckower Elegien<br />
war wesentlich an den Themen dieser Brecht-Vorträge beteiligt und bildet jetzt<br />
einen weiteren durchgehenden Zusammenhang dieser Sammlung.<br />
Ein wenig prägte ein gewisser „Außen“-Aspekt wohl auch mein methodisches<br />
Herangehen. „<strong>Außenansichten</strong>“ wäre vielleicht gar keine so schlechte<br />
Übersetzung für „Skepsis“: etwas sorgfältig <strong>von</strong> vielen Seiten „ansehen“ und es<br />
vor allem nicht <strong>im</strong> Sinne fester „dogmatischer“ Meinungen begreifen. Die<br />
moderne Literaturtheorie, indem sie da<strong>von</strong> ausgeht, jedes Wort, jedes Zeichen<br />
könnte auch „anders“ sein und wird erst <strong>von</strong> „anderem“ her bedeutsam, steht<br />
sicher in der sehr alten und <strong>im</strong>mer wieder neuen Tradition der Skepsis. Wie<br />
auch <strong>im</strong>mer: Es geht <strong>im</strong> Folgenden um Zuordnungen der <strong>Lyrik</strong> <strong>Brechts</strong> 15 zu<br />
fremden, auf alle Fälle „äußeren“ Kontexten, wie etwa europäischem Sym-<br />
14 Vgl. dazu auch unten Kap. 4: „Ach, wie solln wir nun die kleine Rose buchen?“ <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> und<br />
die Tradition der Moderne.<br />
15 Nicht um „Vereinnahmung“, vor der Klaus-Detlef Müller (<strong>Bert</strong>olt Brecht. Epoche – Werk –<br />
Wirkung. München 2009, S. 187) zu Recht warnt.
12 Vorwort: „Stehend an meinem Schreibpult“<br />
bolismus, Imagismus, Hermetismus usw., zu fremden Kontexten wie „polyhistorischem“<br />
Roman, oder zu Medien wie Film und Rundfunk, dann zu<br />
Zeichentheorie, formaler Aussagenlogik, Argumentationstheorie, oder etwa<br />
auch zu so etwas ganz „Unangemessenem“ wie Werbung. Und machen wir uns<br />
nichts vor, jede Methode entwirft, zumindest ein Stück weit, auch ihren<br />
Gegenstand. So wird in diesen Vorträgen und Aufsätzen ganz bewusst nicht<br />
nach dem „ganzen“ oder dem „eigentlichen“ Brecht gefragt. Es ist durchaus<br />
der „skeptische“, nachdenkliche, auch der selbstkritische, auf alle Fälle der antidogmatische<br />
<strong>Lyrik</strong>er <strong>Bert</strong> Brecht, der <strong>im</strong> Folgenden <strong>im</strong> Mittelpunkt des<br />
Interesses steht, damit auch der Dichter, wie er eigentlich vor allem erst<br />
durch die Publikation des Nachlasses bekannt wurde. Auch die Konzentration<br />
auf den lyrischen Nachlass <strong>Brechts</strong> hat ja vielleicht etwas <strong>von</strong> einer „Außenansicht“.<br />
16 <strong>Brechts</strong> Gedichte jedenfalls halten solche methodischen und vergleichenden,<br />
skeptischen Konfrontationen, eben „<strong>Außenansichten</strong>“ nicht nur<br />
aus, unser Verständnis seiner <strong>Lyrik</strong>, da<strong>von</strong> bin ich überzeugt, könnte dabei<br />
gewinnen. Insbesondere kommt man so <strong>im</strong>mer wieder – und auch das zieht sich<br />
wie ein roter Faden durch die folgenden Aufsätze – zurück auf den gerade für<br />
Brecht so wichtigen Zusammenhang <strong>von</strong> Kreativität, freier, grenzenlos freier<br />
ästhetischer Kreativität und niemals ganz vergessenem oder gar aufgegebenem,<br />
kritisch denkendem politisch-gesellschaftlichem Engagement. „Stehend an<br />
(s)einem Schreibpult“ sieht der Dichter, bewusst abstrahierend, ein freies,<br />
offenes, vieldeutiges Zeichen: „etwas Rotes und etwas Schwarzes“. Aber<br />
bedeutsam wird diese plötzliche ästhetische Distanz für ihn genau und nur<br />
<strong>im</strong> Zusammenhang mit dem zeitkritischen Titel des Gedichts: Schwierige<br />
Zeiten.<br />
Wie Brecht an seinem Schreibpult denke auch ich gern an Augsburg<br />
zurück. Mein Dank gilt allen, die diese Arbeit begleitet und mein Interesse<br />
geteilt haben: neben denen, denen einzelne Aufsätze gewidmet sind, meinem<br />
unvergessenen Lehrer Paul Hoffmann sowie den Kollegen Henning Krauß<br />
und Severin Müller, dann vor allem Helmut Koopmann, Theo Stammen,<br />
Joseph Becker, Erich Köhler, Klaus-Detlef Müller, Bernadette Malinowski,<br />
Werner Frick, Fabian Lampart. Zu einzelnen Fragen halfen mir Laura Gieser,<br />
Isabel Kranz, Alexa Eberle und Christian Gerlinger. Die ersten Manuskripte<br />
betreute Sonja Deck. Auch ihnen allen mein Dank! Und danken möchte ich<br />
wieder einmal den Damen und Herren des <strong>Francke</strong>-Verlags für ihre Geduld<br />
und ihre kompetente Hilfe.<br />
16 Jedenfalls stehen <strong>im</strong> Standardwerk der Brechtforschung: Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch.<br />
Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und We<strong>im</strong>ar 2001, weit überwiegend die Gedichte der Sammlungen<br />
<strong>im</strong> Vordergrund, die, ausgenommen die Buckower Elegien, sozusagen „offiziell“ veröffentlicht<br />
wurden.
2<br />
„Warum soll mein Name genannt werden?“<br />
Ein lyrisch-politisches Programm <strong>im</strong> Exil<br />
Das <strong>im</strong> Januar 1936 auf einer Seereise <strong>von</strong> New York nach Southampton<br />
entstandene Gedicht (vgl. 14.621/622), 1 dessen letzte Strophe die „kleine“<br />
Gesamtausgabe zur Überschrift machte, 2 und so haben viele es erstmals kennen<br />
gelernt, gehört zu den Brecht-Gedichten, zu denen man <strong>im</strong>mer wieder<br />
zurückkehrt. In vielem ist es so dem Gedicht Der Radwechsel (<strong>von</strong> 1954,<br />
296/12.310) vergleichbar. 3 Hier wie dort geht es um eine persönliche wie<br />
gesellschaftliche Zeit-Krise, die prinzipiell, ja philosophisch-lyrisch beantwortet<br />
wird. Auf alle Fälle kann wohl gelten: Wenn Brecht so deutliche<br />
klassische Bezüge herstellt wie in diesen Gedichten – dazu gleich –, dann ist ein<br />
konkreter, aktueller Anlass dahinter zu vermuten. 4 Es geht, einer in der<br />
Exilliteratur häufigen Tendenz folgend, gerade dann, wenn sie sich klassizistisch<br />
gibt – noch und gerade auch die Buckower Elegien bleiben ja letztlich „ein<br />
Alterswerk des Exils“ –, 5 es geht nicht um Verallgemeinerung, sondern um<br />
prüfende „Authentizität“. 6 Das heißt: Traditionelle Denkweisen können<br />
gegenüber dieser Gegenwart lediglich die Funktion <strong>von</strong> Hypothesen oder<br />
Fragen beanspruchen, wie allgemein <strong>im</strong>mer sie formuliert sein mögen, und der<br />
Sprecher, das „lyrische Ich,“ 7 versteht sich als einer, der die eigene Position neu<br />
durchdenken muss: 8<br />
1 Zur Zitierweise <strong>im</strong> Text vgl. oben Kap. 1, Anm. 2.<br />
2 <strong>Bert</strong>olt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit<br />
mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/M. 1967, Bd. 9, S. 561/562.<br />
3 Vgl. dazu unten Kap. 8 „Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?“ Zur Kontinuität der<br />
Argumentation in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> „Buckower Elegien“.<br />
4 Hans Mayer, Brecht in der Geschichte. Frankfurt/M. 1971, S. 7 ff.<br />
5 Helmut Koopmann, <strong>Brechts</strong> „Buckower Elegien“ –ein Alterswerk des Exils? In: Hans-Jörg<br />
Knobloch/Helmut Koopmann (Hrsg.), Hundert Jahre Brecht – <strong>Brechts</strong> Jahrhundert? Tübingen<br />
1998, S. 113 – 134.<br />
6 Werner Vortriede, Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur In: Akzente 15 (1968),<br />
S. 556.<br />
7 Zu dieser, gerade für <strong>Brechts</strong> oft „rollenhaft“ verfassten <strong>Lyrik</strong> so wichtigen Kategorie vgl.<br />
überzeugend Sandra Schwarz, St<strong>im</strong>men – Theorien lyrischen Sprechens. In: Verf./Hubert Zapf<br />
(Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 3, Tübingen und Basel 2007,<br />
S. 91 ff.<br />
8 „Brecht verhält sich zur Tradition, bei aller Dialektik der Aufhebung, als einer, der zu lernen<br />
gedenkt, da er lehren will. Aus der Tradition soll gelernt werden, da es gilt, Tradition zu<br />
begründen.“ Hans Mayer, Brecht in der Geschichte, S. 14.
14 „Warum soll mein Name genannt werden?“<br />
Warum soll mein Name genannt werden?<br />
1<br />
Einst dachte ich: in fernen Zeiten<br />
Wenn die Häuser zerfallen sind, in denen ich wohne<br />
Und die Schiffe verfault, auf denen ich fuhr<br />
Wird mein Name noch genannt werden<br />
Mit andren.<br />
2<br />
Weil ich das Nützliche rühmte, das<br />
Zu meinen Zeiten für unedel galt<br />
Weil ich die Religionen bekämpfte<br />
Weil ich gegen die Unterdrückung kämpfte oder<br />
aus einem anderen Grund.<br />
3<br />
Weil ich für die Menschen war und<br />
Ihnen alles überantwortete, sie so ehrend<br />
Weil ich Verse schrieb und die Sprache bereicherte<br />
Weil ich das praktische Verhalten lehrte oder<br />
Aus irgendeinem anderen Grund.<br />
4<br />
Deshalb meinte ich, wird mein Name noch genannt<br />
Werden, auf einem Stein<br />
Wird mein Name stehen, aus den Büchern<br />
Wird er in die neuen Bücher abgedruckt werden.<br />
5<br />
Aber heute<br />
Bin ich einverstanden, daß er vergessen wird.<br />
Warum<br />
Soll man nach dem Bäcker fragen, wenn genügend Brot da ist?<br />
Warum<br />
Soll der Schnee gerühmt werden, der geschmolzen ist<br />
Wenn neue Schneefälle bevorstehen?<br />
Warum<br />
Soll es eine Vergangenheit geben, wenn es eine<br />
Zukunft gibt?<br />
6<br />
Warum<br />
Soll mein Name genannt werden?<br />
(835/836/14.320/321)
Ein lyrisch-politisches Programm <strong>im</strong> Exil 15<br />
Die Kommentare weisen zu Recht auf Horaz hin. 9 Von seinem „exegi<br />
monumentum aere perennius“, dem Anspruch, mit seinem Werk „ein Denkmal<br />
errichtet zu haben, dauerhafter als Erz“, 10 scheint Brecht sich deutlich<br />
abgrenzen zu wollen. Im positiven Sinn dagegen sind offensichtlich zwei<br />
weitere Folien hier erkennbar: zum einen eine breit belegte barocke, und nicht<br />
zuletzt durch Walter Benjamin wiederbelebte Bild-Tradition, zu der Brecht<br />
vielerlei Verbindungen unterhält, und dann der ihm gerade in der Zeit des Exils<br />
nicht minder geistesverwandte Heine.<br />
Schon die ganze Eingangst<strong>im</strong>mung des Gedichts <strong>von</strong> beschleunigter Zeit,<br />
Vergänglichkeit und Eitelkeit menschlichen Lebens hat etwas bewusst Barockes;<br />
in diesen Kontext gehört auch das alte Bild <strong>von</strong> der Seefahrt als<br />
Lebensreise und zugleich, beides ist hier relevant, als Bild der Rede bzw.<br />
der Dichtung. 11 Das ausgesprochen heilsgeschichtliche Interesse dieses mittelalterlich-barocken<br />
Bildes scheint Brecht auf seine Weise völlig ernst zu<br />
nehmen: Wie verhält sich ein politisch aktiver und künstlerisch produktiver<br />
Einzelner gegenüber der gewussten (oder nur geglaubten?) Totalität des<br />
Geschichtsprozesses? Diesem Verfahren, sich <strong>von</strong> der Tradition her und gegen<br />
sie zu definieren, entspricht die analoge Verwendung des „Haus“-Motivs. In<br />
der Bibel, deren Sprache und Bilder Brecht ja bekanntlich ständig präsent hat,<br />
ist das Haus häufig eine Figur der Wahrheit: ein „geistiges Haus“. Als<br />
„aedificatio/Erbauung“, wird seit dem Mittelalter in der Theologie und in<br />
der ihr benachbarten Rhetorik ein Teil bzw. eine Stufe der Schriftauslegung<br />
bezeichnet. 12 Auch <strong>Brechts</strong> Freund Walter Benjamin weist wiederholt auf den<br />
traditionellen Zusammenhang <strong>von</strong> Ruinen-Bild, um das es sich hier ja handelt,<br />
und, freilich oft negativer, ja aggressiv gebrauchter transzendenter Wahrheit<br />
hin, sowohl in seinem Buch über das barocke Trauerspiel, 13 als auch zum<br />
9 Vgl. z. B. 14. 621 ff., oder, ein Beispiel für viele, Edgar Marsch, Brecht-Kommentar zum lyrischen<br />
Werk. München 1874, S. 241; Marion Lausberg, <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> und die Antike. In: Helmut<br />
Koopmann (Hrsg.), <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong> – neue Deutungen. Würzburg 1999, S. 163 – 198, S. 190 f.<br />
10 Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hrsg. <strong>von</strong> Hans Färber, München 1967, S. 176<br />
(Carmina III. 30).<br />
11 Zum Bild der Seefahrt in der Barocklyrik vgl. z. B. Martin Opitz: Trostgedichte (1621), Paul<br />
Fleming: S. Augustinus sein Inter brachia Salvatoris mei, Andreas Gryphius: Andencken eines auf<br />
der See ausgestandenen gefährlichen Sturmes (1638), und: An die Welt (1643), Catharina-Regina<br />
<strong>von</strong> Greiffenberg: Auf meinen bestürmten Lebenslauf (1662) und viele andere Gedichte.<br />
12 Vgl. z. B. Reinhard Herzog, Exegese – Erbauung – Delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik<br />
der Spätantike. In: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1980,<br />
S. 52 – 69.<br />
13 „Allegorien sind <strong>im</strong> Reiche der Gedanken, was Ruinen <strong>im</strong> Reiche der Dinge.“ Walter<br />
Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. 1963, S. 197.
16 „Warum soll mein Name genannt werden?“<br />
Beispiel anlässlich Baudelaires. 14 In dessen berühmtem Gedicht Le Cygne/Der<br />
Schwan (1849) ist übrigens der Zusammenhang <strong>von</strong> „Haus/Ruine“ und<br />
„Seefahrt“ erneut weltliterarisch festgehalten. 15 Benjamin hat dieses Gedicht<br />
übersetzt. Hier ist ja auch vom Thema des Exils, nämlich <strong>von</strong> den „exilés,<br />
ridicule et subl<strong>im</strong>e/Exilierten, lächerlich und erhaben“ die Rede („so lächerlich<br />
groß [. . .] verzehren sich Verbannte“, übersetzt Benjamin), 16 an die der Anblick<br />
der abgebrochenen und neu errichteten Bauten in Paris erinnert.<br />
Und bedeutsam ist dann vielleicht auch, gerade <strong>im</strong> Hinblick auf Brecht, das<br />
berühmte Programm Baudelaires aus demselben Gedicht Le Cygne: „Tout pour<br />
moi devient allégorie/Alles wird für mich zur Allegorie“. Nicht freilich, dass es<br />
hier so sehr auf einen kryptischen, allegorischen, „geistigen“ Sinn <strong>von</strong> „Haus“<br />
und „Schiff“ ankäme, er liegt ohnehin klar zutage. Von größter, modellhafter<br />
Bedeutung ist vielmehr die allegorische, den Augenschein, die wörtliche<br />
Bedeutung und die Erfahrung umkehrende Argumentation, die „logizistische<br />
[. . .] Antinomie des Allegorischen“: 17 für das Barock, für Baudelaire, für<br />
Benjamin und deutlich auch für Brecht.<br />
Brecht hat seit langem seine persönliche und ideologische Position, ganz<br />
traditionell-rhetorisch den status seiner Lebensgestaltung und dichterischen<br />
Arbeit, unter den komplementären Bildern <strong>von</strong> „Haus“ und „Schiff“ reflektiert.<br />
Das kann hier nicht detailliert nachgezeichnet und wesentlich nur<br />
genannt werden. 18 In dem Lied Blasphemie aus Aufstieg und Fall der Stadt<br />
Mahagonny (1928/1929) stehen zum Beispiel die Zeilen:<br />
Willst du wohnen in einem Haus<br />
Gehe in ein Haus<br />
[. . .]<br />
Wenn das Dach durchbricht, gehe weg!<br />
Du darfst es!<br />
Wenn es einen Gedanken gibt<br />
Den du nicht kennst<br />
14 „Die Allegorie Baudelaires trägt – <strong>im</strong> Gegensatz zur barocken – die Spuren des Ingr<strong>im</strong>ms,<br />
welcher <strong>von</strong>nöten war, um in diese Welt einzubrechen, ihre harmonischen Gebilde in Tümmer<br />
zu legen“, und: „Die allegorische Anschauung“ hat eine „destruktive Tendenz“, ihr eignet „die<br />
Betonung des Bruchstückhaften.“ Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Frankfurt/M. 1974,<br />
S. 167 und 186.<br />
15 Charles Baudelaire, Oeuvres complètes. Ed. de la Pléiade, hrsg. Von C. Pichois, Paris 1975, Bd. 1,<br />
S. 85 ff.<br />
16 Charles Baudelaire, Ausgewählte Gedichte. Deutsche Übertragung <strong>von</strong> Walter Benjamin,<br />
Frankfurt/M. 1979, S. 34 ff.<br />
17 Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 177 und 193; vgl. zu diesem<br />
wesentlichen „Bruch“ in der Argumentation z. B. auch Gerhard Kurz, Zu einer Hermeneutik der<br />
literarischen Allegorie. In Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie, S. 12 ff.,<br />
sowie ders., Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 27 ff., v. a. S. 37.<br />
18 Vgl. dazu ausführlicher als Beispiel für „<strong>Brechts</strong> Weg zur Chiffre“ unten Kap. 3 „Sieh den Balken<br />
dort!“ Zur Sinnlichkeit der Chiffre in <strong>Bert</strong> <strong>Brechts</strong> <strong>Lyrik</strong>.
Ein lyrisch-politisches Programm <strong>im</strong> Exil 17<br />
Denke den Gedanken.<br />
Kostet er dich Geld,<br />
Verlangt er dein Haus<br />
Denke ihn, denke ihn.<br />
Du darfst es!<br />
[. . .]<br />
Für die Zukunft der Menschheit<br />
Zu deinem eigenen Wohlbefinden<br />
Darfst du.<br />
(136/11.172)<br />
Man sieht, wie hier <strong>im</strong> Grunde alle traditionellen Elemente, „Ruinen-Denken“,<br />
„heilsgeschichtliche Perspektive“, ja „Haus der Wahrheit“, bereits<br />
versammelt sind. Aber es muss das Exil gewesen sein, das diese Elemente<br />
zu quasi-allegorischer Präzision verdichtete. 19 Und das Gedicht Zeit meines<br />
Reichtums (1934; 804/14.278) scheint genau diesen Bedeutungs-Wechsel zu<br />
markieren. Es hält fest, wie Brecht sein nur sieben Wochen bewohntes Haus in<br />
Utting am Ammersee verlassen musste. In seinem Tagebuch beschreibt Brecht<br />
fast nur den neuen großen Garten. 20 Im Gedicht dagegen steht vor allem die<br />
Gediegenheit des Hauses <strong>im</strong> Mittelpunkt. Erst das Exil und die übertragene<br />
„geistige“ Bedeutung scheinen dem „Haus“ Interesse zu verleihen. Noch<br />
deutlicher in diesem Sinne lesen lässt sich der Schluss des Gedichtes Ich habe<br />
lange die Wahrheit gesucht (um 1933): „Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: /<br />
Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit [. . .] Und seitdem ist die<br />
Wahrheit für mich wie ein Haus“ – allerdings ein Haus, beweglich, auf<br />
Widerruf und vom Verlust bedroht –„ist die Wahrheit für mich wie ein<br />
Haus und ein Wagen. / Und man hat sie genommen“ (739/14.192, Hervorhebung<br />
<strong>von</strong> mir).<br />
Es scheint also gerade der Gedanke beweglicher, unruhiger, problematischer<br />
und distanzierter Identifikation mit ideologischen Wahrheiten zu sein,<br />
der dominiert in der Parallelsetzung <strong>von</strong> „Haus (der Wahrheit)“ und „Schiff<br />
(eigener dichterischer Praxis)“ –die Allegorie, die sich noch weiter bestätigen<br />
wird, vorerst einmal angenommen – am Anfang <strong>von</strong> Warum soll mein Name<br />
genannt werden. Wie präzise nun auch Letzteres, also das „Schiff“-Motiv so zu<br />
lesen ist, zeigt zum Beispiel das spätere, 1941 entstandene Gedicht auf den<br />
Freitod des Allegorie-Theoretikers Walter Benjamin Die Verlustliste, das<br />
beginnt: „Flüchtend vom sinkenden Schiff, besteigend ein sinkendes / – Noch<br />
ist in Sicht kein neues [. . .]“ (982/14.43). Und wie eine barocke emblematische<br />
19 Vgl. zum allgemeinen Kontext z. B. Reinhold Jaretzky, <strong>Bert</strong>olt Brecht. Reinbek 2006, S. 79 ff.<br />
oder Klaus-Detlef Müller, <strong>Bert</strong>olt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung. München 2009, S. 21 f. und<br />
S. 175 ff.<br />
20 <strong>Bert</strong>olt Brecht, Tagebücher 1920 – 1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920 – 1954. Hrsg.<br />
<strong>von</strong> Herta Ramthun, Frankfurt/M. 1975, S. 218.
18 „Warum soll mein Name genannt werden?“<br />
Verbildlichung dieser hier skizzierten Bedeutungen erscheint es, wenn Brecht<br />
sein erstes Haus <strong>im</strong> Exil bei Svendborg, auf dessen Dach ein Schiffsruder<br />
angebracht war, mit der inscriptio versieht: „Die Wahrheit ist konkret“. (Er<br />
malte den Satz auf einen Querbalken des Hauses.) Gerade in der konkreten<br />
Wahrheit ist man, wie auf einem fahrenden und schw<strong>im</strong>menden Haus – das<br />
wäre die emblematische pictura, und die <strong>Lyrik</strong>, bzw. die literarische Arbeit des<br />
Exils als solche könnte dann die erläuternde subscriptio abgeben -, 21 in einem so<br />
beschriebenen „Haus-Boot der Wahrheit“ ist man nur problematisch, auf alle<br />
Fälle aber beweglich zu Haus. In diesem Sinne endet zum Beispiel das Motto-<br />
Gedicht der Steffinschen Sammlung (1937 – 1940) mit den Versen: „Dem gleich<br />
ich, der den Backstein mit sich trug/Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah“<br />
(270/12.95).<br />
Dass Brecht sich und andere fragt: „Warum soll mein Name genannt werden?“,<br />
unterstreicht die bisherigen Beobachtungen. Deutlich ist zumindest ein weiteres<br />
für das Exil bezeichnendes Motiv erkennbar, dessen Tradition z. B. an den<br />
exilierten Dichter-Kollegen Heinrich Heine denken lässt: „Ich bin ein deutscher<br />
Dichter / Bekannt <strong>im</strong> deutschen Land; / Nennt man die besten Namen /<br />
So wird auch der meine genannt“, um nur einen Beleg zu zitieren. 22 Spricht aus<br />
diesen Versen Heines der Stolz des Exils, so zeigt der Schluss desselben<br />
Gedichtes dessen Fragwürdigkeit und bittere Voraussetzung: „Und was mir<br />
fehlt [. . .], / Fehlt manchem <strong>im</strong> deutschen Land; / Nennt man die schl<strong>im</strong>msten<br />
Schmerzen, / So wird auch der meine genannt!“. Ja, auch der prinzipielle<br />
Selbstzweifel ist, und deutlich an Brecht erinnernd, bei Heine vorgebildet,<br />
wenn es heißt: „Wer weiß? Die Nachwelt wird vielleicht / Halt gar nichts <strong>von</strong><br />
mir sagen“. 23 Das Gedicht Besuch bei den verbannten Dichtern (227/12.35/36), aus<br />
der Sammlung Svendborger Gedichte, nahezu gleichzeitig entstanden mit<br />
Warum soll mein Name genannt werden, zeigt die Genauigkeit dieser Zusammenhänge.<br />
Dafür spricht zum Beispiel auch Im zweiten Jahre meiner Flucht<br />
(1935), das sich mit dem Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft beschäftigt:<br />
„Als ich meinen Namen las neben vielen andern / Guten und schlechten. / Das<br />
Los der Geflohenen schien mir nicht schl<strong>im</strong>mer als das / Der Gebliebenen“<br />
(810/14.289). Und noch <strong>im</strong> Exil in den USA, den USA der McCarthy-Ära,<br />
scheint sich Brecht <strong>im</strong> Sonett in der Emigration (1941) an Heine zu erinnern:<br />
„[. . .] Spell your name / Auch dieser ‚name‘ gehörte zu den großen! / Ich muß<br />
noch froh sein, wenn sie ihn nicht kennen / Wie einer, hinter dem ein<br />
Steckbrief läuft / Sie würden kaum auf meine Dienste brennen“ (987/15.48).<br />
21 Dazu, dass solch ein barockes Schema für Brecht nicht abwegig ist, vgl. z. B. exemplarisch<br />
Reinhold Gr<strong>im</strong>m, Marxistische Emblematik. In: Renate <strong>von</strong> Heydebrandt und Klaus G. Just<br />
(Hrsg.), Wissenschaft als Dialog. Stuttgart 1969, S. 364 ff.<br />
22 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften. Hrsg. <strong>von</strong> Klaus Briegleb, München 1976, Bd. 1, S. 115.<br />
23 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 11, S. 115.
Ein lyrisch-politisches Programm <strong>im</strong> Exil 19<br />
Aber, und das ist doch bemerkenswert, auch den Dissens zu seinen eigenen<br />
Freunden, Schicksals- und Gesinnungsgenossen spricht Brecht fast mit denselben<br />
Wendungen an, mit denen er sich <strong>von</strong> Nazi-Deutschland und den USA<br />
abgegrenzt hatte:<br />
Die ich schicke, werden mit Verachtung behandelt<br />
Sie kehren zurück zu mir und sagen:<br />
Man scheint<br />
Dich dort nicht zu kennen.<br />
Von Leuten meines Faches (in dem ich ein Weiser bin)<br />
Werde ich aufgefordert<br />
Meinen Namen zu buchstabieren. Aber die Polizei<br />
Kennt mich.<br />
(249/14.248)<br />
Dieses erstmals <strong>im</strong> Supplement der (kleinen) Werkausgabe enthaltene Gedicht 24<br />
bezieht sich recht eindeutig auf <strong>Brechts</strong> linke und vor allem stalinistische<br />
„Freunde“ bzw. Konkurrenten. Zu solcher Verbitterung hatte er damals<br />
durchaus Anlass, und zwar in einer über die allgemeinen Zwänge, Behinderungen<br />
und Isolationen des Exils hinausgehenden Weise. 25 Die Uneinigkeit<br />
der Schriftsteller hatte sich gerade auf dem Kongress <strong>von</strong> 1935 in Paris wieder<br />
gezeigt; der Versuch, Die Mutter in New York zu inszenieren –„nur nichts zu<br />
tun haben mit den sogenannten linken Theatern“, schreibt Brecht 26 –, hatte<br />
tiefe Missverständnisse gerade bei den Freunden offen gelegt; die Begleitumstände<br />
bei der Publikation des Dreigroschenromans hatten Brecht geradezu<br />
verletzt; am tiefsten aber ging in diesen Jahren der fast unüberbrückbare<br />
Dissens zur offiziellen Kunstauffassung der kommunistischen Partei. Alfred<br />
Kantorowicz hatte in Unsere Zeit <strong>Brechts</strong> Dreigroschenroman gleichsam <strong>im</strong><br />
offiziellen Auftrag als „idealistisch“ und „bürgerlich dekadent“ abgelehnt. 27 Die<br />
so genannte „Expressionismusdebatte“ in der Zeitschrift Das Wort 28 zeigte<br />
zentrale, tiefgehende Widersprüche auf, insbesondere zwischen den Auffassungen<br />
<strong>von</strong> Georg Lukács und denen <strong>von</strong> Brecht. Die vielen Aufzeichnungen,<br />
die Brecht sich dazu gemacht hat, aber auch seine Gespräche mit Walter<br />
24 Vgl. <strong>Bert</strong>olt Brecht, Supplementbände zur Werkausgabe. Bd. 4, Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg.<br />
<strong>von</strong> Herta Ramthun, Frankfurt/M. 1982, S. 296.<br />
25 <strong>Brechts</strong> Briefe aus dem Exil sprechen <strong>im</strong>mer wieder <strong>von</strong> „Gegeneinanderarbeiten, Mißtrauen,<br />
Skepsis oder Illusionen“. <strong>Bert</strong> Brecht, Briefe. Hrsg. <strong>von</strong> Günter Glaeser, Frankfurt/M. 1981,<br />
Bd. 1, S. 164; vgl. z. B. auch S. 189 ff., 213 ff., 253 ff. oder 291, wo Brecht sich beklagt, „daß<br />
unsere Leute öffentlich [. . .] gute Miene machten, aber intern böses Spiel trieben“. Zu <strong>Brechts</strong><br />
Isolation allgemein in dieser Zeit vgl. z. B. Alexander Stephan, Die deutsche Exilliteratur<br />
1933 – 1945. München 1979, S. 163 ff.<br />
26 <strong>Bert</strong>olt Brecht, Briefe, Bd. 1, S. 278.<br />
27 Zu <strong>Brechts</strong> Verärgerung darüber vgl. ebd. S. 231 ff.<br />
28 Bequem nachzulesen in Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien<br />
zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt/M. 1973.