Mica - Obsession
Ich habe noch nie erlebt, wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich empfand, als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben. Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden, erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosungen und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten gerannt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort verstand ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästigung empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hause. Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie einfach. Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hatte sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst noch dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Niemandsland. Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab. Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein, aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o. k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen.
Ich habe noch nie erlebt, wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich empfand, als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben. Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden, erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosungen und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten gerannt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort verstand ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästigung empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hause. Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie einfach. Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hatte sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst noch dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Niemandsland. Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab. Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein, aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o. k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen.
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Elvi Mad
Mica - Obsession
Arriba los que luchan por el poder del amor!
Erzählung
L'amour, c'est comme la foudre : on n'en est nulle part à l'abri.
William Faulkner
„Vielleicht hast du Recht, vielleicht können sich Menschen den
Kindzustand im Unbewussten immer erhalten. Mir kommt es
eher so vor, dass wir uns als reine, wirkliche Menschen sehen
wollen. Mit allen Geboten, Verhaltenserwartungen und
Rollenanforderungen umhüllst du dich jedes mal mit einem
weiteren zusätzlichen Gewandt, steigerst deine Maske bis du
selbst nicht mehr zu erkennen bist, wir wollten uns selbst
sehen, nur wir direkt, wie wir wirklich, natürlich, nackt sind, so
nahm ich schon unsere ersten Blicke war. Ich sah in dir, das du
es auch wolltest, konntest und Lust darauf hattest.“ erklärte
sich Joscha. „Und sieht man bei dem nackten, wirklichen
Menschen denn auch, ob es sich um eine Frau oder einen Mann
handelt?“ fragte ich nach. „Ach, das ist doch völlig
unerheblich.“ tat es Joscha ab. „Joscha, mein Lieber, du willst
mir doch nicht erklären, dass sich alles genauso entwickelt
hätte, wenn ich ein Mann gewesen wäre.“ widersprach ich.
Hinter breiten Lippen lachte er stumm. „Sag mal, begehrst du
mich eigentlich?“ wollte ich es genauer wissen. Jetzt lachte
Joscha laut. „Mica, das ist so fern. Direkt habe ich das noch
nicht gedacht. Wir werden es sublimiert haben.“ Joscha dazu.
„Ja, kommunikativ haben wir permanent kopuliert, nicht war?
Mit einem Höhepunkt nach dem anderen.“ bestätigte ich ihn.
Mica – Obsession – Seite 1 von 37
Mica - Obsession - Inhalt
Mica - Obsession................................................................................... 3
Joscha................................................................................................... 3
Kümmerdasein am Küchentisch............................................................4
Hohe Kapelle der Kommunikation......................................................... 5
Ich muss noch einkaufen...................................................................... 6
Gemischtgeschlechtliche, jüngere Zweierbanden.................................7
Was willst du überhaupt von mir?.........................................................7
Sofort in den Himmel............................................................................ 8
Nackte, wirkliche Menschen.................................................................. 9
Höchster Gipfel der Glücksgefühle......................................................10
Beide gedopt....................................................................................... 12
In Drachenblut gebadet...................................................................... 13
Wie Schlangen sich lieben................................................................... 14
Königssohn und seine Cinderella?....................................................... 16
Irritationen......................................................................................... 17
Vertreibung aus dem Paradies............................................................18
Nicco................................................................................................... 20
Gelähmte Tage.................................................................................... 21
Tobsuchtsanfall meiner Seele.............................................................23
Das machen wir aber nie wieder......................................................... 25
Alleine kein gescheites Leben.............................................................27
Sternennacht.......................................................................................28
Besuch bei Ruth.................................................................................. 29
Nur Genuss und Sinneslust.................................................................33
Obsession mit festem Wohnsitz..........................................................35
Mica – Obsession – Seite 2 von 37
Mica - Obsession
Joscha
„Montag ist Ruhetag“, sagt Joscha, aber Joscha ist ein bisschen plemplem. Am
Montag sollen wir uns nicht stören. Wir stören uns nämlich immer nur. Andere
würden vielleicht sagen: „Die lieben sich.“, aber so war das nicht. Ich liebte ja
Nicco, und das war ganz anders. Joscha, der gehörte mir, war in mir, gleich
vom Nachmittag an, als wir uns kennenlernten. Ich habe ihn ganz aufgenommen,
alles von ihm ist in mir, er gehört zu meiner Person. Bei Menschen ist das
schon sehr kompliziert, selbst bei toten Gegenständen funktioniert das ja nicht
vollständig, es bleibt immer ein Rest, den du nicht erkennen kannst. Sogar bei
einem Fahrrad kannst du nicht alles voll erkennen und in dich aufnehmen. Die
molekulare Struktur seines Rahmens zum Beispiel, wird dir immer verborgen
bleiben. Menschen verfügen über eine weit größere Anzahl molekularer Strukturen
und darüber hinaus über vieles, was du auch sonst nicht erkennen
kannst. Dir stehen nur die Kapazitäten deiner Wahrnehmungsorgane und ihre
Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung. Was nicht bereits in dir ist, kannst
du nicht erkennen, und davon gibt es bei einem anderen Menschen meistens
nicht wenig. Trotzdem wusste ich mehr von Joscha, als er von sich selbst. „Joscha,
ist das dein richtiger Name, oder steht auf deiner Geburtsurkunde etwas
anderes?“ hatte ich ihn gefragt. „Aljoscha steht dort, aber für alle bin ich eben
nur der Joscha.“ bekam ich zur Antwort. „Bist du traurig darüber? Möchtest du,
dass ich Aljoscha zu dir sage?“ erkundigte ich mich. Mit einem lang gezogenen
„Nein!“ fuhr Joscha lachend auf, „Aljoscha, so nennt mich doch niemand.“ „Na
prima, Al Joscha das mag ich auch nicht. Hört sich an wie El Cordobés, nicht
wahr? Und ein Stierkämpfer, das bist du doch nicht, oder?“ lautete meine Ansicht.
Wir redeten immer Blödsinn miteinander, störten uns eben. Nein, so
stimmt es überhaupt nicht. Wir sprachen ernst und engagiert, es war uns wichtig
und wir diskutierten sehr involviert. Nur unsere Zwerchfelle waren trotzdem
ständig einsatzbereit und lauerten auf eine Gelegenheit, uns lachen zu lassen.
Wenn ich gewusst hätte, dass er Aljoscha heißt, hätte ich ihn nicht einfach von
mir aus Joscha, Jossy oder Alexey genannt. Du solltest andere Menschen bei
ihrem Namen nennen. Es ist ihr Name, er gehört ihnen, wenn du eine Abkürzung,
ein Diminutiv oder eine Koseform benutzt, sagt es etwas über dich aus.
Du hast dich des Namens deines Mitmenschen bemächtigt, und verwendest ihn
nach deinem Belieben. Das ist frech. Die Menschen, die Günther mit Günni benennen,
haben ihn in der Regel nicht gefragt. Mein Name? Was ist denn eigentlich
mein Name? Lautet er Michaela, so wie es im Pass steht, oder bin ich Mica,
so wie mich alle nennen, seit ich mich erinnern kann. Michaela, den Namen
habe ich mir selbst nicht gegeben. Er stammt von meinen Eltern, ich mag ihn
nicht, und meine Eltern nennen mich auch nie so. Wenn ich Mica genannt oder
gerufen werde, dann bin ich das, ich mag den Namen und identifiziere mich
damit. Aber in Telefonbüchern, im Internet, sonstigen Namensverzeichnissen
und an der Uni existiere ich nicht, eine Mica Herward kommt nirgendwo vor.
Mica – Obsession – Seite 3 von 37
Ständig und überall taucht aber diese Michaela auf, mit der ich nichts zu tun
haben will. Mit ihr kann ich mich nicht identifizieren, das bin ich nicht. Ich habe
mich schon mit Leuten gestritten, ob ich Mica oder Michaela heiße, habe ihnen
angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, wenn sie mich weiter Michaela
nennen würden, worauf sie bestanden hatten, weil das mein richtiger Name
sei. Den Namen kennen sie schon alle, aber die wirkliche Mica Herward kennt
niemand. Die wirkliche Mica existiert schon, nur ich kenne sie ja selbst nicht
einmal vollständig. Wenn ich an mich denke, habe ich eine Vorstellung von mir.
Meine Vorstellung hat niemand sonst, wenn er meinen Namen sagt. Jede und
jeder hat seine nur ihr beziehungsweise ihm eigenen Assoziationen und Bilder,
wenn sie meinen Namen nennen und hören, und trotzdem können wir uns
verständigen. Wenn ich sowieso für jede und jeden jemand anders bin, wäre es
da nicht auch gleichgültig, wenn sie mich Michaela nennen würden, nur ich
mag nicht hören, dass ich das sein soll.
Kümmerdasein am Küchentisch
Ob ich nicht endlich mal beginnen wolle, erwachsen zu werden, hatte meine
Mutter sich mehr fordernd als fragend an mich gewandt. Was wollte sie denn
jetzt für obskure pädagogische Ritualien an mir exemplifizieren? Hochgezogene
Brauen bei geschlossenen Lidern und skeptisch abwertend breit gezogenen Lippen
verdeutlichten meiner Mutter, dass ich wohl nähere Erläuterungen wünschte.
„Mica, als Kind war das ja meistens lustig, aber heute können deine Sonderwünsche
und Spezialansichten schon mal nerven.“ erklärte sie. „Und was
sollte ich machen, damit deine Tochter endlich erwachsen würde?“ wollte ich es
genauer wissen. „Sich einfach mal schlicht so verhalten, wie es gewöhnlich ist,
wie es andere auch tun, ohne jede Art von Extravaganzen.“ wusste meine Mutter
dazu. „Und jetzt konkret, was ist es da, was gewöhnlich wäre, und was die
anderen auch täten.“ wollte ich es für diesen Moment wissen. Angenehm war
Mutter die gesamte Situation auch nicht, aber es hatte sie wohl irgendetwas
bedrängt. „Na ja,“ begann sie zögerlich, „einen schlechten Tag hab' ich doch
auch mal, bin auch mal mies drauf. Das haben ja alle Menschen, Julian (das
war mein Vater) hat das auch. Aber es reicht doch, wenn du selbst darunter
leidest. Du musst doch nicht auch die anderen damit quälen.“ bezog es Mutter
auf meine Stimmung, die ihr wohl nicht entgangen war. „Du meinst schön lustig
sollte ich spielen, tun als wenn nichts geschehen, und ich glücklich wäre?
Erwachsen ist das nicht, das ist gelogen.“ gab ich meinen Kommentar dazu.
„Los erzähl schon. Was ist passiert?“ reagierte Mutter. „Nix ist passiert. Ich
hab' mich nur aufgeregt. Die Bettina, die kennst du doch auch, hat heute ein
Referat gehalten. Da fehlten wesentliche Aspekte neuerer Diskussion, und die
Bibliographie wies auch bedeutsame Lücken auf. Warum tut sie das? Dass Bettina
es nicht besser auf die Kette kriegt, kann nicht sein. „Das ist genug, das
muss reichen.“ sagt sie sich, genauso wie bei den Hausaufgaben früher in der
Schule. Wo und wer ist sie denn selbst dabei? Sie ist eine, die etwas für andere
fabriziert, und da tut sie nicht mehr, als dass es soeben reicht. Sie selbst spielt
darin gar keine Rolle, sie hat sich abgegeben. Wenn sie das bei dem Referat so
macht, tut sie es doch auch anderswo. Hat ihr eigenes Leben abgegeben, tut
Mica – Obsession – Seite 4 von 37
das, was andere von ihr wollen und erwarten. Sie lebt nicht selbst voll in dieser
Welt, sondern führt ein Kümmerdasein am Küchentisch.“ erzählte ich vom
Grund meiner Aufregung.
Hohe Kapelle der Kommunikation
Wir hörten uns beide immer sehr gut zu, versuchten uns genau zu verstehen,
Mutter mich besonders, aber jetzt scherzte sie: „Im Moment führen wir ja auch
ein Leben am Küchentisch.“ bemerkte sie und schmunzelte. Direkt am Küchentisch
führten wir öfter unser Leben. Ein Kümmerdasein war es aber absolut
nicht. Am Spätnachmittag oder kurz vorm Abendbrot trafen Mutter und ich uns
gewöhnlich hier. Einen Kaffee wollten wir gemeinsam trinken. Kaffee schmeckt
gut, aber wenn wir zusammenkamen wurde ein Licht angezündet, ein glanzvolles,
strahlendes, warmes Licht in der hohen Kapelle menschlicher Kommunikation.
Ob allein durch unseren Kontakt jetzt mehr Energien flossen? Das siehst
du ja nicht, die sollen ja magisch sein, aber dass allein durch unser Zusammentreffen
das Hintergrundempfinden um mehrere Level angehoben wurde,
das spürtest du sehr deutlich, es waren ja deine Gefühle. Mutter hatte ich nicht
in mich aufzunehmen brauchen. Sie war schon in mir, bevor wir uns anblicken
konnten. Isa, die eigentlich Isabella hieß, was ich viel schöner gefunden hätte,
habe ich es mal erklärt. Sie hatte gemeint: „Du und deine Mutter, ihr seid richtige
Freundinnen, nicht war?“ „Ja, sehr gute, alte Bekannte sind wir.“ hatte ich
gescherzt, „Isa, ich bin meine Mutter. Alles was du von mir siehst, anfassen,
befühlen und kneifen kannst, alles nur von meiner Mutter. Von ihrer Nahrung
und der Luft, die sie geatmet hat, bin ich entstanden und seit der Geburt vermehrt
und erneuert sich das alles nur. Sie sagt, ich sei nicht nur in ihrem
Bauch gewachsen, sondern von Anfang an auch in ihren Gefühlen, in ihrer Seele,
in ihrem Herzen, und da könne man nicht geboren werden, da gebe es keine
Nabelschnur, die man durchtrennen könne. Da bliebe ich immer, für ihr ganzes
Leben. Seitdem sei sie ein anderer Mensch als vorher, jetzt gehöre auch ich
dazu. Weißt du, Isa, alles an mir ist meine Mutter und ich bin ganz in ihr, wir
gehören uns. Freundinnen? Ist das nicht ein absolut schlaffes Wort, ziemlich
daneben, oder?“ „Weißt du noch, als du gesagt hast, der Tisch gehöre jetzt
dir?“ erkundigte sich Mutter. „Natürlich, du hast mich doch gefragt, ob ihr denn
dann auch noch daran sitzen dürftet.“ wusste ich noch. „Und dann hast du erklärt,
dass du sehr lange nachgedacht hättest. Alles, was man über den Küchentisch
denken könne, sei jetzt in deinem Kopf, es gehöre zu dir, der Tisch
sei jetzt ein Teil von dir. Ich habe nur gestaunt. Du warst ja noch ganz klein.“
ergänzte Mutter. „Aber im Grunde ist das doch nichts Ungewöhnliches. So eignen
sich Menschen doch die Welt an, so lernen sie, indem sie sich voll auf etwas
einlassen, sich nur noch mit dieser Sache befassen, bis sie es verinnerlicht
haben, bis es ein Teil von ihnen ist.“ bemerkte ich dazu. „Ja, ich glaube, das ist
den Menschen angeboren, Kinder tun es automatisch und Erwachsenen gefällt
es auch besser. Das Baby ja schon, ist nur in seine Welt des Saugens und
Schluckens involviert. Alles andere existiert nicht, bevor es satt ist.“ sah es
Mutter. „Ich weiß nicht, ob du so ganz Recht hast? Für Kinder trifft das sicher
zu, aber ob es Erwachsenen auch immer besser gefällt? Das wissen sie doch
Mica – Obsession – Seite 5 von 37
meistens gar nicht, sie können das überhaupt nicht erkennen. Die meisten
leben doch so, wie sie es gewohnt sind, tun das, was sie tun, so wie sie es alle
machen, was andere von ihnen verlangen oder erwarten und davon so viel,
dass es reicht.“ entgegnete ich.
Ich muss noch einkaufen
Es gibt unendlich vieles, bei dem du dich nicht selbst einbringst. Millionen kleiner
Wahrnehmungen, die sich dir jeden Tag aufdrängen und von denen dir das
Allermeiste nicht bewusst wird, aber es gibt auch Angelegenheiten, auf die du
dich gar nicht tiefer einlassen möchtest. Warum, das weißt du oft nicht einmal
genau. Mit Nicco, meinem Freund zum Beispiel, ist alles in Ordnung so wie es
ist. Mehr will ich dazu gar nicht wissen. Oder in manchen Seminaren oder Vorlesungen
gibt es eine fortlaufende Fülle komplexer Informationen, die du nur
speichern, verarbeiten und memorieren musst. Du persönlich bist da fehl am
Platze. Eine Chance, dich einzubringen und dich zu verwirklichen, existiert
nicht. Bei dem Seminar, in dem Bettina in der letzten Woche ihr Referat gehalten
hatte, war das völlig anders für mich. Da war ich engagiert, total involviert,
es war mein Seminar, ich lebte es. Gerade deshalb war Bettinas Referat mit ihrem
daraus ersichtlichen Verhalten für mich auch so ärgerlich. Heute gab es
ein anderes Referat, es bot zu heftigen Diskussionen Anlass und ich unterhielt
mich auch mit meinem Nachbarn. Wir redeten nach dem Ende des Seminars
weiter. Warum? Und worum ging's? Wir waren schon weit in anderen Bereichen,
aber wenn der Junge etwas sagte, musste ich doch Stellung dazu beziehen.
Er blickte mir manchmal so sonderbar in die Augen. Mein tiefstes Innerstes
wollte er, glaube ich, nicht erkennen. Mir kam es eher vor, als ob er sich
vergewissern wolle, dass ich bei dem gemeinsamen Streich auch wirklich mitmachen
würde. Na klar, würde ich doch. Das Lächeln um meinen Mund, wenn
ich ihn anblickte, was hätte das sonst bedeuten sollen. Mittlerweile redeten wir
über wissenschaftstheoretische Fragen. Besonders firm waren wir da beide
nicht, so verlief die Diskussion auch viel bewegter und sprunghafter, hatte die
öden, eintönigen Pfade eines glatten Diskussionsverlaufes verlassen. Sehr
ernsthaft und gewichtig trugen wir unsere Argumente schon vor, nur waren sie
eben häufig von diesen unverständlichen Blicken und dem zusammenhanglosen
Lächeln begleitet. Mir fiel auch auf, dass ich dem Jungen nie widersprach.
Keinesfalls war ich mit allem einverstanden, was er sagte, aber ich verhielt
mich anders als gewöhnlich. „Annett, du siehst das aus einer völlig falschen
Warte.“ hätte ich gesagt. Jetzt bei dem Jungen sagte ich nur: „Ach, meinst
du?“ und fragte nach, wie er zu dieser idiotischen Ansicht gekommen war. Aber
das machte nichts, ich meinte zu empfinden: „Der darf das.“ Wir mussten raus,
der Raum sollte geschlossen werden. Aber unsere Diskussion, die war doch
nicht zu Ende, die konnten wir doch nicht einfach abbrechen. Welches Ziel hatte
das Gespräch denn? Welche Fragen waren denn noch offen? Törichte Gedanken.
Wir diskutierten und wollten weiter miteinander reden. Reicht das nicht?
„Es gibt nur ein Problem,“ begann der Junge, der Joscha hieß, wie er mir inzwischen
verraten hatte, räsonierend, „ich muss noch einkaufen.“ Die Unsicherheit
hat ihren eigenen Kitzel. Sollst du losplatzen? Hat er unbewusst so einen Un-
Mica – Obsession – Seite 6 von 37
sinn geredet oder vielleicht sogar absichtlich. Findest vielleicht nur du es urkomisch,
weil dieser Joscha es gesagt hat, bei dem du immer darauf wartest,
dass er etwas Kurioses tut? „Ja, ja, ich verstehe. Wenn du hinterher noch einkaufen
musst, können wir uns nicht sinnvoll unterhalten. Du kannst dich nicht
konzentrieren, kannst dich nicht voll auf das Gespräch einlassen, weil über dir
ständig das Damoklesschwert des Einkaufens schwebt. „Ich muss noch einkaufen,
ich muss noch einkaufen, ich muss noch einkaufen.“ denkst du ständig
und kannst meine Worte gar nicht voll aufnehmen und verstehen, wird es so
sein?“ versuchte ich Joscha zu verstehen. „Mhm“ meinte der nur und zeigte
durch sein anhaltendes Grinsen, dass es ihm gefiel. „Sollten wir eventuell zuerst
einkaufen und uns dann weiter unterhalten?“ schlug ich vor, „Dann könnten
wir ja sogar beim Einkaufen selbst miteinander reden.“
Gemischtgeschlechtliche, jüngere Zweierbanden
Natürlich kauften wir gemeinsam ein, nur unsere Diskussion befasste sich dabei
eher mit Themen der skurrilen Wissenschaften beziehungsweise des banalen,
idiotischen Alltagsgeschehens. Von den Vorteilen, die den Kauf unbedingt
erforderlich machten, versuchte ich Joscha zu überzeugen, weil er das Super
Balloon Bubble Gum, das ich ihm in den Einkaufswagen gelegt hatte, zurücklegen
wollte. Über die dicke Fleischwurst, die ich ihm an der Kühltheke in den
Wagen legte, sprach ich gar nicht mehr mit ihm. Zwei Steaks orderte er an der
Fleischtheke. „Hey, zwei Steaks, die isst du doch alleine auf.“ monierte ich.
„Entschuldigung, „Vier Steaks, bitte.“ Ich wusste ja nicht, dass du zum Abendbrot
bleiben würdest.“ entschuldigte sich Joscha. „Papperlapapp, was redest
du? Wir gehen gemeinsam einkaufen, ich stehe neben dir, da könntest du doch
auch mal an mich denken.“ reagierte ich. Joscha suchte gar keine Argumente,
warum er ausgerechnet dies oder jenes heute nicht benötige, wozu ich ihm
dringend geraten hatte, er krümmte sich immer nur vor Lachen. „Nein!“ stöhnte
er auf, als er die Maggi-Tütensuppe an der Kasse auf's Band legen musste.
Die Kassiererin nahm sie ohne jeden Kommentar vom Band und legte sie zur
Seite, trotz meines intensiven Hinweises auf den hohen Flüssigkeitsbedarf des
Menschen, auch in Form von Suppen. Ganz offensichtlich eine sehr erfahrene
Frau, die sich im Umgang mit gemischtgeschlechtlichen, jüngeren, menschlichen
Zweierbanden auskannte. Ob wir im Shopping-Paradies die Diskussion
geführt hatten, die uns auch vorher schon im Unbewussten kitzelte, deren Verbalisierungen
aber in der Uni zu den unaussprechlichen Worten gehört hatte?
Seit dem Einkaufen war es endgültig evident, dass nicht nur Joschas oder Micas
geistreiche Argumente den anderen verzücken konnten.
Was willst du überhaupt von mir?
„Und zu Haus da packen wir es aus.
Sieht das nicht wie gelber Honig aus?
Sieht das nicht wie gelber Honig schier?
Und der Joscha nimmt es sanft aus dem Papier.
Mica – Obsession – Seite 7 von 37
Und die eine Hälfte ist für Mica,
Und die andere bekommt der Joscha.
Für beide soll die Hälfte sein
Von dem eingekauften Päckchen Sonnenschein.“
zitierte ich in Abwandlung ein Gedicht von Christian Morgenstern. Joscha freute
sich, zeigte einen breit lachenden Mund, und seine Augen sahen stark danach
aus, als ob er mich am liebsten umarmen, drücken und küssen würde. So hatte
ich ihn schon öfter blicken sehen. Warum tat er's denn nicht einfach? Nein,
nein es war schon besser so. Man konnte doch nicht einfach zwei Worte miteinander
wechseln, zusammen einkaufen gehen und sich um den Hals fallen und
küssen. Da war ein wenig Contenance schon angezeigter. Vielleicht hatte er ja
auch eine Freundin und durfte nicht einfach fremde Mädels küssen. Das wusste
ich ja alles nicht. Nichts wusste ich von ihm. Jetzt wusste ich, wo er wohnte,
und dass er gern Steaks aß. Aber sonst? Ich wusste nicht einmal, warum er
spanisch studierte. War er mit seinen Eltern immer an die Costa Brava gefahren?
Oder fuhr er selbst manchmal zum Ballerman 6? Bei anderen hätte ich
das für ein Verbrechen gehalten, aber so viel wusste ich von Joscha doch
schon, dass es für mich bei ihm nicht unerlaubt war. Über seinen Ausdruck,
seine Sprache, seine Mimik und Gestik verriet er so vieles von sich. Meine
Sprache hatte nicht die passenden Worte dafür, um es umfassend zu beschreiben.
Empfindungen, Bilder waren es in mir, die Joscha erzeugte. Alles Bunte,
Visionäre rief er in mir wach, es leuchtete klar und hell und machte es mir unmöglich
zu urteilen. Ich wollte nur immer mehr von ihm, wollte wissen, erfahren
und lauerte auf Erscheinungsformen, die möglichst exaltiert und krass waren.
Dass ein Student und eine Studentin sich kennenlernen, sich schon bei
den ersten Worten sympathisch und ganz nett finden, wäre ja nicht extrem außergewöhnlich
gewesen. Vielleicht hätte man dann gemeinsam einen Kaffee
getrunken, und sich eventuell sogar verabredet, es zu wiederholen. Man hätte
sich gegenseitig voneinander erzählt und es ganz nett gefunden. Wir hätten so
etwas spielen können und uns dabei totgelacht. Mit Joscha und mir, das war
fast vom ersten Moment an neben der Spur. „Joscha, was ist eigentlich mit dir
los? Nimmst eine fremde Frau aus dem Seminar mit zum Einkaufen, schleppst
mich mit zu dir nach Hause, was willst du überhaupt von mir?“ musste ich von
Joscha in Erfahrung bringen. Er stutzte, dann lachte er lange stumm, bevor er
etwas sagen konnte: „Ich weiß nicht, ich mag dich. Du bist so, na … so, so lebhaft.“
Ich platzte los und bekam mich nicht wieder ein. Joscha lachte auch. „Ja,
Mica, was soll ich denn sagen? Ich finde dich toll, prima, klasse oder so einen
Blödsinn? Auch wenn ich sage 'Ich mag dich.' oder 'Du gefällst mir.' ist das
schon banaler Nonsens. Wenn ich Mica sage, sehe ich alles, was du in mir bewegst,
dann kann ich es empfinden, aber Worte habe ich dafür nicht. Worte
benennen, verallgemeinern etwas, damit du es kommunizieren kannst, aber
sie sind nicht das selbst, was ich empfinde, wenn ich dich sehe, an dich denke
oder deinen Namen nenne.“ erläuterte Joscha.
Sofort in den Himmel
Joscha nutzte sehr stark seine Hände zur gestischen Unterstützung dessen,
Mica – Obsession – Seite 8 von 37
was er sagte. Er formulierte die Worte nicht nur mit seinen Lippen, sondern
auch mit seinen Händen und Fingern. Nein, Gehörlosensprache verstand er
nicht. Das Repertoire seiner Hände war auch viel umfangreicher, viel blumiger.
Alles konnte er seine Hände in den unterschiedlichsten Nuancen und Ausprägungen
sagen lassen. Ich müsste ihn verstehen können, wenn ich mir die Ohren
zuhielte, aber seine Hände und Worte gehörten zusammen. Das Schauspiel
seiner Hände allein glich einer Arie ohne Text. An Joschas kleinem Küchentisch
spielten seine Hände und Finger beim Sprechen das Gesagte neben mir auf der
Tischplatte. „Und dann haben sie den Laden zu gemacht, haben sich einfach
verschlossen, eine Mauer errichtet. Wie wollen sie denn die jemals wieder weg
bekommen?“ erzählte er, und seine rechte Hand symbolisierte auf der Handkante
stehend diese Mauer. „Da kommt der große Bagger, öffnet sein Maul und
schnapp ...“ weiter kam ich nicht, weil ich Joscha in die Hand biss. Vorsichtshalber
hatte ich sie an der Handwurzel und den Fingerspitzen festgehalten. Erschrocken
und erstaunt zog Joscha seine Hand lachend mit einem Ruck weg.
Ich hielt sie aber gut fest und ließ sie mir nicht entreißen. Er zog mich dadurch
zu sich rüber, verlor das Gleichgewicht und kippte mit dem Stuhl und mir um.
Jetzt lagen wir beide auf dem Küchenboden, Joscha auf dem Rücken, der Stuhl
auf seinen Beinen und ich schräg auf seiner Brust. Joscha wollte gar nicht wieder
aufhören zu lachen. „Joscha, weißt du, wenn jetzt ein Unheil geschehen
würde, wir beide vom Blitz getroffen wären oder bei einem Erdbeben unter den
Trümmern begraben lägen, wir kämen sofort in den Himmel.“ erklärte ich. „Du
auch? Bist du denn frei von jeder Schuld?“ erkundigte sich Joscha weiter lachend.
„Nein, kennst du denn nicht die Schrift, wo geschrieben steht: „ …,
denn ihrer ist das Himmelreich.“, gemeint sind die Kinder. Ich erinnere mich an
einige Situationen, als ich klein war. Da lebst du total direkt, bist voll du selbst.
Ich sehe es auch bei anderen Kindern, absolut klasse finde ich das, nur später
geht das nicht mehr. Du kannst es dir nicht wünschen oder vornehmen und
dann ist es so. Vorbei, du bist kein Kind mehr, aber jetzt mit uns? Erleben wir
es nicht so? Ist es da nicht genauso? Wir können reden wie erwachsene Romanistikstudenten,
aber empfinden und verhalten wir uns nicht wie Kinder?“ analysierte
ich unseren momentanen Daseinszustand. „Ist das sehr unbequem so
für dich?“ erkundigte ich mich nach Joschas Befinden.
Nackte, wirkliche Menschen
Wir standen auf. „Komm mit!“ sagte er und nahm mich an die Hand. Innerlich
musste ich immer lachen. Es war ja nichts besonders Erhebendes, ich nahm
wohl alles zehnfach verstärkt wahr. Dass Joscha mich an die Hand nahm und
irgendwohin führte, ein absolut irres Gefühl. Was ich alles sah. Er führt mich
ins Paradies. Nein, ins Schlafzimmer führte er mich. „Ich geh' aber nicht mit dir
ins Bett.“ fuhr ich entsetzt auf. Joscha lachte sich wieder tot, und erklärte, dass
es sich auf dem Bett bequemer unterhalten ließe als auf dem Fußboden in der
Küche. Ob er sich hier wohl mit seiner Freundin liebte? Bestimmt, aber das
wollte ich jetzt nicht denken. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht können sich
Menschen den Kindzustand im Unbewussten immer erhalten. Mir kommt es
eher so vor, dass wir uns als reine, wirkliche Menschen sehen wollen. Mit allen
Mica – Obsession – Seite 9 von 37
Geboten, Verhaltenserwartungen und Rollenanforderungen umhüllst du dich jedes
mal mit einem weiteren zusätzlichen Gewandt, steigerst deine Maske bis
du selbst nicht mehr zu erkennen bist, wir wollten uns selbst sehen, nur wir direkt,
wie wir wirklich, natürlich, nackt sind, so nahm ich schon unsere ersten
Blicke war. Ich sah in dir, das du es auch wolltest, konntest und Lust darauf
hattest.“ erklärte sich Joscha. „Und sieht man bei dem nackten, wirklichen
Menschen denn auch, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt?“ fragte
ich nach. „Ach, das ist doch völlig unerheblich.“ tat es Joscha ab. „Joscha,
mein Lieber, du willst mir doch nicht erklären, dass sich alles genauso entwickelt
hätte, wenn ich ein Mann gewesen wäre.“ widersprach ich. Hinter breiten
Lippen lachte er stumm. „Sag mal, begehrst du mich eigentlich?“ wollte ich es
genauer wissen. Jetzt lachte Joscha laut. „Mica, das ist so fern. Direkt habe ich
das noch nicht gedacht. Wir werden es sublimiert haben.“ Joscha dazu. „Ja,
kommunikativ haben wir permanent kopuliert, nicht war? Mit einem Höhepunkt
nach dem anderen.“ bestätigte ich ihn. Zu Beginn hatte ich im Schneidersitz
neben Joscha gesessen, jetzt lag ich wieder neben ihm und stützte mich auf
seine Brust. „Es ist tatsächlich so, du kannst Glück in sehr unterschiedlicher Intensität
verspüren, und einem anderen Menschen unmittelbar direkt ganz nah
zu sein, ist absolut das Höchste. Mica, ich kenne dich gar nicht, weiß überhaupt
nicht, wer du bist, und trotzdem ist unser Zusammensein für mich berauschend.
Es könnten meine Bilder, meine Wunschvorstellungen sein, aber ich
habe so etwas noch nie erlebt, ich konnte es nicht träumen oder mir vorstellen,
ich kannte es nicht. Absolut neu ist es, der Gipfel.“ erklärte sich Joscha. Ja
schon, mit Mutter hatten wir auch manchmal Momente, in denen wir beinahe
überschnappten vor Glück. Aber jetzt mit Joscha war es noch ganz anders. Ich
empfand die Situation mit uns beiden wie Leben im Urzustand. So war es bestimmt
auch an den ersten Tagen im Paradies gewesen. Die Menschen erkennen
sich gegenseitig und wissen, was sie sich einander als Mensch bedeuten,
sonst nichts. Heute morgen noch war ich zugemüllt unter einem Berg von gesellschaftlichem
Alltagsschrott unseres gewohnheitsgemäßen Lebens. Was ich
alles zu tun hatte, woran ich denken musste, wie mein Tag verlaufen würde.
Wie Schießbudentant empfinde ich es. Mit Joscha war ich frei, unbedrängt von
all dem, wer ich wie zu sein hatte. Nur es war eine andere Welt. Ich fühlte
mich göttlich. Ich war wach, absolute Vigilanz, aber trotzdem in Ekstase. Die
reinen, ursprünglichen Menschen an sich, das war natürlich ein Fantasma. Wo
und wie sollte es die denn geben, aber es war eine sonnige Vorstellung, die
meinem Empfinden nicht fern lag. Dass Menschen prinzipiell mehr sind als ihre
evolutionär bedingten Triebe, dass alle Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle haben,
die unabhängig von der kulturellen Sozialisation sind, das sah ich wohl
auch so.
Höchster Gipfel der Glücksgefühle
„Könnte das nicht eine Metapher für den höchsten Gipfel deiner Glücksgefühle
sein?“ schlug ich Joscha vor, wobei ich mit meinem Zeigefinger an seiner Nasenspitze
wackelte. Er machte nur einen ganz breiten, wonnevollen Lachmund.
„Den mühsamen Aufstieg konnten wir uns ersparen.“ wobei mein Finger über
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die Schräge seines Nasenrückens fuhr. „Auf den dunklen Wegen an den Augen
der blauen Seen haben wir sofort das Licht des Gipfels erkannt.“ kommentierte
ich, während meine Finger über Joschas Augenbrauen fuhren. „Bist du
Schwede? Nein, die Westfalen haben ja auch blaue Augen.“ kommentierte ich
die Farbe seiner Augen. „In Spanien ist das schon auffällig. Da sprechen dich
öfter Leute darauf an.“ Joscha dazu. „Bist du häufig in Spanien?“ wollte ich
wissen. „Ich habe sogar in Spanien angefangen zu studieren.“ antwortete
Joscha. „Und warum bist du zurückgekommen?“ erkundigte ich mich. „Der
Teufel von Salamanca hat uns verhext. Nein, nicht jetzt.“ unterbrach er sich.
„Liebesprobleme?“ hakte ich trotzdem nach, aber Joscha wollte nichts
erzählen. „Das ist schon eine alte Geschichte. Mit Cervantes hat es
angefangen, und dann war es fast für mein gesamtes weiteres Leben
verantwortlich. Heute ja auch noch, wie hätte ich dich sonst treffen können?“
Joscha darauf lächelnd und wieder mit diesem Blick, der verriet, das seine
Lippen sich nach meinen sehnten. „Und du, was hast du für Beziehungen zu
Spanien?“ erkundigte sich Joscha. „Gar keine.“ lautete meine knappe Antwort.
„ARRIBA los que LUCHAN!“ „Vorwärts ihr Kämpfenden!“, über Lateinamerika,
politisch bin ich zum Spanischen gekommen. Eine Freiheitskämpferin bin ich
heute immer noch, auch hier. Das hast du bestimmt erkannt, dass ich frei sein
will, frei von allem Oberflächenfetischismus.“ erklärte ich lachend, während
mein Mittelfinger dabei über Joschas Stirn wanderte. Über die Wangenknochen
gelangte er zu den Wangen. „Wir haben die umgrenzenden Hügelketten der
pannonischen Tiefebene verlassen und gelangen jetzt in die weite Ebene der
patagonischen Pampa. Das Gras ist heute kahl geschnitten, gut rasiert, nicht
war?“ kommentierte ich die Reise meiner Fingerkuppe und fuhr fort: „Am
Rande der Pampas erheben sich die Anden, da sitzen die beiden Dioskuren und
bewachen den gräulichen Höllenschlund, in den der Joscha Steaks in kleinen
Häppchen wirft, um sie in seinem tiefsten Innersten zersetzen zu lassen.
Castor sitzt oben, der hat den besseren Überblick und Pollux achtet mehr auf
die lukullischen Finessen.“ erläuterte ich während mein Finger über Joschas
Lippen strich. Der tat gar nichts. Lag nur wonnestrahlend da und lauschte, als
ob die Mami ihm eine süße Gutenachtgeschichte erzählte. „Was meinst du, ob
sich unser beider Dioskuren auch wohl so nahe kämen wie wir, wenn sie sich
treffen könnten?“ wollte ich von Joscha wissen, aber der lachte nur stumm und
öffnete seine Lippen. Es ist was es ist, nur bei Joscha war nichts so wie es war.
Da war alles immer etwas ungemein Spezielles. Ich touchierte nicht einfach
sanft die Lippen eines Jungen, es waren Joschas Lippen, die ich berührte. Ich
habe noch keinen Engel geküsst, vielleicht wird das ein ähnliches Gefühl sein.
Dabei waren Joschas Lippen stinknormal, nur in meinem Kopf ließ ich alles zu
kleinen Wundern avancieren. Warum? Ich wollte nichts, nahm mir nichts vor,
hätte mir so etwas gar nicht ausdenken können. Ich war bekloppt, aber es
fühlte sich ungemein gut an. Noch nie hatten unsere Lippen und Zungen die
eines anderen gespürt. So musste es wohl sein. Vorsichtig und sanft
erkundeten wir uns gegenseitig, und ein Lächeln umspielte unsere Augen.
Plötzlich verschwand das Lächeln und die Berührungen hatten alles Zögerliche
verloren. Wir saugten uns aneinander fest. Außen hatte Joscha seine Kleider
und war auch in seiner Haut gefangen, jetzt erkundete meine Zunge ihn von
innen. Wo Gaumen und Zunge sind, konnte auch sein Herz nicht fern sein. Was
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wir bislang mit Worten ausgetauscht hatten, saugte ich jetzt körperlich auf. Ich
spürte überall in meinem Körper, wie es mich füllte, und auch dass Joscha ein
Mann war, spürte ich jetzt zum ersten mal. Bestimmt hatte mein Unbewusstes
auch schon vorher damit agiert, aber jetzt nahm ich es deutlich war. Vom
Küssen erschöpft lagen wir nebeneinander auf dem Rücken. Joscha beugte sich
über mich, lächelte zwar dabei, aber seine Mimik fragte und erwartete wohl
Erklärungen von mir. Wozu denn? So war es eben, wenn zwei wirkliche, reine
Menschen sich küssten. „Jetzt weiß ich auch innen alles von dir. Ich habe von
allem in dir eine Kopie abgesaugt.“ ließ ich Joscha wissen. Er machte ganz
breite Lippen, als ob er losplatzen wolle, umfing mich aber und wälzte sich mit
mir. „Mica, Mica, Mica, oh, Mica!“ rief er dabei und gab mir wie zum Abschluss
noch einen Kuss auf die Lippen. Jetzt konnte ich Joschas Gesicht auch mit
Lippen und Zunge erkunden. Ich sollte immer die Landschaften benennen, in
denen ich mich gerade befand. „Jetzt bewegen wir uns über die südlichsten
Kämme der Kordilleren.“ kommentierte ich meine über seinen Hals gleitenden
Lippen. „Wir wollen auf's Meer, wollen Kap Hoorn umsegeln und in die Weiten
des Pazifiks, aber die kalbenden Gletscher versperren uns den Weg. Wir
werden das Eis brechen und uns einen Pfad eröffnen.“ erklärte ich, während
ich Joscha das Oberhemd aufknöpfte. „Ich wollte aber nicht dein T-Shirt
küssen.“ stellte ich entrüstet fest. Joscha richtete sich auf und zog sich aus.
Bevor er sich wieder hinlegte, um sich weiter verwöhnen zu lassen, legte er
seine Wange an meine. Er musste absolut selig sein. Viel weniger selig war ich
bestimmt nicht, sagte aber: „Oh, ein kräftiger, herber Männerodeur, wie mich
das antörnt.“ „Was? Wieso? Nein!“ reagierte Joscha erschreckt. „Keine Angst,
mein Liebster, süß-liebliches Duschgel verkündet dein Duft und ein kleines
Fitzelchen riechst du auch nach Joscha. Das riecht noch besser als Duschgel.“
beruhigte ich ihn. Dazu mussten wir uns umarmen, blieben so, und meine
Hände strichen über die Haut von Joschas Rücken. Kleine Mädchen hätten sich
vielleicht nicht für den Rücken eines Mannes interessiert, aber Kinder waren
wir trotzdem. Meine haptischen Rezeptoren konnten nicht erkennen, dass es
Joschas Haut war, über die sanft meine Finger glitten. Mein Kopf spielte
verrückt. Er wandelte die taktilen Informationen in Erlebnisse um, die er
meinen ganzen Körper spüren ließ.
Beide gedopt
„Joscha, die Steaks, hattest du die nicht für heute gekauft? Oder wolltest du
sie noch ein paar Tage abhängen lassen, damit sie den richtigen Hautgout bekommen?“
wollte ich wissen. „Willst du jetzt etwa Steaks braten?“ Joscha verwundert.
„Du hast schon Recht, Joscha. Wir meinen uns in deiner Wohnung zu
befinden, aber in Wirklichkeit findet unser augenblickliches Leben anderswo
statt. Nicht in einem anderen Land oder auf einer Insel, wir bewegen uns auf
einem anderen Planeten. Aliens oder etwa Zombies gibt es hier nicht und auch
nicht diese durch ihre Rollenanforderungen verunstalteten Monster, die ihr
technologisiertes Alltagsleben dem Oberflächenfetischismus geweiht haben.
Nur die reinen, natürlichen, nicht verunstalten, wirklichen Menschen leben hier.
Du denkst, vieles aus deinem gewohnten Erdenleben zu kennen, aber nein, die
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Benennungen mögen identisch klingen, aber alle Begriffe haben hier einen
anderen, einen neuen Gehalt. Wie zum ersten mal erlebt, erfahren wir alles,
aber trotzdem sind wir Menschen wie die in der Alltagswelt. Unsere Physiologie
ist nicht neu und verändert, sie fordert auch auf dem neuen Planeten Speise
und Trank zu unserer Ernährung.“ erläuterte ich Joscha die Grundlagen für ein
Bedürfnis nach den Steaks. Große Augen starrten mich an. Ob er nicht
verstanden hatte? „Du meinst, Lust und Liebe würden würden reinen,
wirklichen Menschen das Überleben garantieren. Wunschvorstellungen. Auch
der absolut pure Mensch darf die Faktizität der Notwendigkeit des banalen
Umsatzes von Lebensmitteln nicht leugnen.“ fügte ich als
ernährungsphysiologischen Kommentar hinzu. Seit wir auf dem Küchenboden
lagen hatten wir keine Worte für eine gehaltvolle Unterhaltung mehr gefunden,
hatten uns nur noch mit uns selbst beschäftigt. Ob es sich wieder ändern
würde, wenn wir jetzt in die kleine Küche zurück gingen? Ob das Bett nicht nur
als Grundlage für unsere Körper gedient, sondern auch die Basis unserer
Diskussionsinhalte dominiert hatte. Die Chancen standen nicht gut, dass wir
jetzt wieder über neuere spanische Literatur oder Poder Popular reden würden.
Ich vermutete stark, dass auch in der Küche unsere Themen eher im Bereich
von 'el poder del amor y la alegria' (Macht der Liebe und Freude) liegen
würden. Obwohl, das Wort 'Liebe' hatte bislang keiner von uns beiden
verwendet. Es hätte nicht nur sonderbar geklungen, sondern wäre auch
unpassend gewesen. Meiner Mutter und meiner Omi hatte ich besonders als
Kind häufig erklärt, wie lieb ich sie habe. Das gefiel mir nicht nur selbst,
sondern brachte auch in der Regel positive Konsequenzen mit sich. Na ja, und
deinem Freund, mit dem du zusammen ins Bett gehst, sagst du es schließlich
auch. Aber meinen Vater und Eva, meine Freundin, liebte ich gewiss, nur
gesagt: „Ich liebe dich.“ hatte noch keinem von den beiden. Wenn ich gesagt
hätte: „Joscha, ich liebe dich.“, wäre das ein Anlass zum Lachen für uns beide
gewesen. Liebe ist ein Allerweltswort und für die verschiedensten Anlässe
verwertbar. Was Joscha und mich verband, und was wir voneinander wollten,
wussten wir ja selbst nicht genau, aber es 'Liebe' zu benennen, wäre uns als
absolut unspezifisch und auch wie trivialer Schmus vorgekommen. Wir waren
offensichtlich beide gedopt, hätten gar nicht anders gekonnt, und da bist du
auch zu Aktivitäten und Verhaltensweisen in der Lage, für die es im
gewöhnlichen Alltag gar keine Benennung gibt.
In Drachenblut gebadet
Die Rosmarinkartöffelchen zu den Steaks hatte ich zu braten. Zwischendurch
musste ich immer mal wieder die Haut meiner Wange die von Joschas Rücken
erfahren lassen, oder ich drückte ihn hinter ihm stehend an mich, wobei ich
meinen Kopf auf seine Schulter legte. Auch beim Essen musste ich öfter das
Messer weglegen, und meine Hand über Joschas Rücken gleiten lassen. „Es
schützt dich Joscha. Meine Hand überzieht deinen Rücken mit einem unsichtbaren
Schutzfilm. Er wird dadurch unverletzbar und unangreifbar gegen alles Unbill
dieser Welt. Als ob du in Drachenblut gebadet hättest, so schützt es dich
gegen die eisigen Winde, die aus den Nordlanden zu uns herüber kommen und
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auch gegen die beißenden Injurien deiner zänkischen Mitmenschen. „Nein,
Joscha, dein Vorverdautes will ich nicht und ebenso nichts von deinem bloody
Steak. Du kannst mich mit einem Kartöffelchen füttern, wenn dich danach
gelüstet, und ich könnte ein Gleiches für dich tun.“ stellte ich klar, als Joscha
mich mit vollem Mund küssen wollte. Diese gegenseitigen Fütterungsspiele
hielt ich für abgeschmackte Verliebtheitsritualien die wirklicher Menschen
unwürdig waren. Wir unterhielten uns noch über die Natürlichkeit von Braten
und Kochen. „Nur weil alle Tiere ihre Nahrung so zu sich nehmen, wie sie in
der Natur vorkommt, kannst du doch nicht alles andere als widernatürlich
ablehnen. Du hättest ja deine Steaks auch ganz roh essen können. Alle
kulturellen Errungenschaften der Menschen, willst du doch wohl nicht
verurteilen, weil sie so in der Natur nicht vorkommen. Alle wundervollen Dinge,
die der höheren Befriedigung unserer Sinne dienen, sind doch von Menschen
geschaffene Werke, die es so in der Natur nicht gibt. Das hättest du doch
schon als Jugendlicher bei Cervantes merken müssen.“ stellte ich klar. Joscha
sinnierte: „Du meinst also, Kochen, Braten und Backen widerspreche nicht der
Lebensweise eines natürlichen, wirklichen Menschen, sondern sei eher als hohe
Kunst anzusehen, durch die es den Menschen gelungen sei, die allen eigenen
Bedürfnisse nach gustatorischen Genüssen immer mehr und dezidierter
befriedigen zu können?“ Das Kochen nicht nur gustatorische Bedürfnisse
sondern auch kommunikative Lust befriedigen kann, was ich von den
Erfahrungen mit meiner Mutter deutlich wusste, habe ich Joscha nicht erzählt.
Wie Schlangen sich lieben
Was wir nach dem Essen machen wollten, bedurfte keiner Frage. Natürlich wieder
ins Bett, was sonst. Zurück im Schlafzimmer meinte Joscha: „Willst du
nicht auch was ausziehen?“ „Ich, was denn?“ meine Reaktion. Joscha zeigte
durch Mimik und angehobene Schultern, dass er darauf auch keine Antwort
wisse. Einen Moment später fiel sie ihm aber ein. „Alles.“ sagte er nur. Ich
lachte auf: „Ich, jetzt, hier, alles ausziehen?“ „Wäre am besten.“ wusste Joscha
als Begründung. Was ich in Windeseile alles für kuriose Gedanken durchspielen
musste? „Na, gut,“ sagte ich, „dann musst du deine Hosen aber auch ausziehen.“
Von Verlegenheit war in unserem Lächeln nichts zu erkennen, eher amüsiert
über den weiteren Schritt in unserem Streich schienen wir zu sein, als wir
uns nackt vorm Bett stehend umarmten. Das Adam Eva geliebt hat, davon
steht in der Bibel auch nichts, nur gut sollte sie für ihn sein, und das waren wir
beide uns allemal. Gut für das tiefste Bedürfnis, uns gegenseitig so nahe wie
menschenmöglich zu sein. Wie auf einem Schieberegler könne man bei Menschen
Distanz und Nähe festlegen, hatte Joscha gemeint, zwischen null, völliger
Distanz, und hundert, absoluter Nähe, sodass man fast verschmelze. „Und
du hast den Regler bei uns auf Hundert gestellt, nicht wahr?“ hatte ich vermutet.
„Das kannst du doch nicht selbst einstellen.“ hatte Joscha erklärt, „Du
könntest es schon leicht verändern, aber die meisten Menschen kommunizieren,
als ob ihnen nichts wichtiger wäre, wie die bestehende Distanz aufrecht zu
erhalten, obwohl sie doch wissen müssten, wie schön und wertvoll es für sie
wäre, einem anderen Menschen näher zu kommen.“ „Na, die Angst wird ihr
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Verhalten dominieren.“ hatte ich vermutet. „Angst, wovor?“ hatte Joscha
wissen wollen. „Joscha, das ist ein Grundbedürfnis der Arterhaltung, sich vor
bedrohlichen Gefahren zu schützen, nicht nur vor Unwetter, wilden Tieren und
so etwas, sondern auch vor anderen Menschen, solange man nicht weiß,
welche Gefahr sie für einen selbst in sich bergen.“ hatte ich ihn belehrt. Wir
waren übereingekommen, dass wir bei unseren ersten Blicken auch dies schon
sicher erkannt haben mussten, dass für Joscha von mir und für mich von
Joscha keinerlei Gefahr ausgehen könne. Mittlerweile war ich mir da allerdings
nicht mehr ganz so sicher. Was das alles zu bedeuten hatte, und was daraus
werden sollte, was ich heute nachmittag begonnen hatte, solche Fragen wollte
ich bei mir nicht zulassen. Gewiss, weil ich sicher war, darauf sowieso keine
Antwort zu wissen, vor allem aber, weil es entsetzlich gestört hätte, sich jetzt
mit derlei Gedanken zu beschäftigen. Wir lagen auf dem Bett und hielten uns
aneinandergepresst eng umschlungen. Zunächst andächtig, dann lächelten wir
uns an und küssten uns. „Joscha, wenn wir lange genug so liegen bleiben,
bekomme ich bestimmt einen Orgasmus.“ teilte ich Joscha mit. Der lachte
schmunzelnd, und ich meinte: „Hast du schon mal gesehen, wie Schlangen
sich lieben? Wundervoll finde ich das, wie sie sich stundenlang umschlingen.
Das sollte man als Symbol für die Liebe nehmen, sich umschlingende
Schlangen und nicht dieses kitschige Herzchen. Schade, dass wir Menschen so
etwas nicht können.“ „Wieso nicht? Wir haben doch vier Beine und vier Arme,
reicht das nicht zum Umschlingen?“ war Joschas Ansicht. Im Grunde war es
Balgen und ich lachte mich anfangs tot, aber dann wurde es ernster, war kein
Spiel mehr. Es sagte: „Ich will dich, will alles von dir, und deinen Körper will ich
ganz und überall.“ Meine Vulva rieb auf Joschas Oberschenkel, ich führte seine
Hand dort hin, und es dauerte nicht mehr lange. Natürlich war es Ficken, aber
du kannst auch alle die bekannten Synonyme befragen, keines beschrieb das,
was wir erlebten. Neu eben, auf dem Planeten der wirklichen Menschen, und
das vermittelt keine der trivialen Alltagsbezeichnungen. Vielleicht empfinden ja
Schlangen genauso, aber das kannst du leider als Mensch nicht wissen. Eine
Vorstufe im Prozess des miteinander Verschmelzens wird es gewesen sein. Von
außen betrachtet vielleicht alles ganz banale Vorgänge, was sich seit heute
Nachmittag zwischen uns ereignet hatte, aber unsere Köpfe hatten daraus
dieses Leben in einer extraterrestrischen Wunderwelt werden lassen, und wir
waren süchtig danach, es zu genießen. Wonneschmusend sagten wir uns in
kleinen Sätzen mit wenigen Worten liebkosende Zärtlichkeiten, aber mich
verlangte es auch, Grundsätzliches zu klären. „Joscha, mir gefallen deine
Vorstellungen, die wirklichen menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle
zu erkennen und sein Leben ihnen entsprechend zu gestalten sehr gut, und ich
möchte es ebenso leben. Nur die Beziehung zu einem Joscha, kommt bei mir
darin direkt überhaupt nicht vor. Dass ich dich mag, extrem gut leiden mag,
fast obsessiv besessen bin, das habe ich mir irgendwo und irgendwann in
meinem Leben angeeignet. Du musst einem Wunschbild, einer
Idealvorstellung, einer Vision von Mann entsprechen, die mir nicht angeboren,
sondern sich irgendwann irgendwo durch in meinem Unbewussten verfestigt
hat, und von der ich selbst nichts wusste. Bei dir kann es auch nicht anders
sein. Was du für eine Frau hältst, und was du für sie empfindest, entstammt
unseren derzeitigen gesellschaftlichen Vorstellungen. Vor hundert Jahren
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hättest du mich wegen meiner Kleidung allein schon vielleicht für eine Nutte
oder Suffragette gehalten und jeden Kontakt mit mir gemieden, auch wenn ich
ein noch so wirklicher Mensch gewesen wäre.“ kommentierte ich unsere
Beziehung. Joscha dachte nach. „Wird schon so sein, wie du es gesagt hast,
dass da auch etwas anderes ist, womit du mich gefangen nimmst. Vielleicht
wollte ich es nicht wahrhaben, weil ich es nicht kannte, aber dass ich dich
einfach so als Mann für eine attraktive und begehrenswerte Frau gehalten und
deshalb den Kontakt zu dir gesucht hätte, so war es mit Sicherheit nicht. Ich
denke eher, dass du für mich ein Glücksversprechen in dir trägst, das mir Lust
macht und mich drängt. Es macht mich glücklich, einfach nur mit dir
zusammen zu sein, alles mit dir macht mich glücklich, deine Nähe und wie ich
dich erlebe sind beglückend und keinesfalls nur wenn wir gemeinsam Sex
haben.“ lautete Joschas Ansicht dazu. Joscha verehrte mich nicht, er wollte mit
mir aktiv sein, mit mir leben, sich mit mir austauschen, aber irgendwann in der
Nacht meinte der Schlaf, dass es für heute reiche. Er schloss uns die Augen
und den Mund und übergab unser Bewusstsein den Traumwelten.
Königssohn und seine Cinderella?
„Du kommst doch heute wieder?“ suchte Joscha am Morgen nur die Bestätigung
einer Selbstverständlichkeit. Ich musste mich beeilen. Auf Mutters fragende
Augen konnte ich nur antworten: „Ich weiß auch nichts, verstehe das alles
selbst nicht. Joscha heißt er. Übrigens, heute Nachmittag werde ich wieder
zu ihm fahren.“ „Willst du ihn nicht mitbringen?“ fragte Mutter noch. Nein, das
wollte ich auf keinen Fall. Joschas Appartement war unser Kokon, die Brutzelle
unserer Idiotie. Ich wälzte und wälzte es ständig. Schon auf der Fahrt nach
Hause hatte ich überlegt, ob es nicht vielleicht das beste wäre, heute nicht
wieder zu Joscha zu fahren. Ein einmaliges, extraordinäres Erlebnis für einen
Nachmittag und eine Nacht, es so stehen lassen als wundervolle Erinnerung.
Ich musste über mich selbst lächeln, nette Gedanken, nur ich war mir auch
schon sicher, dass ich so etwas heute Nachmittag nicht bringen würde. Ich
wollte es verstehen, aber wie ich es auch zu betrachten versuchte, es blieb
konfus. Jeder, der mir ein derartiges Verhalten prophezeit hätte, wäre ausgelacht
worden. Immer hatte ich mich in der Gewalt, immer unter Kontrolle, jetzt
musste ich mir allerdings eingestehen, dass es offensichtlich nicht so war. Besessen
von Joscha und unserem Zusammensein war ich. Welche Himmelreiche
erlebte ich da nur? Ich kannte sie nicht, durfte sie nur empfinden. Den ganzen
Tag über konnte ich mich nicht konzentrieren, auch wenn ich es mir fest vornahm,
waren über kurz oder lang meine Gedanken wieder bei diesem Phänomen.
Litt ich vielleicht psychisch unter irgendeinem Mangelzustand, den Joscha
auszugleichen und zu beheben versprach? Aber was sollte das denn sein. Mich
peinigten keine unerfüllten Sehnsüchte und auch kein Leidensdruck einer unbefriedigten
Wunschvorstellung. Spielte es sich in Traumwelten, die als kleines
Kind durch Märchen in mir erzeugt worden waren, ab? Nur Männer kamen da
doch gar nicht vor, alles Feen, Elfen und dergleichen weibliche Wesen. Nein, da
gab es doch die schönen, edlen, jungen Prinzen und Königssöhne. Aber Joscha
mein Königssohn und ich seine Cinderella? Das passte wohl auch nicht so gut.
Mica – Obsession – Seite 16 von 37
Ich kam zu keinem Ergebnis, konnte mir keinen Reim auf das sonderbare
Geschehen machen, wusste nur, dass ich heute Nachmittag unbedingt wieder
zu Joscha musste.
Eine fixe Idee, aber warum nur. Es geschah ja nichts. Wir redeten keineswegs
nur Lovetalk, im Gegenteil. Wir unterhielten uns über Erfahrungen des Tages
von der Uni, erweiterten es, oder erforschten gegenseitig unser Leben.
Ansonsten verbrachten wir die Zeit mit Dingen, die eine Hausfrau eben zu erledigen
hat. Allerdings hatte alles besondere Wesensmerkmale, die wir sonst
nicht zu erleben meinten. Joschas Erzählungen aus seiner Biographie, erschienen
mir wie die spannendsten Geschichten, die ich je gehört hatte. Vielleicht
lag es nur daran, wie ich zuhörte, mich in Joschas Darstellungen hineinleben
wollte, zuhörend absolut involviert war. Vom Müllcontainer zurückzukommen
und mit strahlendem Lächeln und Umarmung begrüßt zu werden, warst du ja
aus deinem sonstigen Alltag auch nicht gewohnt. Es wirkt ungemein beglückend,
ständig mit jemandem zusammen zu sein, der die Einzigartigkeit
deiner Existenz anerkennt, begrüßt und liebt und es dich immer wieder spüren
lässt. Es macht dich zu einem anderen Menschen, zu einer Frau, die du draußen
nicht sein kannst. So wie als Kind der Abend im Bett nur erträglich war,
wenn ich meinen Teddy im Arm halten konnte, schien plötzlich glückliches Leben
nur noch im Beisein von Joscha möglich.
Irritationen
Meine Wochenenden gehörten Nicco, meinem Freund. Nur jetzt, etwas mit Nicco
zu unternehmen, das Gewohnte leben, und auch mit ihm ins Bett gehen,
während mein Kopf und ich auch sonst voll mit Joscha waren? Ich war krank.
Außerdem musste ich auch arbeiten. Der Montag würde dafür nicht ausreichen.
Auch wenn unsere Gespräche nicht gehaltlos waren und sich in vielem auf unser
gemeinsames Studiengebiet bezogen, wurden ja davon keine Referate fertig
oder andere Aufgaben erledigt. Eine ganze Woche hatte ich für's Studium
nichts getan. Sascha und ich konnten über alles reden, irgendwelche Tabus waren
nicht denkbar, nur darüber zu sprechen, was und wie es denn mit uns werden
solle, schien unsere Lippen zu verbrennen. Der wirkliche Mensch lebt im
Hier und Jetzt, was morgen ist, wird er dann sehen. Vorschriften, Absprachen,
Regulierungen für die Zukunft sind ihm wesensfremd. Absoluter Stuss und zudem
völlig widersprüchlich, nur ich brachte es auch nicht über die Zunge, von
Zukunft zu sprechen. Am zweiten Wochenende ging ich mit Nicco in die Oper
und bekam anschließend entsetzliche Kopfschmerzen, anstatt mit ihm ins Bett
zu gehen. Ich wurde mir immer unsicherer. Im Studium kam ich schon in arge
Bedrängnis, auf Dauer ließ sich das so nicht aufrecht erhalten. Aber was tun?
Sich nur abends treffen und dann miteinander ins Bett gehen. Nein, das wäre
etwas anderes gewesen. Unser Glück bestand darin, dass wir miteinander lebten,
und in dieser Zeit gehörten wir uns vollständig gegenseitig. Wenn ich bei
Joscha war, schenkte er mir alles von sich, seine Aufmerksamkeit, seine Anerkennung,
seine Beachtung, seine Zuneigung, und das intensiv und mit seiner
ganzen Person. Ich hatte Lust und suchte, womit ich ihn von mir glücklich ma-
Mica – Obsession – Seite 17 von 37
chen konnte. Süchtig war ich danach, aber es war nicht mit dem, wie ich als
Studentin zu leben hatte, in Einklang zu bringen. Dieses Semester würde ich
verlieren, und wodurch sollte es beim nächsten anders sein. Ich konnte es mir
zwar nicht vorstellen, was sollte irgendwann und wodurch meine Gier nach
dem Austausch mit Joscha verringern oder beeinträchtigen? Nur war ja von
normalem Verliebtheitsrausch bekannt, dass er irgendwann abebbt. Zwischen
Joscha und mir war es gewiss nicht weniger ekstatisch, aber wir bewunderten
nicht einer den anderen, sondern waren fasziniert von dem Wunderwerk
Mensch, das wir im anderen sehen und erkennen wollten und konnten, und das
wir Lust hatten, in möglichst reiner Form zu leben. Das taten wir an drei Tagen
in der Woche. Es in Harmonie mit den gleichzeitigen Erfordernissen einer Studentin
im gewohnten Alltagstrott zu bringen, sah ich keinen Weg.
Vertreibung aus dem Paradies
Am dritten Wochenende musste ich angeblich ungeheuer viel lernen, zu viel,
um mich mit Nicco treffen zu können. Das hätte ich eigentlich auch gemusst,
aber ich fuhr am Freitag nach der Uni direkt zu Joscha. Dass es so nicht ginge
und immer so weiterlaufen könne, hatte ich am Mittwoch und Donnerstag
schon mal erklärt, aber es war ein unangenehmes Thema und wurde bald
durch etwas anderes verdrängt. Jetzt trafen wir uns gezielt, um Klärung in dieser
Frage zu schaffen. Wir, darüber reden, wie es mit uns weiterlaufen solle,
wie es möglich sein könne, unsere Alltagserfordernisse mit unserem gemeinsamen
Leben zu verbinden, das konnten wir gar nicht. Nur beieinander und miteinander
glücklich sein, das konnten wir. Kinder eben. Wie wir Dienstags, Mittwochs
und Donnerstags lebten, war in den Alltag der beiden Studenten nicht
integrierbar, es passte nicht zueinander. Joscha ging es nicht besser als mir. Er
hatte zwar am Wochenende keine Freundin zu versorgen, dafür aber seine
sonstigen sozialen Kontakte auf Samstag und Sonntag verschoben. Im Studium
ging es ihm auch nicht besser als mir, er hatte ja schon auf den freien Montag
gedrängt. „Es sind zwei verschiedene Leben, Joscha. Das eine lehnt das
andere ab und ist gegen es gerichtet. Wir wollen unser Leben an den wirklichen
menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen ausrichten, das lässt der technologisierte
Alltag aber nicht zu. Da hast du zu funktionieren und dich an den
vorgegebenen Rollenerwartungen zu orientieren, hast den Menschen zu spielen,
den man von dir erwartet, die wirklichen menschlichen Bedürfnisse und
Gefühle interessieren da niemanden, sondern stören nur. Die ersten, die das so
nicht wollen, sind wir bestimmt nicht.“ erklärte ich. „Und kennst du andere?
Wie sind die damit umgegangen?“ wollte Joscha wissen. „Na klar, und du weißt
es auch. Entweder oder, haben sie gesagt. Beides gemeinsam verträgt sich
nicht. Entweder dieses Leben, das wir so nicht wollen, oder raus. Alles Bestehende
aufgeben und hinter sich lassen und nur das andere, das frei Leben gestalten.
Aussteiger sagen die Leute zu denen.“ antwortete ich ihm. „Du meinst,
es gibt nur die Alternative, so wie sonst zu leben, bevor wir uns kennengelernt
haben, oder ganz raus. Das Studium aufgeben und in die Toskana gehen. Und
was machen wir dann da? Schmuck verkaufen? Ich kann sonst nix.“ scherzte
Joscha. Geglaubt haben wir es noch nicht, denn wir suchten immer noch nach
Mica – Obsession – Seite 18 von 37
anderen Lösungsmöglichkeiten. „Ich kann nicht mehr so leben wie bisher. Ich
bin durch uns ein anderer geworden. Unsere Zeit wie eine nette Episode
abhaken, lächerlich. Der Teufel von Salamanca scheint mich wirklich verhext zu
haben.“ meinte Joscha. Er sollte es erläutern. In groben Zügen wusste ich ja,
dass er sich mit seiner Freundin gestritten hatte und deshalb zurückgekommen
war. „Ich liebe Carilla (so hieß die Freundin) immer noch. Was sollte meine
Liebe zerstören. Wir haben uns nie gesagt, dass wir uns nicht mehr lieben
würden. Es waren nur diese dämlichen, unterschiedlichen, moralischen
Ansichten, bei denen es keine Klärung gab, die aber immer wieder Thema
waren. Ich sah mich ausweglos genervt und konnte keine Änderung erkennen.
Hab's einfach nicht mehr ertragen, bin geflüchtet, obwohl wir uns liebten.“
erläuterte Joscha. „Und jetzt hast du in mir Ersatz für Carilla gefunden?“
erkundigte ich mich allerdings nicht ganz ernst. „Nein, Quatsch, überhaupt
nicht, das warst du niemals. Sonst hätten wir diese Beziehung nicht haben
können. Ich habe Carilla nicht nur geliebt, sie scheint das Prinzip, was Liebe zu
einer Frau ist, in mir festgelegt zu haben. Durch Carilla habe ich Liebe
kennengelernt, und jetzt taucht unser Verhältnis immer auf, wenn es um
Beziehungen zu einer Frau geht, meine Freundin könnte nur Carilla Nummer
zwei sein. Bei dir habe ich überhaupt nicht an Freundin oder Frau gedacht, wir
haben in uns vorrangig etwas anderes gesehen. Ich hätte mit dir nie so reden
können, wie mit Carilla. Etwas beurteilen, und den anderen von der Richtigkeit
seiner Meinung im Streit zu überzeugen versuchen, das wäre zwischen uns
undenkbar.“ meinte Joscha. „In der Tat, automatisch ging so etwas nicht. Das
ist mir schon damals sofort in der Uni aufgefallen. Meine Mutter sagte, wenn
eine Frau mit ihrem Kind schimpfte: „Das Kind wird schon seine berechtigten
Gründe haben, nur die Mutter kennt sie nicht, versteht sie nicht und versucht
auch gar nicht sie zu erfahren und zu verstehen.“ So ist es fast permanent,
unsere Meinung besteht zum größten Teil aus Urteilen, die unhinterfragt
festgelegt wurden, aus Vorurteilen. Wir haben uns fast vom ersten Moment an
akzeptiert und anerkannt, und dann kannst du nicht mehr urteilen, dann willst
du nur noch verstehen.“ lautete meine Meinung dazu. „Zur Liebe passt so
etwas doch eigentlich auch nicht. Vielleicht hatte unsere Liebe doch
strukturelle Mängel, Liebe, wie man sich Liebe so gemeinhin vorstellt, was man
von Liebe so weiß. So wie dich habe ich Carilla nie gesehen, zu klein zu dumm,
zu unerfahren, aber ich glaube eher, es liegt daran, dass so etwas nur mit Mica
möglich ist.“ Joscha dazu. Was unsere Einschätzung konkret zu bedeuten
haben würde, welche realen Konsequenzen sich daraus ergäben, das mochten
wir gar nicht besprechen. Es herrschte eine Atmosphäre, als ob alles immer so
bleiben würde. „Joscha, wir haben uns getroffen, weil wir eine Klärung
herbeiführen wollten. Ich denke, vieles haben wir schon geklärt, nur wir
werden auch eine Entscheidung treffen müssen.“ forderte ich. „Was willst du
sagen? Wir müssen uns entscheiden, ob wir demnächst in den Picos in Asturien
Ziegenkäse produzieren wollen, oder so leben, wie wir es getan haben, bevor
wir uns kannten? Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ Joscha leicht
entsetzt. „Joscha, wir haben lange nach einer Alternative gesucht. Uns ist
nichts eingefallen, mir nicht und dir auch nicht. Nenne einen anderen Weg,
durch nichts würdest du mich glücklicher machen.“ beurteilte ich die Lage.
Wieder durchleuchteten wir alle Möglichkeiten, obwohl wir es doch schon
Mica – Obsession – Seite 19 von 37
mehrfach getan hatten. „Mica, hast du mal versucht, dir vorzustellen, wie es
für dich sein würde, wenn wir nichts mehr miteinander zu tun hätten? Ich kann
das nicht ertragen, es wird mich verrückt machen.“ erklärte Joscha. „Aber was
willst du denn tun? Sollen wir einfach irgendwo hin flüchten wie Elvira Madigan
mit ihrem Leutnant. Den Tod hat es ihnen gebracht, kein glückliches, freies
Leben in Liebe. Das Leben hier, unser kapitalistischer Alltag, gefällt mir nicht,
aber wenn mein Leben daraus bestehen sollte, dass ich Ziegen hüte und
melke, brächte mich das um. Das weiß ich auch heute schon mit Sicherheit.“
lautete meine Einschätzung zum Aussteigen. Joscha weinte. „Ich sollte wieder
gläubig werden, zur Kirche gehen und mir den Teufel austreiben lassen. Immer
wenn mir das Glück erscheint, wir es zerstört. Ich darf es nicht erleben und
genießen. Dem Teufel scheint doch meine Seele zu gehören, und er macht sich
einen Spaß daraus, sie zu quälen.“ scherzte Joscha schon wieder. Realisieren,
dass wir beide nichts mehr miteinander zu tun haben würden, konnte ich auch
nicht. Joscha war in diesen drei Wochen zum festen Bestandteil meiner Person,
meines Wesens, meines Lebens geworden. Joscha meinte: „Ein Leben ohne
dich wird es nicht geben, auch wenn wir uns nicht mehr sehen sollten.Du bist
in mir, gehörst zu mir mit allem, wie wir uns erlebt haben. Das ist nie wieder
ungeschehen zu machen.“ Das zu erwartende Leid sehnte sich nach Tröstung.
Schöne illusionäre Worte wären absolut verfehlt. Den anderen seine Zuneigung
in zärtlichen Liebkosungen spüren lassen, würde den meisten Trost spenden.
Das Bedürfnis nach körperlichem Trost war so intensiv, dass wir dazu das Bett
aufsuchten. Zum letzten mal mit Joscha geschlafen, das wurde mir erst
hinterher bewusst. Absolut irreal kam es mir vor, dass es dies alles niemals
mehr geben sollte. Die Vertreibung aus dem Paradies war für die beiden gewiss
eine unangenehme Angelegenheit, aber sie blieben doch zusammen. Wie
schlimm musste die Verfehlung sein, die Joscha und ich begangen hatten? Wir
hatten gegen die zentralen Wesensmerkmale unserer Gesellschaft verstoßen.
Hatten schwer gesündigt, indem wir nicht die sein wollten, die wir zu sein
hatten. Da gibt es eben nur Ausschluss oder härteste Strafen.
Nicco
In den folgenden Tagen wurde es mir nicht voll bewusst, dass die Zeit von Joscha
und mir vorbei sein sollte. Wie ein langes Wochenende wollte es mir erscheinen.
Ich, total beschäftigt, hatte Versäumtes nachzuholen und alles Übrige
zum Semesterende noch sinnvoll reguliert zu bekommen. Joscha und ich
trafen uns ja auch in unserem gemeinsamen Seminar. Zärtlichste Begrüßung
und auch während des Seminars verlangten meine Lippen danach, Joschas
Wange zu touchieren. Ich hätte es besser, meinte er, weil er allein sei, aber im
Moment hielt es sich in Grenzen. Ich würde ja jetzt mein übliches Leben wieder
führen, so wie es war, bevor ich Joscha kennengelernt hatte, und dazu gehörte
auch mein Freund Nicco. Sonderbar kam es mir schon vor. Er wusste ja von
meinen Eskapaden nichts, und davon würde ich ihm mit Sicherheit nichts erzählen.
Ich liebte Nicco schon. Die gemeinsam erlebten angenehmen intimen
Erlebnisse verbinden natürlich, aber obwohl ich mit meinem Vater oder Eva nie
gemeinsam im Bett war, hatte unsere Beziehung eine anders geartete, selbst-
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verständliche Tiefe, die es mit Nicco nie geben würde. Trotz aller Nähe und Intimität
blieb er doch immer auch der andere Mann. Ich hatte mir nie sonderlich
Gedanken über unser Verhältnis gemacht. Ich empfand es nicht aufregend
aber keineswegs in irgendeiner weise unangenehm. Jetzt verdeutlichte sich
mir, dass ich meine Liebesbeziehung im Grunde so gelebt hatte, wie ich nicht
leben wollte. War eine Beziehung eingegangen, wie man es eben so macht und
hatte sie gelebt, wie es alle tun würden. Warum? Ich war gar nicht auf andere
Gedanken gekommen, konnte mir gar nichts anderes vorstellen, und dann
machst du es unüberlegt so, wie die anderen es auch tun. Dein Ding ist das
nicht, du wirst dich selbst vergebens darin suchen. Nett fand ich Nicco damals
schon, er mag mich außerordentlich und tut alles, wie ich es gerne möchte.
Einen Platz in meinem Herzen hat er gewiss, aber dass ich in einer Beziehung
leben soll, die der Wochenendehe eines älteren Ehepaares nicht unähnlich ist,
stört mich gewaltig. Nur wie was ändern? Selbstverständlich gingen wir am
Wochenende wieder miteinander ins Bett. Nicht nur meine Erfahrungen mit Joscha
störten, ich war auch sonst nicht mehr unbelastet, nicht mehr unvoreingenommen.
Meine Lust speiste sich aus der Erinnerung an schöne Erlebnisse,
sehr dünn und unbefriedigend. Am nächsten Wochenende erklärte ich Nicco,
dass ich mir Gedanken über unsere Beziehung mache, alles nicht ganz unkritisch
sähe und jetzt lieber nicht mit ihm ins Bett wolle. Nicco viel aus allen
Wolken und wollte natürlich darüber reden. Ich hatte mir schon etwas ausgedacht,
damit es ihm nicht allzu weh täte, und er es eventuell nachvollziehen
könne. Die Beziehung, wie wir sie lebten, prädestiniere Heirat und Kleinfamilie,
was ich aber auf keinen Fall wolle. Wie meine Zukunft aussehen solle, wisse ich
nicht, nur sei ich in unserer Beziehung nicht mehr frei, mich zu entscheiden.
Natürlich diskutierten wir lange, und Nicco hob immer wieder unsere Verbundenheit
hervor, die man doch nicht einfach aufheben könne. Mir viel es ja auch
nicht leicht, aber so wollte und konnte ich, besonders nach meiner Zeit mit Joscha,
auf keinen Fall mehr weiterleben und im Hinblick auf meine Beziehung
erst recht nicht. Mutter war immer aufrichtig freundlich zu Nicco, aber ihr Blick
hatte auch noch einen Beiklang, den ich nicht interpretieren konnte. Ich hatte
sie darauf angesprochen, aber sie lehnte es ab über Nicco zu reden. Das seien
Entscheidungen, die nur ich für mein Leben zu treffen habe. Sie lehne es ab,
sich dabei auf irgendeine Art und Weise einzumischen. Nicco sei nicht meine
Liga gewesen, wusste sie jetzt. Erläuternd fügte sie hinzu, ich hätte ihn gebraucht.
Auf solche Gedanken war ich selbst nie gekommen, aber völlig unrecht
hatte Mutter wohl nicht.
Gelähmte Tage
In den letzten Semesterwochen war ich permanent busy, und ich traf Joscha ja
auch noch wenigstens einmal in der Woche. In den Ferien blieb ich zu Hause,
hatte noch einiges nachzuholen und vieles vorzubereiten, denn ich wollte wegen
meines Französischstudiums für ein Semester nach Montpellier. Ich hätte
auch arbeiten können, aber ich konnte auch morgens im Bett liegen bleiben
und grübeln. Joscha und ich, das war doch mein Leben. Was konnte mir denn
wichtiger sein als mein eigenes Leben? Dann sah ich wieder Szenen von uns
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und träumte. Wie konnte ich, die ihr Glück gefunden hatte, es aufgeben? Wo
wollte ich es denn sonst finden? In meinem banalen Alltag, den ich
überwunden hatte, doch wohl kaum. Als Lehrerin für Spanisch und Französisch
etwa? Die Welt hatte kein derartiges Glück zu bieten. Sie verteilte nur
Anerkennung, Lob und Reputation für fleißiges Arbeiten. Dass Menschen Liebe
und Zuneigung brauchen, interessiert niemanden. Darum muss sich jeder
privat kümmern. Ganze Tage konnte ich vergrübeln, weinte zwischendurch
mal, versuchte mir vorzustellen, was Joscha jetzt wohl machte, einfach nur die
Gedanken sich immer mit unseren gemeinsamen Tagen beschäftigen lassen.
Das war ich, da lebte ich mich selbst. Es war nicht nur mein Glück, es war zu
meiner Welt geworden, in der ich gelebt hatte und leben wollte. Dahinter
konnte ich nicht mehr zurück. In der Zeit davor war ich nicht mehr zu Hause.
An anderen Tagen ging es mir besser. Dann war meine Mutter eine große Hilfe
für mich. Noch nie hatte ich es so bewusst wahrgenommen, was ihre Liebe mir
bedeutet, sie umarmte mich, schützte mich, trug mich. Dann redeten wir viel
über Joscha und mich, bis Mutter fast jede Sekunde unseres Zusammenseins
kannte. „Im Grunde möchte ich so etwas auch schon mal gern erleben, aber
wenn es konkret würde, hätte ich, glaube ich, doch zuviel Angst davor. Das
müssen ja richtig ekstatische Zustände gewesen sein, und dabei ist man sich
doch nicht sicher, was man da alles anstellen kann.“ erklärte sie. Einiges gefiel
ihr ausgesprochen gut, sie wollte es in ihren Alltag integrieren, zum Beispiel
die freudige Begrüßung bei der Rückkehr von der Mülltonne. „Na klar, was
macht denn ein stärkeres Gefühl, als deinen Liebsten wiederzusehen, und so
etwas registrierst du im Alltag gar nicht. Schlimm, nicht wahr?. Woher der
Liebste dabei kommt, ist doch völlig irrelevant.“ kommentierte ich. Nur
erledigte den Müll bei uns in der Regel mein Vater. Müll und Einkaufen war das
einzige, was für ihn von der geplanten und vereinbarten gemeinsamen
Bewältigung des Haushalts übrig geblieben war. Als er von der Mülltonne
zurückkam, gab ich ihm einen Kuss und sagte dabei: „Danke, dass du den Müll
rausgebracht hast.“ Mein Vater blieb wie angewurzelt stehen, machte große
Augen, als ob er nichts mehr verstehe, lies seine Mimik dann aber zu einem
wonnigen Lächeln hinübergleiten, als ob ein Engel ihm etwas zugeflüstert
habe. Mutter lachte sich schief, und erklärte noch lachend, dass er sich daran
gewöhnen müsse. Unsere Umgangsformen würden sich in zentralen Bereichen
demnächst radikal ändern. Eine typisch Familie waren wir eigentlich gar nicht,
eher eine Ansammlung von Typen mit völlig unterschiedlichen Interessen und
Lebensweisen, die aber wie Yin und Yang exakt miteinander harmonierten. Für
meinen Vater stellten seine Frau und ich das Leben dar. Das andere war die
Fronarbeit, die er leisten musste, um dieses Leben genießen zu dürfen. Ich
liebte ihn schon. Er sagte, in seinem Herzen würde die Sonne angeschaltet,
wenn er mich sehe, und das ließ er mich deutlich spüren. Mit meiner Mutter
stand es aber anders. Wir liebten uns nicht, jede war scharf auf die andere, wir
hatten Lust aufeinander und suchten uns. Schon mal mussten wir erst ein paar
Schritte miteinander tanzen, wenn wir uns in der Küche trafen. Sie beginne,
sich sorgen zu machen, meinte sie, weil sich für sie überhaupt keine positive
Entwicklung abzeichne. Die Tage, an denen ich nichts tun wollte, nichts tun
konnte, nahmen eher zu als dass sich ihr Auftreten verringerte. Als direkt
depressiv sah ich mich keinesfalls. So wie ich mich im Zusammensein mit
Mica – Obsession – Seite 22 von 37
Joscha in einer anderen Welt gewähnt hatte, war es jetzt ein Zustand, eine
Stimmung, die mich lähmte. Es überfiel mich einfach, war einfach da, so wie
die Trauer, der du auch nicht vorschreiben kannst, wann sie dich heimsuchen
darf. Mutter empfahl mir, doch mal zu überlegen, ob ich nicht Hilfe von außen
brauche, das hieß einen Psychotherapeuten aufsuchen. „Dann bin ich krank. Er
wird mein Leben mit Joscha zu psychisch deviantem Verhalten erklären, in
meiner Kindheit nach Defekten suchen, die mich so etwas entwickeln ließen,
und mir helfen, dass ich derartige psychische Devianzen in Zukunft vermeiden
kann. So ein Stuss! Dass will ich nicht. Ist mir doch egal, ob er es als psychisch
krank bezeichnet, was Joscha und ich erlebt haben. Ich stehe dazu, will es
nicht anders und will es mir erst recht nicht nehmen lassen. Abgesehen davon
war meine Kindheit wunderbar und da will ich mir nachträglich auch keine
Probleme implantieren lassen. Ich bin o. k., es gibt in mir keine Probleme, und
erst recht keine, für die ich oder du verantwortlich wären. Er sollte sich mal
fragen, ob nicht unsere Gesellschaft krank ist. Ob sie nicht Einstellungen,
Sichtweisen und Wahrnehmungen von ihren Mitgliedern erwartet und verlangt,
die nicht den natürlichen, wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen der Menschen
entsprechen, sondern vorgegebene, verlogene Muster und Klischees sind, die
der effizienten Nutzbarkeit für wirtschaftliche Interessen dienen. Aber so kann
er nicht denken, so hat er's nicht gelernt.“ lehnte ich den Besuch eines
Psychotherapeuten ab. Der schlimmste Vorwurf, den ich mir immer wieder
machte, bestand darin, nicht auf die Idee gekommen zu sein, bis zum
Semesterende einen zusätzlichen Ruhetag oder vielleicht sogar zwei
Ruhewochen einzulegen, und wir hätten dann die ganzen Semesterferien noch
für uns gehabt. Mehrmals war ich soweit, dass ich Joscha aufsuchen wollte. Die
Vorstellung, dass wir jetzt zusammen sein könnten, wenn wir nicht so dumm
gewesen wären, brachte mich fast um. Aber ich wusste ja auch gar nicht, wo
er zur Zeit steckte. Bestimmt war er zu seiner Carilla nach Salamanca
gefahren, um ihr zu erklären, dass jetzt alles ganz anders laufen würde.
Tobsuchtsanfall meiner Seele
Fast hatte ich mich schon daran gewöhnt, ab und zu mit einem Ausfalltag leben
zu müssen. Im Semester würde es wieder anders laufen, dann sähe ich
Joscha ja auch hin und wieder mal in der Uni. Wir hatten verabredet, uns nicht
in Telefonaten oder Mails zu treffen, weil das ein Leben ohne den anderen nur
erschweren würde. Joscha hatte solche Erfahrungen mit Carilla gemacht, worauf
sie beschlossen hatten, sich nicht mehr zu schreiben. Ich habe noch nie erlebt,
wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder
auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich empfand,
als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben.
Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden,
erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosungen
und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich
im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich
nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin
nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten ge-
Mica – Obsession – Seite 23 von 37
annt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort verstand
ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir
enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästigung
empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hause.
Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie einfach.
Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hatte
sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche
Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so
schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst
noch dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein
Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann
muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach
wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Niemandsland.
Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide
ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab.
Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein,
aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich
irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter
ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem
nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o.
k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen. Er
könnte ja genauso gut anderswo studieren, er kommt doch nicht von hier. Andererseits
ist es aber mein Problem.“ beurteilte ich die Lage. Ich wollte zu einer
anderen Uni gehen. Unendliche Probleme und Unannehmlichkeiten. Erst als
ein Professor, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis hatte, mit seinem Kollegen
an der anderen Uni gesprochen hatte, wurde es in diesem speziellen Fall ermöglicht,
dass ich auch während des Semesters aus medizinischen Gründen
wechseln konnte. Mein Hausarzt wollte mich auch unbedingt zum Psychotherapeuten
schicken, hatte aber nach meinen Erklärungen bestimmt gedacht: „Die
spinnt sowieso.“ und mir selbst ein Gutachten geschrieben. Nur so hatte ich
mir mein Leben erst recht nicht gewünscht. Alles fremd und unbekannt, das
würde sich im Laufe der Zeit ändern, aber nicht mehr zu Hause, sondern ganz
allein in meinem kleinen Appartement leben zu müssen, war mir höchst zuwider.
Mit unserer Gemeinsamkeit in Joschas kleiner Behausung hatte das natürlich
nichts zu tun. Das Schlimmste aber waren die fehlenden Kontakte, die ich
zu Hause hatte. Keinesfalls waren alle Leute, die zu uns kamen, meine Freundinnen
und Freunde, aber sie bildeten einen Kreis von Menschen, zu denen unterschiedliche
Beziehungen bestanden. Wie bedeutsam dieses soziale Beziehungsgeflecht
für mich und meine Identität war, spürte ich erst jetzt, als da
nichts mehr war. Zu Hause war alles selbstverständlich, und jetzt musste ich
jeden kleinsten Kontakt neu entwickeln und organisieren. Ich stürzte mich in
die Arbeit, was sonst. Wenn ich am Wochenende nach Hause kam, umarmten
Mutter und ich uns lange, und meistens kamen uns dabei die Tränen. Mutter
hatte auch etwas verloren. Natürlich war sie für mich immer die erwachsene
Frau gewesen, aber sie kam mir gleichzeitig auch wie meine Schwester vor.
Schon als Kind sprachen wir von uns als „Wir Frauen“. Besondere Anerkennung
hatte mir auch ihre Behauptung, dass sie nicht kochen könne verschafft. Noch
heute kokettiert sie damit, aber ich war solange ich mich erinnern kann, eine
Mica – Obsession – Seite 24 von 37
angesehene Beraterin und Hilfe bei der gemeinsamen Lösung von Fragen und
Problemen. Schon in der Grundschule waren es unsere gemeinsamen Gerichte,
die auf dem Tisch standen. Was ich genau für sie bedeutete, weiß ich nicht. Als
ihre Schwester empfand sie mich sicher nicht, aber dass ich ihr mehr gab und
auch etwas anderes war als nur das geliebte Kind, die Tochter einer Mutter, war
eindeutig. Doch auch an den Wochenenden wollte die alte, unbeschwerte Lust
sich nicht einfach wieder einstellen. Ich dachte zwar oft an Joscha und unsere
gemeinsame Zeit, konnte aber so leben. Meine Psyche verspürte kein Bedürfnis
nach exaltierten Eskapaden mehr. Dafür fehlte aber etwas. Ein Dunstschleier,
wie ein Morgennebel, der sich nicht auflösen will, lag auf meinen Tagen, jedem
Tag ohne Ausnahme. Wie ein feines Netz verhinderte er das Aufkeimen von
direkter Fröhlichkeit und von Lustempfindungen. Was glücklich sein wäre,
konnte ich gar nicht sagen und empfinden, konnte es nur aus Erinnerungen
benennen. Gegenstand meiner aktuellen Gedanken war es nicht. Das war eher
die Zufriedenheit, die es bereitet, Anforderungen besonders gut entsprochen
zu haben, für eine Arbeit Lob und Anerkennung zu erhalten. Dass ich mich
damit im Gegensatz zu unserer gemeinsamen Welt mit Joscha befand, nahm
ich gar nicht wahr. So war mein Alltag erträglich, eher zu grau tendierend, aber
alles funktionierte.
Das nächste Semester in Montpellier war auch mit viel Arbeit verbunden. Als
Schülerin hatte ich Montpellier und alles drumherum so toll gefunden, mir vorgestellt,
später mal hier leben zu wollen, jetzt nahm ich das gar nicht wahr. Ich
interessierte mich nur für die Wissenschaft und Forschung hier und wollte viel
lernen. Meine Examina waren hervorragend. Von zu Hause bekam ich ein neues
Auto, und ich wollte promovieren. Man wüsste ja nicht, wie es sich entwickeln
würde, aber wenn ich mich auch noch habilitieren und einen Lehrstuhl für
Französisch erhalten könnte, das wäre schon eine lukrative Perspektive. Als
Lehrerin in die Schule, das hätte ich nicht mehr gekonnt. Mein Wissen im Französischen
war immer umfangreicher gewesen und ich hatte mich kompetenter
gefühlt, zumal ich auch in der Sprache perfekt war.
Das machen wir aber nie wieder
Ein wenig frankophil war ich schon, aber dem Spanischen galt meine heimliche
Liebe. Ich wollte es auch keinesfalls unbeachtet lassen, weil ich ja jetzt meine
Dissertation zu einem französischen Thema schrieb. Ein Kongress zur derzeitigen
spanischen Literatur, mit mehreren Autoren und Professoren war ein
Event, den ich nicht verpassen durfte. Sonderbarer weise veränderte die ganze
Atmosphäre meine Stimmung, hob sie an. Alte Zeiten wurden wach. Ich wähnte
mich in früheren Seminaren. Meine Leistungen waren hervorragend gewesen,
aber so erlebt, wie damals in den ersten beiden Semestern, habe ich es
nie wieder. Eine Pause stand an. Ich bewegte mich ins Foyer. Mir stockte der
Atem. Oh Welt! Der Mann dahinten im Foyer, der gerade noch in diese Richtung
geschaut, sich jetzt aber umgedreht hatte und wegging, war Joscha. Kein
Zweifel möglich. Ich rannte ihm nach. Schrie dabei: „Joscha!“, dass alle im
Foyer annehmen mussten, ein Mann namens Joscha versuche gerade mich um-
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zubringen. Als ob ein Hebel umgelegt worden sei, das Leben, wie ich es fünf
Jahre jeden Tag praktiziert hatte, existierte sofort nicht mehr. Ich war wieder
bei Joscha. Wie gestern kam es mir vor. Nichts war vergessen, nichts versackt,
alles war mit Joschas Anblick absolut präsent. Wir waren uns nahe, als ob wir
gerade gemeinsam aus dem Bett aufgestanden wären. Nur haben wir uns dann
nie so angestaunt. Jetzt hatte ich eine Erscheinung. Was wir derzeit machten
und wo wir steckten? Solche Banalitäten interessierten uns im Moment nicht.
„Das machen wir aber nie wieder, nicht wahr?“ verkündete ich als einen meiner
ersten Sätze, wobei ich ihm das Wänglein streichelte, aber gar nicht wusste,
was ich eigentlich genau damit meinte. Ob Joscha es wusste, denn er sagte:
„Es gibt nur ein Problem. Ich bin verheiratet.“ „Carilla.“ reagierte ich vermutend.
„Nein, eine Frau von hier. Ruth, heißt sie.“ antwortete Joscha. „Und Kinder,
hast du Kinder?“ wollte ich noch wissen. „Noch nicht, aber deswegen haben
wir geheiratet.“ erklärte Joscha. „Ist Ruth ein Ersatz für mich.“ fragte ich
ihn. „Nein, direkt sicher nicht, Mica. Das geht doch gar nicht. Ruth ist aber
schon Teil meines Lebens, meines neuen Lebens, das ich ohne dich finden
musste.“ stellte es Joscha dar. Wir suchten uns einen Platz in einem Bistro, das
zum Gebäudekomplex gehörte. „Ich bin damit nicht fertig geworden, Joscha.
Ich lebe, wie ich es nie gewollt hätte. Habe meine Seele verkauft für billiges
Lob und Anerkennung. Mich gibt es nicht mehr, mich selbst kannst du in dem,
was ich tue, nicht mehr finden, nur noch das, was nach dem Common Sens lobens-
und anerkennenswert ist. Ich bin nicht mehr zu erkennen, von mir existieren
nur noch verkümmerte Ruinen.“ verdeutlichte ich Joscha. Wir erzählen
uns die Details. Joscha war beim Psychotherapeuten gewesen. Genau wie ich
es vermutete. Viele Sitzungen hatte er gehabt, bis es ihm zu bunt wurde, weil
der Therapeut jede Einsichtsfähigkeit verweigerte. „Mica, wir haben uns gut
zugehört, weil wir uns gegenseitig verstehen wollten. Der Therapeut vermittelt
dir nur diesen Anschein. In Wirklichkeit steht sein unanzweifelbares Urteil
längst vorher fest. Du kommst dir auf den Arm genommen vor.“ erzählte Joscha
von seiner misslungenen Therapie. „Hast du Ruth von uns erzählt?“ interessierte
mich. „Schon, aber nur die Version des Therapeuten. So etwas kann
schließlich jedem mal passieren, und jetzt ist es vorbei.“ Joscha dazu. „Und, ist
es vorbei?“ erkundigte ich mich schelmisch. Eine Antwort bekam ich nicht. Dafür
rückte Joscha zu mir umschlang mich und drückte fest zu. „Du hast damals
gesagt, Carilla habe in dir das Prinzip der Liebe festgelegt, empfindest du, dass
ich in dir auch etwas festgelegt habe?“ wollte ich wissen. „Mica, du warst gleich
von Anfang an das Prinzip des anderen Menschen für mich. Du hast gesagt,
dass viele sich in ihrem Alltag zu verunstalteten Monstern entwickelt haben.
Als völlig frei davon habe ich nur dich erlebt. Bei allen anderen musst du immer
Zugeständnisse machen. Ich bei mir selbst mittlerweile genauso gut. Was
tue ich denn jetzt? Unterrichte als Lehrer wie alle anderen auch, gründe eine
Kleinfamilie, will Kinder haben, Papa werden, wen interessieren denn da die
wirklichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle? Alles genauso, wie die anderen
alle es auch machen.“ Joscha zu seiner Entwicklung. Wir sprachen noch
über Ruth und Joschas Verhältnis zu ihr. Auch sonst hatten wir nicht selten
über andere Menschen, Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrende an der Uni gesprochen.
In sonderbarer Atmosphäre fand das immer statt. Wir unterhielten
uns dabei, als ob Aphrodite und Apollon sich Geschichten von den armen
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Sterblichen da unten erzählten. Waren wir überheblich? In gewisser weise
sicher schon. Wir sahen sie immer als die in ihren Ansprüchen und
Rollenerwartungen Gefangenen, die keine Chance hatten, zu sich selbst zu
finden, ihr Leben zu leben, ihre wirklichen Bedürfnisse und Gefühle zu
erkennen und nach ihnen zu leben. Jetzt lebten Joscha und ich kein bisschen
anders. Trotz unserer gemeinsamen Erfahrungen hatten wir uns vom
technologisierten Alltag wieder voll einfangen lassen und fristeten unser Dasein
darin.
Alleine kein gescheites Leben
Dass wir fünf Jahre getrennt waren, schien im Moment völlig bedeutungslos.
Ein Gefühl, wie es damals immer herrschte, wenn wir zusammen waren. Offensichtlich
entsprach das unserem normalen Seinszustand. Das waren wir selbst
gewesen. So waren wir, und so wollten wir sein. Die Trennung hatte nicht nur
eine Beziehung zerstört, sondern uns unser Leben entrissen. Wir hätten lange
beim Kaffee sitzen können, aber ich wollte Joscha für keinen Moment wieder
verlieren. Ausrasten würde ich nicht mehr, aber ich würde ihn erst gar nicht
hergeben. Nur wie? „Du machst dir Sorgen. Quälst dich mit der Frage ob Ruth
oder Mica, nicht wahr?“ wollte ich wissen, obwohl er im Moment überhaupt
kein nachdenkliches Gesicht machte. „Nein, das habe ich noch gar nicht gedacht.
Nur wie stellst du es dir denn vor. Jetzt geht es auf einmal mit uns beiden.
Jetzt brauchen wir nicht mehr in die Picos, oder wie?“ reagierte Joscha.
„Wie soll ich das wissen? Ich habe nicht damit damit gerechnet, dass wir uns
wieder treffen würden, und wenn ich es vorher gewusst hätte, würde ich in
meinem Zustand gesagt haben: „Wir werden uns freundlich begrüßen und uns
gegenseitig ein wenig über uns erzählen.“ Dass es so sein würde, konnte ich
wohl kaum ahnen. Du kannst Gefühle doch nicht antizipieren. Es ist ja nicht
nur so, dass es sehr schön war mit uns, und dass es sehr weh tat und
schmerzte, als wir uns trennten, wir können alleine kein gescheites Leben hinkriegen.
Wir brauchen einander, wenn wir eine Aussicht haben wollen, nicht im
technologisierten Alltag zu verkommen. Schau mal, was ich gemacht habe, ist
nicht schlecht und ich bin auch stolz darauf, nur ich muss es verstehen und in
Beziehung setzen können. Menschlich ist es wertlos, kein bisschen Liebe oder
persönliche Anerkennung gibt es mir. Ich nehme es aber so, bewerte und verstehe
es so,weil ich nichts anderes habe, und weil alle so verfahren. Wir können
allein mit dem Alltagsschrott nicht umgehen, wir brauchen uns. Genauso
wenig wie ich mit Ziegen züchten existieren kann, kann ich es hier ohne uns.“
verdeutlichte ich es. „Wenn es hier eine Möglichkeit für uns gibt, Mica, was soll
dann noch fraglich sein. Ich sehe sie zwar im Augenblick noch nicht konkret,
aber nichts wünsche ich mir mehr und erhoffe es natürlich auch. Mit Ruth, das
ist allerdings ein sehr großes Problem. Es wird mir weh tun und außerordentlich
schwerfallen.“ Joscha darauf. „Du liebst sie, nicht wahr? Carilla Nummer
2?“ vermutete ich. „Nein, so nicht, aber wir lieben uns schon. Wir freuten uns
ja auch auf unsere gemeinsame Zukunft.“ erklärte Sascha. Der Ärmste, jetzt
würde er leiden müssen, wenn er mit mir zusammen sein wollte. Gleich würde
er zu seiner Frau nach Hause fahren. Um Himmels willen, das durfte er doch
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nicht. „Sascha, weißt du was, ich fahre gleich nach Hause. Meine Mutter hat
auch entsetzlich deinetwegen gelitten. Meine Tobsuchtsanfälle musste sie
ertragen und noch viel mehr, alles nur deinetwegen. Sie weiß alles von uns.
Unbedingt müsst ihr euch mal kennenlernen. Ruf doch deine Frau an, und sag
ihr, du hättest einen alten Freund oder eine alte Freundin getroffen und
würdest mit zu ihm fahren.“ schlug ich vor. Das musste Joscha zunächst mal in
allen Richtungen abwägen. Ich denke,den Ausschlag gab, dass wir so noch
länger zusammenbleiben würden.
Sternennacht
Jetzt war das Fabelwesen, zu dem nur ich in seiner kleinen Kemenate Zugang
gehabt hatte, bei uns zu Hause. Mutter, der jedweder Anflug von Hysterie oder
Nervosität wesensfremd war, drehte schon am Telefon durch. „Gar nix, er
kommt einfach mit, und du schaust ihn dir an, und zum Abendbrot stellen wir
einen Teller mehr auf den Tisch. Sonst nichts. Vorbereiten kann und darf man
da überhaupt nichts.“ vermittelte ich ihr, weil sie doch gar nicht wisse, was sie
jetzt tun solle. „Du siehst, da ist er leibhaftig. Es gibt ihn also wirklich. Ich hätte
ihn schon bald vergessen, aber er ist immer noch da.“ stellte ich Joscha
scherzend meiner Mutter vor. Mit meinem Vater kam Joscha erstaunlich schnell
in lebhafte Diskussionen. Ich ließ die beiden allein und ging zu Mutter. „Der ist
ja ganz normal.“ meinte die fast erstaunt. „Ja,“ räsonierte ich leicht klagend,
bedauerlich, „ich hätte auch lieber einen Superhero gehabt. Mutter, was kannst
du für einen Stuss reden. Keiner von uns hat sich irgendjemanden gesucht, es
hat sich zwischen zwei ganz normalen Menschen entwickelt. Sonst wäre es gar
nicht möglich gewesen. Im Übrigen, wirkliche Superheros können nur ganz natürliche,
wirkliche Menschen werden, bei den anderen ist es nur täuschende
Fassade und nicht mehr als oberflächlicher Glitter.“ „Du hast Recht.“ sinnierte
Mutter, „Ein Arzt hätte euch für krank gehalten, aber so viel habe ich verstanden,
für mich wart ihr eindeutig eher Helden.“ Als Joscha in die Küche kam,
wachte er auf. Schon nach den ersten Sätzen im Gespräch mit Mutter ironisierten
und witzelten die beiden herum. Lachten und scherzten über mich und
meine Erziehung, und Joscha wollte über konkretes Verhalten von mir wissen,
ob ich dieses von Mutter geerbt hätte. „Mein Mann und ich wir sind beide so
biedere, angepasste Leute, und das Kind ist mit der Renitenza im Blut auf die
Welt gekommen.“ erklärte Mutter bei Joscha Mitleid suchend. „Ah ja? Joscha,
du musst dir mal Beispiele von ihr nennen lassen, wo sie besonders bieder und
angepasst gewesen ist, dann haben wir den ganzen Abend etwas zu lachen.“
mischte ich mich ein. „Ein bisschen frech, das könnte ich mir schon vorstellen
und widerspenstig soll sie auch sein? Da muss man sich schon in Acht nehmen,
nicht wahr?“ Joscha dazu. In dem Stil ging es scherzend, albernd und lachend
bis zum Abendbrot weiter. Joscha am Abendbrottisch, hatte es je Abendbrot
ohne Joscha gegeben? Am liebsten hätte ich ihm vorgeschlagen, doch gleich
bei uns wohnen zu bleiben. Nur ich war ja selbst in der Woche nicht zu Hause.
Sonderbar, auch mit meinen Eltern sprachen wir kein Wort darüber, was denn
jetzt geschehen und ob sich etwas ändern würde. Dass Joscha verheiratet war,
hatte ich nicht erwähnt. Mutter fragte auch nicht, wo er denn schlafen würde
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und ich doch erst recht nicht. In meinem Zimmer starrten wir uns mit lachender
Mimik an. Dass wir zusammengehörten, war selbstverständlich, aber was
wir jetzt miteinander zu veranstalten hätten, wusste offensichtlich keiner von
uns beiden. Schamvoll, schüchtern, waren wir das? So wohl eher nicht, aber es
herrschte nicht die Stimmung der Situation, in der wir damals bei Joscha zusammen
ins Bett gegangen waren. In dieser Begegnung schienen wir uns fast
neu zu sein. Vielleicht erlebten es Paare, die in der Hochzeitsnacht zum ersten
mal miteinander schliefen, ähnlich. „Nein, nein, neu sind wir uns nicht.“ sah es
Joscha, „Es ist, als ob wir einen kostbaren Schatz wiederentdeckt hätten. Wir
sind uns einander ungeheuer wertvolle Edelsteine, die man staunend bewundert
und nur vorsichtig berührt.“ „Ein Stein? Auch schön, er glitzert und strahlt,
nicht wahr? Aber du glitzerst und strahlst für mich noch viel mehr als ein Diamant.
Du bist für mich ein Stern, der Stern, der mich erlöst.
Es gibt noch Wunder, liebes Herz,
getröste dich,
Erlöste dich noch nie ein Stern aus deinem Schmerz,
des Strahlenspiel
vom hohen Zelt
in deiner Qualen
Tiefe fiel
und sprach: „Sieh, wie ich zu dir kam
vor allen andern ganz allein!“
zitierte ich Christian Morgenstern. „Sollen wir es nicht zu unserer Sternennacht
werden lassen, weil jeder Stern von uns beiden heute den anderen erlöst hat?“
schlug ich vor. Joscha umschlang mich. Wir mussten unsere Körper lange miteinander
kommunizieren lassen. Vermutlich hatten sich in den fünf Jahren
große Mengen in uns angesammelt, und die medialen Kräfte konnten es nicht
so schnell bewältigen, sie nur wie einen Blitz vom einen zum anderen zu übertragen.
Horizontal führten wir es auf dem Bett liegend fort. Diese Nacht fand
vor der kopernikanischen Wende statt. Der bestirnte Himmel über uns verlangte
unserem Gemüt immer wieder Bewunderung und Ehrfurcht ab, und das moralische
Gesetz in uns, wie stand es damit? Kant wäre stolz auf uns gewesen.
Konnte der kategorische Imperativ in reinerer Form befolgt werden, als wie wir
leben wollten? Was würden wir uns mehr wünschen, als dass unser Leben zur
Grundlage einer Regelung für alle Menschen würde. Der Himmel voller Sterne
hatte sich über uns gewölbte, und immer mal wieder viel einer zu uns herab,
um unser Glück zu mehren und jegliche Erinnerung an die Schmerzen vergangener
Tage zu tilgen.
Besuch bei Ruth
Am Sonntagmorgen, bevor Joscha nach Hause fuhr, vereinbarten wir unseren
nächsten Kontakttermin. Zwei Tage später rief Joscha schon an. Er habe es
Ruth direkt erklärt. „Sie zu betrügen und mich verhalten, als ob nichts geschehen
wäre, das konnte ich nicht. Ich habe ihr verdeutlicht, wie es damals wirklich
zwischen uns war. Ich glaube, sie hat mich sogar verstanden. Ich kann das
Mica – Obsession – Seite 29 von 37
nicht, Mica. Ich kann Ruth nicht sagen: „Du kannst gehen, ich brauche dich
nicht mehr.“ Das stimmt auch nicht, sie ist ein Teil von mir, meinem Traum von
einer glücklichen Zukunft. Ich bin glücklich, wenn sie es ist. Mica, Ruth hat
geweint, das habe ich noch nie erlebt. Bei mir kommt es leichter dazu, aber
Ruth ist eine Frau, die sich äußerst cool gibt. An ihr scheint die Unterdrückung
der Frauen vorbei gegangen zu sein, weil sie die machtvolle Herrscherin
demonstriert. Ich bin ihr Leben, ihre Seele, ihr Herz. Ich liebe sie, Mica.“
berichtete Joscha. Joscha wäge ab, ob er mit mir oder doch lieber mit Ruth
leben wolle, so hätte ich es verstehen müssen, aber das konnte ich gar nicht
denken. Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte. Ihm sagen: „Komm zu
mir, Joscha, dann wird alles gut sein.“? Am liebsten hätte ich das getan. „Du
leidest sehr, mein Stern, nicht wahr? Ich möchte dir helfen und kann es nicht.
Nicht nur untröstlich bin ich deshalb, es tut mir selbst weh, zu wissen, dass du
dich quälen musst. Willst du nicht zu mir kommen, du brauchst meinen Trost.“
sagte ich ihm. „Das geht nicht, Mica, ich muss zur Schule, und ich möchte Ruth
auch jetzt nicht allein lassen.“ Joscha darauf. „Das geht nicht? Wir können
nicht zusammen sein? Das kann ich nicht glauben, Joscha. Sogar in der Kirche
erklären sie den Paaren bei der Hochzeit: „Wo du hin gehst, da will ich auch hin
gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ Wir sind nicht verheiratet. Unsere
Beziehung ist weniger wert?“ lautete meine Reaktion. „Denk nicht so, Mica. Du
weißt, dass für mich, genauso wie für dich, unser Verhältnis über allem steht.
Sind wir nicht verschmolzen oder verschweißt?“ fragte Joscha und lachte,
„Willst du nicht zu mir kommen, wenn wir uns direkt sehen wollen? Natürlich
muss ich Ruth zuerst fragen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen
haben wird, dich kennen zu lernen.“ antwortete Joscha. Den Samstag und die
Nacht hatte ich im Rausch erlebt. Aber schon am Sonntag war ich ziemlich
konsterniert. Das war für mein Leben nicht vorgesehen. Wenn ich vorher daran
gedacht hätte, was geschehen würde, falls ich Joscha wiedersähe, hätte ich es
bedächtig abgewägt. Ich war eine andere geworden. Keinesfalls hatte ich
unsere Zeit vergessen, ich dachte sogar oft daran, aber meinem jetzigen
Leben, war so etwas fern. Nur als ich Joscha sah, war das plötzlich alles
weggewischt, und mein früheres Leben schien in einem Blitz zurückgekehrt.
Am Montag konnte ich gar nicht arbeiten, nur noch an Joscha und mich und
mein jetziges Leben denken. Alles kam mir total konfus vor. Jetzt sollte ich
seine Frau besuchen, warum nicht auch das? Seine Frau war einverstanden
und ich fuhr zu Joscha. Ruth war eine elegante Frau mit einem dominanten
Blick. Das sie als Anwältin mit scharfzüngigen Argumenten ihre Gegner fertig
machte, konnte ich mir sofort beim ersten Kontakt schon vorstellen. Ihr
Verhalten zeigte aber milde, verständnisvolle Freundlichkeit. Was sollte ich
hier? Joscha in seinem Leid trösten wollte ich. Jetzt saß Mica, der Besuch, auf
der Couch bei Kaffee und Kuchen. Ich stellte mir vor, wie Joscha zärtlich zu
Ruth war, wie sie sich küssten, streichelten und miteinander intim waren. Ein
unangenehmes Bild, mein Joscha war das nicht. Der Joscha in meinen
Erinnerungen tat so etwas nicht. Das Bild von meinem Joscha war alt, es
stimmte nicht mehr. Meinen Joscha gab es nicht mehr. Er war ein anderer
geworden, genauso wie ich selbst eine andere geworden war. Wiederfinden
konnten wir uns gar nicht, weil es uns nicht mehr gab. Unsere Erinnerungen
hatten sich getroffen und ein Fest daraus gemacht. Sollte dieser Joscha doch
Mica – Obsession – Seite 30 von 37
mit dieser Frau glücklich werden, ich würde mit dem in meinen Erinnerungen
glücklich sein. Ich wollte da raus, wäre am liebsten sofort wieder nach Hause
gefahren. Wir redeten artig Smalltalk, und Ruth erkundigte sich nach meiner
Dissertation. „Willst du das wirklich wissen? Ist es das, was dich interessiert?
Dann fahre ich jetzt nach Hause und hole einen Stick von dem, was ich schon
fertig habe.“ erklärte ich leicht zynisch bestimmt. Beide schauten verdutzt,
Ruth schien zu überlegen, ob sie beißen sollte, und Joscha schien es zu
befürchten. Nach kurzer Pause kehrte aber die Ausgeglichenheit in Ruths Mimik
zurück. „Mica, wie redet man denn über das, was wir zu besprechen hätten
oder besprechen könnten. Ich bin völlig unbeholfen.“ erklärte Ruth. „Was wir
zu besprechen hätten? Ruth, ich weiß gar nicht was es wäre. Etwa kriegst du
ihn, oder bekomme ich ihn?“ sagte ich und lachte, „Ich ging davon aus, dass
der Joscha, den ich kannte, nur zu seiner Carilla zurückkehren könnte. Aber
nein, er hat wirklich ein völlig neues Leben begonnen. Von dem alten Joscha ist
da nicht mehr viel zu sehen, der existiert nicht mehr, er ist ein anderer in einer
anderen Welt, und die wollte ich mir gern mal anschauen.“ Joscha brauste auf:
„Ja, ja, schau dir alles genau an, sie dich gut um, damit du meine Welt auch
genau kennenlernst. Du spinnst doch, Mica. Natürlich haben wir uns in den
fünf Jahren verändert, wir beide, du genauso, aber das haben wir uns ja auch
schon gesagt. Nur unsere Zeit war doch kein Event, ein Erlebnis, das hinterher
vorbei ist, und an das man sich allenfalls erinnern kann. Es hat doch unser
Tiefstes im Kern betroffen, hat unsere Sichtweise vom Leben und
Zusammenleben neu entwickelt, hat unser Wesen verändert. Du bist in mir,
bist ein Teil von mir geworden, das lässt sich nicht revidieren oder verändern,
wie auch immer sich die Umstände entwickeln mögen. Erinnerung kann das
nicht sein, das sind wir selbst, Teil dessen, das uns zu denen hat werden
lassen, die wir heute sind. Was motiviert dich, so zu sprechen?“ Ruth schaute
stumm zu. Wenn ich Joscha in die Augen schaute, wurde bei mir schlagartig
die Uhr um fünf Jahre zurückgestellt. Ich spürte die Sehnsucht nach unserer
Gemeinsamkeit in seinen kleinen Räumen. Sagte jedoch: „Schon möglich, aber
ich habe mich verändert. Du wirst dich nicht erinnern, aber du hast ganz zu
Anfang gesagt, ich sei so lebhaft. Das bin ich nicht mehr. Ruhig, bedächtig und
nachdenklich bin ich geworden. Selbst wenn es möglich wäre, weiß ich gar
nicht, ob ich so ein Leben wie damals noch könnte oder wollte.“ Joscha war
sprachlos, er starrte mich nur an. Nach längerer Pause brachte er ein erstaunt
fragendes „Mica!?“ hervor. „Was ist mit dir los? Ich versteh dich überhaupt
nicht mehr. Als wir uns trafen, bist du fast ausgeflippt vor Freude. Hast er
klärt, dass wir uns jetzt aber nicht nochmal wieder trennen dürften. Du
vermitteltest den Eindruck, als ob ich schon zu dir gehörte, und du mich am
liebsten gar nicht wieder weglassen würdest. Was ist geschehen? Hast du
jeden Tag völlig andere Gedanken und Empfindungen? Du möchtest gar nicht,
dass wir zusammenleben? Mica, das kann ich dir nicht glauben.“ erklärte
Joscha dann. Wieder sagte niemand etwas. Ich schaute zu Ruth, die unserem
Gespräch mit großen Augen und leicht skeptisch herber Mimik folgte. „Joscha,
du zerstörst dieser Frau das Leben, beraubst sie ihrer Hoffnung, nimmst ihr die
Perspektive, verschleuderst ihr Vertrauen. Mein Joscha, den ich kenne, tut so
etwas nicht, kann so etwas gar nicht. Ein Joscha, der so etwas macht, kann
mein Joscha nicht sein und nicht werden. Mit ihm kann ich nicht glücklich
Mica – Obsession – Seite 31 von 37
sein.“ verdeutlichte ich mich. Ruth, die neben mir saß, starrte mich an. Der
Anflug eines Lächelns legte sich auf ihre Mimik. Sie nahm meine Hand und
legte ihre andere darüber. Ich meinte zu erkennen, dass ihre Augen sich stark
benetzten. Sie lächelte mir zu. „Danke, Mica,“ sagte sie, „man erkennt doch
eure Gemeinsamkeit. Ich war mir nicht sicher, ob ich es für Fanatismus oder
ein bewundernswertes Erleben menschlicher Zusammengehörigkeit halten
sollte, was Joscha mir erzählt hat, aber ich bin mir sicher, es kann nur das
Letztere gewesen sein.“ „Fanatisch? Das waren wir sicher auch, nicht war,
Joscha? Für uns galt nur das Leben in unserer Welt, wie wir sie sahen, als
richtig und wertvoll. Alle anderen waren gequälte, verunstaltete
Alltagsmonster.“ kommentierte ich. „Ja schon, aber wir hatten doch nicht eine
Idee, die wir fanatisch realisieren wollten. Wir haben gelebt, waren glücklich
und haben es so interpretiert.“ meinte Joscha dazu. „Ich weiß nicht, was ich
von dieser Dichotomie halten soll. Wir, die das richtige Leben wirklicher
Menschen führen und die andern, die durch ihre Rollenkonkretisierungen den
wirklichen Menschen nicht erkennen können. Dass es wirkliche menschliche
Gefühle und Bedürfnisse gegenüber den gewöhnlichen Klischeevorstellungen
und nachgemachten Gefühlen gibt, das sehe ich mittlerweile auch so.“ äußerte
sich Ruth dazu. „Absolut nichts, diese Dichotomisierung ist falsch und taugt
nichts. Wir haben zwar oft so empfunden, und es fühlt sich nicht schlecht an,
zu den makellosen Seelen zu gehören, aber du bist deine Geschichte. Vieles
kannst du ändern oder überhaupt erst erkennen, aber du bleibst der Mensch,
den diese ganz übliche Alltagswelt geformt hat, in ihr bist du aufgewachsen
und zu dem geworden, der du bist. Sie ist in dir, du kannst dich nicht von ihr
freisprechen.“ meinte ich dazu. „Aber was hat es dann so faszinierend für euch
gemacht? Warum wart ihr so besessen verliebt?“ erkundigte sich Ruth.
„Verliebt? Das waren wir gar nicht, besessen schon. Es kam ganz von selbst.
Wir haben uns von Anfang an nicht mit der Distanz von Fremden gesehen. Ja,
den wirklichen Menschen im anderen wollten wir erkennen, wollten ihn
möglichst ganz erfassen und in uns aufnehmen mit allem was uns zur
Verfügung stand, und das bedingt einen nicht enden wollenden Austausch. Die
Sucht danach wirkte wie eine Droge. Wir hatten ja hinterher auch schwere
Entzugserscheinungen.“ erläuterte ich. „Mica, mir kommt es vor, das Joscha
der einzige Mann ist, den ich nicht besiegen muss. Ich habe nämlich einen
Erbschaden, weißt du? Das Siegergen, das sonst nur Männer haben, besitze ich
auch. Es tritt aber nur gegenüber Männern in Erscheinung und das schon seit
meiner Kindheit. Ich konnte es nicht ertragen, dass die kleinen Jungs stärker
waren. Das hat sich immer gehalten, ist zu einer unveränderbaren
Charaktereigenschaft geworden. Ich stehe auch dazu, nur für persönliche
Beziehungen ist es nicht gerade hilfreich.“ erklärte Ruth. „Und wieso Joscha
nicht? Ist der etwa stärker als du?“ fragte ich nach und brachte dadurch beide
zum Lachen. „Das können wir überhaupt nicht testen, weil Joscha der einzige
Mann zu sein scheint, den so etwas überhaupt nicht interessiert. Er hat mich
verunsichert, das war ungeheuerlich, dem musste ich nachgehen. Wir lieben
uns schon sehr, Mica, und ich weiß nicht, mit welchen Entzugserscheinungen
ich zu kämpfen haben werde, aber als er mir von eurem Wiedersehen erzählt
und verdeutlicht hat, was damals tatsächlich zwischen euch bestand, wurde
mir klar, dass er nicht mehr der Joscha, wie ich ihn sah, für mein weiteres
Mica – Obsession – Seite 32 von 37
Leben sein könnte. Auch wenn Joscha bei mir bliebe, müsste ich immer damit
leben, dass du an vorderster Stelle in seiner Psyche lebst. Wenn er zärtlich zu
mir ist, und du weißt, dass er es noch lieber zu Mica sein würde, ich bitte dich,
könntest du das ertragen?“ erklärte Ruth. „Ich kann gut etwas erzählen, ich
habe ja selbst keinen Mann, obwohl ich sie nicht bekämpfe. Individuell nicht, in
ihrer patriarchalen Machtposition natürlich schon. Ich habe dieses Bild,
schwächer zu sein als Jungs oder Männer, nie gehabt. Meine Mutter und ich
waren immer die Frauen, und die Frauen waren die Blumen, während die
männlichen Kretins nur das Gras auf der Wiese bildeten. Ziemlich dumm, nicht
war?“ wusste ich zur Geschlechterrolle. „Aber das Gras bestimmt, ob eine
Blume sich überhaupt entfalten darf.“ Ruth darauf, „Meine Einstellung ist ja
genauso dämlich. Was hast du davon, wenn du als einzelne irgendwo gewinnst.
In den Entscheidungs- und Machtpositionen sitzen doch alles Männer. Und
wenn es mal eine Frau ist, versucht sie der bessere Mann zu sein. Mache ich ja
auch, aber ich weiß nicht, was ich anders machen könnte und sollte.“ „Der
wirkliche Mensch zu sein, du solltest versuchen, dich möglichst oft an den
wirklichen, menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen zu orientieren.“
antwortete ich. Wir lachten zwar zunächst darüber, unterhielten uns dann aber
lange über andere Verhaltensmöglichkeiten im Alltag und auch im Beruf und
die Auswirkungen auf die eigene Psyche. Ich blieb noch zum Abendbrot. Es war
wirklich interessant geworden. Ruth erklärte, dass sie außer mit ihrer kleinen
Schwester mit niemandem sonst so reden könne wie mit Joscha und mir. Auch
wenn Joscha und ich zusammenleben würden, möchte sie den Kontakt zu uns
nicht verlieren. „Mica, meine kleine Schwester musst du unbedingt mal
kennenlernen. Du wirst sie bestimmt genauso klasse finden wie ich.“ meinte
Ruth und lachte.
Nur Genuss und Sinneslust
„Nun benimm dich mal nicht so hysterisch.“ hatte eine Lehrerin damals in der
Schule öfter gesagt, wenn ein Mädchen aufgeregte und ein wenig konfus
sprach. Hysterisch bedeutete für mich seitdem immer aufgeregt und durcheinander.
Ich redete zwar nicht, aber in mir benahm sich alles aufgeregt und hektisch
konfus. Klarheit konnten meine Gedanken nicht finden. In einem Anflug
von Euphorie hatte ich direkt bei der Begegnung erklärt, wir dürften uns nie
wieder trennen, jetzt stand es konkret an, und ich wusste gar nicht was geschehen
sollte. Unser Leben damals und mein Leben hier waren zwei Welten.
Wenn ich Joscha nicht sah, dominierte mein gegenwärtiges Leben. Das fand
hier in meinem Appartement und an der Uni statt. Was würde ich denn mit Joscha
machen? Er hatte schon Recht, ich war ein Teil von ihm und er ein Teil
von mir. Nur es kam mir vor, als ob ich diesen Teil erst wiederfinden müsste.
War er mir in meinem Alltag abhanden gekommen? Am nächsten Wochenende
wollten wir uns wieder bei meinen Eltern treffen. Es war nicht zu fassen, bei
mir zu Hause hielt mich mein jetziges Leben in Schach, wenn ich Joscha sah,
war ich glücklich, dann wurde ein anderes Licht angezündet. „Wir waren es damals
schon und sind es immer noch. Das scheint sich direkt erhalten zu haben.
Wir wollen zusammenleben, aber wissen nicht wie. Völlig unfähig etwas zu or-
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ganisieren sind wir.“ erklärte ich beim Abendbrot. Mein Vater schmunzelte nur,
und Mutter wollte wissen: „Die große Geste, gehört die auch zum wirklichen
Menschen? Seit wann kannst du denn etwas nicht mehr organisieren, meine
Liebste?“ „Natürlich, im Alltag ist alles kein Problem, nur wenn wir beide zusammen
sind, dann wollen wir ausschließlich unser Glück genießen, wollen uns
nur aneinander erfreuen, verstehst du? Gedanken darüber, was wie demnächst
sein sollte und werden könnte, passen da gar nicht, das ist eine andere Welt.
Der wirkliche Mensch lebt im Hier und Jetzt. Wenn ich Joscha sehe, möchte ich
an ihn denken und nicht an Morgen.“ erklärte ich und lachte. Die anderen lachten
auch. „Hedonismus ist das, blanker Hedonismus. Nur Genuss und Sinneslust
zählen, alles andere ist wertlos.“ interpretierte es meine Mutter. „Ist das
so, Joscha?“ wollte ich wissen. „Nein, nein, so ist das nicht.“ reagierte Joscha
immer noch lachend, „Wir wollen uns immer besser kennenlernen, den beziehungsweise
die andere immer tiefer verstehen, immer wieder etwas Neues
entdecken, was uns bisher verborgen geblieben war, ihn beziehungsweise sie
ganz erfassen. Ein vom Grunde her endloses Unterfangen, aber es treibt uns
immer weiter in diesem Prozess, wir kommen uns immer näher, nur harte Arbeit
ist es. Es ist aber selbstbestimmte Arbeit und macht deshalb Spaß. Genussvoll?
Könnte man sie als genussvoll bezeichnen? Was meinst du, Mica?“
„Ist der nicht plemplem?“ lautete meine Einschätzung. Hier konnten wir ganz
ruhig unsere Bedingungen und zukünftigen Möglichkeiten erörtern. Wenn ich
allein bei mir war, benahmen sich meine Gedanken hysterisch. Üblicherweise
machst du dir Gedanken über etwas und nimmst die, natürlich auch immer beteiligten,
Emotionen gar nicht war. Wenn ich mich mit Joscha befassen wollte,
schienen meine Gedanken und Emotionen aber gemeinsam wilde Tänze aufzuführen
und legten die furiosesten Wirbel auf's Parkett meines Bewusstseins.
„Ich will euch nichts einreden,“ begann Mutter nach längerer Diskussion, „aber
wenn Joscha hier wohnte, brauchte er keine neue Wohnung und seine Schule
ist ja auch hier. Du hast doch nur noch kaum Präsenzzeiten an der Uni, da
brauchtest du doch nur selten zu fahren. Dein Zimmer hast du hier und für Joscha
würde das Gästezimmer und das Bügelzimmer, das sowieso niemand
braucht, eingerichtet. Also, wenn ihr euch dazu entschließen könntet, fänd' ich
das absolut klasse.“ Joscha und ich begegneten uns in unseren Blicken. Wir
waren sprachlos. Auf die Idee war noch keiner gekommen. Dann würde er ja
wirklich immer hier am Abendbrottisch sitzen. Solche und eine Vielzahl ähnlicher
Szenen schossen mir in Windeseile durch den Kopf. „Joscha, dann gäbe es
jeden Abend für uns eine Sternennacht.“ erklärte ich schon in Vorfreude darauf,
dass er einverstanden sein würde. „Eigentlich müsste ich es mir jetzt reiflich
überlegen, aber ich bin davon überzeugt, dass es so für uns beide am besten
sein wird.“ sagte Joscha. Was er damit genau meinte, wollte ich gar nicht
wissen. Ich sah nur immer die Bilder von Joscha bei uns in allen möglichen Situationen
und freute mich kindlich. „Dann werden wir bestimmt viel von den
reinen Menschen lernen können.“ ironisierte mein Vater. „Ja, der Julian wird
uns dann vielleicht auch mal einen Kuchen backen.“ witzelte meine Mutter.
„Oder mit Joscha Steaks braten.“ fügte ich an. So scherzten wir weiter über
unser zukünftiges Zusammenleben.
Mica – Obsession – Seite 34 von 37
Obsession mit festem Wohnsitz
Jetzt hatte die Obsession ihren festen Wohnsitz gefunden, im Haus meiner Eltern.
Würde sie erschlaffen? Zum rituellen immer wiederkehrenden Alltag verkommen
und die Macht der besessenen Sucht nach der Gemeinsamkeit verlieren?
„Joscha, wenn ich damals am Nachmittag zu dir kam, hast du mich immer
begrüßt, als ob ein neuer Stern an deinem Horizont aufgegangen sei. Nicht anders
kann es für dich sein, wenn wir zusammen wohnen. Die Mica, die heute
Morgen im Bett neben dir wach wird, kann niemals die von gestern Morgen
sein. Du kannst mich nicht einmal in dich aufnehmen wie ein Fahrrad oder
einen Küchentisch, und dann bin ich in dir, und es reicht erstmal für fünf Jahre.
Die von gestern bin ich nie, nicht mal die von vor einer Minute und der Blick
deiner Augen, was sie sehen wollen und sehen können, ist auch jeden Tag un
ständig ein anderer. Wenn du den wirklichen Menschen in mir suchen und sehen
willst, wirst du immerwährend nach ihm forschen müssen.“ erklärte ich
meinem Erlöserstern. „Das weiß ich doch Mica, so haben wir ja gelebt, aber es
tut gut, es dich sagen zu hören. Ich denke, die Gefahr, es vergessen zu können,
ist nicht gering, wenn es zur selbstverständlichen Gewohnheit wird, dass
wir immer zusammen sind.“ meinte Joscha dazu. „Ein Zurück kann es im Leben
zwar nie geben, aber ich will es wiederhaben, mein altes, enthusiastisches
Leben, wie es für mich existierte, als wir uns kennenlernten, will mich wieder
engagiert selbst leben. Dass ich es überhaupt noch könnte, habe ich nicht gedacht,
aber jetzt sehe ich gute Chancen. Ich habe befürchtet, dass ich es bevorzugen
würde, zu leben, wie ich es jetzt gewohnt bin. Ich weiß natürlich von
unserer Zeit und dass da alles ganz anders war, aber so lebe ich jetzt nicht.
Der Alltag hat mit seinen Anforderungen und Erwartungen eine völlig andere
aus mir gemacht. Die wirklichen Gefühle und Bedürfnisse? Ich suchte gar nicht
mehr danach. Lustbetontes Leben? Ich dachte gar nicht daran. Meine Stimmung
war immer auf dem gleichen seichten Level, Eskapaden gab es da nicht.
Ich konnte sie gar nicht wünschen und mir empfindend vorstellen. Wie in Beton
gegossen war meine Stimmung, heute, so morgen und so übermorgen.
Immer würde sie so sein, unveränderbar. So wäre ich als Mensch eben, es sei
meine Charaktereigenschaft, durch nichts zu beeinflussen. Wenn ich dich sehe,
und wenn du zu mir sprichst, zündet es ein Licht an. Jetzt erst kann ich das
andere erkennen, kann das sehen, was immer in mir war, und was ich wirklich
bin. Dadurch dass du mich erkennst, kann ich mich selbst wieder wahrnehmen.“
erläuterte ich. Joscha bekräftigte es aus seiner Sicht: „Ich habe ja alles
getan, habe alles erledigt, was anlag, hätte ich da nicht glücklich sein müssen?
Andere sind es, nachgemachte Gefühle. Soweit ist es bei mir nicht gekommen.
Aber wirkliches Glück gab es nie. Worin sollte denn seine Basis haben? Du
brauchst es aber, in deinem Leben fehlt etwas Entscheidendes. Alle Tage sind
Herbsttage, es regnet und stürmt zwar nicht, aber die Sonne fehlt, Herbsttage
eben. Ich habe auch kurz überlegt, zu promovieren, aber die Motivationslage
ist auch herbstlich schal. Es fehlt der Kick, es fehlt die Lust, dich zu engagieren.
Für wen, wozu? Fragst du dich, ob du es selbst willst, ob es dir Lust bereiten
könnte, dich zu involvieren und voll darauf einzulassen, das kannst du
nicht erkennen. Ein träges Klima dominiert deinen Alltag, aber du kannst es
gar nicht anders denken. Vergessen hast du, dass es einen frischen Frühlings-
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wind geben könnte, der alles belebt, der alle grauen Schleier fortbläst und der
Mica heißt.“ Ein frischer Frühlingswind war durch Joscha und mich in unser gesamtes
Haus eingekehrt. Ich hatte mit Mutter immer sehr viel gelacht, aber
jetzt hatte es sich potenziert. Sogar mein Vater saß öfter zum Kaffee mit am
Küchentisch. Früher hatte er die Küche gemieden, nur mal reingeschaut und
gefragt: „Kann ich etwas helfen?“, aber in einer Tonlage, die daraus ein: „Ich
muss doch wohl nicht unbedingt etwas helfen?“ machte. Mutter und ich hatten
uns immer darüber amüsiert. Jetzt liebte er es besonders, mit Joscha ironisierende
Gespräche zu führen. Wenn unsere Vorstellung vom lustbetonten Menschen,
der seine wirklichen Gefühle und Bedürfnisse erkennt und ein entsprechendes
enthusiastisches Leben führt, eine Idee war, die sich verbreiten sollte,
wären meine Mutter und mein Vater gewiss die ersten beiden Mitglieder in unserer
Fan-Gemeinde geworden. Das Eva auch dem Fanclub beiträte, bedurfte
keiner Frage. „Arriba los que luchan por el poder del amor!“ (Vorwärts ihr
Kämpfenden für die Macht der Liebe!) würde unsere Parole lauten.
FIN
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L'amour, c'est comme la foudre : on n'en est nulle part à l'abri.
William Faulkner
„Vielleicht hast du Recht, vielleicht können sich Menschen den
Kindzustand im Unbewussten immer erhalten. Mir kommt es
eher so vor, dass wir uns als reine, wirkliche Menschen sehen
wollen. Mit allen Geboten, Verhaltenserwartungen und
Rollenanforderungen umhüllst du dich jedes mal mit einem
weiteren zusätzlichen Gewandt, steigerst deine Maske bis du
selbst nicht mehr zu erkennen bist, wir wollten uns selbst
sehen, nur wir direkt, wie wir wirklich, natürlich, nackt sind, so
nahm ich schon unsere ersten Blicke war. Ich sah in dir, das du
es auch wolltest, konntest und Lust darauf hattest.“ erklärte
sich Joscha. „Und sieht man bei dem nackten, wirklichen
Menschen denn auch, ob es sich um eine Frau oder einen Mann
handelt?“ fragte ich nach. „Ach, das ist doch völlig
unerheblich.“ tat es Joscha ab. „Joscha, mein Lieber, du willst
mir doch nicht erklären, dass sich alles genauso entwickelt
hätte, wenn ich ein Mann gewesen wäre.“ widersprach ich.
Hinter breiten Lippen lachte er stumm. „Sag mal, begehrst du
mich eigentlich?“ wollte ich es genauer wissen. Jetzt lachte
Joscha laut. „Mica, das ist so fern. Direkt habe ich das noch
nicht gedacht. Wir werden es sublimiert haben.“ Joscha dazu.
„Ja, kommunikativ haben wir permanent kopuliert, nicht war?
Mit einem Höhepunkt nach dem anderen.“ bestätigte ich ihn.
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