Wandlungen in der Rentenversicherung bis zum RRG'92 - Forum ...
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<strong>Wandlungen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG’92<br />
Eckbert Ingenhuett<br />
(16.9.2000)<br />
Alle hier gesammelten Informationen wurden nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt,<br />
jedoch unter Ausschluss jeglicher Haftung.<br />
1
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
<strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.1 VORWORT 4<br />
I.2 VORBEMERKUNG 7<br />
I.3 DIE ANFÄNGE IM KAISERREICH 10<br />
I.3.1 Das Invalidenversicherungsgesetz (IVG) vom 22.6.1889 13<br />
I.3.1.1 Pflichten <strong>der</strong> Versicherten 14<br />
I.3.1.2 Rechte <strong>der</strong> Versicherten: 17<br />
I.3.1.3 Invalidenrente, 17<br />
I.3.1.4 Altersrente: 21<br />
I.3.2 Die H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung 22<br />
I.4 DIE RENTENVERSICHERUNG BIS ZUM ENDE DES II.<br />
WELTKRIEGES 25<br />
I.4.1 Die <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Republik 26<br />
I.4.1.1 Der Versailler Vertrag 27<br />
I.4.1.2 Sozialrentnerfürsorge 34<br />
I.4.1.3 Invalidenversicherung 1930 37<br />
I.4.1.4 Lebenshaltung 1930: 39<br />
I.4.2 Die <strong>Rentenversicherung</strong> im III. Reich 40<br />
I.4.2.1 Invalidenversicherung im Jahr 1938 42<br />
I.5 BESATZUNGSZEIT 1945-1947 45<br />
I.5.1 Die zonalen Regelungen 45<br />
I.5.1.1 Das Berl<strong>in</strong>er Modell 46<br />
I.5.1.2 Sowjetische Zone 47<br />
I.5.1.3 Westzonen 48<br />
I.6 FRANKFURTER WIRTSCHAFTSRAT 1947-1949 51<br />
I.6.1 Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz 55<br />
I.7 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 1949 57<br />
I.7.1 Rentenzulagegesetz und Teuerungszulagegesetz 1951 57<br />
I.7.1.1 Das Rentenzulagengesetz 57<br />
I.7.1.2 Das Teuerungszulagengesetz 59<br />
I.7.2 Gesetz zur Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> §§ 1274ff RVO 60<br />
I.7.3 Das Grundbetrags-Erhöhungsgesetz (1953) 61<br />
I.7.4 Die <strong>Rentenversicherung</strong> um 1954 62<br />
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1
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.8 RENTENREFORM 1957 64<br />
I.8.1 Die neue Rentenformel 66<br />
I.8.1.1 Die allgeme<strong>in</strong>e Bemessungsgrundlage (BG) 66<br />
I.8.1.2 Die persönliche Bemessungsgrundlage (PG) 67<br />
I.8.1.3 Die Zahl <strong>der</strong> anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (J) 67<br />
I.8.1.4 Der Steigerungssatz (St) 67<br />
I.9 DIE HÄRTENOVELLE 1965 70<br />
I.10 DIE RENTENREFORM 1972 71<br />
I.10.1 Öffnung <strong>der</strong> GRV 71<br />
I.10.2 Flexible Altersgren ze 71<br />
I.10.3 Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen 72<br />
I.10.4 Rentenniveausicherungsklausel 73<br />
I.11 DIE KRISE 75<br />
I.11.1 Das 20.RAG von 1977 75<br />
I.11.2 Das 21. RAG 1979 76<br />
I.11.3 HBeglG 1983 78<br />
I.11.4 I. 13. 4 Das HBeglG 1984 80<br />
I.12 DIE REFORM DES HINTERBLIEBENENRECHTS 1985 83<br />
I.12.1 E<strong>in</strong>kommensanrechnung bei HR 83<br />
I.12.2 Kostenneutralität als Verteilungskriterium 86<br />
I.13 DER WEG ZUR RENTENREFORM 1992 88<br />
I.13.1 Probleme und Lösungsvorschläge 88<br />
I.13.1.1 Die f<strong>in</strong>anzielle Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> 88<br />
I.13.1.2 Arbeitslosigkeit und Arbeitszeitverkürzung 90<br />
I.13.1.3 Die demographische Entwicklung 94<br />
I.14 DIE RENTENREFORM 1992 97<br />
I.14.1 Der Selbstregulierungsmechanismus 97<br />
I.14.2 Die Neukodifikation 99<br />
I.14.2.1 Die Lohn- und Beitragsbezogenheit. 99<br />
I.14.2.2 Gleichgewichtige Entwicklung von Nettoentgelten und Rente. 100<br />
I.14.2.3 I. 16. 2. 3 Stärkung des Versicherungspr<strong>in</strong>zips. 101<br />
I.14.2.4 Heraufsetzung <strong>der</strong> Altersgrenzen. 101<br />
I.14.2.5 Zielsetzungen für den sozialen Ausgleich. 102<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.14.2.6 Die stärkere Beteiligung des Bundes - die "Selbstregulierung zwischen Beitragssatz<br />
und Anpassung". 103<br />
I.14.2.7 Der Bundeszuschuss 103<br />
I.14.2.8 Die E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung des Rentenrechts <strong>in</strong> das SGB. 104<br />
I.14.2.9 Die neue Rentenformel 105<br />
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3
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.1 Vorwort<br />
Die gesetzliche <strong>Rentenversicherung</strong> (GRV) ist heute <strong>der</strong> wesentlichste<br />
Teil unseres Systems <strong>der</strong> sozialen Sicherung. Rund 85% <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
stehen heute unter ihrem Schutz. Vor 100 Jahren bei E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong><br />
damaligen Invalidenversicherung (IVG) waren es nur 15%. Für Millionen<br />
von Versicherten ist die GRV ihre Altersvorsorge und für viele Millionen<br />
Rentner s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV erworbenen Renten die e<strong>in</strong>zige<br />
Existenzgrundlage.<br />
Seit Jahren ist jedoch das System <strong>der</strong> GRV <strong>in</strong>s Gerede gekommen.<br />
Innerhalb weniger Jahre hat das Vertrauen <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>in</strong> die GRV<br />
messbar abgenommen. Zwei Drittel <strong>der</strong> Bürger s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen <strong>der</strong><br />
Auffassung, die Renten seien <strong>in</strong> 20 Jahren nicht mehr sicher 1 . Selbst<br />
Altersgruppen die sich dem Ende ihres Erwerbslebens nähern, halten ihre<br />
Altersversorgung für gefährdet. Diese Unsicherheit dürfte <strong>in</strong> den nächsten<br />
Jahren noch zunehmen. Zwar wird von verantwortlicher Seite immer<br />
wie<strong>der</strong> die unbed<strong>in</strong>gte Zuverlässigkeit <strong>der</strong> GRV beschworen, aber die<br />
Glaubwürdigkeit ist dah<strong>in</strong>. Wie soll <strong>der</strong> Bürger den verantwortlichen<br />
Politikern glauben, wenn sie immer wie<strong>der</strong> erleben müssen, wie durch<br />
Fehlplanungen hervorgerufene Haushaltsdefizite skrupellos durch Zugriffe<br />
auf die F<strong>in</strong>anzen <strong>der</strong> Versichertensolidargeme<strong>in</strong>schaft behoben werden.<br />
Die Krisen <strong>der</strong> Sozialversicherung waren und s<strong>in</strong>d <strong>zum</strong> größten Teil<br />
hausgemacht.<br />
Die Sozialversicherung ist nicht dazu da, f<strong>in</strong>anz- und<br />
wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen zu f<strong>in</strong>anzieren. Der jüngste<br />
Anzapfungsversuch wurde vom BMF gestartet, er wollte die<br />
Sozialversicherungsträger, im Referentenentwurf <strong>zum</strong> Steuerreformgesetz<br />
1990, mit <strong>der</strong> Quellensteuer belegen 2 . Die Aufgabe <strong>der</strong> Sozialversicherung,<br />
so Schul<strong>in</strong>, ist e<strong>in</strong>e Schutzfunktion " 'Die Sozialversicherung dient dem<br />
Schutz <strong>der</strong> wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsteile, die den<br />
Wechselfällen des Lebens nicht Herr zu werden vermögen' (BVerfGE<br />
18,257 (270)). Dieses Ziel will die SV erreichen auf dem Weg über die<br />
Solidaritätshilfe <strong>der</strong> Erwerbstätigen für die berechtigterweise<br />
Nichterwerbstätigen, die außerstande s<strong>in</strong>d, für ihren und ihrer Familie<br />
Unterhalt aufzukommen. Der 'Zusammenschluß <strong>der</strong> Versicherten zu e<strong>in</strong>er<br />
sozialen Gefahrengeme<strong>in</strong>schaft' (BVerfG, aaO) soll die menschenwürdige<br />
Individualität e<strong>in</strong>es jeden Mitmenschen des staatlichen Geme<strong>in</strong>wesen<br />
gewährleisten. Das BVerfG versteht die SV folglich als e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong><br />
allgeme<strong>in</strong>en Sozial- und Geme<strong>in</strong>schaftspolitik (BVerfGE 29,221(231)).<br />
Hierbei handelt es sich letztlich um die Erfüllung e<strong>in</strong>es Auftrags <strong>der</strong><br />
1 Forschungsgruppe Wahlen, <strong>in</strong>: Der Spiegel, Nr.10 v. 4.3.85, 20;<br />
2 Geschätzte E<strong>in</strong>nahmen ca. 300 Millionen DM aus <strong>der</strong> RV-Kasse. BR.-Drs.100/88; BB<br />
1988,455;<br />
Handelsblatt v. 27.1.88<br />
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4
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Verfassung: Dies geht von den beiden Pr<strong>in</strong>zipien Individualität (Freiheit <strong>der</strong><br />
Person Art.1 und 2 GG) und <strong>der</strong> Solidarität (Ausfluss <strong>der</strong><br />
Sozialstaatlichkeit, Art.20 I und Art.28 I S.1 GG) aus, also vom Eigenwert<br />
<strong>der</strong> Person und von <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsgebundenheit aller Bürger 3 ".<br />
Von daher ist es Aufgabe sozialer Sicherungssysteme, Sicherheit zu<br />
geben gegenüber Risiken, denen <strong>der</strong> Mensch durch se<strong>in</strong> persönliches<br />
Schicksal, durch das Auf und Ab wirtschaftlichen Geschehens aber auch<br />
durch weitreichende gesellschaftliche Prozesse ausgesetzt ist.<br />
Es kommt nicht nur darauf an, dass das System im Ernstfall objektive<br />
Sicherheit bietet, es kommt auch darauf an, dass die Menschen darauf<br />
Vertrauen, dass es dies tun wird. Dieses Vertrauen 4 wird seit Jahren durch<br />
die politische Praxis untergraben, <strong>in</strong>dem es zu ständigen Än<strong>der</strong>ungen im<br />
Recht <strong>der</strong> SV kommt und was noch wichtiger ist, durch e<strong>in</strong>e "Umwertung"<br />
<strong>der</strong> Sprach<strong>in</strong>halte.<br />
E<strong>in</strong>e verantwortliche Sozialpolitik hat systemgestaltenden Charakter. Sie<br />
weist mit Entschiedenheit die Auffassung zurück, e<strong>in</strong>e gute<br />
Wirtschaftspolitik sei zugleich auch die beste Sozialpolitik 5 . Wenn das<br />
richtig ist, bleibt die Frage, warum auf <strong>der</strong> betrieblichen Ebene e<strong>in</strong>e<br />
Verr<strong>in</strong>gerung betriebswirtschaftlicher Kosten h<strong>in</strong>genommen wird, wenn<br />
gleichzeitig feststeht, dass dieselben Entscheidungen die<br />
volkswirtschaftlichen Folgekosten bed<strong>in</strong>gt durch Produktionsausfälle,<br />
Massenarbeitslosigkeit und Gesundheitsverschleiß <strong>in</strong>s Unermessliche<br />
steigern werden.<br />
E<strong>in</strong> generelles Festhalten an <strong>der</strong> Lohnbezogenheit <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong><br />
SV begünstigt, ja belohnt gerade die Materiellen, die durch ihre<br />
unternehmerischen Entscheidungen dem sozialen Sicherungssystem<br />
Beitragszahler entziehen, sie zu je<strong>der</strong>zeit diskreditierbaren Kostgänger <strong>der</strong><br />
sozialen Sicherheit machen und dadurch den Problemdruck im sozialen<br />
Sicherungssystem verursachen bzw. verstärken.<br />
3 Schul<strong>in</strong>, Sozialversicherungsrecht, Düsseldorf 1976, 15<br />
4 Vertrauen reduziert soziale Komplexität dadurch, dass es vorhandene Informationen<br />
überzieht und Verhaltenserwartungen generalisiert, <strong>in</strong> dem es fehlende Informationen<br />
durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tern garantierte Sicherheit ersetzt. Es bleibt dabei auf an<strong>der</strong>e parallel<br />
ausgebildete Reduktionsleistungen angewiesen, <strong>zum</strong> Beispiel auf die des Rechts, <strong>der</strong><br />
Organisation und natürlich auf die <strong>der</strong> Sprache, kann aber nicht auf sie zurückgeführt<br />
werden” N.Luhmann, Vertrauen. E<strong>in</strong> Mechanismus <strong>der</strong> reduktion sozialer Komplexität,<br />
Stuttgart 1973, 105<br />
5 So Adenauer (und se<strong>in</strong>e “Erben” <strong>bis</strong> heute) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ersten Regierungserklärung am 20.9.<br />
49, <strong>in</strong>: Die großen Regierungserklärungen deutscher Bundeskanzler von Adenauer <strong>bis</strong><br />
Schmidt, München 1979, 64<br />
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5
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Damit aber ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stieg zu e<strong>in</strong>er gesellschaftspolitischen<br />
Diszipl<strong>in</strong>ierung 6 <strong>der</strong> Arbeiterschaft eröffnet. Zunächst haben die Folgen<br />
jene zu tragen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeglie<strong>der</strong>t und auf das<br />
soziale Sicherungssystem existenziell angewiesen s<strong>in</strong>d. So geht es<br />
spätestens bei Aufkommen <strong>der</strong> Missbrauchsdiskussion 7 und dem<br />
vorgetragenen Wunsch "Wildwuchs" zu beschneiden, mit dem<br />
Leistungsabbau los. Es werden die Anspruchvoraussetzungen<br />
verschlechtert, die Leistungen gesenkt, nur die Voraussetzungen Arbeit zu<br />
schlechteren Bed<strong>in</strong>gungen annehmen zu müssen, werden verbessert 8 . Das<br />
Ganze wird dann als Konsolidierung verkauft.<br />
Ist aber die Schutz- und Pufferzone <strong>der</strong> SV - speziell <strong>der</strong><br />
Arbeitslosenversicherung - erst e<strong>in</strong>mal beschädigt, kann <strong>der</strong> stufenweise<br />
und im übrigen sich gegenseitig verstärkende Abbau von Sozial- und<br />
Arbeitse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> Gang gesetzt werden. Unter dem Aspekt "Senkung<br />
<strong>der</strong> Lohn- und Lohnnebenkosten" werden dann die Angriffe auf Löhne und<br />
Gehälter <strong>der</strong> noch Beschäftigten wirksam und über den § 1272 II RVO<br />
erfolgt die Rückkopplung zu den Rentnern 9 .<br />
"Das, was Rentnern, Sozialhilfeempfängern, Beamten und an<strong>der</strong>en zugemutet<br />
werden muss, muss für alle gelten" (Helmut Kohl, Regierungserklärung,<br />
Okt.1982)<br />
Die Umverteilung durch das System <strong>der</strong> GRV machte 1988 mit rd.195<br />
Mrd. DM - das s<strong>in</strong>d 30 % des gesamten Sozialbudgets, o<strong>der</strong> rd.9 % des<br />
Bruttosozialprodukts - den größten Ausgabenposten des Bundeshaushaltes<br />
aus und ist alle<strong>in</strong> schon vom Volumen her geeignet, F<strong>in</strong>anz- und<br />
Wirtschaftspolitiker <strong>in</strong> Versuchung zu führen. Das <strong>der</strong> gesamtpolitische<br />
Aufgabenbereich <strong>der</strong> SV durch die Instrumentalisierung <strong>der</strong> GRV für<br />
systemwidrige Zwecke e<strong>in</strong> wesentlicher Faktor <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzierungsprobleme<br />
<strong>der</strong> GRV ist 10 - die wie<strong>der</strong>um schon Geschichte hat - soll anhand des<br />
historisch-systematischen Teils gezeigt werden.<br />
6 Vgl. dazu:Ch.Sachße/F-Tennstedt (Hrsg.): Soziale Sicherheit und soziale Diszipl<strong>in</strong>ierung,<br />
Frankfurt/M.1986; und für die USA: Piven/Cloward, Regulierung <strong>der</strong> Armut. Die Politik<br />
<strong>der</strong> öffentlichen Wohlfahrt, Frankfurt 1977<br />
7 E.Ingenhütt: Ke<strong>in</strong> Mißbrauch aber Fehler <strong>der</strong> Sachbearbeiter, Sozialmagaz<strong>in</strong> 5/1988,41<br />
mwN.<br />
8 vgl. Beschäftigungsför<strong>der</strong>ungsgesetz vom 26.4.1985 und das 7. AFGÄndG.<br />
9 § 1272 II RVO “Bei <strong>der</strong> Rentenanpassung soll vom Grundsatz e<strong>in</strong>er gleichgewichtigen<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Renten und <strong>der</strong> verfügbaren Arbeitsentgelte ausgegangen werden”.<br />
10 Schewe, Das Politische Risiko <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> und <strong>der</strong> Rentner, SF 1983, 2ff:<br />
behauptet das daß politische Risiko <strong>der</strong> gRV größer ist als das durch die<br />
Bevölkerungsentwicklung.<br />
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6
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Teil I Historisch-systematischer Teil<br />
I.2 Vorbemerkung<br />
Sicherung im Alter fand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Agrargesellschaft und <strong>bis</strong> <strong>in</strong> die Zeit <strong>der</strong><br />
Industrialisierung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Großfamilie statt. Dabei war Alter<br />
gleichbedeutend mit Invalidität. Die sich sehr schnell ausweitende<br />
außerhäusliche Fabrikarbeit 11<br />
Jahr1 Bevölkerung<br />
<strong>in</strong><br />
1000<br />
Erwerbspersonen<br />
Sektor<br />
I In %<br />
Sektor<br />
II <strong>in</strong> %<br />
Sektor<br />
III <strong>in</strong> %<br />
1825 28.000 12.600 59 22 19<br />
1867 40.032 16.171 52 27 21<br />
1902 45.222 20.610 48 31 21<br />
1907 61.721 28.092 35 40 25<br />
1925 62.411 32.009 30 42 28<br />
1950 49.843 23.079 22 45 33<br />
Sektor I = Land-, Forstwirtschaft, Fischerei, Gartenbau;<br />
Sektor II = Industrie, Handwerk, Verlag (mit Heimarbeit), Manufaktur, Bergbau;<br />
Sektor III = Dienstleistungen, <strong>in</strong>kl. häusliche und öffentliche Dienste)<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
%<br />
Wirtschaftssektoren<br />
Sektor I<br />
Sektor II<br />
Sektor III<br />
1825 1867 1882 1907 1925 1950<br />
nach: W.Ruppert (Hrsg.), Die Arbeiter, München Beck 1986, 463<br />
an <strong>der</strong> neben den Eltern auch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> teilnahmen, führte zu e<strong>in</strong>em<br />
Unversorgtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> alten und gebrechlichen Familienmitglie<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en sich<br />
mehr und mehr die Armenfürsorge annehmen musste.<br />
Ausgaben<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
Ausgaben für die Armenpflege <strong>in</strong> zwei Städten:<br />
Ausgaben <strong>der</strong><br />
Stadtkasse<br />
Jahr<br />
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7
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Jahr Köln Berl<strong>in</strong> Köln Berl<strong>in</strong><br />
1820 65.598<br />
1830 45.000<br />
1831 843.980 421.164<br />
1840 50,100<br />
1841 1.086.709 622.783<br />
1850 1.691.205 1.331.272<br />
1851 164.214<br />
1853 1.763.692 1.376.921<br />
1860 1.835.656 161.202 1.305.652<br />
1870 3.384.171 2.773.000<br />
1871 241.230<br />
1875 4.202.012 3.651.115<br />
nach: Statistisches Arbeitsbuch I, München Beck 1982,212<br />
Die Intention <strong>der</strong>er, die sich für die Schaffung e<strong>in</strong>er gesetzlichen<br />
Altersicherung e<strong>in</strong>setzten, war es daher auch zunächst nur, durch e<strong>in</strong>e<br />
ger<strong>in</strong>gfügige Rente an <strong>in</strong>valide und alte Arbeiter e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Entlastung<br />
<strong>der</strong> kommunalen Armenfürsorge zu ereichen und es <strong>zum</strong> an<strong>der</strong>en für die<br />
Familie selbst reizvoll ersche<strong>in</strong>en zu lassen, ihre alten Mitglie<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong><br />
"Kostgeld" weiterh<strong>in</strong> zu beherbergen. Letzteres wurde jedoch immer<br />
schwieriger.<br />
Bodenspekulationen und kapitalistische Immobilienverwertung <strong>in</strong> den<br />
<strong>in</strong>dustrialisierten Großstädten trieben den Mietpreis <strong>der</strong> Wohnungen<br />
<strong>der</strong>art <strong>in</strong> die Höhe, dass sich <strong>der</strong> Arbeiterhaushalt nur noch e<strong>in</strong>e<br />
Kle<strong>in</strong>wohnung leisten konnte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Alten ke<strong>in</strong>en Platz mehr fanden<br />
Anteil % am Wohnungsmarkt<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Mietpreisentwicklung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> von 1815 -1870<br />
Mietpreisentwicklung<br />
<strong>bis</strong> 90<br />
90 - 150<br />
150 - 300<br />
300 - 600<br />
1815/16 1829/30 1840/41 1850 1860 1870<br />
nach: sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, aaO, 183<br />
Im Zuge dieser durch die Industrialisierung bewirkten Ablösung <strong>der</strong><br />
Großfamilie durch die Kle<strong>in</strong>familie gewann dann die Erkenntnis Platz, dass<br />
für alte Menschen e<strong>in</strong>e eigenständige Alterssicherung notwendig ist.<br />
Jahr<br />
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8
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Haushaltsgröße<br />
Jahr Haushalte 1 Personenhaushalte<br />
<strong>in</strong> %<br />
Durchschnittliche<br />
Haushaltsgröße <strong>in</strong><br />
Personen<br />
1871 8.696.800 6,2 4,64<br />
1880 9.608.900 7,1 4,55<br />
1890 10.584.200 7,1 4,55<br />
1900 12.178.800 7,1 4,49<br />
1910 14.283.400 7,3 4,40<br />
1925 15.274.900 6,7 3,98<br />
1933 17.694 8,4 3,61<br />
nach: P.Marchak, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Frankfurt Suhrkamp<br />
1984,175<br />
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9
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.3 Die Anfänge im Kaiserreich<br />
Als Geburtsurkunde <strong>der</strong> deutschen Sozialpolitik gilt normalerweise -<br />
aber fälschlich - die "Kaiserliche Botschaft" vom 17.11.1881 die <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e materielle Sicherung <strong>der</strong> gewerblichen Arbeiter bei<br />
Krankheit, Invalidität und Alter <strong>in</strong> Aussicht stellte. Die deutsche<br />
Sozialpolitik trat jedoch <strong>in</strong> Wahrheit als wohlfahrtstaatliches Pendant zur<br />
polizeistaatlichen Unterdrückung im Rahmen des "Gesetz betreffend <strong>der</strong><br />
geme<strong>in</strong>gefährlichen Bestrebungen <strong>der</strong> Sozialdemokratie "vom 21.10.1878<br />
<strong>in</strong>s Leben. Dieser "staats und gesellschaftsgefährdenden " Bewegung trat<br />
man nicht zuerst mit e<strong>in</strong>em sozialpolitischen Programm entgegen; son<strong>der</strong>n<br />
weiter zurückreichenden Plänen für e<strong>in</strong> Ausnahmegesetz gegen die<br />
Sozialdemokratie. Nach Liebknechts Gothaer Programm von 1875, das dem<br />
als Bedrohung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft empfundenen<br />
organisatorischen Zusammenschluß <strong>der</strong> sozialdemokratischen<br />
Arbeiterbewegung entsprach, folgte <strong>der</strong> erste vom Reichstag abgelehnte<br />
und schließlich <strong>der</strong> zweite, angenommene Entwurf des Sozialistengesetzes.<br />
Die Aufgabe <strong>der</strong> Sozialversicherung sollte nicht dar<strong>in</strong> bestehen, den<br />
bedürftigen Gruppen <strong>der</strong> Gesellschaft wirtschaftlich-sozial zu helfen, als<br />
vielmehr dar<strong>in</strong>, die bedrohlich ersche<strong>in</strong>enden Gruppen politisch-sozial zu<br />
schwächen 12 . Bismarcks Interesse an staatlichen Fonds und<br />
Sicherungssystemen hatte damit zu tun, dass er jede Art <strong>der</strong> vorbeugenden,<br />
gefahrenverm<strong>in</strong><strong>der</strong>nden Arbeiterschutzgebung als E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Sphäre<br />
des e<strong>in</strong>zelnen Unternehmers ablehnte. Die Konzentration auf die monetäre<br />
Abgeltung e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>getretener Schäden, die mit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Arbeiterexistenz verbunden waren, rückte damit <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund <strong>der</strong><br />
Bismarckschen Überlegungen. In se<strong>in</strong>em autokrativen - patriarchalischen<br />
Bild von Schutz und Sicherheit, war ke<strong>in</strong> Platz für Entscheidungsfreiheit<br />
und Mitspracherecht des Individuums. Er versprach sich außerdem e<strong>in</strong>en<br />
erheblichen gesellschaftspolitischen Stabilitätsgew<strong>in</strong>n.<br />
"Ich habe lange genug <strong>in</strong> Frankreich gelebt, um zu wissen, dass die<br />
Anhänglichkeit <strong>der</strong> meisten Franzosen an die Regierung ... aber doch<br />
schließlich auch an das Land wesentlich damit <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung steht, dass die<br />
meisten Franzosen Rentenempfänger vom Staat s<strong>in</strong>d ... Die Leute sagen:<br />
Wenn <strong>der</strong> Staat zuschaden geht, dann verliere ich me<strong>in</strong>e Rente... 13 ".<br />
Bismarcks Sozialpolitik bezweckte nicht Sicherung und soziale<br />
Angleichung, son<strong>der</strong>n Sicherung als Ersatz für soziale Angleichung und als<br />
12 H.Rothfels: Bismark, <strong>der</strong> Osten und das Reich, Darmstadt 1962, 169 “ Aber man muß es<br />
mit scharfer Zuspitzung aussprechen: <strong>in</strong> <strong>der</strong> praktischgen Zielsetzung ist Bismarks<br />
Sozialpolitik we<strong>der</strong> vom religiösen noch von fürsorglichen Intressen bestimmt, sie gilt<br />
we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Seele noch <strong>der</strong> wohlfahrt des E<strong>in</strong>zelnen....., sie ist vielmehr pr<strong>in</strong>zipiell gedacht<br />
vom Staate und Zielt auf das Wohl <strong>der</strong> staatlich gee<strong>in</strong>ten Geme<strong>in</strong>schaft”. vgl auch<br />
O.Vossler: Bismarks Sozialpolitik, Darmstadt 19<br />
13 G.A.Ritter: Sozialversicherung <strong>in</strong> Deutschland und England. Entstehung und<br />
Grundzüge im Vergleich, München 1983, 29.<br />
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10
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Mittel gegen proletarische Bestrebungen. Sie beabsichtigte ke<strong>in</strong>e soziale<br />
Teilhabe <strong>der</strong> arbeitenden Bevölkerung am Wohlstand des Staates zu se<strong>in</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>en die ärgste Not im Alter o<strong>der</strong> bei Invalidität m<strong>in</strong><strong>der</strong>nden<br />
Beitrag zu leisten 14 . Die Rente sollte so bemessen werden, dass sie<br />
“e<strong>in</strong>erseits nicht nur ... e<strong>in</strong> Taschengeld darstellt, an<strong>der</strong>seits aber auch die<br />
Möglichkeit zu e<strong>in</strong>er bescheidenen Lebenshaltung” bietet 15 .<br />
Der Begriff <strong>der</strong> “bescheidenen Lebensführung” be<strong>in</strong>haltete e<strong>in</strong> höheres<br />
Maß von Sicherheit und Hilfe als die damalige Armenpflege. An<strong>der</strong>seits<br />
brauchte die Rente nach <strong>der</strong> Argumentation des Gesetzgebers, nicht die<br />
Höhe <strong>der</strong> Unfallrente von 2/3 des Lohnes bei Invalidität, erreichen,<br />
“... e<strong>in</strong>mal weil sonst bei <strong>der</strong> großen Anzahl <strong>der</strong> Beteiligten die erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Mittel überhaupt nicht zu beschaffen se<strong>in</strong> würden, sodann mit Rücksicht<br />
darauf, dass auch e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Rente dem alternden Arbeiter <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
überwiegenden Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle e<strong>in</strong> Unterkommen zu sichern geeignet ist,<br />
welches ihm e<strong>in</strong>e gegen Wohnungs- und Nahrungssorgen geschützte<br />
Existenz bietet. Denn <strong>der</strong>artige bare Zuschüsse e<strong>in</strong>es Hausgenossen haben<br />
gerade <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>em Haushalt e<strong>in</strong>en verhältnismäßig hohen Wert, und<br />
ihr Wert wird noch gesteigert, wenn <strong>der</strong> Hausgenosse nebenher noch leichte<br />
Hilfsleistungen im Hause verrichten kann. Und selbst für den<br />
alle<strong>in</strong>stehenden erwerbsunfähigen Arbeiter bildet <strong>der</strong> gesetzlich gesicherte<br />
Rechtsanspruch auf e<strong>in</strong>e feste Rente, selbst wenn dieselbe niedrig ist, im<br />
Vergleich zu se<strong>in</strong>er <strong>bis</strong>herigen Hilfs- und Aussichtslosigkeit immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
wertvolle Verbesserung se<strong>in</strong>er Lage” 16 .<br />
Man will nur die allgeme<strong>in</strong> gem<strong>in</strong><strong>der</strong>te körperliche o<strong>der</strong> geistige<br />
Fähigkeit zur Fortsetzung <strong>der</strong> Erwerbstätigkeit versichern, also gleichsam<br />
e<strong>in</strong> personenbezogenes, im körperlichen o<strong>der</strong> geistigen Zustand des<br />
Arbeiters begründetes Risiko, das mit <strong>der</strong> Gelegenheit zur tatsächlichen<br />
Arbeitsaufnahme "begrifflich" nichts zu tun hat 17 . Von dieser Sicht aus<br />
def<strong>in</strong>iert man die E<strong>in</strong>-Drittel-Invalidität außerordentlich restriktiv.<br />
Weiterh<strong>in</strong> soll die Rente nur für e<strong>in</strong>e bescheidene Lebensunterhalt an<br />
e<strong>in</strong>em billigen Ort ausreichen, wozu die Invalidenrente de facto genauso<br />
wenig ausreichend ist wie die Altersrente. Man erwartet das die<br />
14 Lujo Brentao zeigt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> “Grundzüge zur Alters- und<br />
Invalidenversicherung” vom 6.7.1887 daß den Versicherten nur <strong>der</strong> Betrag als Rente <strong>in</strong><br />
Aussicht gestellt wurde, <strong>der</strong> “zur Entlasstung <strong>der</strong> besherigen Armenpflege erfor<strong>der</strong>lich ist”<br />
nach Richter,G: Sozialversicherung <strong>in</strong> Deutschland und England; Brentano betont: “jener<br />
Gedanke, daßdem <strong>in</strong>valide und alt gewordenen Arbeiter e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Lebenshaltung zur<br />
Zeit <strong>der</strong> Arbeitsfähigkeit angemessene Rente zuteil werde, also die Erfüllung <strong>der</strong> von<br />
jenem idealen Ziele,dem Arbeiter e<strong>in</strong>e menschenwürdige Existenz zu verschaffen,<br />
getragene Versicherungsfor<strong>der</strong>ung, wird sogar ausdrücklich abgewiesen” (Lujo Brentano,<br />
Die beabsichtigte Alters- und Invalidenversorgung für Arbeiter und ihre Bedeutung, <strong>in</strong>:<br />
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N.F. 16/1888, 1 (29)<br />
15 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 4,<br />
Aktenstück Nr.10<br />
16 a.a.O.<br />
17 Nicht die Erwerbs Erwerbstätigkeit<br />
Erwerbs<br />
tätigkeit war das Risiko, son<strong>der</strong>n die Erwerbs Erwerbsfähigkeit<br />
Erwerbs Erwerbsfähigkeit<br />
fähigkeit.<br />
fähigkeit<br />
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11
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
"... Rentenempfänger tunlichst auf dem Lande ihre Wohnung nehmen,<br />
dadurch die Bevölkerung des platten Landes vermehren und letzterem neben<br />
dem Rest ihrer Arbeitskraft auch vermehrten Geldumsatz zuführen 18 ".<br />
Aus Bismarcks Politik <strong>der</strong> sozialen Sicherung entstand ke<strong>in</strong> System<br />
sozialer Sicherung, wenn man unter Sicherung versteht, dass jemand ohne<br />
Furcht vor materieller Not krank, <strong>in</strong>valide o<strong>der</strong> alt werden konnte. Das<br />
konnte die weit überwiegende Zahl <strong>der</strong> Versicherten nicht. Auch dass es zu<br />
e<strong>in</strong>em System <strong>der</strong> Zwangsversicherung mit e<strong>in</strong>heitlichen schematischen<br />
Regelungen kam, die nicht nach <strong>in</strong>dividuellen Bedarfslagen zu variieren<br />
waren, hatte ideologische Gründe. Im Bild des <strong>in</strong>kompetenten und<br />
unmündigen Armen und Arbeiters, sah Bismarck ke<strong>in</strong><br />
selbstverantwortliches und mündiges Individuum, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e<br />
"Klasse" <strong>der</strong> er e<strong>in</strong> Lehrstück <strong>in</strong> staatlicher Fürsorge erteilte, mit <strong>der</strong> er den<br />
"besitzlosen Klassen <strong>der</strong> Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten<br />
und am wenigsten unterrichteten s<strong>in</strong>d" durch "erkennbare direkte Vorteile"<br />
verdeutlichen sollte, dass <strong>der</strong> Staat auch e<strong>in</strong>e "ihren Bedürfnissen und<br />
Interessen dienende Institution" sei 19 .<br />
Jede e<strong>in</strong>zelne <strong>in</strong>stitutionelle Regelung war Ausdruck längerer<br />
Verhandlungen, Revisionen und Kompromisse. E<strong>in</strong>es wurde allerd<strong>in</strong>gs mit<br />
<strong>der</strong> Sozialgesetzgebung beseitigt: Die Tradition selbstverwalteter<br />
Solidarfonds (freiwillige Hilfskassen). Diese zwischen Individuum und<br />
abstraktem Kollektiv (Versicherungsgeme<strong>in</strong>schaft) stehenden Institutionen,<br />
wichen dem Polarisierungsprozess <strong>der</strong> Gleichzeitigkeit von<br />
Individualisierung und Sozialisierung e<strong>in</strong>er Gefahr als Risiko.<br />
Trotzdem kann man von e<strong>in</strong>er Grundlegung e<strong>in</strong>es Systems sozialer<br />
Sicherung sprechen. Grundlegung <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass damals vier<br />
Ordnungspr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>geführt worden s<strong>in</strong>d, die <strong>der</strong> sozialen Sicherung <strong>bis</strong><br />
heute, wenn auch mit Modifizierungen, das Gerüst gegeben haben und die<br />
geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d wenn von unserem traditionellen Sozialversicherungssystem<br />
gesprochen wird:<br />
– Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Versicherung, das Beiträge e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t und<br />
Anspruchsrechte auf Leistungen begründet;<br />
– Die Verb<strong>in</strong>dung von staatlichem Zwang und sozialer Selbstverwaltung;<br />
– Der Grundsatz, dass Sozialleistungen nach Maßgabe rechtlich<br />
normierter Anspruchsursachen und nicht nach Maßgabe <strong>in</strong>dividuell<br />
bestimmbarer Leistungszwecke bemessen werden,<br />
– schließlich die organisatorische Vielfalt.<br />
18Richter, G.A. , aaO,33 Fn 71 “Denkschrift betr. Alters- und Invalidenversicherung”, die<br />
zusammen mit den “Grundzügen zu Alters- und Invalidenversicherung” am 6.7.1887 an<br />
sämtliche Bundesregierungen übersand wurden.<br />
19 Ritter, G.A.,aao 28.<br />
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12
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.3.1 I.3.1 Das Das Invalidenversicherungsgesetz Invalidenversicherungsgesetz (IVG) (IVG) vom vom 22.6.1889 22.6.1889<br />
20<br />
Zur Durchführung des Gesetzes wurden <strong>in</strong> Deutschland 31<br />
Versicherungsanstalten für die e<strong>in</strong>zelnen Bundesstaaten errichtet 21 . Dazu<br />
kamen noch 9 "zugelassene Kassene<strong>in</strong>richtungen" 22 die gegründet werden<br />
konnten (§ 8). Das Invalidengesetz sollte dem Erwerbsunfähigen e<strong>in</strong>e<br />
Invalidenrente und dem über 70 jährigen e<strong>in</strong>e Altersrente garantieren. Das<br />
Gesetz erfasste versicherungspflichtige und versicherungsberechtigte<br />
Personen.<br />
Versicherungspflichtig waren:<br />
– alle gegen Lohn o<strong>der</strong> Gehalt 23 <strong>in</strong> je<strong>der</strong> beliebigen Höhe beschäftigten<br />
Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrl<strong>in</strong>ge, Dienstboten, Besatzungen<br />
deutscher Schiffe,<br />
– die gegen Lohn o<strong>der</strong> Gehalt von jährlich nicht mehr als 2000.- Mark<br />
beschäftigten Betriebsbeamten, Werkmeister, Techniker,<br />
Handlungsgehilfen und -lehrl<strong>in</strong>ge (ausgenommen die <strong>der</strong> Apotheken),<br />
sonstigen Angestellten 24 , <strong>der</strong>en dienstliche Beschäftigung ihren<br />
Hauptberuf bildeten, Lehrer, Erzieher und Schiffsführer (galt nicht für<br />
beamtete) und<br />
– die (selbständigen) Hausgewerbetreibenden <strong>der</strong> Tabakfabrikation und<br />
<strong>der</strong> Textil<strong>in</strong>dustrie (§ 1, 2)<br />
Voraussetzung war e<strong>in</strong> Alter von m<strong>in</strong>destens 16 Jahren 25 .<br />
Versicherungsberechtigt waren:<br />
– alle unter Punkt I genannten mit e<strong>in</strong>em jährliches Gehalt von 2000.- -<br />
3000.- Mark,<br />
20 Die Darstellung <strong>der</strong> Invalidenversicherung erfolgt nach dem “ Leitfaden für die soziale<br />
Praxis” von Anton Rezbach, Freiburg 1906<br />
21 Baden, Braunschweig, Elsaß - Lothr<strong>in</strong>gen, Hessen, Oldenburg, Mecklenburg, Sachsen,<br />
Württemberg haben jeweils 1 Anstalt, Bayern hat 8, Preußen 13, kle<strong>in</strong>ere Staaten haben<br />
e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Anstalt für die thür<strong>in</strong>gischen Staaten <strong>in</strong> Weimar und für die Hansestädte<br />
<strong>in</strong> Lübeck<br />
22 Pensionskasse <strong>der</strong> preußischen, bayrischen, badischen Staatseisenbahnverwaltung und<br />
die badische Bodenseedampfschiffahrts- und Sal<strong>in</strong>enverwaltung, die<br />
Reichsautobahnverwaltung und vier Knappschaftliche Pensionskassen<br />
23 Als Lohn o<strong>der</strong> Gehalt galten auch Tantiemen und Naturalbezüge. Bei bloßer<br />
Gewährung von freiem Unterhalt bestand ke<strong>in</strong>e Versicherungspflicht.<br />
24 Nach § 2 hatte <strong>der</strong> Bundesrat die Vollmacht die Versicherungspflicht auszudehnen.<br />
25 Das M<strong>in</strong>destalter von 16 Jahren war durch die Novelle vom 10.11.22 beseitigt worden,<br />
das aber K<strong>in</strong><strong>der</strong>arbeit, auch 1926 durchaus noch im bereich des möglichen lag, zeigt e<strong>in</strong><br />
Kommentar <strong>zum</strong> AVG “ E<strong>in</strong>e Grenze nach unten besteht grundsätzlich nicht mehr . Doch<br />
wird bei <strong>der</strong> Beschäftigung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n beson<strong>der</strong>s genau zu prüfen se<strong>in</strong>,ob nicht e<strong>in</strong>e<br />
unverb<strong>in</strong>dliche Hilfeleistung nach § 1617 BGB vorliegt” (An. 13 a zu § 1 AVG , <strong>in</strong>: Dersch:<br />
Angestelltenversicherungsgesetz . Kommentar, 1926 )<br />
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13
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
– die selbständigen Gewerbetreibenden und sonstigen<br />
Betriebsunternehmer mit regelmäßig nicht mehr als zwei Lohnarbeitern<br />
– sämtliche Hausgewerbetreibenden und<br />
– die gegen bloßen Unterhalt und die mit vorübergehenden<br />
Dienstleistungen Beschäftigten.<br />
Voraussetzung war e<strong>in</strong> Alter von weniger als 40 Jahren.<br />
Nach § 14 durften alle vorstehend Genannten beim Ausscheiden aus<br />
dem die Versicherung begründenden Arbeitsverhältnis ihre Versicherung<br />
<strong>in</strong> jedem Alter fortsetzen o<strong>der</strong> später wie<strong>der</strong> erneuern; ebenso die<br />
Personen, für welche die <strong>bis</strong>her bestehende Versicherungspflicht aufgehört<br />
hatte.<br />
I.3.1.1 Pflichten <strong>der</strong> Versicherten<br />
Die Mittel für die Aufgaben <strong>der</strong> Invalidenversicherung wurden nur<br />
teilweise durch die Versicherten selbst beschafft.<br />
E<strong>in</strong>en Teil (Reichszuschuss von 50.- DM für jede Rente) musste das<br />
Reich aufbr<strong>in</strong>gen. Denn, so die Begründung <strong>zum</strong> Reichzuschuss :<br />
” endlich hat auch das Geme<strong>in</strong>wesen als solches, das Reich, welches durch<br />
se<strong>in</strong>e Gesetzgebung e<strong>in</strong>er großen allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dlichen sittlichen<br />
Verpflichtung gerecht zu werden sucht, um das berechtigte Bedürfnis des<br />
Arbeiters nach e<strong>in</strong>em erreichbaren von Fürsorge für den Fall des Alters und<br />
<strong>der</strong> Invalidität zu befriedigen und dadurch die gesamte Erwerbs- und<br />
Gesellschaftsordnung zu stützen, e<strong>in</strong> unmittelbares und lebhaftes Interesse<br />
daran, dass dieser als berechtigt anerkannte Zweck auch wirklich erreicht<br />
werde. Deshalb wird sich das Reich nicht damit begnügen dürfen, lediglich<br />
die zunächst Beteiligten nämlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu<br />
Aufwendungen für den erstrebten Zweck anzuhalten; vielmehr wird das an<br />
<strong>der</strong> geplanten E<strong>in</strong>richtung so stark <strong>in</strong>teressierte Geme<strong>in</strong>wesen e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong><br />
erfor<strong>der</strong>lichen materiellen Opfer auf se<strong>in</strong>e eigene Schulter, auf allgeme<strong>in</strong>e<br />
Reichsmittel zu übernehmen haben. Diese Verpflichtung ist umso weniger<br />
abzuweisen, als an<strong>der</strong>nfalls wenigstens für e<strong>in</strong>zelne Berufszweige die Last<br />
unerschw<strong>in</strong>glich, die Erreichung des Zwecks also <strong>in</strong> Frage gestellt würde “ 26<br />
E<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Teil trugen die Arbeitgeber . Diese Beitragslast müsse, so das<br />
Argument des Gesetzgebers, von denjenigen anteilig mitgetragen werden,<br />
“... welche an <strong>der</strong> humanen Sicherstellung des Loses <strong>der</strong> Arbeiter überhaupt<br />
e<strong>in</strong> Interesse haben". Das hierzu die Arbeitgeber <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie gehören<br />
leuchtet e<strong>in</strong>. Wirtschaftlich angesehen bedeutet die Alters- und<br />
Invalidenrente <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>en Ersatz für die durch die Arbeit selbst<br />
bed<strong>in</strong>gte M<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeitskraft . Dieser Ersatz wird folgerichtig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Hauptsache aus dem Arbeitsertrage zu entnehmen, gewissermaßen zu<br />
reservieren se<strong>in</strong> . Wie aber das Arbeitsverhältnis selbst e<strong>in</strong>e gewisse<br />
Solidarität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begründet, <strong>in</strong>sofern<br />
26 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 4,<br />
Aktenstück Nr.10<br />
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14
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
beide an dem Arbeitsvertrag teilhaben, so ergibt sich, dass auch <strong>der</strong><br />
Arbeitgeber sich <strong>der</strong> Verpflichtung, zu dem Ersatz <strong>der</strong> gem<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Arbeitskraft des Arbeiters beizutragen, nicht entziehen darf” 27.<br />
Und e<strong>in</strong>en weiteren Teil die Arbeitnehmer - im Falle <strong>der</strong><br />
Selbstversicherung alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Selbstversicherte. Das Existenzm<strong>in</strong>imum des<br />
Invaliden sollte ja durch e<strong>in</strong>e soziale Versicherung aufgebracht werden, zu<br />
<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Arbeiter <strong>in</strong> eigenem Interesse Mittel beizutragen hatte. Aber<br />
diese Beitragspflicht des Arbeiters erläuterte <strong>der</strong> Gesetzgeber nicht nur mit<br />
<strong>der</strong> versicherungstechnischen Argumentation, dass Leistung und<br />
Gegenleistung sich gegenseitig bed<strong>in</strong>gen und daher je<strong>der</strong> Beitrag<br />
rentensteigernd wirke, son<strong>der</strong>n er begründete die Beitragspflicht<br />
sozialethisch, <strong>in</strong>dem er zu Bedenken gab,<br />
“... dass die allmähliche Verr<strong>in</strong>gerung und das endliche Schw<strong>in</strong>den <strong>der</strong><br />
Erwerbsfähigkeit das natürliche Los jedes Arbeiters ist, gegen welches er<br />
nach dem Maße se<strong>in</strong>er Kräfte Vorsorge zu treffen, sittlich und aus Gründen<br />
<strong>der</strong> öffentlichen Wohlfahrt verpflichtet ist. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung, bei welcher dem<br />
Versicherten das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Verantwortlichkeit für die<br />
Ausgestaltung se<strong>in</strong>er Zukunft verloren g<strong>in</strong>ge, würde für unser Volksleben<br />
verhängnisvolle Folgen haben, Während es auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite von hohem<br />
Wert ist, dem Arbeiter das Bewusstse<strong>in</strong> zu erhalten, das <strong>der</strong> <strong>in</strong> gesunden<br />
Tagen erworbene Arbeitsverdienst nicht <strong>zum</strong> sofortigen völligen Verbrauch<br />
bestimmt, dass es vielmehr Pflicht ist, mittels e<strong>in</strong>es mäßigen Teils dieses<br />
Erwerbes dazu beizutragen, dass die nötigsten Mittel zur Existenz auch dann<br />
nicht fehlen, wenn <strong>der</strong> Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Arbeit<br />
beschafft werden kann. Gerade weil <strong>der</strong> Arbeiter für den Fall se<strong>in</strong>er<br />
Erwerbsunfähigkeit vor Inanspruchnahme <strong>der</strong> Armenpflege tunlichst<br />
bewahrt werden soll, bedarf es e<strong>in</strong>er von ihm selbst aufzubr<strong>in</strong>genden<br />
Leistung, welcher als Gegenleistung <strong>der</strong> rechtliche Anspruch auf Alters- und<br />
Invalidenversorgung entspricht” 28<br />
Im Falle <strong>der</strong> Versicherungspflicht war für jede Woche e<strong>in</strong> nach 5 29<br />
Lohnklassen abgestufter Versicherungsbeitrag und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />
<strong>in</strong> die Quittungskarte e<strong>in</strong>zuklebenden Marke zu entrichten. Im Laufe <strong>der</strong><br />
vorausgehenden Diskussionen, wurde man sich darüber klar, dass die<br />
Rente sich nach dem Arbeitsverdienst bemessen müsse. Der Vorschlag des<br />
Referentenentwurfs, die Renten nach Ortsklassen zu differenzieren, weil<br />
<strong>der</strong> für die Höhe des Krankengeldes <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>dekrankenversicherung<br />
maßgebende ortsübliche Tagelohn e<strong>in</strong> ungefährer Maßstab dafür sei, mit<br />
welchem Lohn <strong>der</strong> Arbeiter an dem betreffenden Ort auskommen könnte,<br />
wurde mit dem Argument abgelehnt, dass Ortsklassenpr<strong>in</strong>zip entspreche<br />
zwar den örtlichen Verschiedenheiten als solchen, nicht aber den<br />
<strong>in</strong>dividuell verschiedenen Lohn- und Lebensverhältnissen <strong>der</strong> Arbeiter.<br />
“Die Ortsklassen verleugnen das Pr<strong>in</strong>zip, auf dem sie aufgebaut werden<br />
27a.a.O.<br />
28 a.a.O.<br />
29 Anfänglich waren es nur 4 Lohnklassen durch die Gesetzesän<strong>der</strong>ung von 1899 wurde<br />
e<strong>in</strong>e 5. Lohnklasse e<strong>in</strong>geführt.<br />
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15
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
sollen, denn dieses Pr<strong>in</strong>zip ist doch ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, als dass die Renten und die<br />
Beiträge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen Verhältnis zu den Lebensgewohnheiten und den<br />
ihnen zugrunde liegenden Löhnen stehen sollen.” 30 , 31 .<br />
Diese Wochenbeiträge waren (<strong>bis</strong> 1911) 32 festgesetzt (§§ 30, 32, 34, 131).<br />
auf :<br />
I. Lohnklasse <strong>bis</strong> 350.- Mark/Jährlich 14.-Pf/Woche<br />
.II. Lohnklasse von 350.- - 550.- 20.-Pf/Woche<br />
III. Lohnklasse von 550.- - 850 24.-Pf/Woche<br />
IV. Lohnklasse von 850.- - 1150 30.-Pf/Woche<br />
V. Lohnklasse über 1150.-<br />
Mark/Jährlich<br />
35.-Pf/Woche<br />
Die Marken waren bei <strong>der</strong> Post erhältlich. Sie mussten alsbald nach dem<br />
E<strong>in</strong>kleben entwertet werden, durch E<strong>in</strong>tragung des Datums mittels e<strong>in</strong>es<br />
haltbaren Stoffs (T<strong>in</strong>te, T<strong>in</strong>tenstift, Stempel; § 141). Die Marken hatte <strong>der</strong><br />
Arbeitgeber zu kleben. Die Quittungskarten mussten <strong>in</strong>nerhalb von 2<br />
Jahren nach ihrer Ausstellung bei <strong>der</strong> unteren Verwaltungsbehörde <strong>zum</strong><br />
Austausch vorgelegt werden, dann bekam man e<strong>in</strong>e Besche<strong>in</strong>igung über<br />
den Inhalt <strong>der</strong> Karte, welche gut aufzuheben war. Die Beitragswoche<br />
begann mit dem Montag e<strong>in</strong>er jeden Kalen<strong>der</strong>woche.<br />
Aber nicht nur <strong>der</strong> nach Klassen differenzierte Lohn, von dem die Rente<br />
praktisch e<strong>in</strong>en Teilbetrag darstellt, auch dieser Teilbetrag selbst wurde aus<br />
versicherungstechnischen und sozialpädagogischen Gründen abgestuft.<br />
Wollte man nämlich, so die Begründung,<br />
“ allen Invaliden ohne Rücksicht darauf, wie lange sie Beiträge geleistet<br />
(haben) ... den gleichen Betrag des für sie <strong>in</strong> Betracht kommenden Lohns als<br />
Rente gewähren, so würden diejenigen Arbeiter, welche früh <strong>in</strong> den Genuss<br />
<strong>der</strong> Rente treten, durch Ersparung von Beiträgen e<strong>in</strong>en erheblichen Vorteil<br />
vor denjenigen erlangen, welche erst nach langjähriger Beitragszeit <strong>in</strong> den<br />
Genuss <strong>der</strong> Vorteile des Gesetzes e<strong>in</strong>treten. Grundsätzlich wäre dies zwar, da<br />
es sich um e<strong>in</strong>e Versicherung auf Gegenseitigkeit handelt, bei welcher e<strong>in</strong>er<br />
für den an<strong>der</strong>en E<strong>in</strong>zutreten hat, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erwägung allenfalls <strong>in</strong> Kauf zu<br />
nehmen, da es sich hier um die Befriedigung e<strong>in</strong>es sozialpolitischen<br />
Bedürfnisses handelt, bei welcher die Durchführung e<strong>in</strong>es absolut gerechten<br />
Verhältnisses zwischen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Leistung und <strong>der</strong> zu gewährenden<br />
30 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 1, 210<br />
31 Auch die SPD - welche auf die Interessen ihrer Facharbeiter Rücksicht nehmen mußte -<br />
trat ausdrücklich für e<strong>in</strong>e Staffelung <strong>der</strong> Renten nach Lohnklassen e<strong>in</strong>, mit dem<br />
Argument, daß die gelernten Arbeiter “ an<strong>der</strong>e Lebensbedürfnisse haben als <strong>der</strong><br />
sogenannte Tagesarbeiter” auch würden die besser verdienenden Arbeiter auch höhere<br />
Beiträge zahlen, um e<strong>in</strong>e Rente zubekommen “die zu ihrem wirklich gehabten Lohn im<br />
E<strong>in</strong>klang steht” (Grillenberger (SPD) Rede vor dem Reichstag am 6.12.1888,<br />
nach:Ritter,aao,40 Fn107.<br />
32 Diese Beiträge betrugen <strong>bis</strong> zur ersten Reform vom 13.7.1899 sogar 16, 24, 32, 40, und<br />
48 Pfenige/Woche (Syrup-Neuloh, 100 Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939, Stuttgart,<br />
1957,130.<br />
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16
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Gegenleistung überhaupt nicht erreichbar ist. Es würde aber den praktischen<br />
Nachteil haben, das junge Leute e<strong>in</strong>e verhältnismäßig zu hohe Rente erhalten<br />
würden, ferner, dass <strong>der</strong> Anreiz, durch tunlichst lange und regelmäßige<br />
Arbeit e<strong>in</strong>e Erhöhung <strong>der</strong> Rente sich zu erwerben, fortfiele 33 und das die<br />
Aussicht auf die durch Ersparung von Beiträgen zu erlangenden Vorteile<br />
e<strong>in</strong>en starken Antrieb zur Simulation bieten möchten. Es gehört vielmehr zu<br />
den erzieherischen Aufgaben des Gesetzes, die fortgesetzte Verwertung <strong>der</strong><br />
noch vorhandenen Arbeitskraft zu för<strong>der</strong>n. 34 “<br />
Aufgrund dieser Überlegungen wurden die e<strong>in</strong>zelnen Invalidenrenten <strong>in</strong><br />
den verschiedenen Lohnklassen nach <strong>der</strong> Versicherungsdauer gestaffelt,<br />
aus dieser Stafflung entstanden dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> 1957er Rentenreform die<br />
anrechnungsfähigen Versicherungsjahre.<br />
I.3.1.2 Rechte <strong>der</strong> Versicherten:<br />
Die Versicherten hatten e<strong>in</strong>en Rechtsanspruch auf Gewährung <strong>der</strong><br />
Invalidenrente und <strong>der</strong> Altersrente, aber beides nur nach Zurücklegung<br />
<strong>der</strong> gesetzlichen Wartezeit und bei Leistung <strong>der</strong> vorschriftsmäßigen<br />
Beiträge 35 .<br />
I.3.1.3 Invalidenrente,<br />
Um diese beanspruchen zu können, musste man entwe<strong>der</strong> dauernd<br />
erwerbsunfähig se<strong>in</strong>, d.h. es musste <strong>in</strong>folge von Alter, Krankheit o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Gebrechen die Erwerbsfähigkeit auf weniger als e<strong>in</strong> Drittel (<strong>bis</strong><br />
1900 e<strong>in</strong> Sechstel) herabgesetzt se<strong>in</strong>, o<strong>der</strong> m<strong>in</strong>destens 26 Wochen<br />
ununterbrochene Erwerbsunfähigkeit vorgelegen haben.<br />
Invalidität lag vor, wenn <strong>der</strong> Versicherte <strong>in</strong>folge von Krankheit o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Gebrechen o<strong>der</strong> Schwäche se<strong>in</strong>er körperlichen o<strong>der</strong> geistigen<br />
Kräfte nicht mehr im Stande war, durch e<strong>in</strong>e Tätigkeit, die se<strong>in</strong>en Kräften<br />
und Fähigkeiten entsprach und ihm unter billiger Berücksichtigung se<strong>in</strong>er<br />
Ausbildung und se<strong>in</strong>es <strong>bis</strong>herigen Berufs zugemutet werden konnte, e<strong>in</strong><br />
Drittel (<strong>bis</strong> 1900 e<strong>in</strong> Sechstel) dessen zu erwerben, was körperlich und<br />
geistig gesunde Personen <strong>der</strong>selben Art mit ähnlicher Ausbildung <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong>selben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegten (§§ 15, 5 IV).<br />
Sobald Invalidität nicht mehr vorlag, musste die Rente entzogen werden.<br />
Die Versicherungsanstalt war berechtigt e<strong>in</strong> Heilverfahren zur<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit zu betreiben. Bei Weigerung des<br />
33 Hervorhebung E.I., man beachte das diszipl<strong>in</strong>ierende Argument, welches sich <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />
RRG´92, Begründung zur Gesamtleistungsbewertung fortzieht<br />
34 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 4,<br />
Aktenstück Nr.10<br />
35 Das Recht auf Rente bestand nicht alle<strong>in</strong> aufgrund e<strong>in</strong>er versicherungspflichtigen<br />
Beschäftigung, son<strong>der</strong>n nur wen die Beitragsmarken tatsächlich geklebt wurden.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Rentenempfängers konnte die Rente ganz o<strong>der</strong> <strong>zum</strong> Teil entzogen werden<br />
(§ 47).<br />
Man musste jedoch erst e<strong>in</strong>e bestimmte Wartezeit zurückgelegt haben<br />
bevor man e<strong>in</strong>e Rente beanspruchen konnte. Es waren<br />
versicherungstechnische Überlegungen, die den Gesetzgeber veranlassten,<br />
die Leistungen <strong>der</strong> Invalidenversicherung von e<strong>in</strong>er Vorleistung des<br />
Versicherten, <strong>der</strong> Wartezeit, abhängig zu machen. Die Wartezeit für die<br />
Invalidenrente betrug 60 Beitragsmonate o<strong>der</strong> 260 Beitragswochen. Der<br />
Gesetzgeber bezeichnete sie als<br />
“... unentbehrlich, weil sonst dem Zweck des Gesetzes zuwie<strong>der</strong>, durch<br />
kurze, vieleicht nur während weniger Tage geleisteten Arbeit und<br />
unverhältnismäßig ger<strong>in</strong>gen Beiträgen je<strong>der</strong> den Anspruch auf die<br />
M<strong>in</strong>destrente würde erwerben können und durch die hierbei<br />
unvermeidlichen Mehrkosten die eigentlichen Berufsarbeiter geschädigt<br />
werden müssen”.<br />
Die wesentlich längere Wartezeit für die Altersrente, nämlich 180<br />
Beitragsmonate o<strong>der</strong> 780 Beitragswochen, wurde mit <strong>der</strong> Argumentation<br />
begründet, e<strong>in</strong> je<strong>der</strong> könne leicht berechnen, wie viel Zeit er noch brauche,<br />
um den Anspruch auf die Altersrente zu erlangen.<br />
“Je kürzer also die Wartezeit für letztere bemessen wird, desto näher liegt die<br />
Besorgnis, dass dieselbe zu e<strong>in</strong>em Gegenstand <strong>der</strong> Spekulation gemacht wird,<br />
und das alternde Personen lediglich zu dem Zweck noch spät <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e die<br />
Versicherungspflicht begründende Beschäftigung e<strong>in</strong>treten, um sich nach<br />
Leistung ger<strong>in</strong>ger Beiträge e<strong>in</strong>e zur Summe <strong>der</strong> letzteren <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis<br />
stehende Altersrente zu sichern. Mit <strong>der</strong> Invalidenrente verhält es sich<br />
<strong>in</strong>sofern an<strong>der</strong>s, als <strong>der</strong> Anspruch auf den Bezug <strong>der</strong>selben nicht im Voraus<br />
berechnet werden kann, weil niemand mit Sicherheit voraussagen kann, wie<br />
lange se<strong>in</strong>e Erwerbsfähigkeit noch vorhalten wird. E<strong>in</strong>e Spekulation auf den<br />
Bezug <strong>der</strong> Invalidenrente ist also <strong>zum</strong> m<strong>in</strong>desten erheblich erschwert” 36 .<br />
Die Wartezeit verkürzte sich für diejenigen, welche <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> ersten<br />
fünf Jahre, nachdem die Versicherungspflicht für ihren Berufszweig <strong>in</strong> Kraft<br />
getreten war 37 , erwerbsunfähig wurden. Es wurde ihnen die Dauer e<strong>in</strong>er<br />
früheren Beschäftigung angerechnet , für welche die Versicherungspflicht<br />
bestand o<strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>geführt worden war , aber nur, <strong>in</strong>soweit die<br />
frühere Beschäftigung <strong>in</strong> den Zeitraum von 5 Jahren vor E<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong><br />
Invalidität fiel und m<strong>in</strong>destens 40 pflichtmäßige Marken geklebt worden<br />
waren 38 . Für die Wartezeit wurden, ohne dass Beiträge zu entrichten<br />
36 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 4,<br />
Aktenstück Nr.10<br />
37 Das Gesetz trat am 11.1891, <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Fassung am 1.1.1900 <strong>in</strong> Kraft. Die<br />
Versicherungspflicht <strong>der</strong> Hausgewerbetreibenden <strong>der</strong> Tabak- und Textil<strong>in</strong>distrie bestand<br />
seit dem 4.1.1892 bzw. 2.7.1894.<br />
38 Marken die nach E<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong> Invalidität geklebt wurden waren ungültig. Die<br />
nachträgliche Entrichtung von Pflichtbeiträgen war aus 2 (ausnahmsweise 4), von<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
waren, die vollen Wochen <strong>in</strong> Anrechnung gebracht, während <strong>der</strong>en <strong>der</strong><br />
Versicherte<br />
1. wegen <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> Wehrpflicht e<strong>in</strong>gezogen worden war;<br />
2. <strong>in</strong> Mobilmachungs- o<strong>der</strong> Kriegszeiten freiwillig militärische<br />
Dienstleistungen erbracht hat;<br />
3. wegen besche<strong>in</strong>igter mit zeitweiser Erwerbsunfähigkeit verbundener<br />
Krankheit an <strong>der</strong> Fortsetzung se<strong>in</strong>er Berufstätigkeit verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t gewesen<br />
war. In diesem Fall kam bei ununterbrochener, länger als e<strong>in</strong> Jahr<br />
dauern<strong>der</strong> Krankheit nur e<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Anrechnung.<br />
Zu beachten ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e, dass bei <strong>der</strong> pflichtmäßigen Versicherung<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Weiterversicherung <strong>in</strong>nerhalb zweier Jahre m<strong>in</strong>destens 20<br />
Beiträge, bei <strong>der</strong> Selbstversicherung und ihrer Fortsetzung m<strong>in</strong>destens 40<br />
Beiträge (unter Anrechnung <strong>der</strong> obigen "Ersatzzeiten") entrichtet se<strong>in</strong><br />
mussten, sonst erlosch die Anwartschaft auf die Rente. Der Anspruch auf<br />
Invalidenrente musste bei Unterbrechungen <strong>der</strong> Versicherungspflicht durch<br />
die Anwartschaft erhalten werden . Da aber schon bei E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong><br />
Invalidenversicherung klar war, dass<br />
" ... Leistung und Gegenleistung e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> die Waage halten müssen und die<br />
<strong>in</strong> Aussicht stehenden Leistungen die E<strong>in</strong>richtung fortlaufen<strong>der</strong> Beträge <strong>bis</strong><br />
<strong>zum</strong> E<strong>in</strong>tritt des Alters o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erwerbsunfähigkeit voraussetzen, so müssen<br />
jene Personen, sofern die Anwartschaft <strong>in</strong> vollem Umfang fortbestehen soll,<br />
diejenigen Beiträge fortlaufend weiter entrichtet werden, welche für sie<br />
gezahlt werden müssen, wenn sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Versicherungspflicht<br />
begründendem Beschäftigung geblieben wären. Es wird also <strong>der</strong>jenige,<br />
welcher nach dem Ausscheiden aus <strong>der</strong> Versicherungspflicht das <strong>bis</strong>herige<br />
Versicherungsverhältnis fortsetzt, während <strong>der</strong> Dauer dieser Fortsetzung die<br />
Gesamtbeiträge, welche die Aufrechterhaltung des<br />
Versicherungsverhältnisses erfor<strong>der</strong>t, freiwillig weiter entrichten o<strong>der</strong>, falls<br />
dies nicht geschieht, sich gefallen lassen müssen, dass se<strong>in</strong> eventueller<br />
Anspruch ... e<strong>in</strong>e entsprechende Herabsetzung erfährt”.<br />
Da aber Renten von m<strong>in</strong>imaler Höhe sozialpolitisch unerwünscht s<strong>in</strong>d,<br />
empfiehlt sich<br />
“... die Fortdauer <strong>der</strong> Anwartschaft auf Rente nach dem Ausscheiden aus <strong>der</strong><br />
Versicherungspflicht zeitlich mit <strong>der</strong> Wirkung zu beschränken, dass<br />
<strong>der</strong>jenige, welcher nach dem Ausscheiden aus <strong>der</strong> Versicherungspflicht<br />
während e<strong>in</strong>er bestimmten Reihe von Jahren we<strong>der</strong> von neuem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e die<br />
Versicherungspflicht begründende Beschäftigung e<strong>in</strong>getreten ist, noch die<br />
ausgefallenen Beiträge <strong>in</strong> den dazu bestimmten Fristen Freiwillig weiter<br />
gezahlt hat, die aus dem <strong>bis</strong>herigen Versicherungsverhältnis sich ergebende<br />
Anwartschaft auf Rente verlieren soll. Tritt e<strong>in</strong>e solche Person demnächst von<br />
neuem <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Lohnarbeitsverhältnis, so beg<strong>in</strong>nt für sie e<strong>in</strong> neues<br />
Versicherungsverhältnis, bei welchem die Dauer früherer<br />
Versicherungsverhältnisse und die früher geleisteten Beiträge nicht mehr <strong>in</strong><br />
freiwilligen Beiträgen auf 1 Jahr Beschränkt und nach e<strong>in</strong>getretener Invalidität überhaubt<br />
nicht mehr möglich (§ 14).<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Betracht kommen. Dies ist nicht unbillig, weil die aus <strong>der</strong><br />
Versicherungspflicht ausscheidende Person während mehrerer Jahre Zeit hat,<br />
sich darüber schlüssig zu machen, ob sie sich <strong>der</strong> Gefahr dieses Verlustes<br />
aussetzen o<strong>der</strong> ob sie <strong>der</strong>selben durch freiwillige Fortentrichtung <strong>der</strong> Beiträge<br />
vorbeugen will. 39 ”.<br />
Sie lebte aber wie<strong>der</strong> auf, wenn man das Versicherungsverhältnis wie<strong>der</strong><br />
erneuerte und danach e<strong>in</strong>e Wartezeit von 200 Beitragswochen zurückgelegt<br />
hatte (§ 46).<br />
Da es bei strenger E<strong>in</strong>haltung des Pr<strong>in</strong>zips <strong>der</strong> Wartezeit und <strong>der</strong><br />
Anwartschaft, z B. bei längerer Krankheit o<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, leicht zu<br />
Härten kommen konnte, die nicht mit <strong>der</strong> sozialen Motivierung des<br />
Gesetzes <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen waren, wurden sogenannte Ersatzzeiten<br />
e<strong>in</strong>gerichtet. Hiernach s<strong>in</strong>d für die Erhaltung <strong>der</strong> Anwartschaft, ohne das<br />
Beiträge entrichtet werden müssen, u.a. Zeiten anzurechnen, <strong>in</strong> denen <strong>der</strong><br />
Versicherte <strong>zum</strong> Militär e<strong>in</strong>gezogen worden ist, o<strong>der</strong> durch Krankheit,<br />
Schwangerschaft, Wochenbett zeitweise arbeitsunfähig und nachweislich<br />
verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t gewesen ist, se<strong>in</strong>e Berufstätigkeit auszuüben, o<strong>der</strong> als<br />
Arbeitsloser Arbeitslosenunterstützung bzw. Arbeitslosenfürsorge o<strong>der</strong><br />
Unterstützung aus <strong>der</strong> öffentlichen Fürsorge erhalten hat. Diese<br />
Bestimmungen über die Ersatzzeiten gelten auch für die Erfüllung <strong>der</strong><br />
Wartezeit.<br />
Die Höhe <strong>der</strong> Rente richtete sich nach <strong>der</strong> o<strong>der</strong> den Lohnklassen, <strong>in</strong><br />
denen man versichert war und nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> gezahlten Beiträge.<br />
Jede Rente bestand aus;<br />
– Grundbetrag je nach Lohnklasse: Lohnklasse I. = 60 Reichsmark;<br />
Lohnklasse II. = 70 Reichsmark; Lohnklasse III. = 80 Reichsmark;<br />
Lohnklasse IV. = 90 Reichsmark; Lohnklasse V. = 100 Reichsmark<br />
– Reichszuschuss für alle Lohnklassen 50 Reichsmark und den<br />
Steigerungssätzen je nach Lohnklasse, I. = 3 Pfennige; II. = 6 Pfennige; III.<br />
= 8 Pfennige; IV. = 10 Pfennige; V. = 12 Pfennige, multipliziert mit <strong>der</strong><br />
Anzahl <strong>der</strong> geklebten Marken.<br />
Beispiel:<br />
E<strong>in</strong> Arbeiter war seit dem 1.1.1895 regelmäßig versicherungspflichtig <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Lohnklasse IV, se<strong>in</strong>e Invalidität begann am 1.1.1905. Er erhielt nun folgende<br />
Rente:<br />
Grundbetrag 90.- Reichsmark<br />
+ Reichszuschuss 50.- Reichsmark<br />
+ 520 (Wochenmarken) X 10 Pfennig = 52.- Reichsmark<br />
= 192.- Reichsmark Rente/Jahr<br />
39 Verhandlungen des Reichstages, 7. Legislaturperiode 4. Session 1888/89 Band 4,<br />
Aktenstück Nr.10<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Die höchstmögliche Rente, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> niedrigsten Lohnklasse zu<br />
erreichen war, betrug 52 % des mittleren Jahresverdienst. Die Prozentsätze<br />
fielen mit steigendem Verdienst, so das <strong>in</strong> <strong>der</strong> vierten und höchsten<br />
Lohnklasse bestenfalls 43 % des mittleren Jahresverdienst als Rente erzielt<br />
werden konnte. Die Altersrente, die <strong>der</strong> Gesetzgeber als e<strong>in</strong>en Zuschuss zu<br />
dem Lohn betrachtete, den noch Arbeitsfähige erlangen konnte, orientierte<br />
sich an den unteren Sätzen <strong>der</strong> Invalidenrente. 40<br />
I.3.1.4 Altersrente: 41<br />
Um Altersrente beanspruchen zu können, bedurfte es e<strong>in</strong>es Alters von<br />
70 Jahren und e<strong>in</strong>er Wartezeit von 1200 Beitragswochen (= 30 Jahre). Diese<br />
Wartezeit verkürzte sich bei denjenigen Versicherten, welche zu <strong>der</strong> Zeit,<br />
als die Versicherungspflicht für ihren Berufszweig <strong>in</strong> Kraft trat, das 40.<br />
Lebensjahr vollendet hatten und nachweislich während <strong>der</strong> dem<br />
Inkrafttreten des Gesetzes unmittelbar vorangegangenen 3 Jahre e<strong>in</strong>e<br />
solche berufsmäßige Beschäftigung gehabt hatten, für welche<br />
Versicherungspflicht bestand o<strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>geführt worden war.<br />
Dieser Nachweis wurde erlassen wenn <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> ersten fünf Jahre,<br />
nachdem die Versicherungspflicht für den betreffenden Berufszweig <strong>in</strong><br />
Kraft getreten war, e<strong>in</strong>e versicherungspflichtige Beschäftigung für<br />
m<strong>in</strong>destens 200 Wochen bestanden hatte (§ 190); und zwar wurden für<br />
jedes volle Jahr, um welches ihr Lebensalter zu jenem Zeitpunkte das volle<br />
40. Lebensjahr überstiegen hatte, 40 Wochen und für den<br />
überschiessenden Teil e<strong>in</strong>es solchen Jahres die weiteren Wochen, aber<br />
nicht mehr als 40, angerechnet.<br />
Die Altersrente setzte sich nur aus zwei Beträgen zusammen: aus dem<br />
Grundbetrag (je nach Lohnklasse 60, 90, 120, 150, 180 Reichsmark) und<br />
dem Reichszuschuss von 50.-Mark (§ 37). In drei Fällen konnten<br />
Versicherte die Rückerstattung <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong> für sie geleisteten - eigenen -<br />
Beiträge beanspruchen:<br />
– Verheiratete Frauen, falls sie nicht mehr versicherungspflichtig waren,<br />
aber nur unter den Voraussetzungen, dass noch ke<strong>in</strong>e Rente bewilligt<br />
war, vor <strong>der</strong> Ehe m<strong>in</strong>destens 200 Marken geklebt worden s<strong>in</strong>d und <strong>der</strong><br />
40 F.Braun, Motive Sozialer Hilfeleistungen, Fm/M 1955, 28<br />
41 Ursprünglichgab es ke<strong>in</strong>en leistungsauslösenden Tatbestand “Alter”; es wurde lediglich<br />
mit Vollendung des 70.Lebensjahres das Vorliegen von Invalidität unterstellt. Dabei war<br />
die Lebenserwartung deutlich niedriger als heute.Die Chance e<strong>in</strong>es Neugeborenen 65 Jahre<br />
alt zu werden, war damals 25% gegen heute 68% (Männer). Bei E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong><br />
Angestelltenversicherung 1914 wurde die Altersgrenze auf 65 Jahren festgesetzt - für<br />
Arbeiter galt diese Regelung ab 1916. Es folgte dann 1929 für Angestellte die Reglung daß<br />
Altersruhegeld mit 60 Jahren nach e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>jährigen Arbeitslosigkeit gewährt wird - für<br />
Arbeiter gilt diese Regelung erst seit 1957. Die bed<strong>in</strong>gte Altersgrenze 60 für Frauen wurde<br />
ebenfalls 1957 e<strong>in</strong>geführt.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Antrag auf Rückerstattung vor Ablauf e<strong>in</strong>es Jahres nach dem Tag <strong>der</strong><br />
Trauung gestellt worden war.<br />
– Unfallopfer, denen für die Zeit des Bezuges <strong>der</strong> Unfallrente ke<strong>in</strong><br />
Anspruch auf Invalidenrente zustand - Ruhen <strong>der</strong> Rente § 48 -<br />
– die Witwe o<strong>der</strong> die ehelichen K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter 15 Jahren beim Tode des<br />
Mannes bzw. Vaters, dem noch ke<strong>in</strong>e Rente bewilligt war, falls<br />
m<strong>in</strong>destens 200 Marken geklebt waren.<br />
Dieses System <strong>der</strong> Alters- und Invalidenversicherung wirkt, vielfach<br />
gebrochen zwar, doch im Pr<strong>in</strong>zip <strong>bis</strong> heute fort. Ob es s<strong>in</strong>nvoll und billig<br />
ist, die Unterschiede im Arbeitse<strong>in</strong>kommen auf die Rentene<strong>in</strong>kommen zu<br />
übertragen, diese Frage ist für die damaligen Verhältnisse überflüssig.<br />
Die höchste Invalidenrente, die um 1911 erreicht werden konnte, belief<br />
sich auf ca. 300.-DM/Jahr 42 . Dazu musste jemand allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> obersten<br />
Lohnklasse angehören und seit Begründung <strong>der</strong> Invalidenversicherung<br />
ununterbrochen Beiträge gezahlt haben. Die durchschnittliche<br />
Invalidenrente betrug 1911 erst 182.-(15,17/Mon.) Mark und die<br />
durchschnittliche Altersrente war noch 21.- Mark (13,42) niedriger. Der<br />
nom<strong>in</strong>ale durchschnittliche Jahresverdienst betrug 979.- Mark o<strong>der</strong> 789.-<br />
Mark real 43 .( D.h. das “Rentenniveau” 1911 betrug 18,6% bzw. real 23,1% )<br />
I.3.2 I.3.2 Die Die H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung<br />
Bis 1911 durften nur die Versicherten selber mit e<strong>in</strong>er Rente rechnen.<br />
Wenn sie nach jahrzehntelanger Beitragszahlung verstarben, verfiel <strong>der</strong><br />
Rentenanspruch, ihre H<strong>in</strong>terbliebenen g<strong>in</strong>gen leer aus. Das sollte sich erst<br />
mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> RVO am 19.07.1911 än<strong>der</strong>n. Die damalige<br />
Reichsregierung musste zur E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung<br />
gezwungen werden. Schon zehn Jahre zuvor war letztere im Gespräch,<br />
doch aufgrund <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>strebenden und zögernden Haltung <strong>der</strong> Regierung<br />
trat sie erst 1912 <strong>in</strong> Kraft 44 .<br />
Denn die E<strong>in</strong>sicht, dass es sozial unerträglich und von Rechts wegen<br />
unbillig sei, Witwen und Waisen ohne den materiellen Schutz zu lassen,<br />
42 Syrup h<strong>in</strong>gegen nennt für 1899 schon als Höchstrente 450.-Mk/Jahr, jedoch ohne<br />
Berechnungsangaben (aao,131)<br />
43 Der Index des realen realen durchschnittlichen Jahresverdienstes wurde auf <strong>der</strong> Basis 1895<br />
bezogen.<br />
44 W.Dreher, Die Entstehung <strong>der</strong> Arbeiterwitwenversicherung <strong>in</strong> Deutschland. (Jur.Diss)<br />
Berl<strong>in</strong> 1979, 38.<br />
E<strong>in</strong>führungsgesetz<br />
E<strong>in</strong>führungsgesetz E<strong>in</strong>führungsgesetz zur RVO vom 19.7.1911 “Art.2 Die Vorschriften ihres vierten Buches<br />
und die zu ihrer Durchführung erfor<strong>der</strong>lichen an<strong>der</strong>en Vorschriften <strong>der</strong> RVO treten mit<br />
dem 1.1.1912 <strong>in</strong> Kraft. Mit diesem Tag wird § 15 des Zolltarifgesetzes vom 25.12.1902<br />
aufgehoben. Die angesammelten Beträge und Z<strong>in</strong>sen (H<strong>in</strong>terbliebenenversicherungsfonds,<br />
Gesetz vom 8.4.1907) s<strong>in</strong>d zu den Zuschüßen des Reiches für die<br />
H<strong>in</strong>terbliebeneversicherung (§§ 1248, 1285 RVO) zu verwenden.” <strong>in</strong>: Stier-Somlo,<br />
Verwaltungsgesetze für Preussen, Bd.1, 2285)<br />
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22
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
den <strong>der</strong> Ehemann und Vater ihnen zu Lebzeiten hatte absparen müssen,<br />
war nicht neu. Deshalb hatte das Zentrum 45 , im E<strong>in</strong>klang mit den<br />
Freis<strong>in</strong>nigen und den Sozialdemokraten im Jahr 1902 se<strong>in</strong>e Zustimmung zu<br />
e<strong>in</strong>em umfangreichen Zollgesetz davon abhängig gemacht, dass <strong>der</strong><br />
überwiegende Teil <strong>der</strong> zusätzlichen Zolle<strong>in</strong>nahmen solange zurückgelegt<br />
werde, <strong>bis</strong> die jährlichen Z<strong>in</strong>sen des aufgehäuften Betrages zuzüglich <strong>der</strong><br />
laufenden Zolle<strong>in</strong>nahmen ausreichten, e<strong>in</strong>e Witwen- und<br />
Waisenversicherung zu f<strong>in</strong>anzieren. Da ohne die Zustimmung des<br />
Zentrums das Zollgesetz nicht durchzubr<strong>in</strong>gen war, musste die<br />
Reichsregierung auf die sogenannte Lex Trimborn 46 e<strong>in</strong>gehen. Lei<strong>der</strong><br />
erwiesen sich die für diesen Zweck benannten Zolle<strong>in</strong>künfte als ger<strong>in</strong>ger 47<br />
,und die tatsächlichen Kosten <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung als höher<br />
wie angenommen, daher g<strong>in</strong>g 1911 die Rechnung noch nicht auf. Aber es<br />
gelang dem Zentrum noch e<strong>in</strong>mal die Regierung zu nötigen 48 , mit dem<br />
Erfolg dass H<strong>in</strong>terbliebenenrenten, <strong>der</strong>en F<strong>in</strong>anzierung nicht durch die Lex<br />
Trimborn gedeckt waren, mit an<strong>der</strong>en Mitteln des Reichshaushaltes<br />
f<strong>in</strong>anziert werden sollten. Die H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung war nun <strong>in</strong><br />
ihren Grundzügen Gesetz geworden, e<strong>in</strong> Gesetz welches se<strong>in</strong>em Zweck<br />
Hohn zu sprechen schien. Nicht alle Witwen von Rentenversicherten<br />
erhielten nämlich Ansprüche auf Witwenrenten e<strong>in</strong>geräumt, son<strong>der</strong> nur<br />
Witwen, die selber erwerbsunfähig waren 49 .<br />
45 Zu Poltik, Zielen und Personen des Zentrums, vgl (kritisch): Stichwort “Zentrum” <strong>in</strong><br />
Lexikon <strong>der</strong> Parteiengeschichte (= LdPG), Bd 4,552ff.<br />
Vgl. auch den E<strong>in</strong>fluß den <strong>der</strong> “Volksvere<strong>in</strong> für das katholische Deutschland” auf das<br />
(kath.) Zentrum und auf die <strong>in</strong>ternen sozialpolitischen Diskussionen um e<strong>in</strong>e<br />
Eigenständige Sozialpolitik hatte. Positiv aus eigener <strong>in</strong>terner Kentnis: E.Ritter, Die<br />
Katholisch-Soziale Bewegung Deutschlands im neunzehntenjahrhun<strong>der</strong>t und <strong>der</strong><br />
Volksvere<strong>in</strong>, Köln 1954; Kritisch aus sozialistischer Sicht: Stichwort “Volksvere<strong>in</strong> für das<br />
katholische Deutschland”, <strong>in</strong> LdPG Bd.,4, 436ff<br />
46 Trimborn knüpfte mit se<strong>in</strong>em, zuerst <strong>in</strong> erster Lesung als “Antrag Heim” als § 11a dem<br />
Entwurf e<strong>in</strong>es Zolltarifgesetzes angefügten Antrag (§ 15 des Zolltarifgesetzes) und erst <strong>in</strong><br />
zwiter Lesung als “Antrag Trimborn” behandelt, an die Frankenste<strong>in</strong>che Klausel über die<br />
Verteilung <strong>der</strong> Zollüberschüsse an. Danach ist <strong>der</strong> auf den Kopf <strong>der</strong> Bevölkerung entfallende<br />
Nettozollertrag, <strong>der</strong> Getreide- , Vieh-, Mehl- und Fleischzö lle, welch er d en nach dem Durchschnitt<br />
<strong>der</strong> Rechnungsjahre 1898 <strong>bis</strong> 1903 auf den Kopf <strong>der</strong> Bevölkerung entfallenden Nettozollertrag<br />
<strong>der</strong>selben Waren übersteigt, zu Erleichterung <strong>der</strong> Durchführung e<strong>in</strong>er Witwen und<br />
Waisenversorgung zu verwenden. (Vgl. W.Gerloff, Die F<strong>in</strong>anz- und Zollpolitik des Deutschen<br />
Reiches, Jena 1913, 388)<br />
47 Etatansatz <strong>in</strong> Millionen wirkliche E<strong>in</strong>ahmen <strong>in</strong> Millionen<br />
1906 22 0<br />
1907 48 42,38227<br />
1908 53 0<br />
1909 40 0<br />
48 Durch den Verweis <strong>der</strong> Bundesregierung und das festhalten dieser an die Verpflichtung<br />
durch die Lex Trimborn konnte <strong>der</strong> Bundesrat unter anführung Bayerns, welcher sich aus<br />
<strong>der</strong> Verpflichtung lösen wollte, zu e<strong>in</strong>em Kompromiss gebracht werdemn. (Dreher,aao,59)<br />
49 1921 bekammen von über 200.000 Frauen Versicherter die <strong>in</strong> diesem Jahr Starben nur<br />
gut 4000 e<strong>in</strong>e Witwenrente zuerkannt. Von Arbeiterfrauen wurde erwartet daß sie zu<br />
arbeiten gewohnt waren und das auch nach Kräften taten - von Angestelltenfrauen wurde<br />
dies nicht erwartet, deshalb hatte jede Witwe e<strong>in</strong>es Angestellten Anspruch auf<br />
Witwenrente, nach dem im gleichen Jahr verabschiedeten AVG, <strong>in</strong> Höhe von 40% dessen<br />
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23
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
was ihr Mann bekommen hätte. Bei <strong>der</strong> Waisenrente wurde im IVG bedürftigkeit<br />
vorausgesetzt - aber nicht im AVG.<br />
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24
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.4 Die <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Ende des II. Weltkrieges<br />
Die Sozialpolitik vom Beg<strong>in</strong>n des Ersten <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges war überwiegend e<strong>in</strong>e Arbeitsrechts- und Arbeitsmarktpolitik.<br />
Von daher bekam Delbrücks 50 Wort von <strong>der</strong> "Pause <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sozialpolitik"<br />
prophetische Bedeutung. Von e<strong>in</strong>igen kle<strong>in</strong>eren Korrekturen und<br />
Reförmchen abgesehen, ist das im Kaiserreich begründete und fortgebildete<br />
System <strong>der</strong> sozialen Sicherung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Republik mit Not<br />
konserviert, im dritten Reich auf se<strong>in</strong>en hergebrachten Grundlagen <strong>in</strong><br />
nationalsozialistischem S<strong>in</strong>n und zu nationalsozialistischen Zwecken<br />
denaturiert worden.<br />
Der Ausbruch des 1.Weltkrieges brachte die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um<br />
die Fortführung <strong>der</strong> Sozialpolitik, die seit 1912 und beson<strong>der</strong>s wie<strong>der</strong> seit<br />
Anfang 1914 im Gange war <strong>zum</strong> Verstummen. Die Arbeiterschaft glie<strong>der</strong>te<br />
sich reibungslos <strong>in</strong> das Kriegsgeschehen e<strong>in</strong> und die Gewerkschaften<br />
brachen alle Arbeitskämpfe sofort ab - es herrschte "Burgfrieden" 51 .<br />
Die Kriegsgesetze des 4.8.1914 mit <strong>der</strong> die Regierung zur Aufnahme von<br />
Kriegsdarlehn <strong>in</strong> Höhe von 5 Milliarden Mark ermächtigt wurde, wurden<br />
e<strong>in</strong>stimmig und unter ausdrücklicher Billigung auch <strong>der</strong> SPD beschlossen,<br />
<strong>der</strong>selben SPD, die wenige Tage vorher noch Österreichs Ultimatum an<br />
Serbien als "frivole Kriegsprovokation" brandmarkte, stimmte nun mit den<br />
Worten zu: "Wir lassen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stunde <strong>der</strong> Gefahr das Vaterland nicht im<br />
Stich" 52 .<br />
Durch die Kriegsverhältnisse bed<strong>in</strong>gt unterlag die Sozialversicherung<br />
nahezu hun<strong>der</strong>t Än<strong>der</strong>ungsanordnungen und -verordnungen die jedoch<br />
nicht grundlegen<strong>der</strong> Natur waren. Die Än<strong>der</strong>ungen brachten nur<br />
Anpassungen <strong>der</strong> Kassenführung, Anpassung an die Teuerungen und<br />
Sicherstellung <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> SV . Aber auch die <strong>der</strong><br />
Herabsetzung <strong>der</strong> Altersgrenze <strong>in</strong> <strong>der</strong> Invalidenversicherung von 70 auf 65<br />
Jahre, die im Gesetz von 1911 auf 1915 verschoben worden war, wurde nun<br />
spruchreif. Die Regierung glaubte anfangs mit Rücksicht auf den Krieg von<br />
e<strong>in</strong>er Regelung absehen zu sollen. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stimmiger Beschluss des<br />
Reichstages und <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Regierung selbst erbrachte Nachweis, dass die<br />
Herabsetzung f<strong>in</strong>anzierbar sei, führte am 12.6.1916 zur<br />
Gesetzesän<strong>der</strong>ung 53 . Erst im Januar 1918 wurden dann die schon lange<br />
überfällige Angleichung <strong>der</strong> Renten an die Teuerung durch Kriegszulagen<br />
50 Rudolf von Delbrück (16.4.1917 - 1.2.1903) wurde 1867 Präsident des Bundes-, seit 1971<br />
des Reichskanzleramtes und damit engster Mitarbeiter Bismarcks.<br />
51 L.Preller, Sozialpolitik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, 34<br />
52 Doll<strong>in</strong>ger/Jacobsen, Der erste Weltkrieg <strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n und Dokumenten, München 1969,<br />
Bd.1, 57<br />
53 Preller, aaO,57<br />
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25
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
durchgeführt. Die Witwenrenten wurden auf 60% <strong>der</strong> Rente des<br />
Versicherten angehoben, Waisen bekamen 50% <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 15. Lebensjahr.<br />
I.4.1 I.4.1 Die Die <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Weimarer Weimarer Republik<br />
Republik<br />
Nach dem Rücktritt von Kaiser und Kanzler am 9.11.1918 und vor<br />
Verabschiedung <strong>der</strong> WRV am 11.8.1919 lag die Staatsgewalt <strong>in</strong> den Händen<br />
e<strong>in</strong>es "Rat <strong>der</strong> Volksbeauftragten". Diese vorläufige Regierung bestand aus<br />
Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> MSPD (Ebert/ Scheidemann/ Landsberg) und <strong>der</strong> USPD<br />
(Haase/ Dittmann/ Barth). Dieser Rat <strong>der</strong> Volksbeauftragten vom 9.11.<br />
wurde am 10.11. vom Vollzugsrat <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Arbeiter- und Soldatenräte<br />
legitimiert 54 . Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> USPD wurden am 29.12.18 durch Noske<br />
und Wissell (beide MSPD) ersetzt.<br />
Gegen die Auffassung des Arbeiter- und Soldatenrates setzte die MSPD<br />
e<strong>in</strong>e verfassungsgebende Nationalversammlung durch. Bei <strong>der</strong><br />
Zusammenkunft <strong>der</strong> Weimarer Nationalversammlung am 6.2.1919 löste<br />
sich <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Volksbeauftragten selber auf.<br />
Grundlage <strong>der</strong> WRV wurden verschiedene Vere<strong>in</strong>barungen:<br />
– H<strong>in</strong>denburg-Ebert-Vere<strong>in</strong>barung vom 10.11.1918<br />
– St<strong>in</strong>nes-Legien-Abkommen vom 15.11.1918<br />
– Vere<strong>in</strong>barungen zwischen <strong>der</strong> MSPD und den an<strong>der</strong>en Parteien vom<br />
22/23.1.1919<br />
– Vere<strong>in</strong>barung über das Verhältnis von Reich und Län<strong>der</strong> vom 26.1.1919<br />
In <strong>der</strong> Weimarer Reichsverfassung vom 11.08.1919 55 wurde <strong>in</strong> Art. 161<br />
die Bildung von Sozialversicherungen <strong>zum</strong> Schutz und zur Unterstützung<br />
<strong>der</strong> ihrer Bedürftigen festgeschrieben:<br />
“ Zur Erhaltung <strong>der</strong> Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, <strong>zum</strong> Schutz <strong>der</strong><br />
Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter,<br />
Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich e<strong>in</strong> umfassendes<br />
Versicherungswesen unter maßgeben<strong>der</strong> Mitwirkung <strong>der</strong> Versicherten". 56<br />
54 E<strong>in</strong>zelheiten und Stimmungsbil<strong>der</strong> bei: Col<strong>in</strong> Ross, Die ersten Tage <strong>der</strong> Revolution, <strong>in</strong>:<br />
Das Tagebuch 1920, 208, 246, 282 ; Me<strong>in</strong>ecke, <strong>in</strong>: Handbuch Deutschen Staatsrecht, Bd.1,§<br />
10 (Die Revolution. Ursachen und Tatsachen); Schük<strong>in</strong>g, aaO ,§ 9 (Staatsrechtliche<br />
Reformbestrebungen und Reformen während <strong>der</strong> Kriegszeit).<br />
55 Vgl. G.Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.August 1919,<br />
Kommentar, repr<strong>in</strong>t Aalen 1987<br />
56 Der ursprüngliche Antrag von Beyerle lautete: “Die Pflichtversicherung <strong>der</strong> Arbeiter ...<br />
sowie <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Arbeiterschaft gegen Betriebsgefahren und<br />
Gesundheitsschädigungen bleiben und sollen weiter ausgebaut werden.” Der schließlich<br />
geän<strong>der</strong>t angenommene Gegenantrag von Katzenste<strong>in</strong> macht den Unterschied <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Begründung deutlich: “Me<strong>in</strong> Antrag unterscheidet sich von <strong>der</strong> vorliegenden Fassung<br />
dadurch, daß er nicht nur von <strong>der</strong> Arbeiterschaft spricht, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Norm<br />
aufstellt, die die Ausdehnung <strong>der</strong> Versicherungspflicht auf die gesamtheit <strong>der</strong> ihrer<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Art.161 (Sozialversicherung)<br />
Durch diese H<strong>in</strong>wendung <strong>zum</strong> sozialrechtlichen Positivismus<br />
reduzierten sich die Rechte des Art.161 WRV auf das Recht gegen die<br />
wirtschaftlichen Folgen von def<strong>in</strong>ierten Risiken geschützt zu werden 57 ,<br />
nicht aber vor den Risiken - <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e den Produktionsbed<strong>in</strong>gten.<br />
Infolge <strong>der</strong> Kriegsbed<strong>in</strong>gten Teuerung wurde im Januar 1918 den<br />
Rentenbezieher Zulagen zu den Renten gewährt 58 . Nach dem Ende des<br />
Krieges wurden im Dezember 1918 die VO über die Nachentrichtung von<br />
freiwilligen Beiträgen und <strong>der</strong> Anmeldung von Ansprüchen für<br />
Kriegsteilnehmer und ihren H<strong>in</strong>terbliebenen erlassen, die die durch den<br />
Krieg geschaffenen Verhältnisse berücksichtigen sollte und somit e<strong>in</strong>en<br />
besseren Schutz <strong>der</strong> Kriegsteilnehmer und ihrer H<strong>in</strong>terbliebenen<br />
gewährleisten sollte. 59<br />
Nach dem Waffenstillstand von 1918 wurde durch das<br />
Reichsarbeitsm<strong>in</strong>isterium am 21.3.1919 berichtet,<br />
"... dass die Rentenzulagen aus <strong>der</strong> Unfall- und Invalidenversicherung bei<br />
Fortdauer <strong>der</strong> Teuerungsverhältnisse für das Jahr 1919 weiterzugewähren<br />
s<strong>in</strong>d. Zulagen für Altersrentenempfänger s<strong>in</strong>d neu h<strong>in</strong>zugekommen. Die<br />
Vorschriften über den Verfall <strong>der</strong> Anwartschaften aus <strong>der</strong><br />
Invalidenversicherung, <strong>der</strong>en Strenge öfters zu Klagen Anlass gegeben hatte,<br />
wurden gemil<strong>der</strong>t 60 ".<br />
Aufgrund des Versailler Vertrages mussten zahlreiche<br />
Bekanntmachungen, Verordnungen und Gesetze erlassen werden welche<br />
überwiegend Organisatorischer Art waren. Am 28.7.1919 wurde <strong>in</strong><br />
Versailles <strong>der</strong> eigentliche Friedensvertrag des Kriegs 1914-118<br />
unterzeichnet.<br />
I.4.1.1 Der Versailler Vertrag<br />
Der Versailler Vertrag enthält den eigentlichen Friedensvertrag des<br />
Weltkrieges 1914 - 1918. Er ist am 28.07.1919 <strong>in</strong> Versailles unterzeichnet<br />
worden und am 10.01.1920 <strong>in</strong> Kraft getreten. Die ersten Artikel 1 - 26<br />
behandeln den Völkerbund und se<strong>in</strong>e Satzung. Organe des Bundes s<strong>in</strong>d die<br />
Bundesversammlung, die aus den Vertretern <strong>der</strong> Mitgliedsstaaten dem<br />
bedürftigen Bevölkerung vorschreibt.” (Ch.und L. von Ferber, Der Kranke Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Gesellschaft, Hamburg 1978, 236.<br />
57 von Ferber,aaO, 222<br />
58 Schulz, <strong>in</strong>: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz. Die Sozialpolitische Gesetzgebung des<br />
Reiches seit 9.November 1919., Berl<strong>in</strong> 1922;<br />
59 Schulz, aaO, 112<br />
60 Stenographischer Bericht <strong>der</strong> Nationalversammlung, Bd.335, Nr.215, im Auszug <strong>in</strong>:<br />
Ritter/Miller, Die Deutsche Revolution 1918-1919, Dokumente, Frankfurt 1983, DOK<br />
XI,13;<br />
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27
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Bundesrat <strong>der</strong> aus ständigen und nichtständigen Mitglie<strong>der</strong>n besteht und<br />
das Sekretariat.<br />
Der Versailler Vertrag regelt ferner die Grenzen Deutschlands und<br />
bestimmt welche Gebiete Deutschland abzutreten hat:<br />
" 2.Teil Grenzen Deutschlands. Es werden von Deutschland abgetrennt:<br />
- Moresnet und die Kreise Eupen und Malmedy (letztere nach e<strong>in</strong>er<br />
Volksbefragung) ...kommen nach Belgien,<br />
- Elsass-Lothr<strong>in</strong>gen kommt ohne Abstimmung ... an Frankreich,<br />
- fast ganz Westpreußen und Teile von Pommern (Trennung Ostpreußens<br />
vom Reich durch den 'Korridor'), die Prov<strong>in</strong>z Posen und Teile von<br />
Oberschlesien...an Polen,<br />
- Teile von Schlesien (Hultschiener Ländchen) an die Tschechoslowakei,<br />
- Teile von Ostpreußen (Kreise Memel, Heydekrug, Teile <strong>der</strong> Kreise Tilsit<br />
und Ragnit) als "Memelland"... an die Alliierten,<br />
- Danzig mit Umgebung (Freie Stadt Danzig), alle Kolonien ... an den<br />
Völkerbund,<br />
- Nordschleswig ... an Dänemark,<br />
- Das deutsche Südtirol mit Bozen und Meran ... an Italien.<br />
(nach: Der Erste Weltkrieg <strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n und Dokumenten, München, 1969,<br />
Bd.3, 158)<br />
Nach Art.77, 312 des FV hatte das Deutsche Reich an die Siegermächte,<br />
soweit e<strong>in</strong>e Abtretung von Gebietsteilen erfolgte, e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />
Anteil <strong>der</strong> Rücklagen zu überweisen, die für den Dienst <strong>der</strong> gesamten<br />
sozialen staatlichen Versicherungen <strong>in</strong> den abgetretenen Gebieten<br />
angesammelt waren. Dieses Geld musste natürlich von den deutschen<br />
Versicherungen aufgebracht werden.<br />
Insgesammt verlor Deutschland durch den FV:<br />
13% des Vorkriegsteritorium<br />
10% <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
15% des Ackerlandes<br />
75% des Eisenerzvorkommens<br />
44% <strong>der</strong> Produktionskapazität von Roheisen<br />
38% <strong>der</strong> Produktionskapazität von Stahl<br />
26% <strong>der</strong> Produktionskapazität von Kohle<br />
90% <strong>der</strong> deutschen Handelsflotte<br />
Sodann enthält er Bestimmungen über das Landheer und die Seemacht.<br />
Der Friedensvertrag enthält e<strong>in</strong>en Artikel, wor<strong>in</strong> Deutschland als<br />
Urheber für die Kriegsschäden se<strong>in</strong>er Gegner verantwortlich gemacht wird.<br />
Unter dem Druck <strong>der</strong> tatsächlichen Machtverhältnisse musste, wenn auch<br />
unter Protest, diese Klausel mit unterschrieben werden, sie ist die<br />
Rechtsgrundlage für Wie<strong>der</strong>gutmachungen (Reparationen).<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Als Sicherheit für die Durchführung des Versailler Vertrages blieben<br />
auch nach se<strong>in</strong>em Inkrafttreten (10.01.1920) die l<strong>in</strong>ksrhe<strong>in</strong>ischen Gebiete<br />
durch alliierte Truppen besetzt. Die Räumung sollte nach 5, 10 und 15<br />
Jahren erfolgen. Die erste Zone wurde erst Anfang 1926 frei; die Räumung<br />
<strong>der</strong> 2. und 3. Zone vere<strong>in</strong>barten die früheren Alliierten und Deutschland<br />
bei den Verhandlungen <strong>in</strong> Haag für Ende 1929 und Anfang 1930.<br />
Gleichzeitig beschloss man Verhandlungen zwischen Deutschland und<br />
Frankreich über die Rückgabe des Saargebietes aufzunehmen. Letzteres<br />
war durch den Völkerbund verwaltet worden, während se<strong>in</strong>e Kohlengruben<br />
durch Frankreich ausgebeutet wurden.<br />
Die Schäden und den Wie<strong>der</strong>gutmachungszahlungsplan sollten<br />
ursprünglich die Fe<strong>in</strong>dbundmächte alle<strong>in</strong> festsetzen. Das geschah <strong>in</strong> Spaa<br />
1920 und London 1921. Deutschland musste sich Ende 1922 zur Erfüllung<br />
dieser Auflagen außerstande erklären. Der Ruhre<strong>in</strong>bruch vom Januar 1923<br />
brachte allen Parteien Schaden; nunmehr kamen auch die Gegner zur<br />
E<strong>in</strong>sicht, und willigten <strong>in</strong> die Aufstellung e<strong>in</strong>es vorläufigen<br />
Sachverständigenplanes (Dawes-Plan vom Sommer 1924) zu. Deutschland<br />
erhielt e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Anleihe und zahlte dann <strong>bis</strong> 1929 etwa 6 Milliarden<br />
Reichsmark. Es waren Maßnahmen zur Sicherung <strong>der</strong> deutschen Währung<br />
getroffen und an<strong>der</strong>erseits die Reparationen durch Belastung von<br />
Reichsbahn, Industrie und Landwirtschaft, Verpfändung von E<strong>in</strong>nahmen<br />
an den Reparationsagenten usw. sichergestellt.<br />
Bis 1929 hatte Deutschland an Barzahlungen e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong>er aus<br />
dem Dawes-Plan, Sachlieferung, Abtretungen von Staats- und<br />
Privateigentum, Schiffen usw. etwa 40 Milliarden Reichsmark geleistet.<br />
Es zeigte sich, dass die im Dawes-Plan vorgesehenen jährlichen<br />
Normalsummen von 2,5 Milliarden Reichsmark, die noch nach e<strong>in</strong>em<br />
Wohlstands<strong>in</strong>dex erhöht werden sollten, zu hoch gegriffen waren.<br />
Außerdem stand noch die Festsetzung e<strong>in</strong>er endgültigen Gesamtsumme<br />
aus. Man berief deshalb noch e<strong>in</strong>mal Sachverständige zu e<strong>in</strong>er Besprechung<br />
<strong>in</strong> Paris e<strong>in</strong>. Diese gaben am 7.6.1929 den Young-Plan heraus, <strong>der</strong> von den<br />
Mächten Ende August <strong>in</strong> Haag mit kle<strong>in</strong>en Än<strong>der</strong>ungen angenommen<br />
wurde. Der Young-Plan setzt fest, dass Deutschland <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 31.3.1987<br />
jährlich durchschnittlich 2,0506 Milliarden Reichsmark zu zahlen hat.<br />
Demnach würden <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> 59 Jahre vom 1.4.1929 <strong>bis</strong> 31.3.1987<br />
zusammen noch rund 121 Milliarden Reichsmark zu zahlen se<strong>in</strong>. Fasst man<br />
diese Zahlungen als Verz<strong>in</strong>sung und Tilgung e<strong>in</strong>er Schuldenkapitalsumme<br />
auf, so ergibt sich bei dem im Plan gedachten Z<strong>in</strong>ssatz von 5,5 % e<strong>in</strong><br />
Gegenwartswert von 32 Milliarden Reichsmark.<br />
Die Belastung <strong>der</strong> Reichsbahn, Industrie, usw. und die<br />
E<strong>in</strong>nahmenverpfändungen werden aufgehoben. Mit Rücksicht auf die für<br />
Deutschland notwendige wirtschaftliche Erholung s<strong>in</strong>d die Zahlungen für<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
die ersten Jahre niedriger angesetzt, sie steigen allmählich und fallen gegen<br />
den Schluss wie<strong>der</strong>. Deutschland sollte zahlen:<br />
Bis 31.03.1930 742,8 Millionen RM<br />
vom 01.04.1930 <strong>bis</strong> 31.03.1931 1.707,9 Millionen RM<br />
vom 01.04.1931 <strong>bis</strong> 31.03.1932 1.685,0 Millionen RM<br />
vom 01.04.1932 <strong>bis</strong> 31.03.1933 1.738,2 Millionen RM<br />
vom 01.04.1933 <strong>bis</strong> 31.03.1934 1.804,3 Millionen RM<br />
die Jahreszahlungen steigen dann allmählich <strong>bis</strong> 2.427,5 RM im<br />
Haushaltsjahr 1965/66, s<strong>in</strong>ken wie<strong>der</strong> <strong>bis</strong> 1980, schwanken dann <strong>bis</strong><br />
1983/84 auf 1.700 Millionen RM und betragen <strong>in</strong> den 3 letzten Jahren<br />
1984/85 925,1 Millionen RM, 1985/86 931,4 Mill. RM, 1986/87 897,9 Mill.<br />
RM.<br />
Diese Zahlungen s<strong>in</strong>d <strong>zum</strong> Teil ungeschützt, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Teil<br />
<strong>in</strong>sofern geschützt ist, als Deutschland bei schwieriger Lage, die<br />
Übertragung, d. h. Abführung <strong>in</strong>s Ausland, etwas später auch die<br />
Aufbr<strong>in</strong>gung im Lande selbst e<strong>in</strong>stellen kann. Für die Zustimmung hierzu<br />
und die Durchführung ist ebenso wie für die Annahme und Weiterleitung<br />
<strong>der</strong> Beträge die Bank für <strong>in</strong>ternationale Zahlung zuständig, die <strong>in</strong> Basel<br />
gegründet wurde. Ihr Verwaltungsrat besteht aus dem<br />
Notenbankpräsidenten und e<strong>in</strong>em weiteren Vertreter <strong>der</strong> hauptsächlich<br />
beteiligten 6 früheren Fe<strong>in</strong>dbundlän<strong>der</strong> und Deutschlands und e<strong>in</strong>igen<br />
weiteren Vertretern neutraler Staaten.<br />
Der ungeschützte Teil sollte ursprünglich jährlich 660 Millionen RM<br />
betragen. Er wurde <strong>in</strong> Haag auf 702 Millionen RM erhöht. Die Zahlungen<br />
soll Deutschland <strong>in</strong> bar leisten. Sachleistungen werden nur noch während<br />
<strong>der</strong> ersten 10 Jahre durchgeführt, und zwar im 1. Planjahr im Werte von<br />
700 Millionen RM und dann um jährlich 50 Millionen RM weniger und im<br />
10. Jahr nunmehr im Werte von 300 Millionen RM.<br />
Neben <strong>der</strong> Stundungsmöglichkeit für Übertragung und Aufbr<strong>in</strong>gung hat<br />
Deutschland noch e<strong>in</strong>ige an<strong>der</strong>e Aussichten auf Erleichterungen. Es soll<br />
versucht werden, die Zahlungen nach Ablauf <strong>der</strong> ersten 37 Jahre zu<br />
beenden, <strong>in</strong>dem für die weiteren 22 Jahre Gew<strong>in</strong>nanhäufungen <strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>ternationalen Bank herangezogen werden.<br />
Lässt Amerika den früheren Alliierten Schulden nach, so sollen 66 2/3 %<br />
Deutschland, 8 1/3 % <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Bank und 25 % den früheren<br />
Gegnern zu Gute kommen. Stellt sich auch <strong>der</strong> Young-Plan als<br />
undurchführbar dar, so sollen die 7 Notenbankpräsidenten, die noch 4<br />
Mitglie<strong>der</strong> h<strong>in</strong>zuwählen können, als Revisionsausschuss zusammentreten<br />
und neue Entschlüsse fassen. Dem Grundsatz nach sollen aufgeschobene<br />
Leistungen nachgeholt und dazu unter Umständen neue Sachlieferungen<br />
gewährleistet werden. Auf Wunsch von Gläubigerstaaten kann die<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
<strong>in</strong>ternationale Bank von Deutschland Bonds (Schuldurkunden von<br />
Wertpapierart) verlangen, die auf den betreffenden Gegenwartswert<br />
abzustellen s<strong>in</strong>d und kommerzialisiert werden, d. h. als Kapitalanlage<br />
Papiere verkauft werden können. Deutschland darf diese Papiere, je nach<br />
Marktwert, zurückkaufen. Dies hatte nur Bedeutung für den ungeschützten<br />
Teil. Letztere umfasst übrigens die Z<strong>in</strong>sen für die Dawes`sche Anleihe von<br />
1924 mit; sobald die Z<strong>in</strong>sen abnehmen, geht auch <strong>der</strong> ungeschützte Teil<br />
zurück, <strong>bis</strong> er wie<strong>der</strong> nur jährlich 660 Millionen RM beträgt. Es steht<br />
Deutschland grundsätzlich frei, auf welche Weise es se<strong>in</strong>e Zahlungen<br />
<strong>in</strong>nerlich d. h. aus Steuern, usw. aufbr<strong>in</strong>gen will. Vorgeschrieben ist<br />
lediglich, dass die Reichsbahn 37 Jahre lang <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Steuer jährlich<br />
660 Millionen RM an das Reich zu zahlen hat. Außerdem könnte<br />
Deutschland gewisse Staatse<strong>in</strong>nahmen (Zölle, usw.) nur mit Zustimmung<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Bank an<strong>der</strong>weitig z. B. zu Anleihezwecken verwenden.<br />
1921<br />
Im Mai 1921 bildete sich das Kab<strong>in</strong>ett Wirth. Wirth war Demokrat und<br />
e<strong>in</strong> Freund <strong>der</strong> Christlichen Gewerkschaften. Auf Vorschlag <strong>der</strong> Regierung<br />
Wirth hatte <strong>der</strong> Reichstag die Annahme des Londoner Ultimatum <strong>der</strong><br />
Entente beschlossen. Es begann die sogenannte "Erfüllungspolitik" <strong>der</strong>en<br />
Überlegungen folgende waren:<br />
" Deutschland müsse vor <strong>der</strong> Welt den Beweis führen, dass es ehrlich<br />
entschlossen sei, se<strong>in</strong>e Verpflichtungen zu erfüllen und Reparationen zu<br />
leisten. Deutschland müsse daher die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Entente annehmen<br />
und alle se<strong>in</strong>e Kräfte aufbieten, um Reparationen zu zahlen. Es werde sich<br />
dann im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung herausstellen, dass Deutschland objektiv gar<br />
nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage sei, das zu erfüllen, was man von ihm verlangt. Dann<br />
würden die Siegermächte von selbst zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht kommen, dass man<br />
Deutschland Zugeständnisse machen müsse". 61 .<br />
Am 23.Juli 1921 wurde e<strong>in</strong>e Rentenerhöhung veranlasst <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> die<br />
Zulagen und Beihilfen von 1918 und 1920 aufgehoben wurden und die<br />
Berechnung <strong>der</strong> Renten auf e<strong>in</strong>e neue Grundlage gestellt wurden. Der<br />
Grundbetrag erhöhte sich auf e<strong>in</strong>heitlich 360.- Mk., die Steigerungsbeträge<br />
wurden drastisch erhöht, und e<strong>in</strong> fester nach <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
bemessener K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschuss e<strong>in</strong>gefügt. Der Reichszuschuss än<strong>der</strong>te sich<br />
nicht. 62<br />
1922<br />
Am 10. November 1922 erließ die Reichsregierung das “Gesetz über<br />
Än<strong>der</strong>ung des Versicherungsgesetz für Angestellte und <strong>der</strong><br />
Reichsversicherungsordnung”, die sogenannte "November-Novelle".<br />
61 Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte <strong>der</strong> Weimarer Republik, Frankfurt<br />
1983,Teil 2, 108;<br />
62 Schulz, aaO, 114<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Die Novelle hatte ihren Ausgangspunkt 63 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Entwurf "e<strong>in</strong>es<br />
Gesetzes über Än<strong>der</strong>ung des Versicherungsgesetzes für Angestellte" 64 er<br />
bezweckte nur e<strong>in</strong>ige kle<strong>in</strong>ere Klarstellungen für die Praxis. Der<br />
Sozialausschuss des Reichstages, an den <strong>der</strong> Entwurf am 24.6.21<br />
überwiesen wurde, for<strong>der</strong>te zunächst die Regierung auf e<strong>in</strong>en Bericht zu<br />
erstellen, <strong>in</strong>dem sie prüfe ob und wie weit sich die AnV <strong>in</strong> die ArV<br />
e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>n lasse.<br />
In e<strong>in</strong>em weitere Bericht sollte sie Stellung nehmen zu den<br />
Möglichkeiten ob und wie Rechtssprechung, Beitragskontrolle und Aufsicht<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> AnV und ArV vere<strong>in</strong>igt werden könnte 65 .<br />
Dann erstattete <strong>der</strong> vorläufige Reichswirtschaftsrat unter E<strong>in</strong>beziehung<br />
<strong>der</strong> Berichte se<strong>in</strong> Gutachten 66 . Alle Materialien wurden danach <strong>der</strong><br />
Regierung zur Stellungnahme zugeleitet und von dieser überarbeitet als<br />
Reichsratsdrucksache Nr.250 als Grundlage für die "November-Novelle"<br />
benutzt. Diese Novelle än<strong>der</strong>te nicht nur e<strong>in</strong>zelne Punkte son<strong>der</strong>n fast das<br />
gesamte Gesetz. Betroffen waren Versicherungspflicht, Beitragsleistung,<br />
Versicherungsleistungen, Organisation und Verfahren.<br />
Durch die Novelle wurde die Doppelversicherung <strong>in</strong> <strong>der</strong> AV und IV aus<br />
e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Tätigkeit durch e<strong>in</strong>e scharfe gegenseitige Abgrenzung<br />
<strong>der</strong> Versicherten beseitigt, aber auch die Möglichkeit <strong>der</strong><br />
Doppelversicherung durch wi<strong>der</strong>sprechende Entscheidungen <strong>der</strong><br />
Spruchbehörden ausgeschlossen.<br />
Außerdem wurde <strong>der</strong> RAM ermächtigt Ausführungsbestimmungen über<br />
die Berufsgruppen (8.3.24) zu erlassen.<br />
Die untere Altersgrenze von 16.Jahren wurde aufgehoben, <strong>der</strong> RAM<br />
ermächtigt die Jahresarbeitsverdienstgrenze durch VO zu regeln, bei<br />
gleichzeitiger Neufestlegung auf 6000.- Mk. Bei <strong>der</strong> Versicherungsfreiheit<br />
von Personen, bei denen e<strong>in</strong>e Anwartschaft auf Ruhegeld und<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten gewährleistet ist muss diese Anwartschaft jetzt dem<br />
Dienste<strong>in</strong>kommen entsprechen und die Versicherungsfreiheit gilt erst ab<br />
dem Zeitpunkt, an dem die Anwartschaft tatsächlich verliehen wird, also<br />
nicht Rückwirkend.<br />
Die Berechnung <strong>der</strong> Beiträge wurde umgestellt, früher wurden 8% des<br />
versicherten Gehalts als Beitrag genommen und danach die Leistungen<br />
bemessen. Jetzt stellt das Gesetz umgekehrt das Maß <strong>der</strong> notwendigen<br />
63 Die folgende Darstellung beruht auf , Dersch,aaO,105ff<br />
64 Rdrs. 2153 vom 10.6.1921 1.Wahlperiode 1920/22<br />
65 Diese Berichte s<strong>in</strong>d als Ausschußdrucksachen Nr.182 und 298 vorgelegt worden.<br />
66 Drs. des vorläufigen Reichswirtschaftsrat Nr. 275;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Leistungen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund und bemisst daran die Höhe <strong>der</strong><br />
notwendigen Beiträge.<br />
Es wurde die Unterscheidung von Invaliden- und Altersrenten<br />
aufgegeben. Die Altersrenten wurden <strong>in</strong> leichter erreichbare - Herabsetzung<br />
<strong>der</strong> Anwartschaftszeit von 24 Jahren auf 4 Jahre - und unter gleichen<br />
Umständen höhere Invalidenrenten umgewandelt. Das Ruhen <strong>der</strong><br />
Invaliden- und H<strong>in</strong>terbliebenenrenten neben <strong>der</strong> Unfallrente ist ” im<br />
H<strong>in</strong>blich auf die allgeme<strong>in</strong>e Notlage (...) und h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> nur ger<strong>in</strong>gen<br />
Ausgabenerhöhung” beseitigt worden” 67 .<br />
Die zunehmende Not unter den Rentenempfänger <strong>der</strong> Invaliden- und<br />
Angestelltenversicherung <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> stetig s<strong>in</strong>kenden Kaufkraft ihrer<br />
Renten hatte schon wie<strong>der</strong>holt zu Rentenerhöhungen, Zulagen und<br />
Beihilfen geführt, die alle über Beitragserhöhungen f<strong>in</strong>anziert wurden.<br />
Diese beträchtlichen Mittel nur über die Beiträge aufzubr<strong>in</strong>gen war auf<br />
Dauer unmöglich. Daher wurde 1921 das “Gesetz über<br />
Notstandsmaßnahmen zu Unterstützung von Rentenempfängern <strong>der</strong><br />
Invaliden- und Angestelltenversicherung” erlassen, welches nach<br />
Än<strong>der</strong>ungen 1922 am 1.August 1922 mit den dazugehörigen VO <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
endgültigen Fassung <strong>in</strong> Kraft trat. Diese Gesetze bzw. VO hatten<br />
fürsorgerischen Charakter, da nur Rentenbezieher, <strong>der</strong>en Jahresverdienst<br />
e<strong>in</strong>e bestimmte Höhe nicht überschritten, diese Unterstützung bekamen;<br />
bei <strong>der</strong> Berechnung des M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen wurden nicht alle E<strong>in</strong>kommen<br />
gleich behandelt (§ 2). Die Aufwendungen für diese Notmassnahme<br />
wurden aus öffentlichen Mitteln, nämlich 80 % vom Reich und im übrigen<br />
von <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de des Wohnorts des Rentenempfängers, <strong>der</strong>en Armenlast<br />
ja durch das Gesetz erleichtert wird, aufgebracht 68<br />
1923<br />
Die Invalidenversicherung erhöhte die K<strong>in</strong><strong>der</strong>zulage zu den<br />
Versichertenrenten von 2.- Mark vor dem Krieg auf 10.-Mark/monatlichl.<br />
Die Waisenrentenberechtigung wurde <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 18.Lebensjahr ausgedehnt<br />
und falls <strong>der</strong> Berechtigte noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ausbildung war <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />
21.Lebensjahr.<br />
1924<br />
Das System <strong>der</strong> sozialen Sicherung stand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen den<br />
Kriegen ständig vor e<strong>in</strong>em f<strong>in</strong>anziellen Kollaps, obwohl se<strong>in</strong>e Leistungen<br />
häufig unter dem Existenzm<strong>in</strong>imum lagen. Für die meisten Rentner war am<br />
67 Schulz, aaO,111<br />
68 Schulz, aaO,126; Gesetz ist mit DVO abgedruckt , <strong>in</strong>: Arbeitsrecht und Arbeiterschutz.<br />
Die Sozialpolitische Gesetzgebung des Reiches seit 9.November 1919., Berl<strong>in</strong> 1922, 509ff<br />
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33
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Ende wichtiger als die ausgezahlte Rente, dass die Mitgliedschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Rentenversicherung</strong> Ansprüche auf die neugeordnete öffentliche Fürsorge<br />
eröffnete.<br />
I.4.1.2 Sozialrentnerfürsorge<br />
Nach § 16 RGr. waren Sozialrentner alte o<strong>der</strong> <strong>in</strong>valide o<strong>der</strong><br />
berufsunfähig gewordene Rentner <strong>der</strong> Sozialversicherung:<br />
1. auf dem Gebiet <strong>der</strong> Invalidenversicherung:<br />
– Bezieher von Invalidenrente (§ 1255 RVO)<br />
– Bezieher von Witwen- o<strong>der</strong> Witwerrenten (§§ 1258, 1261)<br />
2. auf dem Gebiet <strong>der</strong> Angestelltenversicherung:<br />
– Empfänger von Ruhegeld (§ 30 AVG)<br />
– Empfänger e<strong>in</strong>er Witwerrente (§ 32 AVG)<br />
– Empfänger e<strong>in</strong>er Witwenrente (§2 AVG) die berufsunfähig o<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>valide o<strong>der</strong> 65 Jahre alt s<strong>in</strong>d.<br />
3. auf dem Gebiet <strong>der</strong> Knappschaft:<br />
– Empfänger e<strong>in</strong>er Invalidenpension o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Ruhegeldes (§§ 35, 36, 57,<br />
58 RKnG)<br />
– Empfänger e<strong>in</strong>er Witwenpension (§§ 41, 42) die BU o<strong>der</strong> <strong>in</strong>valide o<strong>der</strong><br />
65 Jahre alt s<strong>in</strong>d.<br />
4. auf dem Gebiet <strong>der</strong> Unfallversicherung:<br />
– Unfallrentner, die zugleich entwe<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Invalidenrente nach <strong>der</strong> RVO<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Ruhegeld nach dem AVG o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Invalidenpension nach<br />
dem RKnG beziehen<br />
– an<strong>der</strong>e Empfänger e<strong>in</strong>er Verletztenrente dann, wenn sie <strong>in</strong>folge des<br />
Unfalls BU o<strong>der</strong> Invalide o<strong>der</strong> wenn sie 65 Jahre alt geworden s<strong>in</strong>d.<br />
– Empfänger<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er Witwenrente, die BU o<strong>der</strong> <strong>in</strong>valide o<strong>der</strong> 65 Jahre<br />
alt s<strong>in</strong>d.<br />
– Die Empfänger e<strong>in</strong>er Witwerrente.<br />
Sozialrentner erhalten im Falle <strong>der</strong> Hilfsbedürftigkeit die gleiche<br />
gehobene öffentliche Fürsorge wie die Kle<strong>in</strong>rentner, Kle<strong>in</strong>rentnerhilfe<br />
jedoch nur wenn sie die beson<strong>der</strong>en Voraussetzungen dafür erfüllen.<br />
Die gehobene öffentliche Fürsorge bietet gegenüber <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
Fürsorge beson<strong>der</strong>e Vergünstigungen:<br />
– h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Voraussetzung <strong>der</strong> Fürsorge - bei <strong>der</strong> Prüfung <strong>der</strong><br />
Hilfsbedürftigkeit<br />
– h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Art und des Umfangs <strong>der</strong> Fürsorgeleistungen - die<br />
Richtsätze <strong>der</strong> gehobenen Fürsorge sollen so bemessen se<strong>in</strong> dass <strong>der</strong><br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Hilfsbedürftige gegenüber <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Fürsorge e<strong>in</strong>e angemessene<br />
Mehrleistung erhält.<br />
– h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> Subsidiarität.<br />
Für die Bemessung <strong>der</strong> Fürsorge gilt die folgende Son<strong>der</strong>vorschrift:<br />
Die Rentenerhöhung die e<strong>in</strong> hilfloser Sozialrentner erhält (§§ 560, 930,<br />
1065 RVO) bleibt bei je<strong>der</strong> Hilfe, die nicht denselben Zweck dient, außer<br />
Ansatz (RGr. § 16 S.2), d.h. die Hilflosenzulage darf nicht zu e<strong>in</strong>er Kürzung<br />
<strong>der</strong> Unterstützung führen, son<strong>der</strong> muss dem Hilfsbedürftigen <strong>in</strong> vollen<br />
Umfang verbleiben.<br />
Richtsatz <strong>der</strong> Fürsorge von Berl<strong>in</strong> 1926 (wöchentlich)<br />
Art <strong>der</strong> Alleist. Ehep o.Ki. m.1 Ki. m.2 Ki. m.3 Ki. Fürsorge<br />
---------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Allgem. 9,10 13,65 17,40 21,15 24,90<br />
--------------------------------------------------------------------------------------------------gehobene<br />
11,40 17,15 20,90 24,65 28,40<br />
---------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
1930/31<br />
Der Bruch <strong>der</strong> Regierung H. Müller im März 1930 bildete e<strong>in</strong>e Zäsur <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Weimarer Republik, denn sie bezeichnet den<br />
Übergang vom Parlamentarismus zur allmählichen Ausweitung von<br />
diktatorischen Maßnahmen <strong>der</strong> Regierung. Nach dem Ausscheiden <strong>der</strong><br />
SPD war das Kab<strong>in</strong>ett nach rechts h<strong>in</strong> erweitert worden. Das Mitglied <strong>der</strong><br />
Volkskonservativen Vere<strong>in</strong>igung, Treviranus, wurde Reichsm<strong>in</strong>ister für die<br />
besetzten Gebiete; <strong>der</strong> Vorsitzende des Reichslandbundes, Schiele,<br />
übernahm das Ernährungsm<strong>in</strong>isterium. Paul Moldenhauer (DVP),<br />
Aufsichtsratvorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> IG-Farben behielt <strong>bis</strong> Sommer 1930 die<br />
Position des F<strong>in</strong>anzm<strong>in</strong>isters; Hermann Warmbold, ebenfalls<br />
Aufsichtsratmitglied <strong>der</strong> IG-Farben wurde Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister; <strong>der</strong><br />
christliche Gewerkschaftsführer Stegerwald übernahm das<br />
Wirtschaftsm<strong>in</strong>isterium 69 .<br />
In se<strong>in</strong>er Regierungserklärung vom 1.4.1930 erklärte Brün<strong>in</strong>g:<br />
"Das neue Reichskab<strong>in</strong>ett ist entsprechend dem mir vom Herrn<br />
Reichspräsidenten erteilten Auftrag an ke<strong>in</strong>e Koalition gebunden. Doch<br />
konnten selbstverständlich die politischen Kräfte dieses Hohen Hauses bei<br />
se<strong>in</strong>er Gestaltung nicht unbeachtet bleiben. Das Kab<strong>in</strong>ett ist gebildet mit dem<br />
Zweck, die nach allgeme<strong>in</strong>er Auffassung für das Reich lebenswichtigen<br />
Aufgaben <strong>in</strong> kürzester Frist zu lösen. Es wird <strong>der</strong> letzte Versuch se<strong>in</strong>, die<br />
Lösung mit diesem Reichstag durchzuführen. (...) Die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />
69 Über die H<strong>in</strong>tergründe und Ziele <strong>der</strong> verschiedenen Parteien und Vere<strong>in</strong>igungen sowie<br />
den personellen Verknüpfungen siehe LdPG unter dem jeweiligen Namen;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
planmäßigen, auf Wirtschaftlichkeit und Ersparnisse gerichtete<br />
Vere<strong>in</strong>fachung auf allen Gebieten <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung schafft die<br />
Garantie und die Voraussetzung für die Weiterverfolgung <strong>der</strong> Sozialpolitik,<br />
die als e<strong>in</strong>e staatliche Notwendigkeit von <strong>der</strong> neuen Reichsregierung<br />
unbed<strong>in</strong>gt anerkannt wird. F<strong>in</strong>anzielle, soziale und wirtschaftliche Aufgaben<br />
müssen von e<strong>in</strong>heitlichen Gesichtspunkten aus angefasst werden" 70 .<br />
Während <strong>der</strong> Amtszeit Brün<strong>in</strong>gs wurden die Lohn- und E<strong>in</strong>kommen-, die<br />
Umsatz, Kraftfahrzeug-, Zucker-, Tabak- und Biersteuer, zahlreiche Zölle<br />
und Abgaben <strong>zum</strong> Teil mehrfach erhöht; es wurden Son<strong>der</strong>zuschläge zur<br />
Lohn- und E<strong>in</strong>kommensteuer <strong>der</strong> Ledigen, e<strong>in</strong>e spezielle Umsatzsteuer für<br />
Warenhäuser und Konsumvere<strong>in</strong>e, Getränke- und M<strong>in</strong>eralwassersteuern<br />
e<strong>in</strong>geführt und alle Lohn und Gehaltsempfänger zu e<strong>in</strong>er "Krisensteuer"<br />
zugunsten <strong>der</strong> Arbeitslosen herangezogen.<br />
Zur Abwehr des Kapitalexport kam im Dez.1931 außerdem e<strong>in</strong>e<br />
"Reichsfluchtsteuer" h<strong>in</strong>zu. Den Angehörigen des öffentlichen Dienstes<br />
wurde e<strong>in</strong>e - später durch Gehaltskürzungen ersetzte - Son<strong>der</strong>abgabe<br />
auferlegt, den Geme<strong>in</strong>den das Recht e<strong>in</strong>geräumt, e<strong>in</strong>e als "Bürgersteuer"<br />
bezeichnete, bald nach dem E<strong>in</strong>kommen gestaffelte Kopfgebühr zu<br />
erheben. Die Invalidenversicherung strich, aufgrund <strong>der</strong> Spar- und<br />
Deflationspolitik Brün<strong>in</strong>gs und gedeckt durch die Notverordnung vom<br />
8.12.31, die K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschüsse und Waisenrenten für Jugendliche, die über<br />
15 Jahren alt waren und verlängerte die Wartezeiten, wodurch alle<strong>in</strong> rund<br />
130.000 Witwen und 190.000 Waisen aus dem Rentenbezug ausschieden 71 .<br />
Den <strong>in</strong>dustriellen Unternehmen wurde die Steuern um 10% gesenkt, um<br />
die "Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten".<br />
Im Januar 1932 veröffentlichte Ernst Wagemann, Leiter des Statistischen<br />
Reichsamt und des Instituts für Konjunkturforschung, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> hoher<br />
Auflage gedruckte und weitverbreitete Broschüre, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er auf die<br />
Möglichkeiten e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en F<strong>in</strong>anzpolitik h<strong>in</strong>wies.<br />
"In e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>isterrunde beschwerte sich <strong>der</strong> Kanzler, dass er durch<br />
Wagemanns Vorstoß '<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schwere Lage' komme. Erstens werde '<strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>druck erweckt, als ob es noch an<strong>der</strong>e Mittel als die Deflationspolitik gebe,<br />
um unsere Lage zu bessern und unsere Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen. Er<br />
habe <strong>bis</strong>her die Deflationspolitik nur deshalb weitergetrieben, weil er sie<br />
gebraucht habe, um die Etats und die Leistungen <strong>der</strong> Sozialversicherungen<br />
auf das alle<strong>in</strong> noch mögliche Maß herabzusetzen. Wenn die Gewerkschaften<br />
jetzt sähen, dass man die Kredite erweitern könnte, so würden sie sofort<br />
sagen diese Erweiterungen sollten vorgenommen werden um e<strong>in</strong> großes<br />
Arbeitsbeschaffungsprogramm zu machen' (...) Von Luther wurde noch<br />
ergänzt 'Außerdem könnten Lohnsenkungen die trotz <strong>der</strong> erfolgten<br />
70 Verhandlungen des Reichstages, IVX Wahlperiode 1928, Bd.427, 272 zitiert nach:<br />
Hrsg.Kunstamt Kreutzberg, Weimarer Republik, Berl<strong>in</strong> 1977, 336;<br />
71 K.Teppe, Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel <strong>der</strong> Sozialversicherung, <strong>in</strong> :<br />
AfS 17,203<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Kürzungen noch immer notwendig seien, nicht mehr erzwungen werden' und<br />
Staatsekretär Schäffer ergänzte, 'wenn sie (die Arbeiterschaft, E:I:) erfahre,<br />
dass <strong>der</strong> Reichsbankpräsident (Luther, E:I:) mit <strong>der</strong> Krediterweiterung<br />
zurückhalte, damit die Sozialversicherungsleistungen gesenkt und die Löhne<br />
abgebaut werden könnte, werde sich e<strong>in</strong> Sturm <strong>der</strong> Entrüstung erheben' ". 72<br />
I.4.1.3 Invalidenversicherung 1930<br />
Der Invalidenversicherung unterliegen alle gegen Entgeld beschäftigten<br />
Arbeiter, Gesellen und Hausgehilfen (auch Waschfrauen, Schnei<strong>der</strong><strong>in</strong>nen,<br />
Stundenmädchen), Hausgewerbetreibende, Gehilfen und Lehrl<strong>in</strong>ge, soweit<br />
sie nicht AnV-pflichtig s<strong>in</strong>d, ferner Soldaten und Beamte <strong>der</strong> Schutzpolizei<br />
wenn sie bei ihrer vorgesetzten Dienstbehörde die Versicherung<br />
beantragen.<br />
Versicherungsfrei s<strong>in</strong>d solche Personen, die <strong>in</strong>valide s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Invaliden- o<strong>der</strong> sonstige Renten beziehen, ferner Beamte und an<strong>der</strong>e<br />
Personen, wenn die Fürsorge für sie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Weise sichergestellt ist.<br />
Versicherungsfrei ist auch e<strong>in</strong>e nur vorübergehende Beschäftigung, sowie<br />
e<strong>in</strong>e Beschäftigung für die nur freier Unterhalt gewährt wird.<br />
Freiwillig versichern können sich Unternehmer und Gewerbetreibende,<br />
die regelmäßig nicht mehr als 2 Lohnarbeiter beschäftigen und noch nicht<br />
40 Jahre alt s<strong>in</strong>d, sowie Personen, die nur vorübergehend o<strong>der</strong> nur gegen<br />
freien Unterhalt beschäftigt s<strong>in</strong>d.<br />
Zur freiwilligen Weiterversicherung ist je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal, wenn auch nur<br />
für kurze Zeit versichert war, berechtigt.<br />
Freiwillige Versicherung hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lohnklasse, die dem E<strong>in</strong>kommen<br />
des Versicherten entspricht, m<strong>in</strong>destens aber <strong>in</strong> Lohnklasse 2 zu erfolgen.<br />
Träger <strong>der</strong> Versicherungen s<strong>in</strong>d die Landesversicherungsanstalten.<br />
Son<strong>der</strong>anstalten bestehen für den Bergbau (Reichsknappschaft), für die<br />
Reichsbahngesellschaft und für die Seefahrt. Organe <strong>der</strong> Versicherung s<strong>in</strong>d<br />
Vorstand und Ausschuss. Letzterer besteht je zur Hälfte aus Arbeitgebern<br />
und Versicherten.<br />
Die Invaliden- und H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung gewährt den<br />
Versicherten bei Invalidität und nach Vollendung des 65. Lebensjahres<br />
Invalidenrente und im Falle ihres Todes H<strong>in</strong>terbliebenenrente. Als Invalide<br />
s<strong>in</strong>d solche Personen anzusehen, <strong>der</strong>en Erwerbsfähigkeit auf weniger als<br />
1/3 <strong>der</strong> Normalerwerbsfähigkeit herabgesunken ist. Ist die Invalidität nur<br />
e<strong>in</strong>e Vorübergehende, so wird die Rente (Krankenrente) von <strong>der</strong> 27. Woche<br />
ab o<strong>der</strong> nach Wegfall des Krankengeldes gewährt und zwar so lange <strong>bis</strong> die<br />
72 U.Büttner, Politische Alternativen <strong>zum</strong> Brün<strong>in</strong>gschen Deflationskurs, <strong>in</strong>:VfZ 2/1989,<br />
209ff;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Invalidität behoben ist; ist die Invalidität aber e<strong>in</strong>e Dauernde, so wird die<br />
Rente von Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Invalidität an gewährt. Die Wartezeit ist erfüllt bei<br />
200 Beitragswochen, wenn m<strong>in</strong>destens 100 Beiträge aufgrund <strong>der</strong><br />
Versicherungspflicht beigebracht s<strong>in</strong>d, an<strong>der</strong>nfalls bei 500 Beitragswochen.<br />
Zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Anwartschaft müssen während zweier Jahre<br />
nach dem Ausstellungstag <strong>der</strong> Quittungskarte, m<strong>in</strong>destens 20<br />
Wochenbeiträge entrichtet se<strong>in</strong>.<br />
Die Anwartschaft lebt bei E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Versicherung vor Vollendung<br />
des 40. Lebensjahres wie<strong>der</strong> auf, wenn <strong>der</strong> Versicherte e<strong>in</strong>e neue Wartezeit<br />
von 200 Beitragswochen vollendet. In späteren Lebensjahren kann die<br />
Anwartschaft auch noch erworben werden; es gelten beson<strong>der</strong>e<br />
Vorschriften.<br />
Es s<strong>in</strong>d folgende Beiträge zu entrichten:<br />
Klasse I <strong>bis</strong> zu 6 MK.<br />
Wochenlohn<br />
0,30 MK. Beitrag<br />
Klasse II Bis zu 12 Mk. 0,60 MK<br />
Klasse III Bis zu 18 Mk. 0,90 Mk.<br />
Klasse IV Bis zu 24 Mk. 1,20 Mk.<br />
Klasse V Bis zu 30 Mk. 1,50 Mk.<br />
Klasse VI Bis zu 36 Mk. 1,80 Mk.<br />
Klasse VII Über 36 Mk. 2,00 Mk.<br />
Die Beiträge werden von Arbeitgebern und Arbeitnehmer zu gleichen<br />
Teilen getragen. Für Versicherte, <strong>der</strong>en wöchentliches Entgeld 6 Mark nicht<br />
übersteigt und für Lehrl<strong>in</strong>ge entrichtet <strong>der</strong> Arbeitgeber die vollen Beiträge.<br />
Die Beitragsentrichtung geschieht durch E<strong>in</strong>kleben von<br />
Versicherungsmarken.<br />
Die Invalidenrente besteht aus e<strong>in</strong>em für alle Lohnklassen gleichen<br />
Grundbetrag von 168,-- Mark, e<strong>in</strong>em Reichszuschuss von 72,-- Mark und<br />
aus Steigerungssätzen die nach <strong>der</strong> Zahl und Höhe <strong>der</strong> entrichteten<br />
Beiträge bemessen werden. Für die <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 30.09.1921 ordnungsgemäß<br />
verwendeten Beitragsmarken, werden für jeden entrichteten Beitrag<br />
folgende Steigerungssätze gezahlt:<br />
1. Lohnklasse -,04 Mark<br />
2. Lohnklasse -,08 Mark<br />
3. Lohnklasse -,14 Mark<br />
4. Lohnklasse -,20 Mark<br />
5. Lohnklasse -,30 Mark<br />
Bei den vor dem 01.04.1928 festgestellten und am 01.07.1928 noch<br />
laufenden Renten, die e<strong>in</strong>en Steigerungsbetrag für Beitragszeiten vor dem<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
01.10.1921 enthalten, wird dieser Steigerungsbetrag mit Wirkung vom<br />
01.07.1928 an um 40 % erhöht. Enthält e<strong>in</strong>e Rente für Beitragszeiten vor<br />
dem 01.10.1921 ke<strong>in</strong>en Steigerungsbetrag so ist hierfür e<strong>in</strong><br />
Gesamtsteigerungsbetrag von 12,-- Mark jährlich festzusetzen, sofern für<br />
jene Zeit m<strong>in</strong>destens 200 Beitragsmarken ordnungsgemäß verwendet s<strong>in</strong>d.<br />
Der K<strong>in</strong><strong>der</strong>geldzuschuss ist mit Wirkung vom 01.07.1928 von jährlich 90<br />
auf 120 Mark erhöht worden. Er wird für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />
vollendeten 15. Lebensjahr (<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Fällen auch länger) gewährt.<br />
Ferner wird an Witwen, die dauernd o<strong>der</strong> länger als 26 Wochen<br />
erwerbsunfähig s<strong>in</strong>d, o<strong>der</strong> die das 65. Lebensjahr vollendet haben, nach<br />
dem Tod ihres Mannes e<strong>in</strong>e Rente gezahlt. Sie besteht aus dem<br />
Reichszuschuss von 72,-- Mark und 6/10-tel des Grundbetrages und <strong>der</strong><br />
Steigerungssätze <strong>der</strong> dem Manne zustehenden Invalidenrente.<br />
In gleicher Weise wird e<strong>in</strong>e Witwerrente gezahlt, wenn die verstorbene<br />
Frau versichert war, den Lebensunterhalt ganz odevorwiegend bestritten<br />
hat und <strong>der</strong> Mann erwerbsunfähig und bedürftig ist. Bei<br />
Wie<strong>der</strong>verheiratung fallen beide Renten weg; die Witwe wird mit dem<br />
Betrag ihrer Jahresrente abgefunden. Die Waisenrente für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />
Enkel besteht aus e<strong>in</strong>em Reichszuschuss von 36 Mark und 5/10-tel des<br />
Grundbetrages und <strong>der</strong> Steigerungssätze, auf die <strong>der</strong> Ernährer zur Zeit<br />
se<strong>in</strong>es Todes Anspruch hatte.<br />
Die Renten werden durch Rentenbescheid <strong>der</strong><br />
Landesversicherungsanstalten festgestellt. Gegen diesen Bescheid ist<br />
<strong>in</strong>nerhalb Monatsfrist Berufung an das zuständige Oberversicherungsamt<br />
und gegen dessen Urteil Revision an das Reichsversicherungsamt zulässig.<br />
I.4.1.4 Lebenshaltung 1930:<br />
Aus "Deutschland, so o<strong>der</strong> so ?" von R. Knickerbocker, <strong>der</strong> für den "New<br />
York Even<strong>in</strong>g" im W<strong>in</strong>ter 31/32 als Tourist Deutschland besuchte (<strong>in</strong> :<br />
Dokumentation das III. Reich - E<strong>in</strong> Volk, e<strong>in</strong> Reich, e<strong>in</strong> Führer 1933-1937,<br />
Seite 22):<br />
"Nach e<strong>in</strong>er Statistik des Arbeitsamtes kann <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er<br />
Unterstützungsempfänger 45 Pfund Brot für 6 Mark kaufen; e<strong>in</strong>en Zentner<br />
Kartoffeln für 2,50 Mark; 9 Pfund Margar<strong>in</strong>e für 3 Mark; 15 Liter Milch für<br />
4,50 Mark; 20 Pfund Kohl für 2 Mark; 10 Her<strong>in</strong>ge, Salz und Zucker für 1<br />
Mark - und damit wären se<strong>in</strong>e 18,50 Mark aufgebraucht. Das bedeutet täglich<br />
e<strong>in</strong> halbes Brot, e<strong>in</strong> Pfund Kartoffeln, hun<strong>der</strong>t Gramm Kohl, fünfzig Gramm<br />
Margar<strong>in</strong>e und dreimal im Monat e<strong>in</strong>en Her<strong>in</strong>g pro Kopf".<br />
1932<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Mit <strong>der</strong> Notverordnung v.Papens 73 vom 14.6.1932 wurde e<strong>in</strong>e<br />
Orientierung <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Renten an den Beiträgen und e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e<br />
Senkung <strong>der</strong> Rentensätze, durch die vom Reich f<strong>in</strong>anzierten Grundbeträge<br />
<strong>der</strong> Invalidenrente von 91 auf 84 Reichsmark, <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschläge von 120<br />
auf 90 RM, <strong>der</strong> Witwenrente von 60 auf 50% und <strong>der</strong> Waisenrente von 50<br />
auf 40% verfügt. Damit wurde für große Teile <strong>der</strong> Bevölkerung gerade das<br />
Existenzm<strong>in</strong>imum erreicht und häufig e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>greifen <strong>der</strong> Fürsorge<br />
notwendig. Das Versicherungspr<strong>in</strong>zip wurde Schritt für Schritt ausgehöhlt<br />
und durch das Fürsorgepr<strong>in</strong>zip abgelöst. 74<br />
I.4.2 I.4.2 Die Die <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> im im III. III. Reich<br />
Reich<br />
Grundsätzlich ist <strong>zum</strong> Wesen <strong>der</strong> nicht vorhandenen NSsozialpolitischen<br />
Konzeption zu sagen, dass sie auf Kosten des<br />
sicherungsbedürftigen Individuums, unter Ausschluss aller "Nichtarier" 75 ,<br />
die Versichertengeme<strong>in</strong>schaft zur nationalsozialistischen<br />
Volksgeme<strong>in</strong>schaft umdenkt.<br />
Die Praxis <strong>der</strong> ns. Sozialpolitik bestand dar<strong>in</strong>, die alte aus <strong>der</strong> Republik<br />
übernommene Sozialpolitik abzubauen und an ihre Stelle die neu<br />
aufgebaute Wohltätigkeit <strong>der</strong> Parteiorganisation zu setzen.<br />
Die alte Sozialpolitik, das war die Sozialversicherung (RVO, AVG,<br />
AVAVG), die Krankenversicherung und die Wohlfahrtspflege <strong>der</strong><br />
Geme<strong>in</strong>den. Die neue Sozialpolitik das war das W<strong>in</strong>terhilfswerk (WHW)<br />
und die National-sozialistische Volksfürsorge (NSV 76 ) mit ihren<br />
Unterglie<strong>der</strong>ungen.<br />
Die NS-Machthaber verfolgten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sozialpolitik dieselben Methoden<br />
wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Gebieten auch. Auch die Sozialpolitik hatte die<br />
Atomisierung <strong>der</strong> Massen, mittels Massenbewegungen, zur Aufgabe. Wie<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lohn- und Steuerpolitik ist auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS.- Sozialpolitik <strong>der</strong><br />
Grundsatz maßgebend: nur ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>en Verschlechterungen, denn<br />
sie könnten allgeme<strong>in</strong>e Abwehrbewegungen <strong>in</strong>s Leben rufen 77 . Dafür aber<br />
Verschärfung <strong>der</strong> Verwaltungspraxis <strong>in</strong> jeden Fall und mit allen Mitteln, um<br />
73 von Papens sozialpolitisches Credo lautete: “Nachkriegsregierungen haben geglaubt,<br />
durch e<strong>in</strong>en sich ständig steigernden Staatssozialismus die materiellen Sorgen <strong>der</strong><br />
Arbeitnehmer wie dem Arbeitgeber <strong>in</strong> weitem Maße abnehmen zu können, sie haben den<br />
Staat zu e<strong>in</strong>er Art Wohlfahrtsanstalt zu machen versucht und damit die moralischen Kräfte<br />
<strong>der</strong> Nation geschwächt. Sie haben ihm Aufgaben zuerteilt, die er se<strong>in</strong>em Wesen nach<br />
niemals erfüllen kann” Zitiert nach: Syrup/Neuloh,aaO,376;<br />
74 Teppe, aaO,<br />
75 J.Walk, Das Son<strong>der</strong>recht <strong>der</strong> Juden im NS-Staat, Heidelberg 1981, weist 20 Nr. nach <strong>in</strong><br />
welchen Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> benachteiligt werden. näheres dort.<br />
76 H.Vorlän<strong>der</strong>, Die NSV. Darstellung und Dokumentation e<strong>in</strong>er ns Organisation,<br />
Boppard 1988<br />
77 Auch Th.Mason, Arbeiterklasse und Volksgeme<strong>in</strong>schaft,<br />
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40
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
die Sozialleistungen zu verm<strong>in</strong><strong>der</strong>n 78 . Das Bestreben <strong>der</strong> NS.- Sozialpolitik<br />
war die übernommenen sozialpolitischen E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> ihren<br />
Leistungen möglichst zu verm<strong>in</strong><strong>der</strong>n und dafür e<strong>in</strong>en teilweisen Ersatz<br />
durch die Leistungen des WHW o<strong>der</strong> <strong>der</strong> NSV zu schaffen. Dies hatte zwei<br />
Vorteile: erstens e<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>anziellen, weil bei <strong>der</strong> behördlichen Sozialpolitik<br />
Ausgaben e<strong>in</strong>gespart wurden ohne die Beiträge zu senken, während die<br />
Leistungen des WHW und <strong>der</strong> NSV durch beson<strong>der</strong>e Spenden und Beiträge<br />
f<strong>in</strong>anziert wurden; zweitens e<strong>in</strong>en Propagandistischen, weil auf diese Weise<br />
die NSDAP Gelegenheit bekam ihren "Sozialismus <strong>der</strong> Tat" <strong>in</strong> den<br />
Vor<strong>der</strong>grund zu stellen 79 .<br />
Es ist Aufgabe <strong>der</strong> Nationalsozialistischen Sozialpolitik "die Kräfte des<br />
Volkes, <strong>der</strong> Volksgeme<strong>in</strong>schaft neu zu ordnen und sie bei dieser<br />
Neuordnung zu steigern, sie aufnahmefähig und e<strong>in</strong>satzbereit zu machen<br />
für die geschichtlichen Aufgaben, die an sie herantreten” . 80<br />
1934<br />
Durch das Gesetz über den Aufbau <strong>der</strong> Sozialversicherung vom 5.7. 34 81<br />
sollte die <strong>bis</strong>herige Selbstverwaltung durch das Nationalsozialistische<br />
Führerpr<strong>in</strong>zip ersetzt werden. Jedoch hatte Reicharbeitm<strong>in</strong>ister Seldte 82 <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit Reichsbank und Reichswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium sowie<br />
Vertretern <strong>der</strong> Rüstungswirtschaft erreicht, dass die Politik <strong>der</strong> sozialen<br />
Sicherheit dem Arbeitsm<strong>in</strong>isterium erhalten blieb 83 . Dies bedeutete aber,<br />
dass sie unter dem E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>isterialbeamtenschaft blieb, die fast<br />
vollständig aus <strong>der</strong> Weimarer Republik übernommen wurde und gewillt<br />
war, die Grundlagen, Grundsätze und Verfahren des tradierten<br />
Sicherungssytems zu erhalten 84 unter gleichzeitiger bed<strong>in</strong>gungsloser<br />
Übernahme <strong>der</strong> NS.-Sozialideologie 85 .<br />
78 z.B.: wurden nach E<strong>in</strong>führung des Gesetzes über die wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung des<br />
Berufsbeamtentums alle “Vertrauensärzte” die nicht die Gewähr für die Umsetzung <strong>der</strong><br />
ns.Ideologie boten durch Parteimitglie<strong>der</strong> ersetzt, mit <strong>der</strong> Folge daß EU, BU, AU immer<br />
schwieriger zu err<strong>in</strong>gen waren o<strong>der</strong> immer schneller Rückstufungen ausgesprochen<br />
worden. Vgl. dazu verschiedene Bände <strong>der</strong> SoPaDe; St.Leibfried/F.Tennstedt,<br />
Berufsverbote und Sozialpolitik 1933, AP Nr.2 UNI-Bremen 1981<br />
79 Nachweise über die Praktische Anwendung <strong>der</strong> ns. Sozialpolitik, <strong>in</strong> SoPaDe; über die<br />
Deutschlandberichte <strong>der</strong> SOPADE, J.Klotz, <strong>in</strong>:Aus Politik und Zeitgeschehen, B 31/86 vom<br />
2.8.1986<br />
80 T.Bühler, Deutsche Sozialwirtschaft, Stuttgart 1940, 4ff<br />
81 H.Engel / J. Eckert: Die Sozialversicherung im Dritten Reich, Berl<strong>in</strong> 1937;<br />
82 Seldte war 1918 Mitbegrün<strong>der</strong> des “Stahlhelm, Bund <strong>der</strong> Frontsoldaten”<br />
83 Im konkreten waren jedoch die Rivalitäten zwischen <strong>der</strong> DAF dem RAM und die<br />
Befürchtungen <strong>der</strong> Wirtschaft gegenüber <strong>der</strong> DAF <strong>der</strong> Grund für den “Kampf um die<br />
Sozialversicherung” . E<strong>in</strong>zelheiten und Dokumente bei: Th Mason ,aaO, ; G.Beier,<br />
Gesetzesentwürfe zur Ausschaltung <strong>der</strong> Deutschen Arbeitsfront im Jahre 1938, <strong>in</strong>: AfS<br />
17(1977), 297-335<br />
84 V.Hentschel, Geschichte <strong>der</strong> deutschen Sozialpolitik 1880-1980, Frankfurt 1983, 137<br />
85 Nach <strong>der</strong> NS-Moral war Sozialpolitik für die Gesunden und Starken nicht für Kranke<br />
und Schwache.<br />
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41
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Aber auch die M<strong>in</strong>isterialbürokratie stellte die Sozialversicherung unter<br />
das absolute Primat <strong>der</strong> Belebung <strong>der</strong> Wirtschaft, wie es beim "<br />
Sanierungsgesetz " vom 1.12.33 deutlich wurde 86 bei <strong>der</strong> die<br />
Rentenkürzungen vom 14.6.32 durch die Notverordnung vom 8.12.31,<br />
aufrecht erhalten wurden, die Löhne e<strong>in</strong>zufrieren waren 87 , und künftige<br />
Renten um rund 7% zu senken waren.<br />
Außerdem wurde zur Unterstützung <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>rentner das<br />
Kle<strong>in</strong>rentnerhilfegesetz erlassen, welches e<strong>in</strong>en Erhöhungszuschuss zu den<br />
Renten vorsah - aber nicht für Juden. Am 1.1.34 traten auch die<br />
Ruhensvorschriften des § 1274 auch für Versicherungsfälle die früher<br />
e<strong>in</strong>getreten waren <strong>in</strong> Kraft, das bedeutete ganz e<strong>in</strong>fach: es wurde ke<strong>in</strong>e<br />
Invalidenrente mehr gezahlt, wenn <strong>der</strong> Berechtigte Ansprüche auf an<strong>der</strong>e<br />
Renten hatte. Außerdem galten nach e<strong>in</strong>em Erlass vom 21.12.1934 nach §<br />
1285 RVO die Deutschen Schutzgebiete für Deutsche als Inland 88<br />
1936<br />
Durch das Gesetz über Än<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>iger Vorschriften <strong>der</strong> RVO vom<br />
23.12.1936 wurde aufgrund des Art.3 § 8 <strong>der</strong> § 615a AVG e<strong>in</strong>gefügt: "Die<br />
Rente ruht, wenn <strong>der</strong> Berechtigte sich nach dem 30.1.33 <strong>in</strong><br />
staatsfe<strong>in</strong>dlichem S<strong>in</strong>n betätigt hat. Der RMdI entscheidet im<br />
E<strong>in</strong>verständnis mit dem RAM, ob staatsfe<strong>in</strong>dliche Betätigung vorliegt" <strong>der</strong><br />
entsprechende Wortlaut f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> § 1280 RVO a.F..<br />
Durch Gesetz v. 21.12.37 wurde § 1263 = Abkürzung <strong>der</strong> Wartezeit<br />
durch E<strong>in</strong>zahlung e<strong>in</strong>er Prämienreserve nach ärztlicher Untersuchung<br />
ermöglicht. In Kraft seit 1.1.38 89 .<br />
I.4.2.1 Invalidenversicherung im Jahr 1938<br />
Versicherungspflichtig s<strong>in</strong>d entgeldlich Beschäftigte, Arbeiter, Gesellen,<br />
Hausgehilfen; Angehörige <strong>der</strong> See und B<strong>in</strong>nenschiffsbesatzungen, Gehilfen<br />
und Lehrl<strong>in</strong>ge, soweit nicht AnV-pflichtig; ferner Hausgewerbetreibende.<br />
E<strong>in</strong>e Verdienstobergrenze besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Invalidenversicherung nicht.<br />
Weiterversicherung, freiwillige Selbstversicherung (für alle<br />
Staatsangehörigen im In- und Ausland; <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> vollendeten 40. Lebensjahr)<br />
und freiwillige Höherversicherung s<strong>in</strong>d vorgesehen.<br />
86 siehe, Teppe, aaO<br />
87 Zu den “Lebenshaltungskosten und Realöhnen des dritten Reich” R. Hachmann,<br />
<strong>in</strong>:VfSWG 1978,32-73;<br />
88 Az.: II Nr. 1076/34 A, <strong>in</strong>, Deutsche Invalidenversicherung 1935, 154;<br />
89 In <strong>der</strong> AV schon seit 1923 möglich durch die “VO über Berechnung <strong>der</strong> Deckungsmittel<br />
bei Abkürzung <strong>der</strong> Wartezeit für die AV” vom 6.2.23 zu § 384 AVG (alt § 395 VGfA). Text<br />
und Formel bei Dersch,aaO,902f:<br />
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42
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Die Pflichtbeiträge (9 Lohnklassen, darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Beitragsklasse<br />
für Freiwillige und Höherversicherung) s<strong>in</strong>d von dem Arbeitgeber und dem<br />
Versicherten je zur Hälfte zu tragen; vom Unternehmer s<strong>in</strong>d dafür <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Regel wöchentlich Marken <strong>in</strong> Quittungskarten zu kleben und die<br />
Beitragsteile <strong>der</strong> Pflichtversicherten bei <strong>der</strong> Lohnabrechnung abzuziehen.<br />
Anspruch auf die Leistungen <strong>der</strong> Invalidenversicherungen besteht nur,<br />
wenn die Wartezeit erfüllt ist (260 Wochenbeiträge aufgrund von<br />
Versicherungspflicht, bei Nichterreichung dieser Wochen von<br />
Pflichtversicherung 520 Wochenbeiträge, bei Alters<strong>in</strong>validenrenten 780<br />
Wochenbeiträge; Ersatzzeiten nur Wehr- und Reichsarbeitsdienst) und die<br />
Anwartschaft aufrecht erhalten ist (jährlich müssen 26 Wochenbeiträge<br />
entrichtet se<strong>in</strong>; doch genügt Halbdeckung <strong>der</strong> vollen Kalen<strong>der</strong>jahre<br />
zwischen dem 1. E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Invalidenversicherung und dem<br />
Versicherungsfall; Ersatzzeiten s<strong>in</strong>d Wehrdienst, Reichsarbeitsdienst,<br />
Krankheit, Unterstützungsbezug wegen Arbeitslosigkeit, ...)<br />
Leistungen:<br />
1.Invalidenrente nach vollendetem 65. Lebensjahr (Alters<strong>in</strong>validenrente)<br />
o<strong>der</strong> bei dauern<strong>der</strong> (Dauerrente) o<strong>der</strong> vorübergehen<strong>der</strong>, aber 26 Wochen<br />
überschreiten<strong>der</strong> (Krankenrente) Invalidität. Die Invalidenrente besteht aus<br />
dem Grundbetrag (jährlich 72 RM vom Reich getragen), dem<br />
Steigerungsbetrag nach Maßgabe <strong>der</strong> geleisteten Beiträge und dem<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschuss (jährlich je 90 Reichsmark für die ersten beiden K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />
120 RM für jedes weitere K<strong>in</strong>d unter 15 Jahren, bei Schul-<br />
/Berufsausbildung, Gebrechlichkeit auch <strong>bis</strong> zur Vollendung des 18.<br />
Lebensjahres.<br />
Klasse 1 <strong>bis</strong> zu 6 RM<br />
Wochenlohn<br />
Wochenbei<br />
trag<br />
0,30 RM<br />
Jährl.Steigerungsbetrag<br />
für jeden<br />
Wochenbeitrag<br />
0,08 RM<br />
Klasse 2 6 - 12 RM 0,60 RM 0,14 RM<br />
Klasse 3 12 - 18 RM 0,90 RM 0,20 RM<br />
Klasse 4 18 - 24 RM 1,20 RM 0,26 RM<br />
Klasse 5 24 - 30 RM 1,50 RM 0,32 RM<br />
Klasse 6 30 - 36 RM 1,80 RM 0,38 RM<br />
Klasse 7 36 - 42 RM 2,10 RM 0,44 RM<br />
Klasse 8 42 - 48 RM 2,40 RM 0,50 RM<br />
Klasse 19 mehr als 48 RM 2,70 RM 0,56 RM<br />
Klasse 10 10 für freiwillig<br />
Versicherte<br />
3,00 RM 0,65 RM<br />
2. H<strong>in</strong>terbliebenenrenten (Witwenrenten nur für k<strong>in</strong><strong>der</strong>reiche >mehr als<br />
drei K<strong>in</strong><strong>der</strong>65.
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
berechnet; Waisenrente <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> vollendeten 15. o<strong>der</strong> bei Berufsausbildung<br />
<strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 18. Lebensjahr, halber Grundbetrag und 4/10-tel<br />
Steigerungsbetrag; Höchstgrenze aller H<strong>in</strong>terbliebenenrenten nach e<strong>in</strong>em<br />
Versicherten ist das, was dem verstorbenen Versicherten zugestanden<br />
hätte, e<strong>in</strong>schließlich K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschüsse.<br />
1941<br />
Die unter v.Papen e<strong>in</strong>geführten Rentenkürzungen wurden wie<strong>der</strong><br />
aufgehoben und die KVdR e<strong>in</strong>geführt, wobei die Beiträge von den LVAen<br />
zu tragen waren. Der Zugang zu den Witwenrenten wurde erleichtert.<br />
Mütter von zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n unter 6 Jahren und Frauen, die m<strong>in</strong>destens vier<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> geboren hatten, bekamen nun auch dann Witwenrente, wenn sie<br />
noch erwerbsfähig waren.<br />
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44
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.5 Besatzungszeit 1945-1947<br />
Vorschläge e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen zentralisierten Kranken-, Unfall- und<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>, die Ausdehnung <strong>der</strong> Versicherungspflicht auf fast alle<br />
Erwerbstätigen und die E<strong>in</strong>räumung e<strong>in</strong>er Zweidrittelmajorität <strong>der</strong><br />
Gewerkschaften <strong>in</strong> <strong>der</strong> Selbstverwaltung dieser Zentralversicherungen, wie<br />
es <strong>der</strong> Entwurf für e<strong>in</strong> gesamtdeutsches Sozialversicherungsgesetz des<br />
alliierten Kontrollrats von 1946 vorsah90 , konnte wegen heftigen<br />
Wi<strong>der</strong>stands von deutscher Seite - auch von Gewerkschaft und SPD - nicht<br />
verwirklicht werden.<br />
Für das von e<strong>in</strong>er sozialen <strong>Rentenversicherung</strong> pr<strong>in</strong>zipiell zu lösende<br />
Problem, nach Aufgabe <strong>der</strong> Erwerbstätigkeit aus Alters- o<strong>der</strong><br />
gesundheitlichen Gründen die materielle Existenz des ehemals<br />
Lohnabhängigen und se<strong>in</strong>es Unterhaltsverbands zu sichern, gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Nachkriegsgeschichte ebenfalls unterschiedliche <strong>in</strong>stitutionelle<br />
Vorstellungen, wobei sich e<strong>in</strong>e wichtige Strömung am 1942 <strong>in</strong> England<br />
veröffentlichten Beveridge-Plan orientierte. Dennoch waren die spezifisch<br />
deutschen sozialpolitischen Traditionen, die sich an e<strong>in</strong>em geglie<strong>der</strong>ten,<br />
beitragsf<strong>in</strong>anzierten System <strong>der</strong> Sozialversicherung orientierten, <strong>in</strong> allen<br />
Parteien und Verbänden stärker.<br />
Der wirtschaftliche und soziale Wie<strong>der</strong>aufbau Deutschlands war im Mai<br />
1945 nicht von e<strong>in</strong>em Punkt Null aus neu zu beg<strong>in</strong>nen, son<strong>der</strong>n konnte<br />
sogar auf e<strong>in</strong> recht beachtliches <strong>in</strong>dustrielles Potential aufbauen. Im Mai<br />
1945 war, bezogen auf das Vorkriegsjahr 1936 das Brutto-Anlagevermögen<br />
<strong>der</strong> Industrie um rd. 20% angewachsen.<br />
"Auf die Zivilbevölkerung und auf Verkehrse<strong>in</strong>richtungen fielen 7 mal mehr<br />
Bomben als auf die Rüstungs<strong>in</strong>dustrie... In <strong>der</strong> Industrie hielten sich die<br />
Schäden <strong>in</strong> Grenzen. Nicht mehr als 6,5% aller Werkzeugmasch<strong>in</strong>en wurden<br />
1944 - dem Höhepunkt <strong>der</strong> Bombenangriffe - beschädigt, wobei nur 10%<br />
dieser völlig unbrauchbar waren Im Klartext bedeutet dies das Deutschlands<br />
Industrie 1945 sofort wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Produktion e<strong>in</strong>steigen konnte und das Sie<br />
<strong>zum</strong> großen Teil besser da stand wie vor 1936”. 91<br />
I.5.1 Die Die Die zonalen zonalen Regelungen Regelungen<br />
92<br />
Wenn Staat, Wirtschaft, F<strong>in</strong>anzen und Volksstruktur nunmehr <strong>in</strong>s<br />
Wanken geraten s<strong>in</strong>d, ist es nicht überraschend, wenn seit 1945 die<br />
For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er grundlegenden Neuordnung <strong>der</strong> deutschen<br />
Sozialversicherung zu e<strong>in</strong>em Thema <strong>der</strong> öffentlichen Diskussion geworden<br />
ist. Die Aufrichtung <strong>der</strong> Zonengrenzen hat die rechtliche, organisatorische,<br />
soziale, wirtschaftliche und f<strong>in</strong>anzielle E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Deutschen<br />
Sozialversicherung zerrissen. Innerhalb <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Zonen ist ebenfalls <strong>in</strong><br />
90 Der Entwurf g<strong>in</strong>g auf e<strong>in</strong>en Vorschlag <strong>der</strong> Sowjets zurück.<br />
91 W.Abelshausen, Wirtschaftsgeschichte <strong>der</strong> BRD 1945-1980, Frankfurt 1983,20f;<br />
92 (nach: W.Dobbernack, <strong>in</strong>, Arbeitsblatt f. d. Britische Zone 1947 und 1948)<br />
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45
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
vieler H<strong>in</strong>sicht die frühere E<strong>in</strong>heit beseitigt. Die lenkende Hand des <strong>bis</strong><br />
1945 bestehenden RAM und des RVA ist ausgefallen. An ihrer Stelle s<strong>in</strong>d<br />
Zonen- und Län<strong>der</strong>behörden, ja sogar Stadtverwaltungen getreten, die<br />
Gesetze und Verwaltung nach eigenem Ermessen geän<strong>der</strong>t haben. Die<br />
Folge ist e<strong>in</strong> Durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und Gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Betreuung,<br />
die auf Dauer e<strong>in</strong>fach untragbar ist. Wenn es richtig ist, dass die deutsche<br />
Wirtschaft nur dann wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Aufstieg erleben kann, wenn - wie <strong>in</strong> den<br />
Potsdamer Beschlüssen von 1945 festgelegt wurde - die wirtschaftliche<br />
E<strong>in</strong>heit wie<strong>der</strong>hergestellt wird, so ist es ebenso zw<strong>in</strong>gend, dass auch die<br />
staatliche Sozialpolitik, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Sozialversicherung e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegrieren<strong>der</strong><br />
Bestandteil ist, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er vollständigen E<strong>in</strong>heit im gesamten Staatsgebiet<br />
zugeführt werden muss.<br />
Die Angriffe <strong>der</strong> Alliierten Streitkräfte auf das deutsche Staatsgebiet seit<br />
1944 <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Ende des Krieges hat das reibungslose Funktionieren <strong>der</strong><br />
deutschen Sozialversicherung bereits empf<strong>in</strong>dlich gestört. Als <strong>in</strong> den ersten<br />
Monaten 1945 die Verb<strong>in</strong>dungen zwischen den Berl<strong>in</strong>er Zentralen und den<br />
verschiedenen Reichteilen ausfiel, blieb davon auch die Arbeit <strong>der</strong><br />
Sozialversicherungsträger nicht unberührt. Die Kapitulation beseitigte die<br />
zentralen Lenkungsstellen. Die Tätigkeit des RAM endete, das RVA wurde<br />
stillgelegt. Die zentralen Versicherungsträger wie die RfA, die RKn, die für<br />
das gesamte Staatsgebiet zuständigen BG´s und Krankenkassen, die<br />
überwiegend ihren Sitz <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> hatten, wurden durch Anordnungen des<br />
Berl<strong>in</strong>er Magistrats stillgelegt und unter Treuhän<strong>der</strong>verwaltung gestellt.<br />
I.5.1.1 Das Berl<strong>in</strong>er Modell<br />
Der Magistrat <strong>der</strong> Stadt Berl<strong>in</strong> hat bereits im Juli 1945 die Initiative zu<br />
e<strong>in</strong>er geradezu revolutionierenden Neuordnung <strong>der</strong> SV <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ergriffen.<br />
Sämtliche dort <strong>bis</strong>her bestehenden Versicherungsträger wurden außer<br />
Funktion gesetzt. An ihrer Stelle wurde e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche<br />
Versicherungsanstalt errichtet, die Leistungen sowohl bei Krankheit,<br />
Schwangerschaft und Geburt, Unfällen, Invalidität, Alter und Tod zu<br />
gewähren und hierfür e<strong>in</strong>heitliche Versicherungsbeiträge 93 erhebt.<br />
Gleichzeitig hat die Berl<strong>in</strong>er Neuordnung den Kreis <strong>der</strong><br />
versicherungspflichtigen Personen erheblich ausgeweitet, und zwar nicht<br />
nur auf sämtliche Arbeiter und Angestellten, ohne Rücksicht auf die Höhe<br />
ihres Arbeitsverdienstes, son<strong>der</strong>n auch auf alle Selbständige, die nicht<br />
mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigen.<br />
H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Versicherungsleistungen legte die Versicherungsanstalt<br />
Berl<strong>in</strong> zunächst ihr Hauptgewicht auf den Ausbau <strong>der</strong> Sachleistungen bei<br />
93 20 % des Arbeitsverdienstes <strong>bis</strong> 600.- RM monatlich für Arbeitnehmern (Je zur Hälfte<br />
von Arbeitnehmer und Arbeitgeber) und feste Sätze bei Selbständigen (Gestaffelt nach<br />
Zahl <strong>der</strong> Arbeitnehmer).<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Krankheit, Schwangerschaft, Geburt und Unfällen aller Art. Daneben<br />
wurden bei diesen Versicherungsfällen die kurzfristigen Geldleistungen<br />
sehr weit ausgebaut und nach e<strong>in</strong>heitlichen Grundsätzen festgelegt. Die<br />
Rentengewährung wurde nur schrittweise und sehr vorsichtig<br />
aufgenommen. Wegen <strong>der</strong> Unsicherheit <strong>der</strong> Verhältnisse entschloss man<br />
sich zunächst zu <strong>der</strong> bedenklichen Maßnahme, die Renten von dem<br />
Vorliegen e<strong>in</strong>er Art Bedürftigkeit abhängig zu machen und sie außerdem<br />
durch Höchstbeträge zu limitieren. Auch wurde die Rentengewährung - im<br />
Gegensatz zu dem früher bestehenden Recht - an die Bed<strong>in</strong>gung geknüpft,<br />
dass <strong>der</strong> Rentenempfänger arbeitsunfähig se<strong>in</strong> muss, wobei man unter<br />
Arbeitsunfähigkeit e<strong>in</strong>e Erwerbsbeschränkung von <strong>bis</strong> 66 2/3 % verstand.<br />
Dies hatte die Beseitigung aller Unfallrenten, die auf e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Erwerbsfähigkeit von weniger als 66 2/3 % beruhten, zur Folge. Etwa 95 %<br />
aller <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> laufenden Unfallrenten wurden dadurch e<strong>in</strong>gestellt. Auch<br />
wurden die re<strong>in</strong>en Altersrenten, die nicht an die Bed<strong>in</strong>gung des Vorliegens<br />
<strong>der</strong> Invalidität geknüpft waren, sowie die Witwenrente <strong>der</strong><br />
Unfallversicherung, <strong>der</strong> Angestelltenversicherung und <strong>der</strong><br />
Knappschaftsversicherung <strong>in</strong> den Fällen beseitigt, <strong>in</strong> den Rentenempfänger<br />
nicht zu 66 2/3 % <strong>in</strong>valide waren.<br />
Diese anfänglichen Übergangsmaßnahmen wurden weitgehend<br />
aufgehoben. Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Bedürftigkeitsprüfung und die Limitierung <strong>der</strong><br />
Rentenbeträge wurde fallen gelassen.<br />
Die Bed<strong>in</strong>gungen für den Rentenbezug wurden an diejenigen des <strong>bis</strong><br />
1945 geltenden Rechts angepasst und <strong>zum</strong> Teil darüber h<strong>in</strong>aus verbessert 94<br />
, und die Berechnung <strong>der</strong> Renten wurde zu Gunsten <strong>der</strong> Versicherten<br />
verbessert. Lediglich bei den Unfallrenten besteht im Vergleich zu dem<br />
früher geltendem Recht, die E<strong>in</strong>schränkung, dass die Rente zusammen mit<br />
e<strong>in</strong>em etwaigen Arbeitse<strong>in</strong>kommen nicht zu e<strong>in</strong>er Erhöhung des<br />
E<strong>in</strong>kommens gegenüber dem Stand vor dem Unfall führen dürfe; soweit<br />
dies geschehe , werden die Renten entsprechend gekürzt.<br />
I.5.1.2 Sowjetische Zone<br />
In ähnlicher Weise wie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesamten sowjetischen<br />
Besatzungszone e<strong>in</strong>e grundlegende Neuordnung <strong>der</strong> Sozialversicherung<br />
vorgenommen worden. Auch dort wurden die <strong>bis</strong>her bestehenden<br />
Versicherungse<strong>in</strong>richtungen beseitigt und durch je e<strong>in</strong>e<br />
Sozialversicherungsanstalt <strong>in</strong> jedem Land, die e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />
lokalen Unterbau <strong>in</strong> Form von örtlichen Sozialversicherungskassen hat,<br />
ersetzt.<br />
Auch dort wurde <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> Versicherungspflichtigen weit<br />
ausgedehnt. Die Versicherungsleistungen und Versicherungsbeiträge<br />
94 So wird die Altersrente für Frauen schon ab 60 gewährt.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
werden nach ähnlichen Gesichtspunkten wie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> bemessen. Im<br />
e<strong>in</strong>zelnen bestehen noch erhebliche Unterschiede zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<br />
Län<strong>der</strong>n.<br />
Diese unterschiede wurden dann im Vollzug des “Befehl des<br />
Oberkommandierenden <strong>der</strong> sowjetischen Besatzungszone <strong>in</strong> Deutschland<br />
betreffend Neuordnung <strong>der</strong> Sozialversicherung” vom 28.1.197 beseitigt.<br />
I.5.1.3 Westzonen<br />
In <strong>der</strong> britischen und amerikanischen Zone s<strong>in</strong>d bewusst alle<br />
grundsätzlichen Än<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Sozialversicherung<br />
und <strong>in</strong> dem Umfang des <strong>der</strong> Versicherungspflicht unterliegenden<br />
Personenkreises zunächst unterblieben. Man hat sich darauf beschränkt,<br />
die Maßnahmen durchzuführen, die angesichts <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten<br />
wirtschaftlichen und f<strong>in</strong>anziellen Verhältnissen e<strong>in</strong> reibungsloses<br />
Funktionieren des Sozialversicherungsapparates gewährleisten. In <strong>der</strong><br />
britischen Zone s<strong>in</strong>d diese Maßnahmen durchweg e<strong>in</strong>heitlich für die ganze<br />
Zone von <strong>der</strong> britischen Kontrollkommission , die sich das Legislativrecht<br />
auf dem Gebiet <strong>der</strong> Sozialversicherung vorbehalten hat, festgelegt worden.<br />
In <strong>der</strong> amerikanischen Zone dagegen oblag die Befugnis, das geltende<br />
Recht zu än<strong>der</strong>n, den drei Landesregierungen.<br />
Britische Zone<br />
Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> britische Zone getroffene Maßnahmen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den<br />
Sozialversicherungsdirektiven <strong>der</strong> Manpower Division <strong>der</strong><br />
Kontrollkommission enthalten (Direktive Nr. 1 vom 28.8.1945 und<br />
Direktive Nr. 24 vom 5.12.1946). Die wichtigsten Punkte s<strong>in</strong>d:<br />
1. Beseitigung aller Benachteiligungen bestimmter Personengruppen aus<br />
politischen, weltanschaulichen o<strong>der</strong> rassischen Gründen (Direktive Nr.<br />
1, Ziffer 3 b)<br />
2. Beschränkungen <strong>der</strong> Leistungen <strong>der</strong> Krankenversicherungen auf die<br />
Regelleistungen; Mehrleistungen s<strong>in</strong>d nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familienhilfe zulässig,<br />
jedoch unter Beschränkung <strong>der</strong> Kostenerstattung für Arznei usw. auf<br />
70%. (Direktive Nr.1, ziff.4; Direktive Nr. 4, Ziffer 3b).<br />
3. Beseitigung <strong>der</strong> gleichen Bed<strong>in</strong>gungen für Krankenhauspflege <strong>der</strong><br />
Versicherten und Familienangehörigen wie sie durch Art.10 <strong>der</strong> VO<br />
vom 7.März 1945 geschaffen wurde (Direktive Nr. 4 Ziff.3e)<br />
4. Vorübergehende Gewährung des Krankengeldes erst nach 7 Tagen<br />
(Direktive Nr. 4, Ziff.3a, aufgehoben durch Direktive Nr. 22, Ziff.2a).<br />
5. Aufhebung <strong>der</strong> kostenlosen Familienhilfe für die Angehörigen von<br />
Wehrmachtsmitglie<strong>der</strong>n (§ 209 b RVO) und <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en<br />
Vorschriften über Krankenversicherung von Rückgeführten nach <strong>der</strong><br />
VO vom 6.2,1945. (Direktive Nr. 4, Ziff. 3 c und d)<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
6. E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>heitlicher Beiträge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenversicherung für die<br />
gesamte Zone.(Direktive Nr. 4, Ziff.2)<br />
7. E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Leistungen <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Angestellten.(Direktive Nr. 1, Ziff.3 f, 5 b und 6 b sowie Direktive<br />
Nr. 3)<br />
8. Grundsätzliche Beseitigung <strong>der</strong> Staatszuschüsse zu den<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>en, die nur <strong>in</strong>soweit gewährt werden, als die<br />
sonstigen E<strong>in</strong>nahmen nicht ausreichen um die Ausgaben zu<br />
decken.(Direktive Nr. 1, Ziff. 6 a)<br />
9. Überführung <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>der</strong> Angestellten auf die<br />
LVA´en.(Direktive Nr. 1, Ziff. 6 a)<br />
10. E<strong>in</strong>schränkung <strong>der</strong> Leistungen <strong>der</strong> Unfallversicherung.(Direktive Nr.<br />
12)<br />
11. Berufsgenossenschaften die außerhalb <strong>der</strong> britischen Zone ihren Sitz<br />
hatten, werden von BG´s o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Sektionen <strong>in</strong> <strong>der</strong> britischen Zone<br />
betreut.<br />
12. E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Leistungen <strong>der</strong> Knappschaft.(Direktive Nr. 13,<br />
gemil<strong>der</strong>t durch Direktive Nr. 23)<br />
13. E<strong>in</strong>schränkungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitslosenhilfe(Direktiven Nr. 2, 7, 10 und<br />
21)<br />
14. Beseitigung des Versorgungsrechts für Kriegsbeschädigte und<br />
Kriegsh<strong>in</strong>terbliebenen sowie des Personenschädenrechts und<br />
Überführung <strong>der</strong> Rentenansprüche auf die <strong>Rentenversicherung</strong> unter<br />
Anwendung <strong>der</strong> Rechtsvorschriften dieser Versicherungen und<br />
Festlegung bestimmter M<strong>in</strong>destsätze sowie Übertragung <strong>der</strong><br />
Heilbehandlung auf die Träger <strong>der</strong> Kranken- und<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>)(Direktiven Nr. 11, 19 und 24)<br />
15. Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Rechtsmittelverfahren unter H<strong>in</strong>zuziehung von<br />
Beisitzern als Vertreter <strong>der</strong> Versicherten und Arbeitgeber.(Direktiven<br />
Nr. 5, 15, 17 und 18)<br />
16. Unterstellung <strong>der</strong> bei den sogenannten Dienstgruppen arbeitenden<br />
früheren Wehrmachtsangehörigen unter den Schutz <strong>der</strong><br />
Unfallversicherung.(Direktive Nr. 16)<br />
17. Neuregelung <strong>der</strong> Beitragsentrichtung für beschäftigte<br />
Rentner.(Direktive Nr. 20)<br />
Amerikanische Zone<br />
In <strong>der</strong> amerikanischen Zone haben die Län<strong>der</strong>regierungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fülle<br />
von Verordnungen das <strong>bis</strong> 1945 geltende Recht geän<strong>der</strong>t und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Durchführung <strong>der</strong> Verwaltung durch zahlreiche Erlasse neue Situationen<br />
geschaffen. Die getroffene Maßnahmen s<strong>in</strong>d nicht grundsätzlicher Art<br />
son<strong>der</strong>n beschränken sich darauf, die Än<strong>der</strong>ungen vorzunehmen, die sich<br />
aus dem Zusammenbruch des Nationalismus zw<strong>in</strong>gend ergeben o<strong>der</strong><br />
notwendig s<strong>in</strong>d, um die Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> Sozialversicherung zu<br />
erhalten.<br />
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49
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Französische Zone<br />
In <strong>der</strong> französischen Zone hat die Militärregierung folgende<br />
Bestimmungen erlassen:<br />
1. Errichtung e<strong>in</strong>es Hauptversicherungsamtes, das die Befugnisse des<br />
früheren RVA ausübt.<br />
2. Errichtung e<strong>in</strong>er LVA für die gesamte Zone mit Sitz <strong>in</strong> Speyer und<br />
Zweigstellen <strong>in</strong> Freiburg und Tüb<strong>in</strong>gen. Dieser Anstalt ist die<br />
Durchführung <strong>der</strong> gesamten Sozialversicherung übertragen worden.<br />
3. In <strong>der</strong> Krankenversicherung s<strong>in</strong>d die unterschiedlichen Kassenarten<br />
beseitigt und nur noch AOK´s zugelassen.<br />
4. Die Versicherungspflichtgrenze wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenversicherung auf<br />
7200.-RM jährlich erhöht.<br />
5. Der Beitrag für die <strong>Rentenversicherung</strong> wurde von 5,6 auf 9 % des<br />
Arbeitsverdienstes erhöht, wovon 3 % <strong>der</strong> Versicherte und 6 % <strong>der</strong><br />
Arbeitgeber zahlt<br />
6. Errichtung von zwei geme<strong>in</strong>samen Lenkungsstellen für sämtliche<br />
Berufsgenossenschaften, davon e<strong>in</strong>e für den Bezirk Süd <strong>in</strong> Baden-Baden,<br />
die an<strong>der</strong>e für den Bezirk Nord <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z. Diese Lenkungsstellen s<strong>in</strong>d<br />
alle<strong>in</strong> verantwortlich gegenüber den Aufsichtsbehörden<br />
(Oberversicherungsämter und Hauptversicherungsamt) sowie<br />
gegenüber <strong>der</strong> Militärregierung für die Durchführung <strong>der</strong> gewerblichen<br />
und landwirtschaftlichen Unfallversicherung und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de-<br />
Unfallversicherung. Die Lenkungsstellen können die Geschäfte von<br />
BG´s übernehmen, die außerstande s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en normalen<br />
Geschäftsgang zu gewährleisten.<br />
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50
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.6 Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-1949<br />
1948<br />
Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Währungsreform am 27.6.1948 nahmen die<br />
drei westlichen Besatzungsmächte <strong>zum</strong> letzten mal die<br />
Gesetzgebungshoheit auf dem Gebiet <strong>der</strong> Sozialversicherung für sich <strong>in</strong><br />
Anspruch: Im dritten Währungsreformgesetz legten sie fest, dass die<br />
Sozialrenten nicht abgewertet son<strong>der</strong>n im Verhältnis 1:1 auf die neue<br />
Währung umgestellt werden. Zugleich verkündeten sie:<br />
”Die Reform <strong>der</strong> Sozialversicherung soll unter <strong>der</strong> Verantwortung deutscher<br />
Gesetzgebung erfolgen 95 .<br />
Neben den Landtagen <strong>der</strong> französischen Zone war nun <strong>der</strong><br />
"Wirtschaftsrat des vere<strong>in</strong>igten Wirtschaftsgebietes" am Zug.<br />
Da <strong>in</strong> diese Zeit die Weichenstellung für den politischen und<br />
sozialpolitischen Rahmen <strong>der</strong> BRD mit ihren Auswirkungen auf die heutige<br />
politische Kultur erfolgte, möchte ich den H<strong>in</strong>tergrund des Frankfurter<br />
Wirtschaftrates kurz umreißen.<br />
Die E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> Bizone <strong>zum</strong> 1.1.1947 erfolgte mit dem Ziel, die<br />
wirtschaftliche, nicht aber die staatliche Selbstständigkeit des Gebiets <strong>bis</strong><br />
1949 zu err<strong>in</strong>gen. Bereits im Herbst 1946 waren zu diesem Zweck fünf<br />
vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> unabhängige deutsche bizonale Auftragsverwaltungen<br />
geschaffen worden, die über die Großzone verteilt wurden. Das "bizonale<br />
Interregnum" 96 begann mit großen Schwierigkeiten <strong>der</strong> Koord<strong>in</strong>ierung <strong>der</strong><br />
unterschiedlichen Strukturen bei<strong>der</strong> Zonen, mangelnden deutschen<br />
Kompetenzen (ke<strong>in</strong>e Befugnis zur Rechtssetzung, fehlende demokratische<br />
Kontrolle), aber auch unterschiedlichen Zielvorstellungen von Besatzern<br />
und Deutschen e<strong>in</strong>erseits wie <strong>der</strong> Deutschen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />
"Die Alliierten hatten bei <strong>der</strong> Verschmelzung ihrer Zonen an e<strong>in</strong>e<br />
ökonomische Sofortmaßnahme zur L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Not gedacht, die<br />
Deutschen zeigten <strong>in</strong>dessen großes Interesse an Grundsatzfragen, erörterten<br />
verfassungsrechtliche Pr<strong>in</strong>zipien beim Aufbau <strong>der</strong> Zonenämter, die lediglich<br />
wirtschaftliches Krisenmanagement betreiben sollten, und diskutierten dort<br />
Probleme e<strong>in</strong>er künftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.<br />
Amerikaner und Englän<strong>der</strong> hatten akute ökonomische Schwierigkeiten mit<br />
Hilfe deutscher Auftragsverwaltungen <strong>in</strong> den Griff bekommen wollen, für die<br />
95 Milittary Government Gazette. Germany. British zone of Control, Nr.25/1948,871,<br />
zitiert nach H.G.Hockers, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland,<br />
Stuttgart 1980,86;<br />
Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens. Teil II 4.Abschnitt § 23, jedoch galt die<br />
1:1 Umstellung nur für die Rentenzahlungen, das Rentenvermögen <strong>der</strong> RV-Träger wurde<br />
10:1 und 100:6,5 umgewertet. , <strong>in</strong>: R.Harmen<strong>in</strong>g, Währungsgesetze, München 1950;<br />
96 T.Pün<strong>der</strong>, Das bizonale Interregum, Waibl<strong>in</strong>gen 1966<br />
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51
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Deutschen stand <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aufbau ihrer Staatlichkeit im Vor<strong>der</strong>grund 97 ".<br />
Dabei gab es ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igkeit zwischen den deutschen Kräften. Vielmehr<br />
rang man um fö<strong>der</strong>alistische und zentralistische Pr<strong>in</strong>zipien ebenso<br />
mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wie um unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen.<br />
Indem es <strong>der</strong> SPD im Januar 1947 gelang, die Leitung des M<strong>in</strong>dener<br />
Verwaltungsamt für Wirtschaft, <strong>der</strong> Zentrale des aus den<br />
Wirtschaftsm<strong>in</strong>istern <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> bestehenden Verwaltungsrates für<br />
Wirtschaft, durch den Sturz des parteilosen hessischen<br />
Wirtschaftsm<strong>in</strong>isters Rudolf Müller 98 , mit ihrem an gelenkter Wirtschaft<br />
und neuer Wirtschaftdemokratie orientierten wirtschaftspolitischen<br />
Cheftheoretiker Viktor Agartz 99 zu besetzen, wurde <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Landtagen<br />
praktizierte Grundsatz <strong>der</strong> Parteienkooperation auf bizonaler Ebene<br />
erstmals <strong>in</strong> Frage gestellt.<br />
Am 29.5.47 beschlossen Briten und Amerikaner die Neugestaltung <strong>der</strong><br />
bizonalen Wirtschaftsverwaltung. Neben e<strong>in</strong>em von den Landtagen zu<br />
wählenden Wirtschaftsrat mit legislativen Befugnissen<br />
(Wirtschaftsparlament) sollte e<strong>in</strong> Exekutivrat aus je e<strong>in</strong>em Vertreter je<strong>der</strong><br />
Landesregierung treten. Die Leitung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelverwaltungen sollte an vom<br />
Exekutivausschuss vorzuschlagenden und vom Verwaltungsrat zu<br />
ernennenden Direktoren übertragen werden. Das damit verfolgte Ziel<br />
formulierte General Clay am 2. Juni 1947 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Plenumssitzung des<br />
Län<strong>der</strong>rats:<br />
"Nichts desto weniger, s<strong>in</strong>d wir nicht gewillt die Amerikanische und Britische<br />
Zone politisch zu vere<strong>in</strong>igen auf Grund <strong>der</strong> Angst, das dies h<strong>in</strong><strong>der</strong>lich für<br />
e<strong>in</strong>e frühe Vere<strong>in</strong>igung Gesamtdeutschlands se<strong>in</strong> könnte. Darum bereitet die<br />
Vere<strong>in</strong>barung, die wir erreicht haben, noch nicht die politische Vere<strong>in</strong>igung<br />
<strong>der</strong> Amer. und Brit. Zone vor. An<strong>der</strong>seits, bezüglich <strong>der</strong><br />
wirtschaftspolitischen Vorstellung, unter Streng def<strong>in</strong>ierten<br />
Kräfteverhältnissen, bereitet sie (die Vere<strong>in</strong>barung E.I.) e<strong>in</strong> Arrangement vor,<br />
<strong>in</strong>dem die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des deutschen Volkes<br />
bezüglich ihrer zukünftigen Wirtschaftspolitik <strong>in</strong> die wirtschaftspolitischen<br />
Entscheidungen <strong>der</strong> Amerk. und Brit. Militärregierungen berücksichtigt<br />
werden sollen. 100 ".<br />
97 W.Benz, Vorform des “Weststaats”: die Bizone 1946-1949, <strong>in</strong>: Th.Eschenburg, Jahre <strong>der</strong><br />
Besatzung 1945-1949 = Geschichte <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland 1, Stuttgart 1983, 384;<br />
98 Zum H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Nichtwahl von Agartz, <strong>der</strong> Wahl Müllers und desen Abwahl, vgl.<br />
Protokol über n Die ausserordentliche Tagung des Län<strong>der</strong>rates des amerikanischen<br />
Besatzungsgebietes <strong>in</strong> Marktheidenfeld am 26.9.1946, <strong>in</strong> Akten zur Vorgeschichte <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik Deutschland = AVBRD, Bd 1.2, 872 f.; W.Benz: Die Gründung <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik, München 1986, 56f<br />
99 Über den Theoretisch-Ideologischen H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> SPD-Vordenker: G.Müller, Die<br />
Grundlegung <strong>der</strong> Westdeutschen Wirtschaftsordnung im Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-<br />
1949, Frankfurt 1982, 17ff; E<strong>in</strong>zelheiten zu Victor Agartz und se<strong>in</strong>e Wirtschaftspolitik <strong>der</strong><br />
“expansiven Lohnpolitik”, <strong>in</strong>: V.Gransow/M.Krätke, Victor Agartz. Gewerkschaften und<br />
Wirtschaftspolitik, Berl<strong>in</strong> 1978.<br />
100 AVBRD, Bd.2, 467<br />
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52
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Damit wurde die Begrenzung <strong>der</strong> Kompetenzen des <strong>in</strong> Frankfurt<br />
angesiedelten Wirtschaftsrats deutlich. Das Bipartite Board als<br />
Zweimächteamt zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> wirtschaftlichen Kooperation fungierte<br />
als entscheidende Zustimmungs- und Kontroll<strong>in</strong>stanz für dessen<br />
Gesetzgebung.<br />
Am 25.Juni 1947 konstituierte sich <strong>der</strong> Wirtschaftsrat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frankfurter<br />
Börse mit 52 von den Landtagen gewählten Mitglie<strong>der</strong>n<br />
– CDU/CSU 20<br />
– SPD 20<br />
– DVP/FDP 4<br />
– KPD 3<br />
– Zentrum 2<br />
– DP<br />
2<br />
– WAV 1<br />
Schon die erste Direktorenwahl am 23./24. Juli 1947 brachte e<strong>in</strong>e<br />
Weichenstellung, die sich als folgenschwer erweisen sollte, und beendete<br />
dadurch das bereits im Januar begonnene Tauziehen um die<br />
entscheidenden Positionen mit e<strong>in</strong>em vollständigen Verzicht <strong>der</strong> SPD auf<br />
die fünf Direktorenposten bzw. e<strong>in</strong>em vollständigen Sieg <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Seite 101 .<br />
Vorausgegangen war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stimmiger Vorschlag des Exekutivrats -<br />
sechs von acht Mitglie<strong>der</strong>n gehörten <strong>der</strong> SPD an -, <strong>der</strong> für jedes<br />
Direktorenamt e<strong>in</strong>en Kandidaten vorsah (3 SPD, 2 CDU/CSU). Als die<br />
CDU/CSU dem Vorschlag, den nie<strong>der</strong>sächsichen Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister<br />
Alfred Kubel <strong>zum</strong> Direktor <strong>der</strong> Verwaltung für Wirtschaft zu erheben, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> parlamentarischen Aussprache mit dem Argument wi<strong>der</strong>sprach, die<br />
SPD habe bereits die Wirtschaftsressorts aller Län<strong>der</strong> <strong>in</strong>ne 102 , spitzte sich<br />
<strong>der</strong> Konflikt mit <strong>der</strong> Gegenargumentation des sozialdemokratischen<br />
Fraktionsvorsitzenden Erw<strong>in</strong> Schöttle zu:<br />
"Aus wirtschaftspolitischen und nationalpolitischen Überlegungen muss die<br />
Sozialdemokratie, die <strong>in</strong>folge ihrer Stellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>ternationalen Politik e<strong>in</strong>e große Verantwortung auf sich ruhen hat, darauf<br />
bestehen, dass ihr die Möglichkeit gegeben wird, an <strong>der</strong> Spitze des Amtes für<br />
Wirtschaft zu beweisen, dass sie die Männer und die Ideen hat, um ihren<br />
wesentlichen Beitrag <strong>zum</strong> Neubau unserer Wirtschaft zu leisten... Es gibt<br />
reichlich Gründe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit dafür, warum wir e<strong>in</strong>en größeren<br />
E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> die Gestaltung des Wirtschaftslebens ausüben wollen 103 ".<br />
101 J.Weber, Geschichte <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland, Pa<strong>der</strong>born 1980, Bd.2, 132;<br />
102 Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vere<strong>in</strong>igten<br />
Wirtschaftgebietes 1947-1949, Bd.2, 26<br />
103 aaO;<br />
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53
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Durch diese Kampfansage wurde <strong>der</strong> Exekutivrat veranlasst neue<br />
Vorschläge zu machen. Zwar sah er jetzt zwei Kandidaten für jedes Amt<br />
vor, doch gehörten diese jeweils <strong>der</strong> gleichen Partei an. Bei <strong>der</strong><br />
Abstimmung über die Besetzung e<strong>in</strong>es Direktors <strong>der</strong> Verwaltung für<br />
Wirtschaft erlitt die SPD e<strong>in</strong>e Nie<strong>der</strong>lage. Kubel erhielt nur 21 Stimmen.<br />
Spontan reagierte <strong>der</strong> Fraktionsvorsitzende Schoettle, <strong>in</strong>dem er<br />
überraschend die an<strong>der</strong>en sozialdemokratische Kandidaten auffor<strong>der</strong>te,<br />
ihre Kandidatur zurück zu ziehen. Er erklärte:<br />
"Die sozialdemokratische Fraktion wird <strong>der</strong> Tatsache <strong>in</strong>s Auge zu sehen<br />
haben, dass <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Mehrheit die <strong>in</strong> diesem Hause besteht, die Besetzung<br />
<strong>der</strong> Direktorate e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>seitigen politischen Charakter tragen wird 104 ".<br />
Im neuen Vorschlag des Exekutivrates war ke<strong>in</strong> Sozialdemokrat mehr<br />
vorhanden. Die SPD g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Opposition und schuf damit Mehrheiten,<br />
die vorher nicht Vorhanden waren. Die SPD hob durch ihre Haltung die<br />
bürgerliche Koalition gleichsam aus <strong>der</strong> Taufe. Als <strong>der</strong> Wirtschaftsrat nach<br />
se<strong>in</strong>er Umbildung (Erweiterung auf 104 Abgeordnete und Bildung e<strong>in</strong>es<br />
Län<strong>der</strong>rats mit 24 Vertretern <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>regierungen) am 2.3.48 neue<br />
Direktoren wählte, wurde nicht mehr gerungen.<br />
Bis auf den Parteilosen Ludwig Erhard, <strong>der</strong> Direktor <strong>der</strong> Verwaltung für<br />
Wirtschaft wurde, besetzte die CDU/CSU alle Direktorenposten und das<br />
neugeschaffene Amt des koord<strong>in</strong>ierenden Oberdirektors. Die SPD hatte<br />
schon auf ihrer Fraktionssitzung vom 17. <strong>bis</strong> 19.2.48 beschlossen, auch im<br />
2.Wirtschaftsrat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Opposition zu bleiben, aber wie schon vorher zu<br />
konstruktiver Mitarbeit bereit zu se<strong>in</strong>.<br />
Im März 48 erhielt <strong>der</strong> Frankfurter Wirtschaftsrat des Vere<strong>in</strong>igten<br />
Wirtschaftsgebietes die sozialpolitische Gesetzgebungskompetenz, mit <strong>der</strong><br />
auch die im August 1948 erfolgte E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Verwaltung für Arbeit<br />
verbunden war (erster Direktor Anton Storch, CDU).<br />
Die Befassung des Wirtschaftsrates mit e<strong>in</strong>em Sozialversicherungs-<br />
Anpassungsgesetz (SVAG) begann zu <strong>der</strong> Zeit als <strong>der</strong> Parlamentarische Rat<br />
se<strong>in</strong>e Arbeit am Grundgesetz anf<strong>in</strong>g 105 . Die großen Parteien und die<br />
Gewerkschaften gelangten zu <strong>der</strong> Auffassung, das nicht dem Wirtschaftsrat<br />
die Entscheidung über die entgültige Neuordnung des<br />
Sozialversicherungswesen zukomme, son<strong>der</strong>n dem gewählten zukünftigen<br />
Parlament e<strong>in</strong>er Bundesrepublik Deutschland.<br />
104 aaO,36;<br />
105 “ Rückblickend muß begrüßen” so Auerbach (Klärung um den sozialen Rechtsstaat,<br />
S.272) “daß <strong>der</strong> Parlamentarische Rat 1949 kaum <strong>in</strong>s e<strong>in</strong>zelne gehende sozialpolitische<br />
Bestimmungen <strong>in</strong> das Grundgesetz aufgenommen hat. Nicht nur hatte <strong>der</strong> Rat sehr wenige<br />
Fachkundige <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Reihen. Vor allem bestand damals erst e<strong>in</strong>e unzureichende Klarheit<br />
über die eigentlichen Aufgabe <strong>der</strong> Sozialrechtsbereiche und <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen sozialen<br />
Leistungen, und es hätte die Gefahr bestanden das überholtes verfassungsrechtlich<br />
festgeschrieben würde”.<br />
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54
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Da <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die SPD mit e<strong>in</strong>em Wahlsieg bei <strong>der</strong> ersten<br />
Bundestagswahl rechnete 106 , sah sie umso schneller die Möglichkeit, ihre<br />
Vorstellungen umzusetzen. Die bürgerlichen Parteien dachten nicht an<strong>der</strong>s,<br />
und so kam man zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass angesichts <strong>der</strong> Notlage e<strong>in</strong> die<br />
unterschiedlichen Organisationsfragen ausklammerndes Übergangsgesetz<br />
die dr<strong>in</strong>glichste Aufgabe sei. So erklärt sich, dass es im Wirtschaftsrat zu<br />
Koalitionsverschiebungen kam, die es möglich machten, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Schnellverfahren mit Zustimmung von CDU/CSU und SPD im Dezember<br />
1948 das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom Wirtschaftsrat<br />
verabschiedet werden konnte.<br />
H<strong>in</strong>tergrund des Handlungsbedarf war die katastrophale Wirtschaftslage<br />
<strong>der</strong> Rentner. Insbeson<strong>der</strong>e die Empfänger von Alters- und<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten waren geradezu <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hoffnungslosen Lage.<br />
Die durchschnittlichen Altersrenten von DM 42,80 (ArV) und 79,10<br />
(AnV), sowie die H<strong>in</strong>terbliebenenrente von DM 25,10 (ArV) und DM 37,80<br />
(AnV) reichten absolut nicht aus.<br />
Wenn schon 1938 die meisten Renten nicht <strong>zum</strong> Lebensunterhalt<br />
ausreichten, so war Ende 1948 <strong>der</strong> Index <strong>der</strong> Lebenshaltungskosten um 73<br />
Punkte (1938=100), die Durchschnittsrente dagegen nur um 35 (ArV)<br />
bzw.14 (AnV) angestiegen.<br />
Beson<strong>der</strong>s dramatisch kletterten die Preise <strong>in</strong> dem auf die<br />
Währungsreform und dem Beg<strong>in</strong>n des marktwirtschaftlichen Experiments<br />
im Juni 1948 folgende Halbjahr 107 . Während die Löhne <strong>in</strong> diesem Halbjahr<br />
aufgrund <strong>der</strong> Lockerung und schließlich (November 1948) Aufhebung des<br />
Lohnstops um 15 - 20% stiegen, warteten die Rentenempfänger auf e<strong>in</strong>e<br />
Initiative des Gesetzgebers. Diese kam mit dem SVAG vom 17.12.1948. Als<br />
Bundesrecht, übernommen bildet dieses Gesetz e<strong>in</strong> Fundament <strong>der</strong><br />
Sozialversicherungspolitik des ersten Bundestages.<br />
I.6.1 I.6.1 Das Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz<br />
Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz<br />
Im Mittelpunkt standen beträchtliche Rentenerhöhungen, die<br />
E<strong>in</strong>führung des Pr<strong>in</strong>zips <strong>der</strong> M<strong>in</strong>destrente sowie die Erfüllung <strong>der</strong><br />
106 Durch die Ablehnung politischer Verantwortung im Wirtschaftsrat ermöglichte die<br />
SPD <strong>der</strong> CDU/CSU im “Vorparlament” ihre Wirtschaftspolitik - welche die “soziale<br />
Marktwirtschaft von L.Erhard und A.Müller-Armack war - und die Währungspolitik<br />
e<strong>in</strong>zuführen, auch wenn dies nicht unbed<strong>in</strong>gt auf die Zustimmung <strong>der</strong> Alliierten stieß. Die<br />
Wähler honorierten daher auch die Realitätsbezogenheit <strong>der</strong> CDU/CSU-Politik dann auch<br />
bei <strong>der</strong> ersten Bundestagswahl.<br />
107 U.Uffelmann, Der Frankfurter Wirtschaftsrat 1947.1949, <strong>in</strong>: Aus Politik und<br />
Zeitgeschichte, B 37 September 1984, 36 (41ff);<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
jahrzehntelanger For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiterschaft nach Angleichung <strong>der</strong><br />
Leistungsbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> ArV an die AnV. Im Näheren:<br />
1. Die Versichertenrenten wurden allgeme<strong>in</strong> um 15.- DM erhöht, <strong>der</strong><br />
M<strong>in</strong>destbetrag jedoch auf DM 50.- festgesetzt; für die Witwenrenten<br />
galt DM 12.- bzw. DM 40.-, Waiserenten DM 6.- bzw. DM 30.-.<br />
Außerdem wurden die Rentner von <strong>der</strong> Zahlung ihres KVdR Beitrages<br />
von 1.-DM/Monat befreit.<br />
2. Vor allem unter dem pr<strong>in</strong>zipiellen Aspekt <strong>der</strong> sozialrechtlichen<br />
Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten war die E<strong>in</strong>führung<br />
e<strong>in</strong>er neuen Invaliditätsgrenze für Arbeiter wichtig. Bei <strong>der</strong> Separierung<br />
<strong>der</strong> Angestellten- von <strong>der</strong> Arbeiterversicherung 1911 hatte die<br />
Durchsetzung e<strong>in</strong>es beson<strong>der</strong>en Berufsunfähigkeitsbegriffs, <strong>der</strong> sich<br />
von dem Begriff <strong>der</strong> Invalidität des Arbeiters <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht<br />
unterschied, e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle gespielt: Quantitativ dadurch, dass<br />
BU schon bei Verlust <strong>der</strong> Hälfte, Invalidität aber erst bei Verlust von<br />
zwei Drittel <strong>der</strong> Arbeitsfähigkeit gegeben war; qualitativ dadurch, dass<br />
zur Messung <strong>der</strong> Arbeitsfähigkeit im Fall des Angestellten nur se<strong>in</strong><br />
spezifischer Berufskreis, bei Arbeitern jedoch <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />
Arbeitsmarkt herangezogen wurde.<br />
Der Wirtschaftsrat glich nunmehr den Invaliditätsbegriff dem<br />
günstigeren Angestelltenrecht an, <strong>in</strong>dem er ihn als Verlust <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong><br />
Arbeitsfähigkeit def<strong>in</strong>ierte.<br />
E<strong>in</strong>en weiteren wichtigen Schritt zur Vere<strong>in</strong>heitlichung des<br />
Leistungsrecht tat <strong>der</strong> Wirtschaftsrat, <strong>in</strong>dem er das <strong>bis</strong>her nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Angestelltenversicherung geltende Recht auf "unbed<strong>in</strong>gte Witwenrente"<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeiterversicherung e<strong>in</strong>führte. Bisher erhielt die Witwe e<strong>in</strong>es<br />
versicherten Angestellten sofort nach dem Tode des Ehemanns Rente, die<br />
Arbeiterwitwe aber nur dann, wenn sie <strong>in</strong>valide o<strong>der</strong> 65 Jahre alt war o<strong>der</strong><br />
mehr als drei waisenrentenberechtigte K<strong>in</strong><strong>der</strong> (<strong>bis</strong> 15 Jahren) zu erziehen<br />
hatte. Hierbei ist zu beachten, dass seit 1941 bei Bezug <strong>der</strong><br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrente auch e<strong>in</strong> beitragsfreier Krankenversicherungsschutz<br />
verbunden war. Die Abän<strong>der</strong>ung bezog sich allerd<strong>in</strong>gs, ebenso wie die neue<br />
Invaliditätsgrenze, nur auf künftige Fälle. Aus f<strong>in</strong>anziellen Gründen wurde<br />
davon abgesehen, das neue Recht auch auf Bestandsrenten anzuwenden.<br />
Diese Stichtagsregelung führte zu schweren Härten, da nun das Datum des<br />
Todes des Ehemanns darüber entschied, ob die Witwe sofort o<strong>der</strong> erst mit<br />
60 Jahren - diese Senkung <strong>der</strong> Altersgrenze wurde aufgrund e<strong>in</strong>es SPD<br />
Antrags beschlossen - Rente erhielt. Die Beseitigung des Stichtags im<br />
Witwen- und Invaliditätsrecht g<strong>in</strong>g ebenso wie die völlige Übernahme des<br />
BU-Begriffs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeiterversicherung als Reformmangel auf den ersten<br />
Deutschen Bundestag über.<br />
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56
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.7 Bundesrepublik Deutschland 1949<br />
Bis <strong>zum</strong> Ende <strong>der</strong> ersten Legislaturperiode war zwar die Reorganisation<br />
<strong>der</strong> Sozialversicherung abgeschlossen, aber niemand war mit dem Ergebnis<br />
so recht zufrieden. Die Unzufriedenheit lässt sich <strong>in</strong> drei Gruppen<br />
zusammenfassen:<br />
1. Mit <strong>der</strong> historisch bed<strong>in</strong>gten, nicht systematischen Vielfalt <strong>der</strong><br />
Institutionen war auch die historisch kumulierte Verworrenheit des<br />
Sozialrechts, se<strong>in</strong> Mangel an begrifflicher Konsistenz und sachlicher<br />
Logik, se<strong>in</strong>e Fülle von Ungereimtheiten, die das gesamte Sozialrecht<br />
durchzogen, konserviert und wie<strong>der</strong>hergestellt worden.<br />
2. Die Politik <strong>der</strong> sozialen Sicherheit stieß e<strong>in</strong>erseits an wirtschaftlich und<br />
haushaltspolitischen Wi<strong>der</strong>ständen und verteilte die knappen Mittel<br />
an<strong>der</strong>erseits nicht bedarfsgerecht, weil sich die Leistungen weniger an<br />
gegenwärtigen Bedürfnissen, als an e<strong>in</strong>st erworbenen Anspruchsrechten<br />
orientierten.<br />
3. Der Umfang <strong>der</strong> Leistungen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Höhe <strong>der</strong> Renten, war<br />
zu niedrig.<br />
I.7.1 I.7.1 I.7.1 Rentenzulagegesetz Rentenzulagegesetz und und und Teuerungszulagegesetz Teuerungszulagegesetz 1951 1951<br />
1951<br />
I.7.1.1 Das Rentenzulagengesetz<br />
Das SVAG hatte die Renten <strong>der</strong> (1950) 4,7 Millionen Empfänger von<br />
Renten aus <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> prozentual beträchtlich erhöht, aber<br />
das Ausgangsniveau war zu niedrig.<br />
"Infolge <strong>der</strong> fortschreitenden Teuerung...reichen die <strong>bis</strong>her schon knappen<br />
Renten zur Bestreitung <strong>der</strong> primitivsten Lebenshaltung bei weiten nicht mehr<br />
aus" 108 .<br />
Die Löhne stiegen mit den Preisen, außerdem war auch e<strong>in</strong> realer<br />
Lohnzuwachs zu verzeichnen. Nur die Renten blieben auf dem Stand des<br />
SVAG. über die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Erhöhung herrschte bei allen Parteien<br />
Konsens, nur über die F<strong>in</strong>anzierung war ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung herbeizuführen.<br />
Nachdem <strong>der</strong> Beitragssatz zur GRV schon im Rahmen des SVAG von 5,6%<br />
auf 10% erhöht worden war, zog niemand ernsthaft e<strong>in</strong>e erneute<br />
Beitragserhöhung <strong>in</strong> Betracht.<br />
An<strong>der</strong>seits verfügte die GRV auch nicht über Reserven - 1950 drohte<br />
sogar die Illiquidität, die nur durch den starken Anstieg <strong>der</strong><br />
Erwerbstätigkeit von März <strong>bis</strong> September um mehr als 1 Mio. verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />
108 Resolution <strong>der</strong> KAB <strong>der</strong> Diozöse Augsburg vom 4./8.4.1951, nach : Hockers, aaO,172;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
wurde. Also blieb nur die F<strong>in</strong>anzierung durch den Bundeshaushalt, doch<br />
<strong>der</strong> war auch pleite 109 .<br />
Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen - das dem Rentner geholfen<br />
werden sollte stand außer Frage - im BMF und BMAS kam es zu harten<br />
Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen zwischen den Ressorts.<br />
Die Konzeption des BMF war die e<strong>in</strong>er "Teuerungszulage", welche von<br />
dem "Rentenerhöhungsgesetz" das e<strong>in</strong>e Erhöhung <strong>der</strong> Renten um 25% zu<br />
vollen Lasten des Bundes vorsah, stark abwich.<br />
Die Grundidee <strong>der</strong> BMF-Konzeption war fiskalischer Natur und knüpfte<br />
an die steigenden Subventionslasten an, die <strong>der</strong> Bundeshaushalt zur<br />
Regulierung <strong>der</strong> Preise bestimmter Grundnahrungsmittel (Brot, Zucker,<br />
Butter, Milch) zu tragen hatte. Indem das BMF auf e<strong>in</strong>e Erhöhung <strong>der</strong><br />
gebundenen Preise (Zucker) bzw. e<strong>in</strong>e völlige Freigabe (Brot) h<strong>in</strong>wirkte,<br />
versuchte das BMAS diese Subventionslast zu verr<strong>in</strong>gern und durch die<br />
Teuerungszulage sollte nun für bestimmte Personenkreise (Rentner,<br />
Kriegsopfer, Empfänger von Arbeitslosenhilfe o<strong>der</strong> Unterhaltshilfe nach<br />
dem Soforthilfegesetz) diese Grundnahrungsmittelverteuerung abgegolten<br />
werden. Dabei hielt das BMF e<strong>in</strong>e Monatszulage von DM 3.- für jeden<br />
Rentenempfänger und für jeden weiteren Unterhaltsberechtigen weitere 3.-<br />
DM für ausreichend. Alle<strong>in</strong> dieses hätte gegenüber <strong>der</strong> BMAS-Konzeption<br />
erhebliche E<strong>in</strong>sparungen bedeutet, aber <strong>der</strong> BMF g<strong>in</strong>g noch weiter: Nur<br />
Bedürftige, d.h. die e<strong>in</strong>e bestimmte E<strong>in</strong>kommensgrenze nicht überschritten,<br />
sollten diese Zulage bekommen.<br />
Nach wochenlangen Streitereien zwischen BMF (Schäfer) und BMAS<br />
(Storch) stimmte die Regierung (gegen BMF) e<strong>in</strong>em Kompromiss zu, <strong>der</strong><br />
vorsah die Renten um 25% zu erhöhen und den K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschuss von 15.auf<br />
20.- DM aufzustocken. Die Kosten sollten zu 80% vom Bund und zu 20%<br />
von den RV-Trägern aufgebracht werden. Am 10.8.51 rückwirkend ab<br />
1.6.51 als "Rentenzulagegesetz" verkündet.<br />
Das Gesetz wurde von SPD und DGB geschlossen abgelehnt. Grund<br />
war, dass nicht alle Renten gleich um 25% angehoben werden sollten,<br />
son<strong>der</strong>n dass die Erhöhung nur unter Beachtung bestimmter<br />
Anrechnungsmodi erfolgen sollte. H<strong>in</strong>tergrund war: Das SVAG hatte alle<br />
sozialen Renten um e<strong>in</strong>en festen Zuschlag erhöht und die Renten die auch<br />
dann noch nicht e<strong>in</strong>en bestimmten M<strong>in</strong>destbetrag (50.- DM) erreichten, um<br />
e<strong>in</strong>en entsprechenden "Auffüllbetrag" ergänzt. Dem Gesetz zufolge sollte<br />
109 Der im Dezember 1951 verabschiedete Haushalt 1951 wies gegenüber 1950 e<strong>in</strong>e<br />
Mehrbelastung von 5 Mrd.DM aus 3 Mrd für e<strong>in</strong>e von den Besatzungsmächten<br />
angefor<strong>der</strong>te Erhöhung <strong>der</strong> Besatzungskosten und 2 Mrd wegen <strong>der</strong> erhöhung <strong>der</strong><br />
Sozialleistungen (davon 0,9 Mrd. Erhöhung <strong>der</strong> Zuschüsse zur Sozialversicherung) BT.-<br />
Drs. 1/1982, 22-29;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
sich nun die 25%ige Zulage bei den Beziehern von M<strong>in</strong>destrenten um den<br />
jeweiligen "Auffüllbetrag" verr<strong>in</strong>gern, so dass diese Rentner mit e<strong>in</strong>er<br />
ger<strong>in</strong>geren o<strong>der</strong> auch gar ke<strong>in</strong>er Zulage rechnen konnten. Diese Reglung<br />
wurde als "unsozial" und "schreiend ungerecht" angeprangert, die<br />
Regierung wolle den "Bessergestellten alles", denjenigen aber, "die am<br />
schlechtesten gestellt s<strong>in</strong>d und die Zulage am nötigsten hätten, nur wenig<br />
o<strong>der</strong> gar nichts" geben 110 .<br />
Das BMAS argumentierte umgekehrt: bei den M<strong>in</strong>destrentenempfänger<br />
handele es sich überwiegend um Beamte, Bauern, Hausfrauen und ähnliche<br />
Gruppen, die nur vorübergehend e<strong>in</strong>mal versicherungspflichtig gewesen<br />
seien und dementsprechend wenig Beiträge geleistet hätten; es verstoße<br />
also gegen die Beitragsgerechtigkeit, wenn man die durch das SVAG bereits<br />
überproportional aufgewerteten Renten dieser Zufallsbeteiligten nun noch<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> demselben Maße erhöhe wie die <strong>der</strong> Rentner mit lebenslanger<br />
Beitragszahlung 111 .<br />
Die SPD-Fraktion bestritt nicht, dass diese Argumentation für e<strong>in</strong>en Teil<br />
<strong>der</strong> M<strong>in</strong>destrentenbezieher zutreffen könne; bei dem größeren Teil handele<br />
es sich aber um Personen die es trotz langer Beitragszeiten<br />
(z.B.Landarbeiter) aufgrund <strong>der</strong> niedrigen Entlohnung nur zu<br />
"Hungerrenten" br<strong>in</strong>gen konnten 112 . Aufgrund <strong>der</strong> nicht Überprüfbarkeit<br />
<strong>der</strong> Aussagen stand Me<strong>in</strong>ung gegen Me<strong>in</strong>ung 113 .<br />
Aufgrund <strong>der</strong> Anrechnungsbestimmungen erhöhte das<br />
Rentenzulagengesetz nicht alle Renten um 25% . Der effektive F<strong>in</strong>anzbedarf<br />
blieb sogar deutlich unter dem vom BMAS vorausgeschätzten Höhe von<br />
1030 Millionen DM; aufgrund <strong>der</strong> starken Unterschätzung <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong><br />
Empfänger von M<strong>in</strong>destrenten mit "Auffüllbetrag" wurden nur 888<br />
Millionen benötigt - dies bestätigte <strong>in</strong>direkt nachträglich die Auffassung <strong>der</strong><br />
SPD.<br />
I.7.1.2 Das Teuerungszulagengesetz<br />
Vom BMF zunächst als Ersatz 114 , dann als Ergänzung des<br />
Rentenzulagengesetzes, wurde -gleichzeitig- e<strong>in</strong> "Teuerungszulagengesetz 115<br />
verkündet.<br />
110 Fr. vom 13.6.1951; Die Quelle 2/1951,545;<br />
111 BT.-Drs. 1/2390; Sitzungsbericht Nr.59,387; Sten.Ber.Bd.8,6441;<br />
112 Sten.Ber. Bd.8 6233 (Richter SPD), 6463 (Preller SPD);<br />
113 Diese Diskusion ist u.a. vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> “flat-rate-pension” <strong>der</strong> Labour-<br />
Regierung <strong>in</strong> England und dem SPD-Sozialprogram von 1948 mit dem Ziel e<strong>in</strong>er<br />
“allgeme<strong>in</strong>en Staatsbürgerversorgung” zu sehen; man wollte weg von <strong>der</strong> M<strong>in</strong>destrente wie<br />
sie durch das SVAG e<strong>in</strong>geführt worden war - da es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Grundrente geben<br />
sollte.<br />
114 vgl oben, Gründe zur Konzeption des BMF<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Wie oben schon erwähnt, wollte <strong>der</strong> BMF den Sozialrentnern, e<strong>in</strong>e an<br />
e<strong>in</strong>e bestimmte E<strong>in</strong>kommensgrenze gebundene und auf 3.-DM pro Person<br />
festgesetzte Zulage gewähren. Als Empfänger hatte es neben den<br />
Sozialrentnern auch weitere Renten- und Unterstützungsgruppen<br />
vorgesehen. Nachdem das BMAS die Herausnahme <strong>der</strong> Sozialrentner<br />
durchgesetzt hatte, u.a. wegen Nicht-Durchführbarkeit 116 , wurde e<strong>in</strong> auf<br />
die übrigen Gruppen zugeschnittener Gesetzesentwurf e<strong>in</strong>gebracht. Auf<br />
Antrag <strong>der</strong> SPD sollten die Sozialrentner wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Empfängerkreis<br />
aufgenommen werden. Diese Antrag wurde dann vom sozialpolitischen<br />
Ausschuss des Bundestages und vom Plenum ohne Gegenstimmen<br />
angenommen. Zwar äußerte <strong>der</strong> Hessische M<strong>in</strong>isterpräsident Z<strong>in</strong>n den<br />
Verdacht<br />
"... dass <strong>der</strong> Verwaltungskostenaufwand, <strong>der</strong> den Län<strong>der</strong>n entsteht, ungefähr<br />
genau so hoch ist, wie <strong>der</strong> Aufwand an Teuerungszulage die gewährt wird"<br />
und beantragte die Anrufung des Vermittlungsausschusses. Er wurde<br />
jedoch mit großer Mehrheit überstimmt 117 und das Gesetz e<strong>in</strong>stimmig<br />
verabschiedet. Lei<strong>der</strong> hatte man <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hektik übersehen, dass dieses<br />
Gesetz, soweit es die Sozialrentner betraf, undurchführbar war.<br />
Denn die RV-Träger waren auf Grund <strong>der</strong> ihnen zur Verfügung<br />
stehenden Datenlage und <strong>der</strong> ihnen eigenen Verwaltungsstruktur nicht <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Lage, die im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen für den Bezug<br />
(E<strong>in</strong>kommensgrenze) und die Höhe (Familien-Kopfzahl) <strong>der</strong> Zulage zu<br />
überprüfen. Das Gesetz musste also, bevor es durchgeführt werden konnte,<br />
novelliert werden, jedoch blieb das Verwaltungsverfahren so kompliziert,<br />
dass erstmals im September 1952 die - rückwirkend <strong>zum</strong> 1.7.51 berechnete<br />
- Zulage ausgezahlt werden konnte. Das Teuerungszulagengesetz ist mit<br />
dem Lastenausgleichsgesetz das e<strong>in</strong>zige sozialpolitische Gesetz welches<br />
unter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>führung des BMF entstand.<br />
I.7.2 Gesetz Gesetz zur zur Än<strong>der</strong>ung Än<strong>der</strong>ung Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>der</strong> §§ §§ 1274ff 1274ff RVO<br />
RVO<br />
Am 13.8.1952 wurde rückwirkend <strong>zum</strong> 1.7.1952 das "Gesetz zur<br />
Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> §§ 1274ff. <strong>der</strong> Reichsversicherungsordnung" verkündet. Es<br />
handelte sich um die Ruhensvorschriften, wonach beim Zusammentreffen<br />
von mehreren Renten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand, e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Renten ruhte, also nicht<br />
ausgezahlt wurde. Seit Bestehen <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> gab es für diese<br />
Fälle Kürzungsbestimmungen. Sie wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase Brünn<strong>in</strong>gscher<br />
Notverordnungspolitik (1931) drastisch verschärft (vollständiges Ruhen <strong>der</strong><br />
jeweils niedrigeren Rente) und <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit auf den <strong>bis</strong> 1952 geltenden<br />
115 Gesetz über die e<strong>in</strong>stweilige Gewährung e<strong>in</strong>er Teuerungszulage zur Abgeltung von<br />
Preiserhöhung bei Grundnahrungsmittel, vom 10.8.1951 rückwirkend <strong>zum</strong> 1.7.1951<br />
116 Vgl.M<strong>in</strong>istervorlage <strong>der</strong> Unterabteilung II c des BMF vom 21.3.51<br />
117 näheres, Hockerts, aaO, 182<br />
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60
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Stand gebracht. Demnach ruhen bei e<strong>in</strong>er Kumulation von Unfall- und<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>srente letztere zur Hälfte, beim Zusammentreffen von<br />
zwei Versicherungsrenten die jeweils Niedrigere zur Hälfte. Durch das<br />
Gesetz wurde die Kürzungsquote von <strong>der</strong> Hälfte auf e<strong>in</strong> Viertel reduziert.<br />
I.7.3 Das Das Grundbetrags-Erhöhungsgesetz Grundbetrags-Erhöhungsgesetz (1953)<br />
(1953)<br />
Anfang Oktober 1952 brachte die CDU/CSU e<strong>in</strong>e große Anfrage e<strong>in</strong>, mit<br />
<strong>der</strong> die Bundesregierung um Auskunft über eventuelle Rentenerhöhungen<br />
für Kriegsopfer und Sozialrentner ersucht wurde. Die SPD stieß mit e<strong>in</strong>em<br />
Antrag nach, nachdem die Versichertenrenten um e<strong>in</strong>en Pauschalzuschuss<br />
von 15.- DM (Witwen bzw. Waisenrenten um 12.- bzw.6.-DM) erhöht<br />
werden sollten. Ende November hatten BMF und BMAS sich auf e<strong>in</strong>en<br />
Kompromiss gee<strong>in</strong>igt - nachdem <strong>der</strong> BMF e<strong>in</strong>e Art "Kle<strong>in</strong>rentnerhilfegesetz"<br />
als gehobene Fürsorge vorgeschlagen hatte - dieser Kompromiss sah vor:<br />
Feste Zuschläge für Versicherte <strong>in</strong> Höhe von 5.-, für Witwen 4.- und für<br />
Waisenrenten 2.-DM. Am 18.12.52 wurde dieser Entwurf, nach<br />
e<strong>in</strong>stimmiger Annahme durch den Bundestag (2. und 3. Lesung am<br />
11.12.52), vom Bundesrat als "Grundbetrags-Erhöhungsgesetz"<br />
verabschiedet.<br />
Da die Deckung <strong>der</strong> Mehrausgaben we<strong>der</strong> geklärt waren, noch die<br />
Mehrausgaben im laufendem Etatjahr unterzubr<strong>in</strong>gen waren, verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />
<strong>der</strong> BMF (Schäfer) durch se<strong>in</strong> Vetorecht 118 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kab<strong>in</strong>ettssitzung am<br />
19.12.52 die Annahme durch die Bundesregierung. Im Januar wurde<br />
daraufh<strong>in</strong> <strong>der</strong> politische Druck so stark, dass <strong>der</strong> BMF <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
vorausschiessenden Auszahlung <strong>der</strong> Zuschläge für die Monate Dezember<br />
1952 <strong>bis</strong> März 1953, dem Ende des laufenden Etatjahres, über den Weg <strong>der</strong><br />
Haushaltsüberschreitung e<strong>in</strong>willigte. Die Zuschläge für die vier Monate<br />
wurden zusammen mit <strong>der</strong> Febuarrente ausgezahlt. Se<strong>in</strong>e Zustimmung zur<br />
Verkündung des Gesetzes machte <strong>der</strong> BMF davon abhängig, dass zuvor die<br />
Deckung für das neue Etatjahr 1953 geklärt sei. Er sah dies nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
unpopulären Entscheidung: Freigabe des Konsumbrotpreises, um mit den<br />
freiwerdenden Subventionsmittel die Mehrausgaben für die Erhöhung <strong>der</strong><br />
Sozialrenten abzudecken. Außerdem sei schon im<br />
"Teuerungszulagengesetz" e<strong>in</strong>e Brotverteuerung e<strong>in</strong>kalkuliert gewesen.<br />
Aufgrund e<strong>in</strong>es Kab<strong>in</strong>ettsbeschlusses wurde die<br />
Konsumbrotsubventionierung mit Wirkung <strong>zum</strong> 15.2.53 e<strong>in</strong>gestellt und das<br />
Grundbetrags-Erhöhungsgesetz daraufh<strong>in</strong> am 17.4.1953 verkündet. Im<br />
Jahre 1953 wurde auch e<strong>in</strong> "Gesetz zur Än<strong>der</strong>ung des “Sozialversicherungs-<br />
Anpassungsgesetzes" verabschiedet (4.8.53) <strong>in</strong> dem die Stichtagsregelung<br />
des 31.5.49 <strong>in</strong> Bezug auf den, seit dem geltenden Invaliditätsbegriff <strong>der</strong> ArV<br />
aufgehoben wurde.<br />
118 Art.113 GG (Vorläufer war Art.85 IV WRV) überträgt <strong>der</strong> Bundesregierung e<strong>in</strong><br />
Vetorecht gegen alle parlamentarisch beschlossenen Ausgabenerhöhungen;<br />
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61
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Zwar waren die Renten unter heftigen Konflikten zunächst zwischen<br />
F<strong>in</strong>anz- und Arbeitsm<strong>in</strong>ister und dann zwischen Regierung und Opposition<br />
1951 und 1953 um <strong>in</strong>sgesamt 53% erhöht worden, für die Mehrzahl <strong>der</strong><br />
Rentner aber völlig ungenügend geblieben. Die Durchschnittsrente lag<br />
unter e<strong>in</strong>em Drittel <strong>der</strong> Durchschnittsarbeitse<strong>in</strong>kommen 119 und betrug<br />
nach <strong>der</strong> Erhöhung durch das Grundbetrags-Erhöhungsgesetz DM 78,70<br />
(ArV) bzw. DM 121,10 (AnV).<br />
I.7.4 I.7.4 Die Die <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> um um um 1954<br />
1954<br />
Die <strong>Rentenversicherung</strong> von 1954 sah Leistungen für die Fälle <strong>der</strong><br />
Invalidität, des Alters sowie zugunsten <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenen vor (§ 1226).<br />
Der Versicherungspflicht unterlagen Arbeiter, Gesellen, Hausgehilfen,<br />
Gehilfen und Lehrl<strong>in</strong>ge soweit sie nicht angestelltenversicherungspflichtig<br />
waren. Voraussetzung war die Beschäftigung gegen Entgelt.<br />
Versicherungsfrei waren Personen, die <strong>in</strong> Betrieben o<strong>der</strong> Diensten des<br />
Bundes, e<strong>in</strong>es Landes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de beschäftigt werden, soweit sie<br />
Anwartschaft auf Ruhegehalt und H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung hatten. Beim<br />
ehrenvollen Ausscheiden versicherungsfreier Personen ohne Ruhegehalt,<br />
musste die Behörde diese nachversichern (§§ 1234ff, 1242a). Zulässig war<br />
e<strong>in</strong>e freiwillige Versicherung für alle deutschen Staatsangehörigen <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />
40.Lj., die nicht versicherungspflichtig waren und e<strong>in</strong>e Weiterversicherung<br />
für solche, die aus e<strong>in</strong>er versicherungspflichtigen Beschäftigung<br />
ausscheiden und m<strong>in</strong>destens 26 Wochenbeiträge auf Grund <strong>der</strong><br />
Versicherungspflicht nachwiesen (§§ 1243, 1244).<br />
Die Beiträge wurden von Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte<br />
getragen. Der AG trug sie alle<strong>in</strong> wenn <strong>der</strong> durchschnittliche Verdienst des<br />
Versicherten 65.- DM/Monatlich o<strong>der</strong> 15.- DM/Wöchentlich nicht überstieg<br />
(§ 1432). Bei <strong>der</strong> Selbst- und Weiterversicherung hatte <strong>der</strong> Versicherte die<br />
Beiträge alle<strong>in</strong> zu tragen (§ 1440). Die Beiträge wurden entwe<strong>der</strong> nach % des<br />
Arbeitsentgelts o<strong>der</strong> wie bei Selbstversicherten nach Beitragsklassen<br />
berechnet. Im Ersteren betrug er 10% des Grundlohns (SVAG § 8). Soweit<br />
die Beiträge nicht durch das Lohnabzugsverfahren e<strong>in</strong>behalten wurden,<br />
waren Marken zu kleben.<br />
Leistungen waren Invalidenrenten, H<strong>in</strong>terbliebenenrenten,<br />
Beitragserstattungen und Heilverfahren. Invalidenrente wurde gewährt bei<br />
Invalidität o<strong>der</strong> nach Vollendung des 65.Lj. Invalide war man, wenn <strong>der</strong><br />
Versicherte nicht mehr imstande war, "die Hälfte dessen zu erwerben, was<br />
körperlich und geistig gesunde Menschen <strong>der</strong>selben Art mit ähnlicher<br />
Ausbildung und <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Gegend durch Arbeit zu verdienen imstande<br />
s<strong>in</strong>d" . Außerdem musste <strong>der</strong> Versicherte e<strong>in</strong>e Wartezeit (260<br />
119 H.Hensen, Zur Geschichte <strong>der</strong> Rentenf<strong>in</strong>anzen, <strong>in</strong>:R.Bartholomäi, Sozialpolitik nach<br />
1945, FS Schellenberg, Bonn 1977<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Beitragswochen bei Invalidität und 780 bei Altersleistung) zurückgelegt und<br />
die Anwartschaft aufrechterhalten haben (m<strong>in</strong>destens 26 Marken für jedes<br />
Kalen<strong>der</strong>jahr).<br />
Die Invalidenrente setzte sich zusammen aus Grundbetrag,<br />
Steigerungsbetrag, K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschuss, Zuschlag (§ 1268; SVAG § 1) und die<br />
Rentenzulage. Der Grundbetrag betrug 156.- DM für alle Klassen im Jahr,<br />
dazu kam e<strong>in</strong>e Grundbetragserhöhung von 5.-DM/Monatlich. Dazu kam<br />
<strong>der</strong> Steigerungsbetrag, welcher sich nach <strong>der</strong> Anzahl und <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />
geleisteten Beiträge richtete, m<strong>in</strong>desten jedoch 84.- DM/Jahr (§ 1269).<br />
Hatte <strong>der</strong> Rentenempfänger K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter 18 Jahren, so erhöhte sich die<br />
Rente um den K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschuss (§ 1268), <strong>der</strong> ohne die Zuschläge nach dem<br />
SVAG 120.- DM betrug (§ 1271). Die Witwer- und Witwenrente bestand<br />
aus dem Grundbetrag (132.-DM) zuzüglich Grundbetragserhöhung (4.-DM<br />
monatlich) und 5/10tel des Steigerungsbetrags. Die Waisenrente aus<br />
Grundbetrag (84.-DM) zuzüglich Grundbetragserhöhung (2.-DM) und 4/10<br />
des Steigerungsbetrages. H<strong>in</strong>zu traten die Zulagen nach dem SVAG und<br />
dem RZG.<br />
Höhe <strong>der</strong> Durchschnittsrenten im August 1955<br />
männlich über 65. Jahre: <strong>in</strong> <strong>der</strong> ArV = 109,40; <strong>in</strong> <strong>der</strong> AnV = 155,- -<br />
weiblich " " : "<br />
Witwen<br />
70,10; "<br />
57,50;<br />
121,10<br />
73,30<br />
Dabei s<strong>in</strong>d unter den Versichertenrenten an Personen über 65 Jahre auch<br />
Renten solcher Personen enthalten, die <strong>in</strong>folge von Invalidität bereits vor<br />
Erreichung des 65.Lj zugegangen s<strong>in</strong>d. Weiter liegen von den Renten <strong>der</strong><br />
Versicherten:<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> ArV 90% unter 120.- DM<br />
und 99% unter 150.-DM<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> AnV 75% unter 150.- DM<br />
Demgegenüber betrug im Jahre 1955 das Durchschnitts<br />
Monatse<strong>in</strong>kommen aller Arbeitnehmer 362.- DM.<br />
Der Regelsatz für e<strong>in</strong> Rentnerehepaar betrug 1953 102.-DM monatlich.<br />
Drei Viertel <strong>der</strong> Arbeiter- und e<strong>in</strong> Drittel <strong>der</strong> Angestelltenrenten lagen unter<br />
100.- DM.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.8 Rentenreform 1957<br />
Mit <strong>der</strong> 1957 durchgeführten Strukturreform <strong>der</strong> GRV begann e<strong>in</strong>e neue<br />
Epoche <strong>der</strong> Rentenpolitik 120 .Die <strong>in</strong> ihr verwirklichten Pr<strong>in</strong>zipien<br />
formulieren Grundlagen, h<strong>in</strong>ter die man heute nicht ohne Aufgabe<br />
grundsätzlicher sozialstaatlicher Kernbereiche zurückfallen kann.<br />
Während die erste Legislaturperiode <strong>der</strong> Nachkriegszeit (1949-1953) sich<br />
hauptsächlich mit <strong>der</strong> unmittelbaren Bewältigung <strong>der</strong> Nachkriegsfolgen<br />
beschäftigt hatte, wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Legislaturperiode das Thema e<strong>in</strong>er<br />
grundlegenden Rentenreform - auch im H<strong>in</strong>blick auf die Bundestagswahl<br />
1957 - bearbeitet, die ihren Höhepunkt <strong>in</strong> den am 23.2.57 verabschiedeten<br />
Rentenreformgesetzen (ArVNG und AnVNG) fand.<br />
Für die Charakterisierung <strong>der</strong> Rentenreform 1957, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er "großen<br />
Koalition" gegen erbitterten Wi<strong>der</strong>stand aus den eigenen Reihen und<br />
verschiedensten Interessengruppen durchgesetzt wurde, s<strong>in</strong>d folgende<br />
Aspekte zentral:<br />
1.) Die Renten wurden um rd. 60% angehoben, um e<strong>in</strong>malig die<br />
miserable materielle Lage <strong>der</strong> Sozialrentner zu verbessern 121 und um e<strong>in</strong><br />
akzeptables Ausgangsniveau für das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Dynamisierung <strong>der</strong> Renten<br />
zu schaffen. Das <strong>bis</strong>herige statische Verfahren hatte bei <strong>der</strong> Festsetzung zur<br />
Folge, dass trotz langer Versicherungszeiten nur e<strong>in</strong> Realwert <strong>der</strong> Rente<br />
aufgebaut werden konnte, <strong>der</strong> dem Lebensstandard <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong><br />
Versicherungsdauer entsprach (bei 40 Versicherungsjahren also dem vor 20<br />
Jahren). Bei <strong>der</strong> laufenden Gewährung wurde die Diskrepanz von<br />
Rentenzugangs- und E<strong>in</strong>kommensniveau verdoppelt: bei e<strong>in</strong>er<br />
dynamischen Lohn- und Preisentwicklung bleibt e<strong>in</strong>e statische<br />
Sozialleistung notwendig h<strong>in</strong>ter dieser zurück 122 .<br />
Es bildete sich e<strong>in</strong> Anpassungsverfahren heraus, das e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung<br />
zwischen Produktivität bzw. Erwerbse<strong>in</strong>kommen und Rentenniveau<br />
herstellen sollte, um so die relative Position <strong>der</strong> Nichtmehrerwerbstätigen<br />
im Verteilungsgefüge <strong>der</strong> verfügbaren E<strong>in</strong>kommen zu erhalten. Es musste<br />
auf zwei Ebenen wirken: e<strong>in</strong>mal bei den Rentenneuzugängen die<br />
Rentenhöhe auf e<strong>in</strong> Niveau heben, das die während e<strong>in</strong>es Zeitraums von<br />
<strong>bis</strong> zu 50 Jahren e<strong>in</strong>gezahlten Beiträge und die dadurch begründeten<br />
Renten an den aktuellen Stand <strong>der</strong> Bruttolöhne anpasst. Nur dadurch wird<br />
e<strong>in</strong>e relative Stetigkeit des E<strong>in</strong>kommensflusses nach <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong><br />
120 H.G. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungn im Nachkriegsdeutschland.Alliierte<br />
und deutsche Sozialversicherungspolitik 1949 - 1957, Stuttgart 1980, 6;<br />
121 1955 lagen die Durchschnittsrenen bei den über 65 Jahren alten Männer <strong>in</strong> <strong>der</strong> ArV bei<br />
110.- DM, <strong>in</strong> <strong>der</strong> AnV bei 155.- DM (H<strong>in</strong>terbliebene 57.- bzw. 73.- DM), während das<br />
Durschnittse<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Arbeitnehmer bei 362.-DM und damit um zweidrittel höher<br />
lag.<br />
122 Rauschenbach, 25 Jahre dynamische Rente, <strong>in</strong>: DAngstVers 1982, 1<br />
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64
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Erwerbstätigkeit gewährleistet. Bei den laufenden Renten musste ebenfalls<br />
e<strong>in</strong> dynamisches Element wirken, das diese an die aktuelle Lohn- und<br />
Preisentwicklung ankoppelt und so e<strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen <strong>der</strong><br />
Neuzugänge und <strong>der</strong> laufenden Renten im Niveau verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Die<br />
Ausgestaltung e<strong>in</strong>es solchen Mechanismus war umstritten: <strong>der</strong> erste<br />
Regierungsentwurf sah bei Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensentwicklung<br />
aller sozialversicherten Erwerbstätigen e<strong>in</strong>e Anpassung alle 5 Jahre durch<br />
Gesetz vor 123 , während die SPD- Opposition bei Verän<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>e<br />
automatische und jährlich vorgenommene Anpassung wollte 124 .<br />
Letztlich wurde bei Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
Bemessungsgrundlage die Anpassung durch Gesetz (§ 1272 RVO aF 1957)<br />
vorgenommen und e<strong>in</strong>em "Quasi-Automatismus" e<strong>in</strong> "handgesteuertes<br />
Regelglied", vorgeschaltet. Mit <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong><br />
Bruttolohnentwicklung wurde die Vorstellung e<strong>in</strong>er durch den Geldwert<br />
<strong>der</strong> Beiträge begründeten Rente aufgegeben und auf soziale Teilhabe <strong>der</strong><br />
Nichtmehrerwerbstätigen am volkswirtschaftlichen Vermögen umgedacht.<br />
Das durch die GRV versicherte Risiko war <strong>der</strong> endgültige Ausfall des<br />
Erwerbse<strong>in</strong>kommens aus <strong>in</strong>dividuellen Alters- und Gesundheitsgründen,<br />
das zu Beg<strong>in</strong>n und während <strong>der</strong> gesamten Rentenlaufzeit durch e<strong>in</strong>e<br />
dynamische Sozialleistung kompensiert werden sollte.<br />
2.) Damit verbunden war e<strong>in</strong>e weitere Grundsatzentscheidung: Die<br />
Rente war Lebensstandardsicherung , die die relative Stellung im sozialen<br />
Verteilungsgefüge aufrecht erhalten sollte. Orientierungsgröße bei <strong>der</strong><br />
Rentenberechnung war die Bruttolohnentwicklung, und das Rentenniveau<br />
sollte bei e<strong>in</strong>em Eckrentner 125 rd. 60% des letzten Bruttoentgelts betragen;<br />
dies entsprach damals rd. 75% des letzten Nettoverdienstes, da die Renten<br />
steuer- und Sozialabgaben frei waren 126 . Die Rentenleistung sollte <strong>zum</strong><br />
Unterhalt des Versicherten und se<strong>in</strong>es Unterhaltsverbandes ausreichen: alle<br />
zusätzlichen Alterssicherungen (betriebliche Altersversorgung, private<br />
Alters- und Lebensversicherungen etc.) sollten zur Aufbesserung bzw.<br />
Ergänzung <strong>der</strong> Leistung <strong>der</strong> GRV dienen, sie aber nicht zu Teilen<br />
substituieren. Erwerbstätigkeit und Ruhestandsphase wurden als<br />
zusammenhängende Lebensabschnitte betrachtet.<br />
3.) Der Anspruch auf Rente wurde als subjektiv-öffentliches Recht, als<br />
unbed<strong>in</strong>gter Rechtsanspruch <strong>in</strong>stitutionalisiert, was damals sehr umstritten<br />
war. Es gab viele Stimmen, die e<strong>in</strong>e Rente nur nach e<strong>in</strong>er<br />
Bedürftigkeitsprüfung im E<strong>in</strong>zelfall gewähren wollten und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
unbed<strong>in</strong>gten Rechtsanspruch e<strong>in</strong>e Verletzung des Subsidiaritätspr<strong>in</strong>zips<br />
123 M.Richter, Die Sozialreform. Dokumente und Stellungnahmen, Bad Godesberg 1966 ,<br />
DOK F IX, S.88;<br />
124 aaO<br />
125 E<strong>in</strong> Eckrentner ist e<strong>in</strong> Modellfall e<strong>in</strong>es Rentners mit 40 (heute 45) anrechnungsfähigen<br />
Versicherungsjahren und e<strong>in</strong>em gleichbleibenden Durchschnittsverdienst von 100 %.<br />
126 Rauschenbach, aaO,2;<br />
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65
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
sahen 127 . Dagegen bestand <strong>der</strong> damalige BMAS Storch (CDU) auf <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>räumung e<strong>in</strong>es unabd<strong>in</strong>gbaren Rechtsanspruchs, damit<br />
"... hier e<strong>in</strong>e Bedürftigkeitsprüfung niemals e<strong>in</strong>geschaltet werden kann. Auch<br />
das trägt zur Stärkung und Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Würde des Alters im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Gesamtgesellschaft bei. 128 "<br />
4.) Endlich wurde (mit ger<strong>in</strong>gen Ausnahmen für bestimmte Personen,<br />
z.B. <strong>der</strong> im Bergbau Beschäftigten) e<strong>in</strong>e fast vollkommene Angleichung des<br />
materiellen Rechts <strong>der</strong> Arbeiter-, Angestellten- und knappschaftlichen<br />
<strong>Rentenversicherung</strong> erreicht. Diese Angleichung betraf vielfach das Recht<br />
<strong>der</strong> Invalidität und die Regelung <strong>der</strong> Altersgrenzen.<br />
I.8.1 I.8.1 Die Die neue neue Rentenformel<br />
Rentenformel<br />
Rentenformel<br />
Die Dynamisierung <strong>der</strong> Renten wurde verwaltungs- und f<strong>in</strong>anztechnisch über<br />
die Rentenformel vorgenommen. Sie besteht aus <strong>in</strong>sgesamt vier Faktoren, die<br />
multiplikativ mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbunden s<strong>in</strong>d und <strong>in</strong> die Berechnung <strong>der</strong> Rente<br />
e<strong>in</strong>gehen 129 . Die Monatsrente R ergibt sich aus <strong>der</strong> vere<strong>in</strong>fachten Formel:<br />
R = (BGxPG)x(JxSt)<br />
12<br />
I.8.1.1 Die allgeme<strong>in</strong>e Bemessungsgrundlage (BG)<br />
Die allgeme<strong>in</strong>e Bemessungsgrundlage (BG) ist das Mittel des<br />
durchschnittlichen Bruttoentgelts aller sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigten <strong>der</strong> drei Jahre die vor dem Jahr liegen, das dem Jahr des<br />
Versicherungsfalls vorausg<strong>in</strong>g (§ 1255 II RVO aF). Sie gilt als Richtwert <strong>der</strong><br />
gegenwärtigen Arbeitse<strong>in</strong>kommen, zu denen alle Renten so <strong>in</strong>s Verhältnis<br />
gesetzt werden sollen, dass <strong>der</strong> Lebensstandard <strong>der</strong> Rentner nicht<br />
bemerkenswert h<strong>in</strong>ter dem Lebensstandard <strong>der</strong> arbeitenden Bevölkerung<br />
zurückbleibt. Die BG und ihre Verän<strong>der</strong>ungsrate folgen demnach dem<br />
aktuellen Entgelt erst mit e<strong>in</strong>em rd. dreijährigen Abstand (time-lag). Da die<br />
laufenden Renten von 1959 - 1971 erst mit e<strong>in</strong>em Jahr Verzögerung<br />
angepasst wurden, betrug <strong>der</strong> Abstand sogar 4 Jahre.<br />
Nach dem 21. RAG von 1978 vergrößerte sich <strong>der</strong> Abstand sogar auf<br />
über 5 Jahre. Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 wurde die BG neu<br />
def<strong>in</strong>iert (Aufgabe des time-Lag und Aktualisierung <strong>der</strong> BG); sie soll<br />
127 Richter, aaO, DOK F XI S. 285 (zB.: <strong>der</strong> Abgeordnete Dehler (FDP) <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten<br />
Lesung des Reg.Entwurfs)<br />
128 aaO, S.262;<br />
129 Schmähl, Graphische Darstellung und Interpretation <strong>der</strong> Rentenformel, <strong>in</strong>:<br />
F<strong>in</strong>anzarchiv NF 35. Jg., 310-321, zeigt sehr schön die mathematischen Zusammenhänge<br />
auf;<br />
Bruttoarbeitsentgeld 1984<br />
BG1985<br />
Bruttoarbeitsentgeld 1983<br />
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66
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
entsprechend <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Bruttoarbeitsentgelte des Vorjahres<br />
festgesetzt und fortgeschrieben werden (BR.-Drs. 302/83) neue Formel:<br />
I.8.1.2 Die persönliche Bemessungsgrundlage (PG)<br />
Die persönliche Bemessungsgrundlage (PG) ist, vere<strong>in</strong>facht, das<br />
Verhältnis zwischen dem Lebenserwerbse<strong>in</strong>kommen des Versicherten und<br />
dem durchschnittlichen E<strong>in</strong>kommen aller Sozialversicherten während<br />
dieses Zeitraumes (§1255 I RVO aF). Sie überträgt den Platz, den <strong>der</strong><br />
Rentner im Durchschnitt se<strong>in</strong>es Arbeitslebens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schichtung <strong>der</strong><br />
Arbeitse<strong>in</strong>kommen e<strong>in</strong>genommen hat auf die Rentenschichtung.<br />
Geme<strong>in</strong>sam mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> anrechnungsfähigen Jahre, die als Jahre<br />
gewertet werden, <strong>in</strong> denen <strong>der</strong> Rentner <strong>zum</strong> Volkse<strong>in</strong>kommen beigetragen<br />
hat, reflektiert sie die <strong>in</strong>dividuelle Lebensleistung im Verhältnis zur<br />
"normalen" Lebensleistung aller Versicherten.<br />
I.8.1.3 Die Zahl <strong>der</strong> anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (J)<br />
Die Zahl <strong>der</strong> anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (J) umfasst die<br />
Jahre, für die Beiträge zur <strong>Rentenversicherung</strong> bezahlt wurden (§1250 RVO<br />
aF) als auch beitragslose Zeiten (§§ 1251, 1259, 1260 RVO aF). Sie 130 erhält<br />
zugleich die Beziehung <strong>der</strong> persönlichen Rente zu den geleisteten Beiträgen<br />
aufrecht.<br />
I.8.1.4 Der Steigerungssatz (St)<br />
Der Steigerungssatz (St) ist e<strong>in</strong> Faktor, <strong>der</strong> für jedes Versicherungsjahr<br />
angerechnet wird. Er ist unterschiedlich, für die Alters- und<br />
Erwerbsunfähigkeitsrente beträgt er 1,5% und für die<br />
Berufsunfähigkeitsrente 1% (§ 1253 RVO).An<strong>der</strong>erseits gibt es bei <strong>der</strong><br />
gleichen Rentenformel <strong>in</strong> <strong>der</strong> KnV für das Altersruhegeld e<strong>in</strong>en<br />
Steigerungssatz von 2% 131 (früher 2,5%).<br />
H<strong>in</strong>ter dieser e<strong>in</strong>fachen Formel verbergen sich sozialpolitische<br />
Wertvorstellungen. Zum e<strong>in</strong>en schreibt die Rentenformel die relative<br />
Position im Verteilungsgefüge <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Tode fest - bei<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten <strong>bis</strong> nach den Tode. Da die Rente<br />
130 Schewe spricht sehr kritisch von e<strong>in</strong>er Treue o<strong>der</strong> Durchhalteprämie.<br />
131 R.Nickels, Knappschaftliche <strong>Rentenversicherung</strong> im Vergleich, 361: ”Dies hat se<strong>in</strong>e<br />
Begründung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tatsache, daß, <strong>der</strong> Gesamtbeitrag <strong>in</strong> <strong>der</strong> KnV schon immer höher war<br />
als <strong>der</strong> Beitrag zur allgeme<strong>in</strong>en RV (wobei <strong>der</strong> ArbG rd. zwei Drittel des Gesamtbeitrages<br />
trägt § 130 RKG. Durch das Herrausstellen <strong>der</strong> Jahresbeträge für Leistungen <strong>der</strong> KnV soll<br />
gleichzeitig e<strong>in</strong> Ausgleich für die schwere <strong>der</strong> Arbeit und die stärkere<br />
Gesundheitsgefährdung des Bergmannes erreicht werden.”<br />
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67
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Lohnersatzfunktion hat, überträgt sie die am Arbeitsmarkt erzielte<br />
E<strong>in</strong>kommensposition auf die Zeit nach dem Erwerbsleben. Von daher war<br />
es schlüssig, die <strong>bis</strong>her im Rentenrecht bestehenden Grundbeträge<br />
wegfallen zu lassen und die Rente auf <strong>der</strong> Grundlage erzielter<br />
Eigentumspositionen zu berechnen. Während das <strong>in</strong>dividuell erzielte<br />
E<strong>in</strong>kommen als Relation (<strong>zum</strong> Durchschnittse<strong>in</strong>kommen aller Versicherten)<br />
<strong>in</strong> die Rentenformel e<strong>in</strong>geht, wird die Anzahl <strong>der</strong> anrechnungsfähigen<br />
Versicherungsjahre als absolute Größe bei <strong>der</strong> Berechnung zu Grunde<br />
gelegt. Die im Erwerbsleben erreichte soziale Position wird zusätzlich nach<br />
<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> anrechenbaren Versicherungsjahre aufgefächert. Der<br />
Zeitfaktor spielt e<strong>in</strong>e größere politische Rolle als die erreichte<br />
E<strong>in</strong>kommensposition, die Rentenformel honoriert die Stetigkeit und Dauer,<br />
die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten 132 .<br />
Die Rentenformel hat den - gewollten - Effekt, dass sie die<br />
Lebense<strong>in</strong>kommenssituation auf das Alter überträgt, damit aber auch die<br />
vorhandene Lebensarmut im Alter festschreibt und nicht gerechterweise<br />
ausgleicht. Dazu ist noch zu bedenken, dass durch die Rentenformel <strong>der</strong><br />
notorische Tiefstand <strong>der</strong> Arbeitse<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Frauen auf die Rente<br />
übertragen wird, dieser Effekt wird durch die gewöhnlich niedrigen<br />
Anrechnungsjahre, die Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel haben noch verstärkt.<br />
Die strikte Auswirkung des Zeitfaktors wurde modifiziert durch die<br />
Anrechnung beitragsloser Zeiten, die <strong>in</strong> Ausfall- (§ 1259), Ersatz- (§ 1251),<br />
Zurechnungszeiten (§ 1260) unterteilt wurden. Die Zurechnungszeit ist<br />
Ausdruck <strong>der</strong> Lohnersatzfunktion <strong>der</strong> Rente, denn nur durch die<br />
Anrechnung fiktiver Zeiten kann bei Invalidität die Rente den<br />
ausgefallenen Lohn ersetzen. Ausfall- und Ersatzzeiten s<strong>in</strong>d Bestandteil des<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV organisierten Risikoausgleichs. Sie sollen im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />
lebensstandardorientierten Alterssicherung e<strong>in</strong>er nicht <strong>zum</strong>utbaren<br />
Verr<strong>in</strong>gerung von Rentenansprüchen entgegenwirken, die durch Ausfall<br />
e<strong>in</strong>er versicherungspflichtigen Beschäftigung aus sozialrelevanten Gründen<br />
(Krankheit, Arbeitslosigkeit, Ausbildung, Wehrdienst,<br />
Kriegsgefangenschaft und Vertreibung) e<strong>in</strong>treten würde. Die Anrechnung<br />
beitragsloser Zeiten muss im Rahmen e<strong>in</strong>er Sozialversicherung Bestandteil<br />
des Risikoausgleichs se<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong> bestimmtes Sicherungsziel<br />
(Lohnersatz) erreicht werden soll. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sofern Bestandteil <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren<br />
Logik des Versicherungspr<strong>in</strong>zips und deshalb auch ke<strong>in</strong>e<br />
versicherungsfremden Leistungen bzw. Ausdruck staatlicher Fürsorge im<br />
Gegensatz zu re<strong>in</strong> beitragsf<strong>in</strong>anzierten Zeiten.<br />
Die durch die Rentenreform 1957 vorgenommene Leistungsgewährung<br />
ist konsequent nicht an <strong>der</strong> Privat- und Individualversicherung eigenen<br />
Individualäquivalenz orientiert. Die Beiträge werden nach e<strong>in</strong>em, für alle<br />
132 Schewe,Die Zeit als Rentenfaktor, <strong>in</strong>: Schenke/Schmähl (Hrsg.) Alterssicherung als<br />
Aufgabe für Wissenschaft und Politik, Stuttgart 1980 (FS Me<strong>in</strong>hold), 314-324;<br />
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68
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
gleichen Prozentsatz von den <strong>in</strong>dividuell unterschiedlichen Bruttoentgelten<br />
erhoben; die absolute Höhe <strong>der</strong> Beitragsleistung ist nicht Grundlage <strong>der</strong><br />
Rentenberechnung, son<strong>der</strong>n das Verhältnis des lebenslangen <strong>in</strong>dividuellen<br />
<strong>zum</strong> durchschnittlichen Bruttoentgelt aller Versicherten. Die so erreichte<br />
Position im Verteilungsgefüge markiert e<strong>in</strong>e soziale "Rangstelle" 133 des<br />
Versicherten <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Versichertengeme<strong>in</strong>schaft, wobei diese<br />
Rangstelle e<strong>in</strong>e Teilhaberelation an <strong>der</strong> zur Verteilung bereitstehenden<br />
F<strong>in</strong>anzmasse begründet. Die nom<strong>in</strong>elle Höhe <strong>der</strong> Rente wird durch die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> wirtschaftlichen Verhältnisse <strong>in</strong> Form <strong>der</strong><br />
Bruttoentwicklung und durch den sozialen Risikoausgleich im Rahmen <strong>der</strong><br />
beiden Faktoren Zeit und Entgelt bestimmt.<br />
Die Rentenreform 1957 war das politische Ergebnis e<strong>in</strong>er<br />
gesellschaftlichen Neubewertung des Risiko Alter o<strong>der</strong> besser: <strong>der</strong><br />
Lebensphase nach <strong>der</strong> entgültigen Aufgabe <strong>der</strong> Erwerbsarbeit, wobei<br />
Zeitpunkt und Austrittsbed<strong>in</strong>gungen selbst wie<strong>der</strong> Ergebnis politischer<br />
Entscheidungen s<strong>in</strong>d.<br />
133 Rische/Terwey , DRV 1983, 289<br />
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69
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.9 Die Härtenovelle 1965<br />
Am 9.6.1965 trat die sogenannte "Härtenovelle" das Gesetz zur<br />
Beseitigung von Härten <strong>in</strong> den gesetzlichen <strong>Rentenversicherung</strong>en und zur<br />
Än<strong>der</strong>ung sozialrechtlicher Vorschriften (<strong>Rentenversicherung</strong>s-<br />
Än<strong>der</strong>ungsgesetz - RVÄndG) <strong>in</strong> Kraft.<br />
Die wichtigsten Än<strong>der</strong>ungen waren:<br />
– Erhöhung <strong>der</strong> Renten bei Sachbezugsentlohnung,<br />
– Verbesserung bei Witwenrenten,<br />
– erleichterte Voraussetzungen für die Anrechnung von Ersatz- und<br />
Ausfallzeiten,<br />
– Anerkennung neuer Ersatz- und Ausfallzeiten,<br />
– Verbesserung <strong>der</strong> pauschalen Ausfallzeit,<br />
– Erleichterung <strong>der</strong> Berücksichtigung von vor 1924 liegenden<br />
Versicherungszeiten,<br />
– Verbesserung für Flüchtl<strong>in</strong>ge und Vertriebene,<br />
– Nachversicherung von Ruhestandsbeamten, die ihre Versorgung<br />
verloren haben.<br />
Dieser Stand des Rentensystems hielt sich <strong>bis</strong> zur Rentenreform 1972<br />
und wurde nur durch die Rentenanpassungen unterbrochen. Lediglich 1969<br />
wurde durch die 12. Anpassung Än<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anztechnischen Seite<br />
vorgenommen. Die von den Rententrägern anzulegende Rücklage von e<strong>in</strong>er<br />
Jahresausgabe wurde auf drei Monatsausgaben reduziert und <strong>der</strong><br />
Beitragssatz, <strong>der</strong> <strong>bis</strong>her für e<strong>in</strong>en 10-jährigen Deckungszeitraum berechnet<br />
worden war, sollte nun e<strong>in</strong>e Monatsreserve abdecken (§ 1383 II). Außerdem<br />
sollte zwischen <strong>der</strong> AnV und <strong>der</strong> ArV e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>anzausgleich stattf<strong>in</strong>den,<br />
wenn bei e<strong>in</strong>em Versicherungsträger die Rücklage e<strong>in</strong>e Zweimonatsreserve<br />
unterschritt (§ 1383a II+III). Damit wurde die F<strong>in</strong>anzierung vom<br />
sogenannten Abschnitt-deckungsverfahren auf e<strong>in</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
striktes Umlageverfahren umgestellt.<br />
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70
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.10 Die Rentenreform 1972<br />
Am 21.9.1972 wurde die Rentenreform 1972 <strong>in</strong> namentlicher<br />
Abstimmung fast e<strong>in</strong>stimmig (1 Stimme Enthaltung FDP) verabschiedet.<br />
Wobei alle Parteien die Rentenreform - trotz harten und kontroversen<br />
Debatten - als ihren Erfolg deklarierten. Das Rentenreformgesetz wurde <strong>in</strong><br />
Erwartung riesiger Überschüsse <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV gemacht. Die wichtigsten<br />
Elemente <strong>der</strong> Reform ´72 waren:<br />
I.10.1 I.10.1 Öffnung Öffnung <strong>der</strong> <strong>der</strong> GRV<br />
GRV<br />
Öffnung <strong>der</strong> GRV für im Grundsatz aller nicht bereits <strong>in</strong> ihr versicherten<br />
gesellschaftlichen Gruppen z.B. Selbständige und nichterwerbstätige<br />
Frauen. Selbständige konnten sich auf Antrag pflichtversichern (§ 1277 I<br />
Nr.9) und freiwillige Versicherung (§ 1233) wurde ermöglicht, wobei die<br />
Höhe und die Anzahl <strong>der</strong> Beiträge weitgehend frei gestaltbar waren. Die<br />
freiwillige Versicherung sollte e<strong>in</strong>e "eigenständige Alterssicherung" 134 <strong>der</strong><br />
nichterwerbstätigen Frauen verbessern helfen. Freiwillige Beiträge blieben<br />
für die Halbdeckung wertlos, so dass beitragsfreie Zeiten nicht darüber<br />
begründet werden konnten; selbständigen Pflichtversicherten wurden<br />
durch die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er verkürzten Halbbelegung weitaus bessere<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Anrechnung beitragsloser Zeiten e<strong>in</strong>geräumt.<br />
Die Öffnung <strong>der</strong> RV für fast alle kann als Versuch gewertet werden,<br />
ältere sozialdemokratische Vorstellungen e<strong>in</strong>er Volksversicherung neu zu<br />
beleben 135 . Die Zahl <strong>der</strong> Anträge von Selbständigen auf E<strong>in</strong>beziehung <strong>in</strong><br />
die Pflichtversicherung ist allerd<strong>in</strong>gs weit h<strong>in</strong>ter den Erwartungen<br />
zurückgeblieben 136 , obwohl ihnen bestimmte Vorteile bei <strong>der</strong><br />
Nachentrichtung von Beiträgen und <strong>der</strong> bevorzugten Erreichung <strong>der</strong><br />
Halbdeckung e<strong>in</strong>geräumt wurden. Deshalb kann man auch von e<strong>in</strong>er<br />
Mittelstandsbevorzugung im Rahmen e<strong>in</strong>er zur Volksversicherung sich<br />
orientierenden <strong>Rentenversicherung</strong> sprechen, die die damalige CDU/CSU-<br />
Opposition durchgesetzt hatte.<br />
I.10.2 I.10.2 Flexible Flexible Altersgrenze<br />
Altersgrenze<br />
Die flexible Altersgrenze löste die starre Altersgrenze von 65 Jahren ab.<br />
Anspruchsvoraussetzung für das flexible Alterruhegeld ab 63 (für<br />
Schwerbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te ab 62) Jahren waren 35 anrechnungsfähige<br />
Versicherungsjahre (§ 1248 VII S.1). Für jeden Monat <strong>der</strong> h<strong>in</strong>ausgezögerten<br />
Inanspruchnahme <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 67. Lebensjahr erhöhte sich die Rente um e<strong>in</strong>en<br />
Zuschlag von 0,4% (§ 1254 Ia). Die Bezugsbed<strong>in</strong>gung von Altersruhegeld ab<br />
134 BT.-Drs. 6/2916, 37;<br />
135 Solche Vorstellungen waren im SPD-Entwurf zur Rentenreform 1957 vorgesehen,<br />
siehe DOK F IX = BT.-Drs. 6/2314, <strong>in</strong> Richter,aaO;<br />
136 Ende 1973 wurden statt <strong>der</strong> erwarteten Hun<strong>der</strong>tausenden nur gerade mal 23.649<br />
Anträge gestellt, BT.-Drs. 7/2046, 8 und Tab.5;<br />
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71
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
dem 60.Jahr bei vorangegangener Arbeitslosigkeit wurde erleichtert, <strong>in</strong>dem<br />
man nur noch 52 Wochen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> letzten 1,5 Jahre arbeitslos se<strong>in</strong><br />
musste ( 1248 II).<br />
Die flexible Altersgrenze wurde <strong>in</strong> den offiziellen Stellungnahmen durch<br />
humanitäre und gesundheitspolitische Überlegungen begründet, aber auch<br />
e<strong>in</strong> Abs<strong>in</strong>ken <strong>der</strong> Invaliditätsrenten versprach man sich. Aufgrund sich<br />
verschlechtern<strong>der</strong> Arbeitsmarktbed<strong>in</strong>gungen wurde aus <strong>der</strong> flexiblen<br />
schnell die Regelaltersgrenze und e<strong>in</strong> "Erdrutsch" 137 beim<br />
Rentenzugangsalter nach unten e<strong>in</strong>geleitet. Dies war <strong>zum</strong> Teil gewollt, die<br />
Dauer und die hohe Quote <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit unter älteren<br />
Arbeitnehmern wurde durchaus als Problem gesehen. Dadurch wurde<br />
jedoch e<strong>in</strong>e Entwicklung e<strong>in</strong>geleitet, die von e<strong>in</strong>er Politik <strong>der</strong> Integration<br />
älterer Arbeitnehmer <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt auf e<strong>in</strong>e Politik <strong>der</strong> Ausgrenzung<br />
umschwenkte. Dies geschah vorwiegend unter f<strong>in</strong>anziellen Aspekten,<br />
<strong>in</strong>dem Kosten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit von <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung auf die<br />
damals weit besser gestellte <strong>Rentenversicherung</strong> abgewälzt wurden. Auch<br />
die Erleichterung des Bezuges von Arbeitslosenruhegeld ab 60 Jahren (§<br />
1248 II) macht die arbeitsmarktregulierende Intention des<br />
Rentenreformgesetzes deutlich.<br />
I.10.3 I.10.3 Rente Rente nach nach nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen<br />
M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen<br />
Für Versicherte mit m<strong>in</strong>destens 25 anrechenbaren Versicherungsjahren<br />
wurde e<strong>in</strong>e Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen e<strong>in</strong>geführt; Zeiten, die vor 1973<br />
liegen und <strong>in</strong> denen die persönliche Bemessungsgrundlage 75% <strong>der</strong><br />
allgeme<strong>in</strong>en unterschreitet, werden auf diesem Weg f<strong>in</strong>giert auf 75%<br />
angehoben. (Art.2 § 55a ArVNG).<br />
Die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen geht ebenfalls auf<br />
Überlegungen <strong>der</strong> SPD im Rahmen <strong>der</strong> Rentenreform ´57 zurück 138 und<br />
kann als Ersatz für e<strong>in</strong>e dort vorgesehene M<strong>in</strong>destrente <strong>in</strong>terpretiert<br />
werden. Mit <strong>der</strong> Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen haben alle Parteien<br />
strukturelle Mängel <strong>der</strong> Rentenformel anerkannt und versucht diese zu<br />
korrigieren. Die Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen kam fast ausschließlich<br />
Frauen zugute: 1973 entfielen von 1,25 Mio. angehobenen Renten 81,7% auf<br />
Frauen.<br />
Vorverlegung <strong>der</strong> Rentenanpassung für Bestandsrenten auf den 1.7.72<br />
statt des sonst vorgesehenen Term<strong>in</strong>s vom 1.1.73 (§ 1272 I), das im<br />
Reformpaket mit enthaltene 15. RAG passte die 1971 und früher<br />
137 Ors<strong>in</strong>ger/Claus<strong>in</strong>g, Verkürzung <strong>der</strong> Lebensarbeitzeit im Spiegel <strong>der</strong><br />
<strong>Rentenversicherung</strong>, <strong>in</strong>:DAngVers 1982,264; Der zweite “Erdrutsch” erfolgte nach <strong>der</strong><br />
Herabsetzung des Rentenzugangsalter für Schwerbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te von 62 auf 60 Jahren durch<br />
das 5.RVÄndG 1979/80;<br />
138 Vorschlag e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>destrente als Ausgleich für niedriges Lohnniveau und als Rente<br />
über den Fürsorgesatz, BT.-Drs. 6/2314, § 23 I S.1, aaO;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
festgesetzten Renten an die BG schon am 1.7.72 an, was e<strong>in</strong>er Erhöhung<br />
von 9,5% ausmachte.<br />
I.10.4 I.10.4 Rentenniveausicherungsklausel<br />
Rentenniveausicherungsklausel<br />
Gleichzeitig wurde die Rentenniveausicherungsklausel (§ 1272 II)<br />
e<strong>in</strong>geführt , die das Rentenniveau auf 60% festsetzte (vgl. oben).<br />
E<strong>in</strong> im ursprünglichen Gesetzentwurf <strong>der</strong> SPD/FDP-Koalition<br />
vorgesehener Schwerpunkt, die Anerkennung e<strong>in</strong>es Versicherungsjahres<br />
für Frauen mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Rentenzuschlags, <strong>der</strong> ebenfalls die<br />
eigenständige Sicherung <strong>der</strong> Frauen verbessern sollte 139 ,wurde durch die<br />
E<strong>in</strong>stimmenmehrheit <strong>der</strong> CDU/CSU-Opposition am Ende <strong>der</strong> vorzeitigen<br />
Legislaturperiode zu Fall gebracht 140 , 141 . Die rentenrechtlichen<br />
Än<strong>der</strong>ungen von 1972 waren nur auf dem H<strong>in</strong>tergrund von immensen<br />
Überschüssen <strong>der</strong> GRV zu f<strong>in</strong>anzieren, die erwartet wurden. Entgegen allen<br />
Prognosen wurden aber schon ab 1974 die Probleme überdeutlich: im RAB<br />
1974, <strong>der</strong> im Herbst 1973 vorgelegt wurde, g<strong>in</strong>g man von Vollbeschäftigung<br />
und e<strong>in</strong>em Wachstum von 4,5% aus. Mitte 1974 dagegen nahm man für<br />
1974 nur noch e<strong>in</strong> Wachstum von 0-2% und e<strong>in</strong>en um 2% ger<strong>in</strong>geren<br />
Beschäftigungsstand an.<br />
Lag die Belastungsquote 142 1970 <strong>bis</strong> 1974 bei ca. 86, so stieg sie 1975<br />
sprunghaft auf 95,1 an und lag ab 1976 bei knapp über 100 d.h. die<br />
Ausgaben überstiegen die E<strong>in</strong>nahmen. Modellrechnungen mit den<br />
Ausgangswerten <strong>der</strong> Jahre 1974 und 1975 machten deutlich, dass ohne<br />
E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> das Beitrags- und Leistungsrecht die Schwankungsreserve ab<br />
1980 unterschritten würde 143 . Die angenommenen Überschüsse lösten sich<br />
im Nichts auf. Der Abbau <strong>der</strong> Überstunden, das weit ger<strong>in</strong>gere Wachstum<br />
und die sich daraus ergebende ger<strong>in</strong>gere Zuwachsrate <strong>der</strong><br />
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, e<strong>in</strong>e hohe<br />
Auslän<strong>der</strong>rückwan<strong>der</strong>ungsquote und ger<strong>in</strong>gere Lohnzuwachsquoten<br />
wurden dafür verantwortlich gemacht.<br />
Die rapide und unvorhergesehene Entwicklung führte 1977 und 1978 zu<br />
E<strong>in</strong>griffen, die <strong>in</strong> ihrer Summe zu e<strong>in</strong>er sozialpolitischen Neuorientierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> führte.<br />
139 BT.-Drs. 6/2391, 6 § 1260 c und Begründung S.38 und 41;<br />
140 vgl. Chronik VI, 230ff<br />
141 Die Gründe warum dieses Baby-Jahr nicht e<strong>in</strong>geführt wurde s<strong>in</strong>d umstritten; <strong>zum</strong><br />
e<strong>in</strong>en sprach sich die CDU/CSU aus pr<strong>in</strong>zipiellen Gründen dagegen aus und <strong>zum</strong> an<strong>der</strong>en<br />
schätzte man die Kostenberechnung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Stichprobenerhebung, wegen nicht<br />
vorhandener Daten, teurer e<strong>in</strong> als das Baby-Jahr selbst. Brückel, Wandel politischer Ziele<br />
durch Datenverarbeitung im Recht, <strong>in</strong>:Reese, Die politischen Kosten <strong>der</strong><br />
Datenverarbeitung, 1979;<br />
142 Das VerhältnisE<strong>in</strong>nahmen zu Ausgaben<br />
143 Müller, Die mittelfristige F<strong>in</strong>anzentwicklung <strong>der</strong> GRV, <strong>in</strong>: DRV 1978, 66-80;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.11 Die Krise<br />
I.11.1 I.11.1 Das Das 20.RAG 20.RAG von von 1977 1977<br />
1977<br />
Den Anfang machte das 20. RAG vom 27.6.77 144 , dessen wichtigste<br />
Maßnahmen waren:<br />
1. Der Berechnungsmodus <strong>der</strong> BG wurde verän<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>dem sie sich nur<br />
noch um den Prozentsatz verän<strong>der</strong>te, <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong><br />
durchschnittlichen Entgelte <strong>der</strong> drei Jahre vor E<strong>in</strong>tritt des<br />
Versicherungsfalls und <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> drei Jahre, die dem Jahr vor dem<br />
Jahr des E<strong>in</strong>tritts des Versicherungsfalls vorausg<strong>in</strong>gen, errechnete (§<br />
1255).<br />
2. Bezieher von Leistungen nach dem AFG wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV<br />
pflichtversichert (§ 1277 I Nr.10); Berechnungsgrundlage war das <strong>der</strong><br />
Leistung zugrundeliegende Bruttoentgelt (§ 1385 IIIh).<br />
3. Die Rentenanpassung, die am 1.7.78 fällig gewesen wäre, wurde um<br />
e<strong>in</strong> halbes Jahr auf den 1.1.79 verschoben (§ 1272).<br />
4. Die H<strong>in</strong>zuverdienstmöglichkeiten beim Bezug von flexiblen und<br />
vorzeitigen Altersruhegel<strong>der</strong>n wurden e<strong>in</strong>geschränkt (§ 1248 IV).<br />
5. Ger<strong>in</strong>gere Bewertung <strong>der</strong> Ausbildungszeiten vor dem 1.1.65 mit<br />
nunmehr maximal <strong>der</strong> durchschnittlichen Bemessungsgrundlage,<br />
wogegen sie vorher mit <strong>der</strong> durchschnittlichen persönlichen<br />
Bemessungsgrundlage aller <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> 1.1.65 zurückgelegten Zeiten<br />
berechnet wurden (§ 1255a).<br />
6. Es wurde e<strong>in</strong> Abbau von Doppelleistungen für K<strong>in</strong><strong>der</strong> vorgenommen<br />
(Art.2). Der K<strong>in</strong><strong>der</strong>betrag wurde von <strong>der</strong> Dynamisierung ausgeschlossen<br />
und auf e<strong>in</strong>en Festbetrag umgestellt (§ 1262 IV). Die Berechnung von<br />
Waisenrenten von bestimmten E<strong>in</strong>kommens- und Ausbildungsbeträgen<br />
abhängig gemacht (§ 1267 II), <strong>der</strong> Erhöhungsbetrag bei Halbwaisen<br />
gestrichen und bei Vollwaisen von <strong>der</strong> Dynamisierung ausgeschlossen<br />
(§ 1269 I S.3; Art 2 § 21 ArVNG).<br />
7. Zeitrenten wurden unter weniger strengen Maßstäben als <strong>bis</strong>her<br />
gewährt (§1276) und e<strong>in</strong>e Ruhevorschrift beim Zusammentreffen von<br />
BU/EU-Renten und Arbeitsentgelt e<strong>in</strong>geführt (§ 1248).<br />
144 Vgl. E<strong>in</strong>e stabile <strong>Rentenversicherung</strong> und e<strong>in</strong>e gesunde Krankenversicherung.<br />
Leitfaden <strong>zum</strong> 20.RAG und <strong>zum</strong> Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz. Bonn<br />
1977, BMAS.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
8. Weiterh<strong>in</strong> Versicherungsfreiheit für Ruhestandsbeamte, Erhöhung<br />
<strong>der</strong> M<strong>in</strong>destbeiträge bei freiwilliger Versicherung (§§ 1387,1388), neue<br />
Nachentrichtungsfristen für freiwillig Versicherte (§ 1418 I) und neuer<br />
Fälligkeitstag für Beiträge antragspflichtversicherter Selbständiger (§<br />
105a I).<br />
Das Ziel des 20.RAG war E<strong>in</strong>nahmen und Ausgaben auszugleichen, die<br />
GRV vom Konjunkturverlauf unabhängiger zu machen und sie von<br />
sachfremden Risiken zu entlasten 145 . Durch die Verschiebung <strong>der</strong><br />
Rentenanpassung und die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> BG sollten 1978 4,7 Mrd. und<br />
zwischen 1978 und 1980 20,3 Mrd. DM e<strong>in</strong>gespart werden 146 . Die<br />
E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Versicherungspflicht für Leistungsempfänger nach dem<br />
AFG wurde mit e<strong>in</strong>er "funktionsgerechten Zuordnung <strong>der</strong> Risiken" 147<br />
begründet. Diese Zielsetzung lag auch <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> beruflichen<br />
Rehabilitation auf die BA zugrunde. Dadurch sollten zusätzliche<br />
E<strong>in</strong>nahmen von 2,4 Mrd. DM bzw. e<strong>in</strong>e Ausgabenm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung von 900<br />
Mio.DM erzielt werden 148 .<br />
Während die Verän<strong>der</strong>ung des Anpassungsterm<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> BG als re<strong>in</strong>e<br />
f<strong>in</strong>anztechnische Maßnahme zu Lasten <strong>der</strong> Rentner zu qualifizieren s<strong>in</strong>d,<br />
liegt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Versicherungspflicht für AFG-<br />
Leistungsempfänger die Überlegung zugrunde, arbeitsmarktbed<strong>in</strong>gte<br />
Risiken <strong>der</strong> dafür zuständigen Versicherung systemgerecht zuzuordnen.<br />
Die ger<strong>in</strong>gere Bewertung <strong>der</strong> Ausbildungsausfallzeit, die vom BVerfG als<br />
rechtmäßig erklärt wurde, hatte bei bestimmten Gruppen zu erheblichen<br />
Rentenm<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen 149 geführt.<br />
Die im 20. RAG vorgenommenen E<strong>in</strong>griffe reichten jedoch für e<strong>in</strong>e<br />
langfristige Stabilisierung <strong>der</strong> GRV nicht aus.<br />
I.11.2 I.11.2 Das Das 21. 21. RAG RAG 1979<br />
1979<br />
Deshalb wurde schon e<strong>in</strong> Jahr später das 21. RAG vorbereitet, welches<br />
am 1.1.79 <strong>in</strong> kraft trat. Notwendig wurde es durch e<strong>in</strong> niedrigeres<br />
Wirtschaftswachstum (2% statt geschätzter 5%) so dass mit e<strong>in</strong>em Defizit<br />
gerechnet werden musste, <strong>der</strong> für 1978 noch aufzufangen war, aber<br />
spätestens 1979 zu größeren F<strong>in</strong>anzierungslücken anwachsen würde. Die<br />
wichtigsten Inhalte des 21.RAG waren 150 :<br />
145 BT.-Drs. 8/165, 34;<br />
146 aaO,6;<br />
147 BMAS 1977, aaO, 35; Ausserdem sollte dadurch die F<strong>in</strong>anzlage <strong>der</strong> GRV<br />
Konjunkturunabhängiger und stabiler werden.<br />
148 BMAS 1977, aaO, 6;<br />
149 BVerfGE 58, 81 (86ff);bei den zu entscheidenden Fällen handelte es sich um Beträge<br />
zwischen 23,90 und 323,10 DM monatlich.<br />
150 Vgl. Rentenanpassung. Leitfaden <strong>zum</strong> 21. RAG. oJ (1979), oO (Bonn), BMAS; und BT.-<br />
Drs. 8/1734;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
1. Abkopplung <strong>der</strong> Rentenanpassung von <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
E<strong>in</strong>kommensentwicklung und politische Festlegung <strong>der</strong><br />
Anpassungssätze durch beson<strong>der</strong>e Festlegung <strong>der</strong> BG für die Jahre<br />
1979-1981 (Art.1 § 2). Die Anpassungssätze betrugen 4,5% für 1979 und<br />
jeweils 4% für die Jahre '80 und '81.<br />
2. Neuregelung <strong>der</strong> KVdR ab 1.1.82. Statt e<strong>in</strong>es Pauschalbetrages <strong>der</strong><br />
GRV zur KVdR wurde <strong>der</strong> Beitrag auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Leistung des<br />
Rentners umgestellt (§ 381), dadurch sollten die <strong>in</strong>dividuellen<br />
E<strong>in</strong>kommensverhältnisse <strong>der</strong> Rentenempfänger und die<br />
Lohnersatzfunktion <strong>der</strong> Rente berücksichtigt werden 151 .<br />
Berechnungsgrundlage wurde <strong>der</strong> Zahlbetrag <strong>der</strong> Rente unter<br />
E<strong>in</strong>schluss von Zusatzleistungen (§§ 180 V, 385 II). Die Höhe des<br />
Beitrags blieb im 21.RAG noch offen, da die Bundesregierung erst die<br />
Summe <strong>der</strong> Rentenzahlbeträge ermitteln wollte, damit die umgestellte<br />
Beitragsleistung <strong>in</strong> ihrer Summe nicht ger<strong>in</strong>ger als vorhanden ausfiel.<br />
3. Der Beitragssatz wurde von 18% auf 18,5 % erhöht 152 (§ 1385).<br />
4. BU/EU Renten ruhen beim Zusammentreffen mit Arbeitslosengeld<br />
(§12 83); diese Regelung wurde durch die Rechtsprechung des BSG zu<br />
den Invaliditätsrenten 153 notwendig, durch die die Vermittelbarkeit von<br />
e<strong>in</strong>geschränkt Erwerbsfähigen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Jahres <strong>zum</strong><br />
Leistungskriterium <strong>der</strong> Invalidenrente geworden war. E<strong>in</strong> zeitliches<br />
Zusammentreffen zweier Leistungen sollte dadurch vermieden werden,<br />
die BA trägt die Kosten dieses Jahres, die Rente ruht <strong>bis</strong> zur Höhe des<br />
ALG.<br />
5. Voraussetzungen <strong>der</strong> Dynamisierung von Rententeilen aus<br />
freiwilliger Versicherung wurden gestrafft, <strong>in</strong>dem sie von e<strong>in</strong>er größeren<br />
Regelmäßigkeit <strong>der</strong> Beitragsentrichtung abhängig gemacht wurden (§<br />
1255b).<br />
6. Neue niedrigere Grenzen für ger<strong>in</strong>gfügige Beschäftigung wurden<br />
e<strong>in</strong>geführt (Art.2 § 9 Nr.Ib).<br />
Mit dem 21.RAG wurde <strong>zum</strong> ersten Mal seit 1957 das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong><br />
bruttolohnbezogenen Rente(nanpassung) durchbrochen und durch<br />
politisch festgelegte Prozentsätze ersetzt, die ausschließlich unter<br />
151 BT.-Drs. 8/1734, 24;<br />
152 Faustformel für E<strong>in</strong>nahne - Ausgabeverän<strong>der</strong>ung (1977)<br />
1 % Lohnzuwachs = 0,5 Mrd. Beitragse<strong>in</strong>ahmen<br />
1 % Beitragssatzerhöhung = 5 Mrd. Beitragse<strong>in</strong>nahmen<br />
200.000 Beschäftigte = 1 Mrd. Beitragse<strong>in</strong>nahmen<br />
1 % Rentenbestand = 1 Mrd. Rentenausgaben<br />
153 BSGE 30, 167; 192; 43,75;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
fiskalischen Gesichtspunkten gewählt wurden. Begründet wurde das<br />
Vorgehen mit <strong>der</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er "Verlangsamung und Verstetigung<br />
des Zuwachses bei den Renten" und e<strong>in</strong>er "schnelleren Harmonisierung <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>kommenszuwächse bei Rentnern und Erwerbstätigen" 154 . Diese neue<br />
Begrifflichkeit signalisierte e<strong>in</strong>e Abkehr von <strong>der</strong> bruttolohnbezogenen<br />
Anpassung, weil nun "Verstetigung" und "Harmonisierung" von Renten und<br />
E<strong>in</strong>kommensentwicklung <strong>in</strong> den Mittelpunkt <strong>der</strong> Rentenanpassungspraxis<br />
unter dem Druck knapper Ressourcen rückte, die Sicherung e<strong>in</strong>es<br />
angemessenen und politisch gewollten Rentenniveaus dagegen an<br />
Bedeutung verlor. Gerade <strong>in</strong> den Jahren 1979-81 wären die Rentner durch<br />
den time-lag des alten Anpassungsverfahrens <strong>in</strong> den Genuss relativ hoher<br />
Rentensteigerungen gekommen.<br />
Der Verweis auf e<strong>in</strong> unangemessen hohes Rentenniveau 155 ist<br />
vorgeschoben. Im Zeitraum zwischen 1958 und 1979 lag die<br />
durchschnittliche Steigerungsrate <strong>der</strong> Renten mit 7,2% um fast e<strong>in</strong>en<br />
Prozentpunkt unter den Bruttolöhnen (8,1%) 156 . Die auf politischem Weg<br />
vorgenommene Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> BG wirkte sich zudem auf zukünftige<br />
Anpassungen aus, die daher von e<strong>in</strong>er um 13% niedrigeren Basis<br />
ausg<strong>in</strong>gen 157 .<br />
Die weiter andauernde Rezession mit Millionenarbeitslosigkeit, ger<strong>in</strong>gen<br />
Lohnsteigerungen und die sich verschlechternde Relation zwischen<br />
Beitragszahler und Leistungsempfänger veranlasste die Regierung<br />
(CDU/CSU/FDP) zu weiteren E<strong>in</strong>griffen <strong>in</strong> das Beitrags- und<br />
Leistungsrecht, um weiterh<strong>in</strong> drohende Defizite <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV<br />
abzuwenden 158 .<br />
I.11.3 I.11.3 I.11.3 HBeglG HBeglG 1983 1983<br />
1983<br />
Die im HBeglG 1983 vorgesehenen wichtigsten Maßnahmen - die <strong>der</strong><br />
<strong>Rentenversicherung</strong> e<strong>in</strong>e "dr<strong>in</strong>gend erfor<strong>der</strong>liche Atempause" 159<br />
verschaffen sollte - waren:<br />
1. Verschiebung <strong>der</strong> Rentenanpassung vom 1.1.83 auf den 1.7.83 (§§<br />
1272, 1273).<br />
2. E<strong>in</strong>bezug e<strong>in</strong>es Beitrags <strong>der</strong> Rentner zur KVdR (§ 1304e) <strong>der</strong> für 1983<br />
= 1%, 84 = 4%, 85 = 5% betragen sollte.<br />
154 BT.-Drs. 8/1734,24;<br />
155 aaO;<br />
156 Bäcker, et al, Sozialpolitik, Köln 1981, 325 Schaubild 26;<br />
157 Schmähl,et al, Soziale Sicherung 1975-1985. Verteilungswirkungen sozialpolitischer<br />
Maßnahmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD.,Frankfurt1986, 78<br />
158 So die amliche Begründung <strong>in</strong> BT.-Drs.9/2074,<br />
159 BT.-Drs.8/165, 96<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
3. Der Bundeszuschuss wurde um 0,9 Mrd.DM gekürzt.<br />
4. Die Beiträge <strong>der</strong> BA wurden nicht mehr wie <strong>bis</strong>her nach dem letzten<br />
Bruttoentgelt, son<strong>der</strong>n nach <strong>der</strong> Höhe des tatsächlichen<br />
Leistungsbezuges berechnet (§ 1385a). Die Berechnungsgrundlage beim<br />
ALG., KUG., SWG., und beim UG beträgt nun 68% und bei <strong>der</strong> Alhi<br />
58% des letzten Nettolohns. Die Versicherungspflicht für<br />
Leistungsempfänger <strong>der</strong> BA entfiel. Zeiten des Leistungsbezuges<br />
werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV wie<strong>der</strong> wie Ausfallzeiten berechnet (§§ 1277, 1259).<br />
5. Die Tabellenwerte für die Bewertung <strong>der</strong> ersten fünf Beitragsjahre<br />
(beitragsgem<strong>in</strong><strong>der</strong>te Zeiten) werden für Frauen und Männer<br />
vere<strong>in</strong>heitlicht und mit 90% des durchschnittlichen Bruttoentgelts<br />
berechnet (§ 1255 Abs.b aa,bb).<br />
6. Die Beiträge für Wehr- und Zivildienstleistende werden von 75% auf<br />
70% <strong>der</strong> BG gesenkt (§§ 1255 IVc und VI S.3; 1385a aa).<br />
7. Bei Kuren und Maßnahmen <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Rehabilitation<br />
müssen Zuzahlungen erfolgen (§ 1243).<br />
8. Der Beitragssatz wurde vom 1.9.83 um 0,5% auf wie<strong>der</strong> 18,5%<br />
angehoben (Art.2 § 30 ArVNG idF des Art.22 Nr.8 HBeglG 1983) 160 .<br />
Dieses Maßnahmebündel, mit dem sich <strong>der</strong> Bund direkt um 6,78 Mrd.<br />
DM <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> entlastete 161 , verlagerte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />
Kosten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit vom Bundeshaushalt auf die GRV. Alle<strong>in</strong> die<br />
neue Beitragsbemessung für Leistungsempfänger <strong>der</strong> BA m<strong>in</strong><strong>der</strong>te die<br />
Beitragse<strong>in</strong>nahmen <strong>der</strong> GRV um über 5 Mrd. DM pro Jahr 162 .<br />
Für die GRV fallen zusätzliche Kosten an, <strong>in</strong>dem bei <strong>der</strong><br />
Rentenberechnung diese Zeiten als Ausfallzeiten behandelt werden und die<br />
nach dem DvHS <strong>bis</strong> vor <strong>der</strong> Ausfallzeit berechnet werden müssen (§<br />
1255a). Da die Bemessungsgrundlage <strong>der</strong> Beiträge beim ALG bei rd. 48%<br />
und bei <strong>der</strong> Alhi bei 41% liegen, werden Ausfallzeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel höher<br />
bewertet, wobei hier die Kosten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>der</strong> GRV übertragen<br />
wird. Außerdem ist e<strong>in</strong>e Beitragszahlung <strong>der</strong> BA für eigentlich beitragslose<br />
160 Ursprünglich war die Beitragssatzerhöhung für den 1.1.1984 vorgesehen; 1982 wurde<br />
<strong>in</strong> Art 2 § 30 b ArVNG idF. des Art 5 Nr.2 AFKG e<strong>in</strong>e Senkung des Beitragssatzes von 18,5<br />
auf 18 % vom 1.1.82 <strong>bis</strong> 31.12.83 bestimmt um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung<br />
während dieses Zeitraumes ohne Erhöhung <strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamten Abgabenlast um den gleichen<br />
Prozentsatz anzuheben.<br />
161 Errechnet nach BT.-Drs. 9/2074, 60;<br />
162 aaO, 61a;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Zeiten <strong>in</strong>konsequent und Beitrag und Leistung stehen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>erlei<br />
Beziehung mehr 163 .<br />
Dieser Kostenverlagerungsmechanismus liegt auch den verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Beitragsleistungen des Bundes für Wehr- und Zivildienstpflichtige<br />
zugrunde: <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel s<strong>in</strong>d dies die ersten Beitragsjahre die durch die<br />
Höherbewertung beitragsgem<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Zeiten bei <strong>der</strong> Rentenberechnung mit<br />
90% bewertet werden, wobei auch hier die GRV die Differenz zwischen <strong>der</strong><br />
Beitragsleistung des Bundes und <strong>der</strong> Bewertung bei <strong>der</strong> Rentenberechnung<br />
zu tragen hat.<br />
Betrachtet man die f<strong>in</strong>anzielle Ausgangslage <strong>der</strong> GRV vor dem HBeglG<br />
1983, so wurden ihr durch die Beitragssenkung <strong>in</strong> den Jahren 1982 und<br />
1983 und durch ger<strong>in</strong>gere Lohnsteigerungen als angenommen, erhebliche<br />
F<strong>in</strong>anzmittel entzogen. Die Maßnahmen des HBeglG 1983 reichten zwar<br />
aus, diese Fehlbeträge zu kompensieren, nicht aber für den Entzug von<br />
Bundesmitteln zur Sanierung des Staatshaushaltes 164 . Insofern ist die<br />
F<strong>in</strong>anzkrise <strong>der</strong> GRV nicht nur von exogenen Faktoren abhängig, son<strong>der</strong><br />
von politischen E<strong>in</strong>griffen zugunsten des Bundeshaushalts und unter<br />
Aspekten <strong>der</strong> Verlagerung <strong>der</strong> Kosten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit auf an<strong>der</strong>e<br />
Sozialversicherungssysteme, d.h. es ist festzustellen, dass die<br />
Instrumentalisierung <strong>der</strong> GRV für systemwidrige Zwecke e<strong>in</strong> wesentlicher<br />
Faktor <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Probleme <strong>der</strong> GRV ist. Dieses politische Risiko<br />
haben unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> ökonomischen und f<strong>in</strong>anzwirtschaftlichen<br />
Gesichtspunkte - Senkung bzw. Stabilisierung <strong>der</strong> Lohnnebenkosten - <strong>in</strong><br />
erster L<strong>in</strong>ie die Rentner zu tragen.<br />
I.11.4 I.11.4 I. I. 13. 13. 13. 4 4 Das Das HBeglG HBeglG 1984 1984<br />
1984<br />
Die Tendenz <strong>der</strong> Neu- und Umverteilung des Rentenrisikos auf die<br />
Rentner wurde durch das HBeglG 1984 165 noch deutlicher und zeigte sich <strong>in</strong><br />
folgenden Maßnahmen:<br />
1. Der Faktor <strong>der</strong> Rentenanpassung wird aktualisiert, <strong>in</strong>dem die neue<br />
Berechnungsgrundlage die Verän<strong>der</strong>ungsrate <strong>der</strong> BG des Jahres wird,<br />
die <strong>der</strong> Anpassung vorausgeht (§ 1255 II).<br />
2. Die Rentenniveausicherungsklausel wird gestrichen und durch den<br />
"Grundsatz e<strong>in</strong>er gleichgewichtigen Entwicklung <strong>der</strong> Renten und<br />
verfügbaren Arbeitsentgelte" ersetzt (§ 1272 II).<br />
163 Albrecht/Backhaus, Die beitrags- und rentenrechtlichen Auswirkungen des<br />
Haushaltsbegleitgesetz 1983, <strong>in</strong>: DRV 1983, 147;<br />
164 Schewe, Das politische Risiko <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> und <strong>der</strong> Rentner, <strong>in</strong>: SF 1983, 2-<br />
6 (Schewe hält das politische Risiko für höher als das Risiko <strong>der</strong> GRV durch die<br />
Bevölkerungsentwicklung.(6);<br />
165 BT.-Drs. 10/335<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
3. Stärkerer E<strong>in</strong>bezug von Son<strong>der</strong>leistungen <strong>in</strong> die Beitragspflicht für<br />
die GRV (Urlaubs-,Weihnachts-,Übergangsgeld bei Reha und<br />
Verletztengeld <strong>der</strong> UV, Gratifikationen, Provisionen,etc.)(§ 385 Ia iVm<br />
1400 II S.2).<br />
4. Erschwerung <strong>der</strong> Anspruchvoraussetzung für BU/EU-Renten (§§<br />
1246, 1247) durch E<strong>in</strong>fügung des IIa (36 Pflicht-Monate <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Rahmenfrist von 60 Monaten).<br />
5. Anstieg des KVdR-Beitrages wie angekündigt.<br />
6. Voller E<strong>in</strong>bezug des Kranken-, Versorgungskranken-, Verletztenund<br />
Übergangsgeld <strong>in</strong> die Beitragspflicht (§ 1385b).<br />
7. Streichung des K<strong>in</strong><strong>der</strong>geldzuschusses bei Neurenten und Ersetzung<br />
durch das K<strong>in</strong><strong>der</strong>geld (§ 1262 I S.1)153.<br />
8. Herabsetzung <strong>der</strong> Wartezeit für ARG ab 65 von 15 auf 5 Jahre (§<br />
1248 VII S.3).<br />
9. Erschwerung <strong>der</strong> Anspruchvoraussetzung für ARG für Arbeitslose<br />
ab 60 Jahre, nachdem schon im AFKG vom 22.12.81 e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<br />
vorgenommen wurde. Trat im AFKG neben die<br />
Anspruchsvoraussetzung, dass <strong>der</strong> Versicherte <strong>in</strong> den letzten 1,5 Jahren<br />
m<strong>in</strong>destens 52 Wochen arbeitslos gemeldet se<strong>in</strong> musste, die Bed<strong>in</strong>gung,<br />
<strong>in</strong> den letzten 10 Jahren m<strong>in</strong>destens 8 Jahre e<strong>in</strong>e<br />
rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt zu haben, so<br />
wurden nun bei <strong>der</strong> Berechnung des 10-Jahreszeitraums bestimmte<br />
Zeiten nicht mehr mitgerechnet (§ 1248 II S.2).<br />
Nach <strong>der</strong> amtlichen Begründung war dieses Maßnahmebündel<br />
Bestandteil e<strong>in</strong>er " Gesamtkonzeption zur nachhaltigen Verbesserung <strong>der</strong><br />
Struktur <strong>der</strong> GRV " 166 das auf e<strong>in</strong>e Neuorientierung <strong>der</strong> Rentenpolitik<br />
h<strong>in</strong>ausläuft. Zur wichtigsten Maßnahme gehört <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te<br />
Berechnungsmodus bei <strong>der</strong> Rentenanpassung, <strong>der</strong> als " programmatischer<br />
Grundsatz 167 " <strong>in</strong> § 1272 II mit <strong>der</strong> Verteilungsformel <strong>der</strong><br />
"gleichgewichtigen Entwicklung von Renten und verfügbaren E<strong>in</strong>kommen"<br />
se<strong>in</strong>en Ausdruck fand. Parallel dazu entfiel die<br />
Rentenniveausicherungsklausel als normiertes politisches Sicherungsziel.<br />
Sofern man den Beitrag zur KVdR, <strong>der</strong> als wirksame Belastung <strong>der</strong><br />
Rentner <strong>der</strong>en Rentenniveau bee<strong>in</strong>flußt, berücksichtigt ist das gefor<strong>der</strong>te<br />
Rentenniveau seit 1981 immer unterschritten worden 168 . Durch die<br />
166 aaO, 57;<br />
167 aaO, 58;<br />
168 Schmähl, Soziale Sicherung, aaO, 90;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
E<strong>in</strong>griffe des Gesetzgebers, die seit dem Ende <strong>der</strong> 70er Jahre fast immer<br />
auch über die allgeme<strong>in</strong>e Bemessungsgrundlage als variable Größe<br />
verliefen, hat sich <strong>der</strong> Abstand <strong>der</strong> BG <strong>zum</strong> aktuellen durchschnittlichen<br />
Bruttoentgelt auf fast sieben Jahre vergrößert 169 .<br />
Das Durchschnittsentgelt lag 1985 bei rund 37.000 DM, während die<br />
allgeme<strong>in</strong>e BG bei rund 28.180 DM lag, das entspricht etwa 76%. Die<br />
Nettoquote liegt nach <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei etwa<br />
70 %, so dass sich im Ergebnis von e<strong>in</strong>er "bruttolohnorientierten<br />
Rentenformel mit nettolohnorientierter Wirkung 170 " reden lässt.<br />
169 Kolb, Das Gleichklanggebot nach § 1272 II RVO ..., <strong>in</strong>:DRV 1987, 12;<br />
170 F.W.Rüb, Rentenrecht, <strong>in</strong>: KJ 4/1988, 389;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.12 Die Reform des H<strong>in</strong>terbliebenenrechts 1985<br />
I.12.1 I.12.1 E<strong>in</strong>kommensanrechnung E<strong>in</strong>kommensanrechnung bei bei HR<br />
HR<br />
Die Reform des H<strong>in</strong>terbliebenenrechts, die dem Gesetzgeber mit<br />
BVerfG-Urteil im Jahre 1975 (BVerfGE 39,169) aufgetragen wurde, sollte die<br />
Gleichstellung des Mannes mit <strong>der</strong> Frau im H<strong>in</strong>terbliebenenrecht erreichen.<br />
Am 28.4.1984 legte die Bundesregierung e<strong>in</strong>en Gesetzentwurf vor 171 , <strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>e völlig neue als <strong>in</strong> <strong>der</strong> von <strong>der</strong> SVKO 172 vorgeschlagenen<br />
"Teilhabemodell"-Regelung <strong>zum</strong> Gegenstand hatte 173 , nämlich das<br />
sogenannte "Anrechnungsmodell mit Freibetrag 174 ".<br />
Dieses am 1.1.1986 <strong>in</strong> Kraft getretene Gesetz ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> am<br />
umstrittensten rentenrechtlichen Neuregelungen <strong>der</strong> letzten Jahre, sieht es<br />
doch e<strong>in</strong>e völlige Neubewertung <strong>der</strong> Funktion und Ausgestaltung des<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrechts 175 vor:<br />
1. Der überlebende Ehegatte erhält nach dem Tod des Ehepartners immer<br />
e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terbliebenenrente, es bleibt bei den <strong>bis</strong>herigen 60% <strong>der</strong><br />
Rentenanwartschaften des Verstorbenen (§ 1264).<br />
2. Eigenes Erwerbs- und Erwerbsersatze<strong>in</strong>kommen wird zu 40% auf die<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrente angerechnet, soweit es e<strong>in</strong>e bestimmte Höhe<br />
überschreitet; als Freibetrag wurden 3,3% <strong>der</strong> BG und damit zugleich<br />
e<strong>in</strong>e dynamische Anpassung vorgesehen (§ 1281).<br />
3. Zeiten <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehung werden bei Frauen (auf Antrag auch bei<br />
Männern) - sofern sie nach 1921 geboren s<strong>in</strong>d - rentenrechtlich<br />
anerkannt (§§ 1227a I, 1251a I); sie werden wie fiktive Zeiten gewertet<br />
und s<strong>in</strong>d damit rentenbegründend und rentensteigernd, ihr Wert ist<br />
75% des Durchschnittentgelts aller Versicherten (§§ 1255 VIa, 1255a V)<br />
dies entsprach damals rd. 25.- DM/Monat.<br />
171 Entwurf des HEZG = BT.-Drs. 10/2677;<br />
172 Die SVKO legte <strong>in</strong>sgesamt 4 Modelle vor:<br />
1.) abgeleitete H<strong>in</strong>terbliebenenrente<br />
2.) Teilhaberente<br />
Variante 1 = 75 % <strong>der</strong> Gesamtanwartschaften bei<strong>der</strong> Ehegatten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ehe + 100% <strong>der</strong><br />
eigenen Anwartschaften ausserhalb <strong>der</strong> Ehe.<br />
Variante 2 = 75 % <strong>der</strong> Gesamtanwartschaft vor und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ehe<br />
Variante 3 = 70 % <strong>der</strong> Gesamtanwartschaften vor und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ehe aber m<strong>in</strong>destens 100 %<br />
<strong>der</strong> eigenen Anwartschaft. (Garantieregelung)<br />
3.) Laufendes Splitt<strong>in</strong>g <strong>der</strong> ehelichen Rentenanwartschaften<br />
4.) Hausfrauenpflichtversicherung<br />
Die Kommission schlug übere<strong>in</strong>stimmend Modell 2 Variante 3 vor<br />
173 Kaltenbach, Vorschläge <strong>der</strong> 84er Kommission und <strong>der</strong> Parteien zu sozialen Sicherung<br />
<strong>der</strong> Frau und <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenen, <strong>in</strong>: DAngvers 1980, 263; Das Teilhabemodel wurde auch<br />
von <strong>der</strong> damaligen SPD/FDP Regierung favirisiert, konnte aber wegen <strong>der</strong> im Herbst1982<br />
statf<strong>in</strong>denden Regierungswechsel nicht mehr realisiert werden.<br />
174 DiesesModell geht auf e<strong>in</strong>en Vorschlag Kalenbachs vom Dezember 1982 zurück. Vgl.<br />
Kaltenbach, Die Teilhaberente mit E<strong>in</strong>kommensanrechnung, <strong>in</strong>: DAngVers 1982, 433;<br />
175 Zu den Technichen Details siehe : Renten für Witwen und Witwer, Berl<strong>in</strong> 1985, BfA;<br />
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83
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
4. Als Erwerbse<strong>in</strong>kommen zählen alle E<strong>in</strong>kommen aus unselbständiger<br />
Tätigkeit und Arbeitsentgelte aus selbständiger Tätigkeit (§ 18a I SGB-<br />
IV); als Erwerbsersatze<strong>in</strong>kommen zählen Leistungen aus <strong>der</strong> GRV, <strong>der</strong><br />
Beamtenversorgung, berufständigen Versorgungswerken, Altershilfen<br />
für Landwirte u.ä.(§ 18a III SGB-IV). Nicht angerechnet werden<br />
demnach u.a. Wohngeld, KOV-Renten, E<strong>in</strong>künfte aus Kapitalvermögen,<br />
Verpachtung, Vermietung, aus privaten Versorgungssystemen<br />
(Lebensversicherung, Alterversicherung) und Zusatzleistungen aus<br />
öffentlich-rechtlichen Systemen (z.B.VLB, KZVB). 176<br />
Der <strong>bis</strong>herige bedarfsauslösende Ausgleichstatbestand war durch zwei<br />
Merkmale gekennzeichnet, durch den Tod e<strong>in</strong>es Versicherten und durch<br />
den Ausfall des Unterhalts desjenigen, <strong>der</strong> vor se<strong>in</strong>em Tod den<br />
Lebensunterhalt <strong>der</strong> Familie überwiegend bestritten hatte. Bei <strong>der</strong><br />
Witwenrente wurde dies pauschal unterstellt, bei <strong>der</strong> Witwerrente musste<br />
dies nachgewiesen werden; letzteres musste nach dem Urteil des BVerfG<br />
durch Gleichbehandlung von Witwen und Witwer beseitigt werden. Die<br />
E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es permanenten Anrechnungsmodus macht die<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrente nun von e<strong>in</strong>em dritten Kriterium abhängig, von dem<br />
Kriterium <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Bedürftigkeit, das e<strong>in</strong>em Systembruch im<br />
Rentenrecht gleichkommt. Die E<strong>in</strong>kommensanrechnung stellt darüber<br />
h<strong>in</strong>aus für viele e<strong>in</strong>en Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art.14 GG<br />
dar 177 .<br />
Der Regierungsentwurf 178 und se<strong>in</strong>e Verteidiger 179 begründen die<br />
permanente Anrechnung damit, dass die H<strong>in</strong>terbliebenenrente auf den<br />
Bedarf <strong>in</strong> <strong>der</strong> Person des Überlebenden abstelle. Erlischt die<br />
Unterhaltsverpflichtung nach § 1360 S.2 BGB durch den Tod e<strong>in</strong>es<br />
Ehepartners, so tritt an se<strong>in</strong>e Stelle die H<strong>in</strong>terbliebenenrente, die auf den<br />
Bedarf des Überlebenden abstellt, aber h<strong>in</strong>fällig wird, sofern <strong>der</strong><br />
Überlebende über <strong>in</strong>s Gewicht fallende E<strong>in</strong>künfte verfügt. Die<br />
E<strong>in</strong>kommensanrechnung ist dann "gewissermaßen die konkrete und<br />
typisierende Betrachtungsweise für den Unterhaltsersatzbedarf, und sie ist<br />
das notwendige Korrektiv für die vom Gesetzgeber vermuteten<br />
Bedarfstatbestände 180 ".<br />
176 HR = 60% <strong>der</strong> Rente des verstorbenen Ehegatten<br />
EK = eigenes E<strong>in</strong>kommen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> RVO<br />
FB = Freibetrag | (EK-FB) X 40<br />
Formel = : EK = FB = EK + HR | EK> FB = ------------- + EK |<br />
100<br />
177 e<strong>in</strong>e Auswahl: v.Maydell, DRV 1985, 35; Kolb, DRV 1985, 40; He<strong>in</strong>ze, DRV 1985, 245;<br />
Papier, DRV 1985,272; Ruland, DRV 1985, 278; Schmähl, DRV 1985 288; und Kolb,<br />
<strong>in</strong>:Schmähl (Hrsg.) Versicherungspr<strong>in</strong>zip und soziale Sicherung, Tüb<strong>in</strong>gen 1985, 130;<br />
178 BT.-Drs. 10/2677, 23f;<br />
179 Kaltenbach, Die Anrechnung von E<strong>in</strong>kommen auf die H<strong>in</strong>terbliebenenrente ist<br />
systemgerecht, <strong>in</strong>:DAngVers 1984, 325; Hauck/Bokeloh, Die Neuordnung <strong>der</strong><br />
H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesetzlichen <strong>Rentenversicherung</strong>, DRV 1984, 650;<br />
180 Kaltenbach, aaO,528;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Anstelle <strong>der</strong> durch den Tod erloschenen ehelichen Beziehung tritt nun<br />
e<strong>in</strong>e variable Beziehung zwischen H<strong>in</strong>terbliebenem und<br />
Versicherungsträger. Der Versicherungsträger "spart im Rahmen se<strong>in</strong>er<br />
'Unterhaltsverpflichtung' um so mehr, je mehr <strong>der</strong> 'Unterhaltsberechtigte'<br />
selbst besitzt. Damit verkehrt sich <strong>der</strong> Unterhaltsanspruch des<br />
Überlebenden <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Gegenteil; bezieht er anrechenbares E<strong>in</strong>kommen, so<br />
resultiert aus diesem Anspruch auf e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Unterhaltsverpflichtung<br />
gegenüber dem Versicherungsträger 181 ", die im Extremfall - vom<br />
Gesetzgeber gewollt 182 - <strong>zum</strong> völligen Ruhen <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenrente<br />
führen kann. Neben dieser Umkehrung des Unterhaltsanspruches hat die<br />
laufende E<strong>in</strong>kommensanrechnung erhebliche versicherungsrechtliche<br />
Konsequenzen. Der mit Erwerbs- und Erwerbsersatze<strong>in</strong>kommen sich<br />
verän<strong>der</strong>nde Bedarf, wie es <strong>der</strong> Gesetzesentwurf formuliert (S.24), wird zur<br />
Bedürftigkeit transformiert und damit e<strong>in</strong>er wie Arbeitlosen- und<br />
Sozialhilfe eigentümlichen Subsidiarität analog. Das <strong>bis</strong>her vom<br />
Versicherungspr<strong>in</strong>zip strukturierte Rentenrecht wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vom<br />
Bedarfspr<strong>in</strong>zip geregelten Bereich <strong>der</strong> Versichertenrenten und e<strong>in</strong>en von<br />
<strong>der</strong> Logik des Bedürftigkeitspr<strong>in</strong>zip dom<strong>in</strong>ierten Bereich <strong>der</strong><br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten aufgespalten 183 .<br />
Die Variabilität <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenrenten durch laufende<br />
E<strong>in</strong>kommensanrechnung wird zusätzlich damit begründet, dass<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten als Unterhaltsersatzleistungen beson<strong>der</strong>s stark<br />
ausgeprägte Elemente des sozialen Ausgleichs enthalten 184 , aber auch die<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten s<strong>in</strong>d durch Beitragsleistungen begründet und<br />
Bestandteil des <strong>in</strong> <strong>der</strong> GRV versicherten Risikoausgleichs. Durch<br />
Beitragsleistungen begründet <strong>der</strong> Versicherte für sich und se<strong>in</strong>e<br />
Unterhaltsberechtigten e<strong>in</strong>en Anspruch auf Leistungen im Rahmen <strong>der</strong><br />
Versicherung. Der Beitrag - dies ist bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Witwen- und<br />
Witwerrenten <strong>in</strong> <strong>der</strong> AnV 1911 ausdrücklich betont und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Rentenreform 1957 bestätigt worden 185 - ist versicherungsmathematisch so<br />
festgesetzt, dass er sowohl die Versicherten- wie auch die<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrenten im umlagef<strong>in</strong>anzierten Verfahren abdeckt 186 .<br />
181 He<strong>in</strong>e, Die Neuregelung <strong>der</strong> Witwen- und Witwerrenten <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesetzlichen<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>, <strong>in</strong>: FamRZ 1986, 113(119);<br />
182 BT.-Drs. 10/2677, 24<br />
183 Nach Bley, Sozialrecht, Frankfurt 1982, 70f, stellen alle <strong>in</strong>tertemporal-<strong>in</strong>tersubjektive<br />
Ausgleichstatbestände des Sozialrechts, zu dennen das Rentenrecht gehöhrt, auf<br />
Bedarfssituationen ab, die ohne weitere Berücksichtigung von E<strong>in</strong>kommen ausgeglichen<br />
werden; Umfassend dazu: Kolb, Bedarf und Bedürftigkeit. Begriffsbestimmung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung, <strong>in</strong> : DRV 1985, 40;<br />
184 BT.-Drs. 2677, 24; BVerfGE 48, 346(357ff);<br />
185 Kolb, H<strong>in</strong>terblienenversicherung o<strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenversorgung, <strong>in</strong>: DRV 1984,<br />
635(638ff);<br />
186 Dazuvgl. W.Steden, Die F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> gesetzlichen <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD<br />
- Vermögenstheoretische Implikationen, <strong>in</strong>: F<strong>in</strong>anzarchiv NF, S.409; Steden entwickelt die<br />
notwendigen f<strong>in</strong>anzmathematischen Formeln zur F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> gesetzlichen<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Insoweit enthalten die H<strong>in</strong>terbliebenenrenten nicht mehr und nicht<br />
weniger Elemente des sozialen Ausgleichs als auch die Versichertenrenten.<br />
I.12.2 I.12.2 Kostenneutralität Kostenneutralität als als Verteilungskriterium<br />
Verteilungskriterium<br />
Verteilungskriterium<br />
Die zentrale Begründung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensanrechnung war aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
neuen Verteilungskriterium, dem Postulat <strong>der</strong> Kostenneutralität zu<br />
f<strong>in</strong>den 187 .<br />
Kostenneutralität ist e<strong>in</strong> systematisches Kriterium, da <strong>der</strong> Begriff sich auf<br />
die Funktionalität des Systems, se<strong>in</strong>er Strukturen und se<strong>in</strong>es Verhaltens<br />
beziehen muss. Bei <strong>der</strong> Komplexität e<strong>in</strong>es Systems wie <strong>der</strong> GRV und se<strong>in</strong>er<br />
Analyse im Zeitverlauf, kann Kostenneutralität nur noch am<br />
Simulationsmodell ermittelt werden. Die Technik, speziell die<br />
Computertechnik, wird zur Bed<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Möglichkeit von<br />
Kostenneutralität. Da sich Kostenneutralität nicht nur auf die momentane<br />
Situation, son<strong>der</strong> auf die Zukunft bezieht, lässt sie sich nur noch<br />
hochrechnen. Das bedeutet, dass die vorgegebenen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
von ausschlaggeben<strong>der</strong> Bedeutung s<strong>in</strong>d. Der Besitz dieser Daten ist bei <strong>der</strong><br />
Computersimulation - Macht. Kostenneutralität impliziert e<strong>in</strong><br />
Gleichgewicht e<strong>in</strong>es Systems, dieser Zustand geht dem Begriff sozusagen<br />
voraus. Er stellt auf das Gleichgewicht des Systems ab, nicht aber auf die <strong>in</strong><br />
Form <strong>der</strong> Solidargeme<strong>in</strong>schaft zusammengeschlossenen Mitglie<strong>der</strong>. Die<br />
systematische Integration und die soziale Integration <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Regel nicht deckungsgleich, e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzpolitische Sanierung <strong>der</strong> RV <strong>in</strong><br />
Form e<strong>in</strong>er kostenneutralen Rentenreform kann sozialpolitisch für die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des System <strong>der</strong> RV ausgesprochen negative Folgen und<br />
Konsequenzen haben.<br />
Da die Reform durch die nun anspruchsberechtigten Männer auf jeden<br />
Fall Mehrkosten verursachen würde, mussten unter dem Vorrang <strong>der</strong><br />
Kostenneutralität <strong>bis</strong>her nicht berücksichtigte F<strong>in</strong>anzquellen erschlossen<br />
werden 188 , die diese Mehrkosten ausglichen.<br />
Diese F<strong>in</strong>anzierungsquellen waren die <strong>bis</strong>her nicht berücksichtigten<br />
Erwerbs- und Erwerbsersatze<strong>in</strong>kommen, die durch e<strong>in</strong>e Son<strong>der</strong>erhebung<br />
des VDR zur Berechnung <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Auswirkungen <strong>der</strong> Reform<br />
erhoben wurden und <strong>bis</strong>her nicht <strong>in</strong> den Datenbänken <strong>der</strong><br />
Versicherungsträger vorhanden waren. Verteilungsrechnungen machen<br />
<strong>Rentenversicherung</strong>, hier <strong>in</strong>terressieren vor allem Formel 21 und daraus abgeleitet Nr.22<br />
(seite 453) welche unter berücksichtigung aller - auch <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbliebenenrenten<br />
(Waisenrenten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> Witwenrente - Rentenbelastungen zu dem<br />
erfor<strong>der</strong>lichen Beitragssatz führen.<br />
187 BT.-Drs. 10/2677, 23; Renten für....;aaO,7;<br />
188 Müller, DieKonzeption <strong>der</strong> Stichprobenerhebung zur Gew<strong>in</strong>nung von<br />
Rechnungsunterlagen für die Reform 1984, <strong>in</strong>: DRV 1980, 326ff + 390ff + 1981, 9;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
deutlich 189 , dass beim Anrechnungsmodell über 50% <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sparungen<br />
durch die Anrechnung bei den Witwen aufgebracht werden, wobei die<br />
gefor<strong>der</strong>te Kostenneutralität fraglich ist 190 . Wird die Argumentation für<br />
schlüssig gehalten, dass bei Leistungen, die Unterhaltersatzfunktion haben,<br />
diese nur gewährt werden, wenn <strong>der</strong> Unterhalt nicht an<strong>der</strong>weitig abgedeckt<br />
ist, so kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Analogieschluss ebenso gut behauptet werden,<br />
Versichertenrenten haben Lohnersatzfunktion, die bei an<strong>der</strong>weitigen<br />
E<strong>in</strong>kommen nicht o<strong>der</strong> nur <strong>zum</strong> Teil gewährt werden brauchen. Dieser<br />
"Sche<strong>in</strong>logik" 191 ist bereits e<strong>in</strong> führen<strong>der</strong> Unionspolitiker, <strong>der</strong> frühere<br />
Berl<strong>in</strong>er Sozialsenator und jetzige Vorsitzende <strong>der</strong> CDA <strong>der</strong> CDU, U. F<strong>in</strong>k,<br />
erlegen, wenn er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview <strong>in</strong> <strong>der</strong> SZ v.7.5.85 dies als "Grundidee<br />
je<strong>der</strong> Rentenzahlung" bezeichnet.<br />
189 Müller/Nowatzki, Abschätzungen <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Auswirkungen auf die Reform des<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenrechts, <strong>in</strong>: DRV 1984, 692: Bei 106.500 Witwen tritt e<strong>in</strong>e Teil- bzw<br />
Vollkürzung e<strong>in</strong>, wähend 145.000 Männer neu <strong>in</strong> den Genuß <strong>der</strong> vollen bze teilgekürzten<br />
Rente kommen, bei 141.000 Männer ruht die Witwerrente aufgrund <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>kommensanrechnung ganz.<br />
190 Nach den Berrechnungen von , Rüb, Die Auswirkungen <strong>der</strong> Computertechnologie auf<br />
das politische System. Untersucht an Hand des Gesetzgebungsprozesses zur Rentenreform<br />
1985, Frankfurt 1987, 370, ist das Anrechnungsmodell und die Anerkennung e<strong>in</strong>es<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungsjahres zu den an<strong>der</strong>en Varianten des Teilhabemodells, nicht<br />
Kostenneutral.<br />
191 Ruhland, Sozialpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken gegen das<br />
Anrechnungsmodell, <strong>in</strong> :DRV 1985, 283;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.13 Der Weg zur Rentenreform 1992<br />
I.13.1 I.13.1 Probleme Probleme und und und Lösungsvorschläge<br />
Lösungsvorschläge<br />
Lösungsvorschläge<br />
I.13.1.1 Die f<strong>in</strong>anzielle Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong><br />
Die F<strong>in</strong>anzen <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> befanden sich seit 1975 fast<br />
ständig <strong>in</strong> Bedrängnis. Damals mussten die RV-Träger nach ständigen<br />
Rücklagenaufbau - <strong>bis</strong> 1974 44,3 Mrd. DM - ihrer geme<strong>in</strong>samen<br />
Schwankungsreserve erstmals e<strong>in</strong>en Betrag von 1,4 Mrd. DM entnehmen,<br />
um die zwischen E<strong>in</strong>nahmen und Ausgaben entstandene Lücke<br />
aufzufüllen.<br />
In den 10 Jahren von 1975 - 1984 konnten <strong>der</strong> Schwankungsreserve nur<br />
zweimal (1980/81) Mittel zugeführt werden (<strong>in</strong>sgesamt 5,4 Mrd.DM), <strong>in</strong><br />
allen an<strong>der</strong>en Jahren mussten ihr Mittel entnommen werden, um die<br />
laufenden Ausgaben f<strong>in</strong>anzieren zu können. Insgesamt beliefen sich diese<br />
Entnahmen auf 39,9 Mrd. DM, so dass Ende 1984 - alle<strong>in</strong> 1984 mussten 5,2<br />
Mrd. DM entnommen werden - e<strong>in</strong> Vermögensverzehr von 34,5 Mrd. DM<br />
stattgefunden hatte 192 . Die Schwankungsreserve war damit auf nur noch<br />
9,8 Mrd. DM zusammengeschmolzen, das waren gerade 0,9<br />
Monatsausgaben <strong>der</strong> RV, weniger als die damals vorgeschriebene<br />
M<strong>in</strong>destreserve von e<strong>in</strong>er Monatsausgabe, erst seit 1985 werden wie<strong>der</strong><br />
Rücklagen gebildet.<br />
Diese negative F<strong>in</strong>anzentwicklung zeigt, dass die <strong>bis</strong> heute<br />
unternommenen Sanierungsversuche <strong>der</strong> Bundesregierungen<br />
fehlgeschlagen s<strong>in</strong>d, wenn als Zielvorgabe war, die RV auf e<strong>in</strong>e langfristig<br />
stabile f<strong>in</strong>anzielle Grundlage zu stellen. Die <strong>bis</strong>herigen Maßnahmen haben<br />
nur bewirkt, dass <strong>der</strong> Abbau <strong>der</strong> Schwankungsreserve gestreckt und die RV<br />
<strong>bis</strong>lang vor <strong>der</strong> Zahlungsunfähigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Inanspruchnahme <strong>der</strong><br />
Bundesgarantie (§ 1384 RVO) bewahrt worden ist. Dabei hatte es sich bei<br />
den E<strong>in</strong>griffen <strong>in</strong>s Rentenrecht teilweise um für Versicherte und Rentner<br />
e<strong>in</strong>schneidende Maßnahmen gehandelt. Der f<strong>in</strong>anzielle Ertrag dieser und<br />
an<strong>der</strong>er Rechtsän<strong>der</strong>ungen 193 wurde aber gleichzeitig dadurch aufgehoben,<br />
dass <strong>der</strong> RV neue Lasten aufgebürdet und E<strong>in</strong>nahmen entzogen wurden.<br />
Die F<strong>in</strong>anziellen Auswirkungen auf die RV und die Be- bzw.<br />
Entlastungen <strong>der</strong> verschiedenen sozialen Gruppen im Überblick 194 :<br />
192 Vgl. VDR (Hrsg.), <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>in</strong> Zahlen 1984, Frankfurt 1984, 10;<br />
Breitrück/Loibl/Wübbels, Zahlenwerk zur Sozialversicherung <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD, Berl<strong>in</strong> 1987ff ,<br />
(Loseblatt)<br />
193 Vgl. die Übersicht bei, H.A.Allekote, Kritische Bilanz des Sozialstaates, <strong>in</strong>: Beiträge zur<br />
Wirtschafts- und Sozialpolitik, IdW Köln 1984, Nr. 125, 16;<br />
194 Berechnet nach: W.Adamy/J.Steffen, Zwischenbilanz von Sozialdemontage und<br />
Umverteilungspolitik seit 1982, Bericht des Sem<strong>in</strong>ars für Sozialpolitik <strong>der</strong> UNI-Köln, Köln<br />
1984;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Operation 1982:<br />
(F<strong>in</strong>anzelle Auswirkungen <strong>in</strong> Mio. 1982 1983 1984 1985)<br />
– E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen KVdR-Beitrag ab1.1.85 1500<br />
– Vorziehen des KVdR-Beitrags auf den 1.1.84 1400<br />
– E<strong>in</strong>schränkungen bei <strong>der</strong> REHA 15 45 45 45<br />
– Senkung des Beitragssatzes von18,5 auf 18%: -1412 -1600<br />
– Senkung <strong>der</strong> Wehr- und Zivi-Beiträge von 100 auf 75% -363 -378 -393 -<br />
-398<br />
– Wegfall <strong>der</strong> Erstattung des Bundes für das vorgez.ARG für Schweb. -<br />
1400 -1400 -1400 -1400<br />
– Wegfall <strong>der</strong> Erstattung für die Pfl.-beiträge währ.Mutterschaft -170 -170<br />
-170 -170<br />
Operation 1983:<br />
– Verschiebung <strong>der</strong> Rentenanpassung 3800 3800 3800<br />
– Zuzahlung bei Kur 130 130 130<br />
– Anhebung <strong>der</strong> KVdR 660 1320 3780<br />
– Vorziehen <strong>der</strong> Beitragssatzerhöhung<br />
– von 18 auf 18,5% <strong>zum</strong> 1.9.83 830<br />
– Kürzung <strong>der</strong> Beitragszahlung für KVdR<br />
– an die KV 1200<br />
– Kürzung <strong>der</strong> Beiträge durch die BA -5034 -5034 -5034<br />
– Senkung <strong>der</strong> Beiträge für Wehr- und<br />
– Zivildienstleistende auf 70% -78 -89 -99<br />
– Kürzung des Bundeszuschußes -900<br />
Operation 1984:<br />
– Stärkere E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>malzahlungen 2565 2840<br />
– Volle E<strong>in</strong>beziehung des Krankengeldes <strong>in</strong><br />
– die Beitragspflicht 955 1040<br />
– Aktualisierung <strong>der</strong> Rentenanpassung 1495 2910<br />
– Neuregelung BU/EU 80 255<br />
– Streichen des K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschußes 45 80<br />
– Senkung <strong>der</strong> Witwenabf<strong>in</strong>dung 100 110<br />
– F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> Kn-KVdR von RV zu KV 155 195<br />
– Verlagerung <strong>der</strong> TBc von RV zu KV 255 370<br />
– Verm<strong>in</strong><strong>der</strong>te E<strong>in</strong>nahmen durch<br />
– Kürzungen im AFG -215 -235<br />
– Senkung <strong>der</strong> RV-Beiträge <strong>in</strong> WfB von 90 auf 70% -85 -90<br />
(- = Belastung <strong>der</strong> RV)<br />
E<strong>in</strong>sparungen auf Kosten <strong>der</strong> Solidargeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong>sgesamt 35.980<br />
Millionen. Belastungen durch f<strong>in</strong>anzpolitische Verschiebungen zu Gunsten<br />
des Bundeshaushaltes und zu Lasten <strong>der</strong> RV-Träger 27.711 Millionen.<br />
Entlastungen für die RV-Träger 8.263 Millionen<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Nutznießer dieser Maßnahmen war alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bund, <strong>der</strong> sich dadurch<br />
von Aufwendungen für die Sozialversicherung entlastete. Neben <strong>der</strong><br />
Kurzsichtigkeit vieler sogenannter Konsolidierungsmaßnahmen hat vor<br />
allem diese Verquickung mit haushaltspolitischen Zwecken dazu geführt,<br />
dass die Sanierung und Stabilisierung <strong>der</strong> Rentenf<strong>in</strong>anzen so nicht erreicht<br />
werden kann. Aber nicht nur <strong>der</strong> Bundeshaushalt war Nutznießer dieser<br />
Maßnahmen son<strong>der</strong>n auch Unternehmer, Wohnungseigentümer und<br />
Besserverdienende.<br />
Jährliche Belastungen (+) o<strong>der</strong> Entlastungen (-) für:<br />
Operation 1982 - 1984 F<strong>in</strong>anzelle Auswirkungen <strong>in</strong> Mrd.<br />
1982 1983 1984 1985<br />
1.) Abhängig Beschäftigte +7,4 +9,9 1984<br />
+6,4 +12,6 +12,5 1983<br />
+4,3 +5,3 +3,3 +3,6 1982<br />
2.) Soziale<strong>in</strong>kommen +4,6 +6,8 1984<br />
+8,9 +10,2 +12,9 1983<br />
+6,5 +7,4 +9,0 +9,2 1982<br />
3.1) Konsum und Mieten +0,3 +0,4 1984<br />
+3,0 +8,2 +8,8 1983<br />
+3,9 +5,5 +5,8 +6,0 1982<br />
3.2) Wohnungseigentümer 0,0 0,0 1984<br />
+ Besserverdienende -0,5 -0,4 -1,0 1983<br />
-0,3 -0,3 -0,2 -0,7 1982<br />
4.) Unternehmer -1,3 -2,4 1984<br />
-0,2 -1,8 -1,3 1983<br />
-2,5 -0,2 -3,3 -1,9 1982<br />
I.13.1.2 Arbeitslosigkeit und Arbeitszeitverkürzung<br />
E<strong>in</strong> für die aktuelle F<strong>in</strong>anzlage <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> beson<strong>der</strong>s<br />
gravierendes Problem stellt die hohe Arbeitslosigkeit 195 dar.<br />
195 Arbeitsmarkt 1987:<br />
Beschäftigte Teilzeitkräfte Arbeitslose Quote offene Stellen Kurzarbeit<br />
21.372.000 2.159.700 2.228.788 8,9 % 170.690 277.967<br />
Leistungsempfänger: Alg.+Alhi. <strong>in</strong>sgesamt 1.411.060 = 63,31 %<br />
Alg. 834.167 = 37,48 %<br />
Alhi. 576.893 = 25,88 %<br />
an<strong>der</strong>e (Reha,Übg) 188.380 ABM 113.893<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
e+6<br />
e+6 Arbeitslose<br />
e+0<br />
Arbeitslose und Arbeitsmarkt 1980 - 1988<br />
ALG.a.Z.<br />
ALHI.a.Z.<br />
UHG.+ÜBG.a.Z.<br />
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988<br />
Sie führt bei den RV-Trägern zu erheblichen E<strong>in</strong>nahmenausfällen vor<br />
allem deshalb weil <strong>der</strong> Gesetzgeber die Beitragszahlungen <strong>der</strong> BA seit 1983<br />
drastisch herabgesetzt hat. Ohne diese vorrangig unter<br />
Bundeshaushaltspolitischen Interessen getroffene Maßnahme hätte es nicht<br />
<strong>der</strong> Beitragssatzerhöhungen von 1983 und 1985 bedurft. Bis Mitte 1978<br />
galten Zeiten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> RV als Ausfallzeiten, für die<br />
Beiträge nicht entrichtet wurden. Um die Konjunkturabhängigkeit <strong>der</strong> RV<br />
zu mil<strong>der</strong>n und das Risiko <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit versicherungssystematisch<br />
richtig auf die Arbeitslosenversicherung zu konzentrieren 196 , wurde die BA<br />
mit Wirkung <strong>zum</strong> 1.7.1978 verpflichtet, für die Bezieher von Alg, Alhi und<br />
Uhg Beiträge an die RV abzuführen. Bemessungsgrundlage für diese<br />
Beiträge war das frühere Bruttoarbeitsentgelt <strong>der</strong> Arbeitslosen, nach dem<br />
sich die Leistungen <strong>der</strong> BA berechneten. Zeiten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit galten<br />
seitdem <strong>in</strong> <strong>der</strong> RV als echte Pflichtbeitragszeiten, es sei den, Leistungen aus<br />
<strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung wurden wegen Nichterfüllung <strong>der</strong><br />
Anspruchsvoraussetzungen nicht bezogen und deshalb Beiträge von <strong>der</strong> BA<br />
nicht entrichtet. In diesem Fall wurde die Zeit <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />
weiterh<strong>in</strong> als Ausfallzeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> RV berücksichtigt.<br />
Mit dem HBeglG 83 ist diese Regelung <strong>zum</strong> Nachteil <strong>der</strong> RV abgeän<strong>der</strong>t<br />
worden. Als Bemessungsgrundlage für die Beiträge <strong>der</strong> BA gilt seit Anfang<br />
1983 nicht mehr das frühere Bruttoarbeitsentgelt <strong>der</strong> Arbeitslosen, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Betrag <strong>der</strong> Leistung den sie erhalten. Somit berechnen sich die Beiträge<br />
<strong>der</strong> BA heute nur noch nach durchschnittlich 44% des früheren<br />
Bruttoarbeitsentgelts <strong>der</strong> Arbeitslosen 197 . Da aber Zeiten <strong>der</strong><br />
Arbeitslosigkeit wie<strong>der</strong> generell zu Ausfallzeiten erklärt wurden, werden<br />
nach wie vor Rentenansprüche nach <strong>der</strong> Höhe des Bruttoarbeitsentgelts<br />
erworben. Das die so entstandene neue Rechtsfigur <strong>der</strong> mit Beiträgen<br />
belegten Ausfallzeit, d.h. die Bewertung e<strong>in</strong>er Beitragszeit als beitragslose<br />
196 W.Schmähl, Anpassung <strong>der</strong> sozialen Sicherung an verän<strong>der</strong>te ökonomische,<br />
arbeitsmartpolitische und demographische Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong>: Zeitschrift für die gesamte<br />
Versicherungswissenschaft, 1-2 / 1984, 78;<br />
197 Kolb, Zur F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> gRV bei Rezession und Unterbeschäftigung, <strong>in</strong>: DRV 2-3/<br />
1983, 85;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Zeit, versicherungssystematisch und auch verfassungsrechtlich bedenklich<br />
ersche<strong>in</strong>t, wun<strong>der</strong>t schon nicht mehr 198 .<br />
Für die RV hatte und hat diese Neuregelung e<strong>in</strong>schneidende f<strong>in</strong>anzielle<br />
Folgen. Sie erhielt 1983 von <strong>der</strong> BA um 4,1 Mrd.DM weniger<br />
Beitragszahlungen als es nach altem Recht gewesen währe 199 . Wegen <strong>der</strong><br />
Leistungskürzungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung durch das HBeglG 84<br />
und des - bei nahezu gleicher Arbeitsosenzahl höheren Anteils <strong>der</strong> Bezieher<br />
<strong>der</strong> niedrigeren Alhi - dürfte <strong>der</strong> Beitragsausfall 1984 sogar rund 5 Mrd. DM<br />
betragen haben 200 . Damit ist die E<strong>in</strong>nahmenentwicklung <strong>der</strong> RV wie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
bedeutenden Umfang von den Verän<strong>der</strong>ungen auf dem Arbeitsmarkt<br />
abhängig geworden.<br />
Für die RV ist dieser Zustand um so unhaltbarer, als ihr Reserven <strong>zum</strong><br />
Ausgleich von negativen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr<br />
zur Verfügung stehen. Selbst relativ ger<strong>in</strong>gfügige Verschlechterungen <strong>der</strong><br />
Beschäftigungslage o<strong>der</strong> bloße Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeitslosenstruktur - <strong>in</strong><br />
Richtung auf mehr Langzeitarbeitslose, was weniger Alg- und mehr Alhi-<br />
Empfänger sowie Nichtleistungsberechtigte 201 bedeutet - br<strong>in</strong>gen die RV<br />
heute sofort an den Rand <strong>der</strong> Illiquidität. Angesichts <strong>der</strong> schwer<br />
voraussehbaren Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt ist den RV Trägern<br />
e<strong>in</strong>e verlässliche Kalkulation ihrer Beitragse<strong>in</strong>nahmen nicht mehr möglich.<br />
So ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass neben den RV-Trägern, alle großen<br />
gesellschaftlichen Gruppen und die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong><br />
Sozialwissenschaftler vom Gesetzgeber for<strong>der</strong>n, er möge die BA wie<strong>der</strong> zur<br />
vollen Beitragszahlung an die RV verpflichten 202 . " Gerade die<br />
<strong>Rentenversicherung</strong> muss gegen das Arbeitsmarktrisiko abgeschirmt<br />
werden, weil sie langfristig berechenbar se<strong>in</strong> muss und weil sie bei hoher<br />
Arbeitslosigkeit durch vorzeitige Altersrenten, zu EU-Renten umdef<strong>in</strong>ierte<br />
BU-Renten und die vermehrte Inanspruchnahme vorgezogener Altersrenten<br />
ohneh<strong>in</strong> zusätzlich belastet wird 203 . Es sollte e<strong>in</strong> "Grundpr<strong>in</strong>zip für die<br />
Gestaltung <strong>der</strong> Sozialversicherung. se<strong>in</strong>, das Arbeitlosigkeitsrisiko auf die<br />
198 für viele: P.Krause, Beitragszahlung für Ausfallzeiten - Ausfallzeiten nur Kraft<br />
Beitragszahlung, <strong>in</strong>: DRV 9/1984, 520;<br />
199 Geyer/Genzke, Mittelfristige Entwicklung <strong>der</strong> gRV, <strong>in</strong>: DAngVers 3/1984, 108;<br />
200 W.Doetsch, Zur aktuellen F<strong>in</strong>anz- und Liquidationssituation <strong>der</strong> gRV, <strong>in</strong> VDR-<br />
Information 1984 Nr.9, 10;<br />
201 Denen Alhi nicht gewährt wird weil sie die Bedürftigkeitsprüfung nicht bestehen.<br />
202 Resolution des Vorstandes und <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>versammlung des VDR, F<strong>in</strong>anzengpässe<br />
dauerhaft beseitigen, VDR-Information 1984 Nr.9, 3; Presseerklärung <strong>der</strong><br />
Bundesvere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Deutschen Arbeitgeberverbände, Arbeitgeber gegen höhere<br />
Belastungen <strong>der</strong> Beitragszahler, PDA-Pressedienst <strong>der</strong> Der Deutschen<br />
Arbeitgeberverbände, 1985 Nr.7,1; Gutachten des Sozialbeirats <strong>zum</strong> RAB 1984, 95;<br />
203 D.Schäffer, Anpassung des Systems <strong>der</strong> sozialen Sicherheit an Rezession und<br />
Unterbeschäftigung, <strong>in</strong>: SF 6/1983, 127; Ch.Helberger, Die Krisenanfälligkeit <strong>der</strong><br />
Sozialversicherung und Möglichkeiten zu ihrer Überw<strong>in</strong>dung, Ref.v.d. Vere<strong>in</strong> für<br />
Sozialpolitik, September 1984;<br />
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92
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Arbeitslosenversicherung als <strong>der</strong> hierfür zuständigen Institution zu<br />
konzentrieren 204 ".<br />
Ureigenste Aufgabe <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung ist es, die Folgen<br />
wirtschaftlicher Krisensituationen aufzufangen o<strong>der</strong> wenigstens soweit wie<br />
möglich ab<strong>zum</strong>il<strong>der</strong>n. Dafür ist sie geschaffen worden, darauf s<strong>in</strong>d ihre<br />
Rücklagenvorschriften (§ 220 AFG) abgestellt, und deshalb haftet <strong>der</strong> Bund<br />
für auftretende Defizite (§ 187 AFG iVm. Art.120 GG). Die Kosten <strong>der</strong><br />
Arbeitslosigkeit <strong>in</strong> größtmöglichem Umfang <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung -<br />
und über die Defizithaftung des Bundes bei Massenarbeitslosigkeit auch<br />
dem Bundeshaushalt - aufzuerlegen, "ist sozial-, f<strong>in</strong>anz- und konjunkturpolitisch<br />
legitim und geboten;" 205 .<br />
Bislang weigert sich die Bundesregierung allerd<strong>in</strong>gs, die Kürzung <strong>der</strong> RV-<br />
Beiträge für Arbeitslose wie<strong>der</strong> rückgängig zu machen. Dah<strong>in</strong>ter stehen<br />
haushaltspolitische Gründe. Nach außen wird e<strong>in</strong>e ordnungspolitische<br />
Begründung versucht: Die f<strong>in</strong>anziellen Beziehungen <strong>der</strong> SV-Träger<br />
untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> sollten an e<strong>in</strong>heitlichen Kriterien ausgerichtet se<strong>in</strong>. Alle<br />
Transfer, die Lohnersatzfunktion haben, sollten deshalb " <strong>in</strong> allen<br />
Sozialversicherungsbereichen als Orientierungsmaßstab" gelten, "nach dem<br />
Leistungen an<strong>der</strong>er Versicherungen bemessen werden 206 .<br />
Die Bundesregierung musste jedoch bald e<strong>in</strong>sehen dass sich diese<br />
Regelung nicht verwirklichen lässt. Die Konsequenz wäre gewesen, auch<br />
die Beiträge <strong>der</strong> BA an die Krankenkassen nicht mehr an dem früheren<br />
Bruttoarbeitsentgelt, son<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Höhe se<strong>in</strong>er Arbeitslosenleistung zu<br />
berechnen. Wegen <strong>der</strong> regional sehr unterschiedlichen Arbeitslosigkeit<br />
hätte dies jedoch zu schwerwiegenden strukturellen Verwerfungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
GKV geführt: Die Beitragssätze zwischen den Kassen mit e<strong>in</strong>em hohen und<br />
denen mit e<strong>in</strong>em niedrigeren Arbeitslosenanteil wären extrem<br />
ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gegangen, so dass die Glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anziell autonome<br />
Krankenkassen, das fundamentale Ordnungspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> KV, <strong>in</strong><br />
existenzielle Gefahr geraten wäre. Dies konnte und wollte die<br />
Bundesregierung nicht verantworten, so ist es für die KV-Beiträge <strong>der</strong> BA<br />
bei <strong>der</strong> alten Berechnungsweise geblieben 207 . Um die Arbeitslosigkeit nicht<br />
204 Helberger, aaO,30; H.J.Krupp, Bestandsaufnahme und Perspektiven <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzierung<br />
des Sozialversicherungssystems, <strong>in</strong> Wirtschaftsdienst 2/1985,68 “Es spricht vieles dafür,<br />
alle an<strong>der</strong>en Teile des sozialen Sicherungssystems von den f<strong>in</strong>anziellen Folgen <strong>der</strong><br />
Arbeitslosigkeit zu entlasten und diese zentral bei <strong>der</strong> Arbeitslosenversicherung<br />
anzusiedeln”.<br />
205 D.Schäffer, aaO,128<br />
206 N.Blümm, Konzentration auf das Wichtigste, Wirtschaftsdienst, 11/1982, 533;<br />
207 Wie unauglich das Verfahren ist, die Höhe <strong>der</strong> Transferzahlung generell <strong>zum</strong> Maßstab<br />
<strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Beziehungen zwischen den SV-Trägern zu machen, zeigt auch <strong>der</strong><br />
mißglückte Versuch die Abweichung bei den KV-Beiträgen mit dem Versicherungspr<strong>in</strong>zip<br />
zu rechtfertigen; Dazu D.Schäffer, aao, 130 “Begründet hat Blüms M<strong>in</strong>isterium dieses<br />
Verfahren damitdas sich die Krankenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosen nicht an<br />
<strong>der</strong> von diesen bezogenen Lohnersatzleistungen orientieren könnten, weil sie dem<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
stärker auf die Alters- und H<strong>in</strong>terbliebenenversicherung durchschlagen zu<br />
lassen, muss auch die RV wie<strong>der</strong> bruttolohnbezogene Beiträge für<br />
Arbeitslose erhalten; das ist aus sozialen Gründen unumgänglich 208 .<br />
I.13.1.3 Die demographische Entwicklung<br />
Zur Veranschaulichung <strong>der</strong> Altersstrukturverän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> deutschen<br />
Bevölkerung wird meist auf die Entwicklung des sogenannten<br />
Altersquotienten, <strong>der</strong> zahlenmäßigen Relation zwischen alten Menschen<br />
(ab 60) und den Personen im erwerbsfähigen Alter (20 <strong>bis</strong> unter 60)<br />
h<strong>in</strong>gewiesen. 1985 kamen auf 100 Erwerbsfähige nicht ganz 36 alte<br />
Personen. Bis 1990 verbessert sich diese Relation ger<strong>in</strong>gfügig auf 100:35,<br />
um sich anschließend rapide zu verschlechtern. Aufgrund des<br />
Geburtenrückgangs, <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre e<strong>in</strong>setzte - die<br />
Nettoreproduktionsrate g<strong>in</strong>g von 1,18 im Jahre 1964 auf nur noch 0,65 im<br />
Jahre 1979 zurück und pendelt seitdem um dieses Niveau -, wird die Zahl<br />
<strong>der</strong> erwerbsfähigen Personen ab 1990 kont<strong>in</strong>uierlich zurückgehen.<br />
Verstärkt zunehmen wird dagegen ab 1994 die Bevölkerung im<br />
Rentneralter. Infolgedessen steigt <strong>der</strong> Altersquotient bereits <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Jahre<br />
2000 auf knapp 41% er erhöht sich <strong>in</strong> den Jahren 2030 - 2035. Mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten: 100 Erwerbsfähigen stehen dann rund 70 Alten gegenüber 209 .<br />
Das wahre Ausmaß <strong>der</strong> bevorstehenden demographischen Belastung <strong>der</strong><br />
RV lässt aber die Entwicklung des Altersquotienten noch nicht erkennen.<br />
Ausschlaggebend für die Belastung <strong>der</strong> Rentenf<strong>in</strong>anzierung ist das<br />
Verhältnis <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Beitragszahler zur Anzahl <strong>der</strong> Rentner o<strong>der</strong> <strong>der</strong> zu<br />
zahlenden Renten. Diese beiden Relationen - <strong>der</strong> Rentnerquotient (RQ) -<br />
und <strong>der</strong> Rentenfallquotient (RFQ) - entwickeln sich noch ungünstiger als<br />
<strong>der</strong> Altersquotient. Sie liegen im Niveau höher, steigen bereits früher an<br />
und vergrößern den Abstand <strong>zum</strong> Altersquotienten ständig. Der<br />
Höhepunkt ihrer Entwicklung wird im Jahre 2035 erreicht: Der<br />
Rentnerquotient beträgt dann rund 100%, und <strong>der</strong> Rentenfallquotient<br />
beläuft sich sogar auf knapp 118%. Jedem Beitragszahler steht dann e<strong>in</strong><br />
Versicherungsrisiko entsprechen müßten und Arbeitslose nicht weniger krank als<br />
Arbeitsbesitzer seien. Muß man aus diesem Argument nicht schließen das Rentner<br />
weniger krank s<strong>in</strong>d als Abeitsbesitzer und Arbeitslose, da sie ja nur aus ihrer Rente<br />
Beiträge zu zahlen haben? Muß mann nicht ebenfalls schließen, daß Arbeitslose weniger<br />
<strong>in</strong>valide und weniger alt werden und weniger Witwen und H<strong>in</strong>terbliebene h<strong>in</strong>terlassen als<br />
Arbeitsbesitzer, da sie ja nur vom Arbeitslosengeld <strong>Rentenversicherung</strong>sbeiträge zu zahlen<br />
haben?”.<br />
208 Hier stellt sich die Frage, ob auch die vorzeitige Arbeitslosenaltersrente (58er-Reglung)<br />
zu den unumgänglichen Übertragungen des Arbeitsmarktrisikos auf die RV zu zählen ist.<br />
209 E.Lübeck, Die demographische Komponente bei <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong><br />
<strong>Rentenversicherung</strong>, <strong>in</strong>: DRV 2-3/1983, 141; Auf noch höhere Werte (über 44 % 2000 und<br />
74 % 2030) kommt M.Rorarius, Modellrechnung zu langfristigen Entwicklung <strong>der</strong><br />
Rentenbestände und Rentenausgaben <strong>der</strong> ArV und <strong>der</strong> AnV, <strong>in</strong>: DAngVers 7-8/1983, 268;<br />
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94
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Rentner gegenüber, o<strong>der</strong> je<strong>der</strong> Beitragszahler muss 1,2 Renten<br />
f<strong>in</strong>anzieren 210 .<br />
Jahr RQ RFQ<br />
1985 45,8 53,0<br />
1990 48,0 56,0<br />
1995 51,2 59,9<br />
2000 55,9 65,5<br />
2005 61,4 72,0<br />
2010 64,6 75,7<br />
2015 69,3 81,1<br />
2020 76,3 89,1<br />
2025 86,1 100,5<br />
2030 96,4 112,7<br />
2035 100,3 117,9<br />
2040 98,3 116,0<br />
Die Berechnungen basieren auf den gegenwärtigen Geburten- und<br />
Sterbenshäufigkeiten , die <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Ende des Referenzzeitraumes konstant<br />
gehalten wurden. E<strong>in</strong> Wie<strong>der</strong>anstieg <strong>der</strong> Geburtenzahl würde <strong>in</strong> den ersten<br />
zwanzig Vorausberechnungsjahren an <strong>der</strong> Entwicklung des RQ o<strong>der</strong> RFQ<br />
nichts än<strong>der</strong>n, erst danach würde sich e<strong>in</strong>e mehr o<strong>der</strong> weniger deutliche<br />
Abflachung des demographischen Belastungsanstiegs vollziehen.<br />
An<strong>der</strong>seits würden die Belastungsquotienten noch höhere Werte erreichen,<br />
wenn, bei Konstanz <strong>der</strong> gegenwärtigen Geburtenhäufigkeit, die<br />
Sterblichkeit abnähme.<br />
Die f<strong>in</strong>anziellen Konsequenzen <strong>der</strong> dargestellten demographischen<br />
Entwicklung für die RV liegen auf <strong>der</strong> Hand: Da sich die<br />
Belastungsquotienten von 1985 <strong>bis</strong> 2035 mehr als verdoppeln, müsste bei<br />
unverän<strong>der</strong>tem Rentenrecht auch <strong>der</strong> Beitragssatz auf das doppelte steigen<br />
um das gegenwärtige Rentenniveau zu erhalten. Würde <strong>der</strong> jetzige<br />
Beitragssatz jedoch auf den jetzigen Stand e<strong>in</strong>gefroren, dann müsste das<br />
Rentenniveau um mehr als die Hälfte gesenkt werden 211 .<br />
Nun ist diese Quantifizierung <strong>der</strong> möglichen Auswirkungen des<br />
demografischen Belastungsanstiegs das Ergebnis e<strong>in</strong>er stark vere<strong>in</strong>fachten<br />
Status-quo-Berechnung, bei <strong>der</strong> alternativ <strong>der</strong> Beitragssatz und das<br />
Rentenniveau mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> RQ und des RFQ fortgeschrieben<br />
werden und alle an<strong>der</strong>en Bestimmungsfaktoren <strong>der</strong> Rentenf<strong>in</strong>anzen, so vor<br />
allem die E<strong>in</strong>kommens- und Arbeitsmarktentwicklung, unberücksichtigt<br />
210 E.Lübeck, aaO, 141; und nach Rorarius, aaO,269 s<strong>in</strong>d beide Werte sogar um 1 % punkt<br />
höher;<br />
211 E.Lübeck, aaO, 144; Rorarius, aaO,265; W.Schmähl, Volkswirtschaftliche Aspekte <strong>der</strong><br />
F<strong>in</strong>anzierung und Gestaltung <strong>der</strong> dRV, <strong>in</strong>: Helten/Kaluza, Alterssicherung bei sich<br />
än<strong>der</strong>nden Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, Karlsruhe 1984, 58;<br />
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95
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
bleiben. Es handelt sich also nur um tendenzielle Extremwerte, die den<br />
Bereich abstecken, <strong>in</strong>nerhalb dessen e<strong>in</strong>e vertretbare Lösung gesucht und<br />
gefunden werden muss.<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
I.14 Die Rentenreform 1992<br />
I.14.1 I.14.1 Der Der Selbstregulierungsmechanismus<br />
Selbstregulierungsmechanismus<br />
Die wichtigste und grundsätzlichste Neuerung ist die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es<br />
Selbstregulierungsmechanismus von Bundeszuschuss, Beitragssatz und<br />
Rentenanpassung. Die Idee des automatischen Regelmechanismus wurde<br />
schon 1980 <strong>in</strong> <strong>der</strong> SPD entwickelt und <strong>in</strong> ihrem RRG 1985 212 am 12.12.1984<br />
<strong>in</strong> den Bundestag e<strong>in</strong>gebracht.<br />
Der Regelmechanismus soll folgen<strong>der</strong>maßen funktionieren: Da im<br />
geltenden Recht <strong>der</strong> Beitragssatz für die GRV relativ unabhängig von <strong>der</strong><br />
F<strong>in</strong>anzlage <strong>der</strong> RV festgelegt werden kann, kann sich e<strong>in</strong> stabiles<br />
Gleichgewicht zwischen E<strong>in</strong>nahmen und Ausgaben nur zufällig entwickeln,<br />
Überschüsse o<strong>der</strong> Defizite werden laufend, wie es die Vergangenheit zeigte,<br />
gesetzgeberische E<strong>in</strong>griffe provozieren. Um Belastungen <strong>der</strong><br />
Generationensolidarität zu vermeiden, sollen Beitragssatz und<br />
Rentendynamik mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gekoppelt werden. Dies geschieht mittels<br />
e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation aus "e<strong>in</strong>nameorientierter Ausgabenpolitik und<br />
ausgabenorientierter E<strong>in</strong>nahmegestaltung" 213 , wobei <strong>der</strong> Bundeszuschuss<br />
<strong>in</strong> diesen Mechanismus e<strong>in</strong>gebunden wird. Dieser Regelmechanismus dient<br />
nach dem Willen des Gesetzgebers <strong>der</strong> Gerechtigkeit, denn "damit werden<br />
Beitragssatz, Bundeszuschuss und Rentenanpassung selbstregulierend<br />
mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> so verbunden, dass nach e<strong>in</strong>em vorhersehbaren und gerechten<br />
System die Lasten von den Beteiligten geme<strong>in</strong>sam getragen werden 214<br />
"Dieser Mechanismus verteilt somit auch die Wirkungen von<br />
Verän<strong>der</strong>ungen aus <strong>der</strong> Umwelt auf die drei Beteiligten: durch die<br />
Beitragserhöhung auf die Aktiv Erwerbstätigen, durch die Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Bemessungsgrundlage auf die Rentenempfänger und über die<br />
Verän<strong>der</strong>ung des Bundeszuschusses wird <strong>der</strong> Staat ebenfalls <strong>in</strong> den Prozess<br />
<strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Stabilisierung e<strong>in</strong>bezogen.<br />
212 BT.-Drs.10, 2608;<br />
213 aaO,66;<br />
214 RRG 1992 = BT.-Drs. 11/4124, 139;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Arbeitsmarkt<br />
Lohnsumme<br />
Arbeitnehmer<br />
= BE<br />
wirtschaftliche Gefährdung<br />
demographische Gefährdung<br />
politische Gefährdung<br />
Bundeszuschuß<br />
Staat<br />
Beiträge<br />
Diagramm 1<br />
Belastungen<br />
Steuer<br />
SV-Abgaben<br />
= NQ<br />
Störungen<br />
demographische und<br />
ökonomische Verän<strong>der</strong>ungen<br />
Sollwert<br />
Ausgaben + M<strong>in</strong>destreserven<br />
R + KVdR + Reha + M<strong>in</strong>destreserve<br />
Regler = VO<br />
Stellgrößen<br />
Beitragssatz<br />
Aktive<br />
Renten<br />
Rentner = RQ<br />
KVdR/Steuern<br />
AB o<strong>der</strong> ARw<br />
Rentner<br />
Rentenniveau<br />
E<strong>in</strong>nahmen Ausgaben<br />
Regelgröße<br />
Stabilitätsgleichgewicht<br />
Wie man sieht ist <strong>der</strong> Beitragssatz die zentrale "Stellgröße". Deckt <strong>der</strong><br />
momentane Beitragssatz die laufenden Ausgaben nicht mehr ab, d.h.<br />
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D<br />
Y<br />
N<br />
A<br />
M<br />
I<br />
S<br />
I<br />
E<br />
R<br />
U<br />
N<br />
G<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
unterschreitet die Schwankungsreserve e<strong>in</strong>en bestimmten Wert, so wird<br />
<strong>der</strong> Beitragssatz neu berechnet. Der M<strong>in</strong>destwert, den die<br />
Schwankungsreserve nicht unterschreiten darf, ist e<strong>in</strong>e durchschnittliche<br />
Monatsausgabe des vergangenen Kalen<strong>der</strong>jahres.<br />
Dadurch wird gleichzeitig die allgeme<strong>in</strong>e Bemessungsgrundlage<br />
verr<strong>in</strong>gert und davon abgeleitet, die Anpassung <strong>der</strong> Bestandsrenten<br />
modifiziert. Ebenfalls parallel dazu wird <strong>der</strong> Bundeszuschuss verän<strong>der</strong>t, <strong>der</strong><br />
über den Beitragssatz und die Entwicklung <strong>der</strong> Durchschnittsentgelte<br />
prozentual an laufende Verän<strong>der</strong>ungen gekoppelt ist. Die durch diesen<br />
Regelmechanismus bewirkte Beitragsentlastung wird bei <strong>der</strong> Festsetzung<br />
des Beitragssatzes e<strong>in</strong>kalkuliert und geht <strong>in</strong> den entgültigen Wert <strong>der</strong><br />
Beitragssatzerhöhung e<strong>in</strong>, nachdem sich dann die Bemessungsgrundlage<br />
und <strong>der</strong> Bundeszuschuss geän<strong>der</strong>t haben.<br />
I.14.2 I.14.2 Die Die Neukodifikation<br />
Neukodifikation<br />
Die Neukodifikation führte zwangsläufig zu e<strong>in</strong>er weiteren Fülle von<br />
Detailän<strong>der</strong>ungen. Durch das RRG 1992 wurden Entscheidungen<br />
zugunsten des alten Rentensystems getroffen, die jedoch auch<br />
e<strong>in</strong>schneidende Än<strong>der</strong>ungen mit sich br<strong>in</strong>gen.<br />
I.14.2.1 Die Lohn- und Beitragsbezogenheit.<br />
Koalition und SPD haben sich <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit den<br />
Sozialpartnern und den Versicherungsträgern dafür entschieden, die<br />
Reform im bestehendem System durchzuführen. Es wird ke<strong>in</strong>e<br />
grundsätzliche Systemän<strong>der</strong>ung geben. So wurden <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
Vorschläge, e<strong>in</strong>e Grundrente statt o<strong>der</strong> als Sockel zur <strong>Rentenversicherung</strong><br />
e<strong>in</strong>zuführen abgelehnt 215 .<br />
Nach den Überlegungen des Gesetzgebers, wären selbst die re<strong>in</strong>en<br />
Grundrentenmodelle <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wegen <strong>der</strong> notwendigen<br />
Übergangsregelungen teurer geworden als die RV und damit wären sie<br />
auch den ungünstigen demographischen Verän<strong>der</strong>ungen stärker<br />
ausgesetzt. Sie hätten daher <strong>in</strong> den kritischen Zeiträumen - wenn<br />
überhaupt - jedenfalls ke<strong>in</strong>e sichere und so deutliche Entlastung gebracht,<br />
dass e<strong>in</strong>e grundsätzliche Systemumstellung zu rechtfertigen gewesen wäre.<br />
E<strong>in</strong>e solche Rechtfertigung wäre - nach Auffassung des Gesetzgebers -<br />
verfassungsrechtlich auch sehr schwer gefallen. Die im Umlageverfahren<br />
f<strong>in</strong>anzierte RV wird noch über Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg eigentumsgeschützte<br />
215 Dazu,u.a., Ruland, ZRP, 1987,354; Opielka/Vobruba, Das garantierte<br />
Grunde<strong>in</strong>komme, Frankfurt 1986; Th.Schmid, Befreiung von falscher Arbeit, 1.Auflg.<br />
Berl<strong>in</strong> 1984; 2. vollständig geän<strong>der</strong>te Ausgabe, Berl<strong>in</strong> 1986; Die Grünen im Bundestag,<br />
Grünes Modell e<strong>in</strong>er bedarfsorientierten Gundsicherung <strong>in</strong> allen Lebenslagen, Bonn 1986;<br />
Schwerpunktheft, WSI-Mitteilungen, 2/1987;<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Ansprüche erfüllen müssen. Die re<strong>in</strong>en Grundrentenmodelle würden e<strong>in</strong>e<br />
Generation enteignen, entwe<strong>der</strong> die, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit Beiträge<br />
gezahlt hat und dafür ke<strong>in</strong>e Gegenleistung bekommt, o<strong>der</strong> die, die jetzt und<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft diese Ansprüche erfüllen muss, aber selbst später nur auf<br />
die e<strong>in</strong>heitliche Grundrente verwiesen wird. Grundrentenmodelle<br />
prämieren im übrigen, weil sie den Zusammenhang zwischen Leistung und<br />
Vorleistung aufgebe, die, die aus welchen Gründen auch immer, auf den<br />
Aufbau e<strong>in</strong>er eigenen sozialen Sicherung verzichtet haben.<br />
Ebenfalls aus verfassungsrechtlichen aber auch aus<br />
wirtschaftspolitischen Gründen wurde e<strong>in</strong>e Umbasierung des<br />
Arbeitgeberbeitrages 216 (Masch<strong>in</strong>enbeitrag, Wertschöpfungsbeitrag)<br />
abgelehnt.<br />
Das Ziel <strong>der</strong> RV ist nach wie vor aufgrund e<strong>in</strong>er Lohn- und<br />
Beitragsbezogenen Rente, den Lebensstandart zu sichern.<br />
I.14.2.2 Gleichgewichtige Entwicklung von Nettoentgelten und Rente.<br />
Das Nettorentenniveau für Versicherte mit 45 VJ liegt <strong>der</strong>zeit bei knapp<br />
72%. Infolge <strong>der</strong> Entlastungen <strong>der</strong> Aktiven durch die Steuerreform 1990<br />
wird das Niveau auf etwa 70% abs<strong>in</strong>ken 217 .<br />
Ziel <strong>der</strong> Rentenreform ist es, dieses Nettorentenniveau zu stabilisieren.<br />
Daher wird von <strong>der</strong> Brutto- zur Nettoanpassung übergegangen. Die<br />
Anpassung entsprechend <strong>der</strong> Entwicklung hat, weil sie die ansteigenden<br />
Belastungen bei den Aktiven unberücksichtigt ließ, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit zu<br />
e<strong>in</strong>er gewünschten und notwendigen Anhebung des Nettorentenniveaus<br />
beigetragen, obwohl <strong>der</strong> Gesetzgeber immer wie<strong>der</strong> den Anpassungsmodus<br />
verän<strong>der</strong>te. Der bereits im geltenden Recht enthaltene, aber nur beim<br />
KVdR-Beitrag <strong>der</strong> Rentner realisierte "Grundsatz e<strong>in</strong>er gleichgewichtigen<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Renten und <strong>der</strong> verfgbaren Arbeitsentgelte" (§ 1272 II<br />
RVO) soll nun voll verwirklicht werden. Grundgröße für die jährliche<br />
Anpassung bleibt nach wie vor die Entwicklung <strong>der</strong> Bruttoarbeitsentgelte.<br />
Steigt die Abgabenbelastung <strong>der</strong> Aktiven, weil z.B. die SV-Beiträge o<strong>der</strong> die<br />
direkten Steuern angehoben worden s<strong>in</strong>d, führt dies zu e<strong>in</strong>er m<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
216 vgl. Masch<strong>in</strong>ensteuer - Ausweg aus <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzkrise <strong>der</strong> Sozialversicherung, München<br />
1984;<br />
217 Rentenhöhe(1988) Versicherter<br />
Durchschnitt<br />
Witwen Waisen<br />
ArbeiterVers. ArbeiterVers. 893,20 765,50 257,20 638,63 DM<br />
Anzahl 5.976.000 2.690.000 263.000<br />
AngVers. AngVers.<br />
1.283,90 1.065,50 283,70 877,70 DM<br />
Anzahl 3.451.000 1.256.000 138.000<br />
Knappschaft Knappschaft 2.029,48 1.242,82 324,11 1.198,80 DM<br />
Anzahl 363.000 312.000 15.000<br />
Renten unter 1.000 DM = 5.068.903<br />
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Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
des Anpassungssatzes. Er erhöht sich an<strong>der</strong>seits, wenn die Rentner - z.B.<br />
durch e<strong>in</strong>en höheren KVdR-Beitrag - stärker Belastet werden. Die neue<br />
Formel stabilisiert so das Nettorentenniveau 218 .<br />
I.14.2.3 I. 16. 2. 3 Stärkung des Versicherungspr<strong>in</strong>zips.<br />
Die <strong>Rentenversicherung</strong> bleibt nicht nur lohn- und beitragsbezogen. Das<br />
ihr zugrundeliegende Versicherungspr<strong>in</strong>zip wird noch verstärkt. So sollen<br />
<strong>bis</strong>- lang beitragsfreie Zeiten (Arbeitslosigkeit, Krankheit) für die von<br />
an<strong>der</strong>en Sozial-leistungsträgern E<strong>in</strong>kommensersatzleistungen gezahlt<br />
werden (wie<strong>der</strong>) <strong>in</strong> Beitragszeiten umgewandelt und nach e<strong>in</strong>er<br />
Übergangszeit Beitrag und Leistung auf <strong>der</strong> Basis von 80% des für die<br />
E<strong>in</strong>kommensersatzleistung maßgeblichen Arbeitsentgelts bemessen<br />
werden. Soweit e<strong>in</strong>e solche Umwandlung <strong>in</strong> Beitragszeiten nicht möglich<br />
ist, wird die Bewertung beitragsfreier und -gem<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Zeiten stärker an<br />
die <strong>in</strong>dividuelle Beitragsleistung des e<strong>in</strong>zelnen Versicherten gekoppelt<br />
(Beitragsdichtemodell). Die beitragsfreie Berücksichtigung von<br />
Ausbildungszeiten wird zudem <strong>der</strong> Höhe (75%) und <strong>der</strong> Dauer (max. 7<br />
Jahre) nach e<strong>in</strong>geschränkt.<br />
Nach geltenden Recht können Versicherte ihre Altersrente vorzeitig <strong>in</strong><br />
Anspruch nehmen, ohne das sich die längere Bezugsdauer rentenm<strong>in</strong><strong>der</strong>nd<br />
ausgewirkt hätte. Dieser Vorteil zu Lasten <strong>der</strong> Solidargeme<strong>in</strong>schaft 219 soll<br />
ab 2001 durch "Zugangsfaktoren" ausgeglichen werden. Wird die Rente vor<br />
<strong>der</strong> für sie maßgeblichen Altersgrenze <strong>in</strong> Anspruch genommen, m<strong>in</strong><strong>der</strong>t sie<br />
sich um 0,3% je Monat. Wird <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Rente über das 65. Lebensjahr<br />
h<strong>in</strong>aus verschoben, erhöht sie sich je Monat um 0,5%.<br />
Mit dem Versicherungspr<strong>in</strong>zip nicht im E<strong>in</strong>klang standen deshalb nach<br />
Ansicht des Gesetzgebers, auch abgelehnte Vorschläge, e<strong>in</strong>en nach<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>zahl gestaffelten Beitrag e<strong>in</strong>zuführen 220 . Sie hätten system- und<br />
gleichheitswidrig alle<strong>in</strong> die Beitragszahler zur F<strong>in</strong>anzierung staatlicher<br />
Familienpolitik herangezogen. Ähnliche Probleme waren mit dem<br />
Vorschlag verknüpft, niedrige Renten auf das Sozialhilfeniveau<br />
anzuheben 221 . Die Grenzen zwischen Sozialhilfe und Sozialversicherung<br />
wären zudem verwischt und die Sozialhilfe als M<strong>in</strong>destsicherungssystem<br />
diskreditiert worden (?). Im übrigen hätte die Gefahr bestanden, diese<br />
Leistung <strong>in</strong>s EG-Ausland exportieren zu müssen.<br />
I.14.2.4 Heraufsetzung <strong>der</strong> Altersgrenzen.<br />
218 zur neuen Formel ausführlich, Müller, DRV 1987, 649;<br />
219 Heubeck, BB 1989, 710; Kaltenbach, DAngVers 1984, 380;<br />
220 Die verschiedenen Vorschläge zur Staffelung nach <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>zahl, siehe <strong>in</strong>:<br />
Hilzenbacher, SF 1985, 281;<br />
221 F<strong>in</strong>k, DAngVers 1987, 441;<br />
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101
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Regelaltersgrenze soll wie<strong>der</strong> die Vollendung des 65.Lebensjahres se<strong>in</strong>.<br />
Diese Grundsatzentscheidung ist und war politisch am umstrittensten 222 .<br />
Dabei g<strong>in</strong>g es mehr um die Modalitäten, wie dieses Ziel zu erreichen ist, als<br />
um se<strong>in</strong>e Notwendigkeit selbst. Nach dem Diskussions- und<br />
Referentenentwurf sollte mit dem Heraufsetzen <strong>der</strong> Altersgrenzen bereits<br />
1995 begonnen werden. Der Konsens hat den Beg<strong>in</strong>nzeitpunkt um 6 Jahre<br />
auf 2001 verschoben und <strong>in</strong> den ersten Jahren danach das Tempo <strong>der</strong><br />
Anhebung verlangsamt. Bei <strong>der</strong> Altersgrenze 60 wird <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong><br />
Anhebung im Dezember 2017 und bei <strong>der</strong> Altersgrenze 63 im Dezember<br />
2006 beendet se<strong>in</strong>. Unberührt davon bleibt die Altersgrenze 60 ab <strong>der</strong><br />
Schwerbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te, BU und EU-Rentner Altersrente beanspruchen können.<br />
Die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um die Anhebung <strong>der</strong> Altersgrenzen<br />
entzündete sich vor allem an <strong>der</strong> Frage, ob sie angesichts <strong>der</strong> dann zu<br />
erwartenden Arbeitslosigkeit verantwortet werden kann. Der Gesetzgeber<br />
muss <strong>in</strong> dem jährlichen <strong>Rentenversicherung</strong>sbericht ab 1997 auch zu dieser<br />
Frage Stellung nehmen. Es ist - <strong>zum</strong>al <strong>bis</strong> 2001 noch drei Bundestagswahlen<br />
s<strong>in</strong>d - offen, ob es bei <strong>der</strong> Regelung tatsächlich bleiben wird. Ihre<br />
Bedeutung liegt <strong>der</strong>zeit vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutlichen Feststellung des<br />
Gesetzgebers, dass e<strong>in</strong>e Anhebung <strong>der</strong> Altersgrenzen möglich ist und daher<br />
auf e<strong>in</strong>en Fortbestand <strong>der</strong> jetzigen Regelung nicht vertraut werden darf.<br />
Die Altersgrenzen bleiben flexibel. Die Versicherten können ihre Rente<br />
<strong>bis</strong> zu 3 Jahren vor <strong>der</strong> für sie maßgeblichen Altersgrenze beanspruchen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs müssen sie die längere Rentenlaufzeit mit<br />
versicherungsmathematischen Abschlägen <strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong><br />
"Zugangsfaktoren" bezahlen, je Monat 0,3%. Bei 3 Jahren vorzeitigen<br />
Rentenbezug kostet sie das dann 10,8 % ihrer Rente (Lebenslang).<br />
Umgekehrt steigern sie ihren Anspruch um 0,5% je Monat,wenn sie den<br />
Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Altersrente über das 65. Lebensjahr h<strong>in</strong>aus aufschieben, d.h. bei<br />
3 Jahren um 18% (Lebenslang).<br />
Die Möglichkeiten <strong>der</strong> Versicherten, den Übergang vom Erwerbsleben <strong>in</strong><br />
die Rente flexibel zu gestalten, werden durch die neu e<strong>in</strong>geführte Teilrente<br />
erweitert. Man kann den Arbeitse<strong>in</strong>satz um 1/2, 2/3, 1/3 reduzieren und -<br />
wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt s<strong>in</strong>d - se<strong>in</strong>e Rente <strong>in</strong> Höhe von<br />
1/2, 2/3, 1/3 beziehen.<br />
I.14.2.5 Zielsetzungen für den sozialen Ausgleich.<br />
Deutlichere Zielsetzung hat <strong>der</strong> soziale Ausgleich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> RV<br />
erfahren. Begünstigt s<strong>in</strong>d vor allem Personen, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erziehen. Für<br />
Geburten ab 1992 werden die K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungszeiten um zwei auf drei<br />
Jahre verlängert. Von <strong>der</strong> Aufstockung auf die "Rente nach<br />
M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen" werden nach geltendem Recht nur<br />
222 DGB, <strong>in</strong>: Siziale Sicherheit 1989,66; Gelhausen-Steffen, Das Rentenpaket ´92,<br />
Schriftenreihe <strong>der</strong> AK-Bremen 1989, 50;<br />
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102
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Pflichtbeitragszeiten <strong>bis</strong> Ende 1972 erfasst. Das neue Recht erweitert <strong>bis</strong><br />
Ende 1991. Die Voraussetzungen für diese "Vergünstigung" werden generell<br />
erschwert - 35 statt <strong>bis</strong>her 25 VJ - jedoch für Personen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erziehen,<br />
erleichtert. Je K<strong>in</strong>d werden maximal 10 K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungsjahre<br />
berücksichtigt. Dies stellt nach vorangegangener heftiger Diskussion sicher,<br />
dass die stärkere Anb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Bewertung beitragsfreier- und -<br />
gem<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Zeiten an die <strong>in</strong>dividuelle Versicherungsleistung nicht die<br />
Personen benachteiligt die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erziehen o<strong>der</strong> für<br />
Schwerpflegebedürftige sorgen. Die rentenrechtliche Absicherung von<br />
ehrenamtlich Pflegenden wird weiter dadurch verbessert, dass von ihnen<br />
gezahlte freiwillige Beiträge wie Pflichtbeiträge zu behandeln s<strong>in</strong>d. Damit<br />
werden z.B. die Anrechnung beitragsloser Zeiten und die Inanspruchnahme<br />
von Renten wegen verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Erwerbsfähigkeit möglich. Früh<strong>in</strong>valide<br />
sollen <strong>in</strong> den Genuss e<strong>in</strong>er Verlängerten Zurechnungszeit kommen.<br />
I.14.2.6 Die stärkere Beteiligung des Bundes - die "Selbstregulierung<br />
zwischen Beitragssatz und Anpassung".<br />
E<strong>in</strong>e Grundfor<strong>der</strong>ung an die Rentenreform 1992 war es, zu e<strong>in</strong>er<br />
angemessenen Beteiligung des Bundes an die F<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> RV zu<br />
kommen 223 . Bei dem Bundeszuschuss handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>e<br />
Subvention des Bundes zugunsten <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong>. Ihr s<strong>in</strong>d<br />
zahlreiche Fremdlasten aufgebürdet (z.B. Rente nach M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen,<br />
Ersatzzeiten, Fremdrenten,etc;), die - obwohl es sich um Leistungen im<br />
Interesse <strong>der</strong> staatlichen Gesamtheit handelt - alle<strong>in</strong> von den<br />
Beitragszahlern f<strong>in</strong>anziert werden 224 . Sie machen auch nach neutralen<br />
Untersuchungen etwa 25% <strong>bis</strong> 30% <strong>der</strong> gesamten Rentenausgabe aus 225 .<br />
Demgegenüber beträgt <strong>der</strong> Bundeszuschuss 1989 nur 17,3% <strong>der</strong><br />
Rentenausgaben.<br />
I.14.2.7 Der Bundeszuschuss<br />
Der Bundeszuschuss ist auf die Rentenausgabe bezogen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Vergangenheit stetig zurückgegangen. Grund dafür war se<strong>in</strong>e Anb<strong>in</strong>dung<br />
lediglich an die Entgeldentwicklung. Die Steigerung <strong>der</strong> Rentenausgaben<br />
<strong>in</strong>folge <strong>der</strong> ständig größer werdenden Zahl <strong>der</strong> Rentner und <strong>der</strong><br />
Verbesserung des Rentenrechts blieb bei <strong>der</strong> Bemessung des Bundesanteils<br />
unberücksichtigt.<br />
Mit <strong>der</strong> Rentenreform 1992 wird e<strong>in</strong>e Teillösung erreicht. Der<br />
Bundesanteil wird 1990 um 0,3 und 1991 um 2,3 Mrd. DM im Vergleich<br />
223 Gutachten des Sozialbeirats über e<strong>in</strong>e Strukturreform zur längerfristigen f<strong>in</strong>anziellen<br />
Konsolidierung und zur systematischen Fortentwicklung <strong>der</strong> gRV im Rahmen <strong>der</strong><br />
gesamten Alterssicherung, BT.-Drs.10/5332,12;<br />
224 Ruhland, Wirtschaftsdienst, 1987,607;<br />
225 GA-TEK, Transfer System <strong>der</strong> BRD, 1981, 248; Mackscheidt/Böttger/Gretschmann,<br />
F<strong>in</strong>Arch 1981, 400;<br />
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103
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
<strong>zum</strong> geltenden Recht erhöht. Ab 1992 wird er entsprechend <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> Bruttoarbeitentgelte und des Beitragssatzes angepasst.<br />
Damit wird aber lediglich erreicht, dass er nicht weiter abs<strong>in</strong>kt. Es bleibt<br />
bei <strong>der</strong> Subventionierung des Bundes durch die RV. Begünstigt werden<br />
dadurch all diejenigen, die - wie Beamte o<strong>der</strong> Selbständige - nicht<br />
beitragspflichtig s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> die E<strong>in</strong>kommen beziehen, die oberhalb <strong>der</strong><br />
Beitragsbemessungsgrenze liegen.<br />
Der Bundeszuschuss soll 1992 darüber h<strong>in</strong>aus um voraussichtlich 4,9<br />
Mrd. DM aufgestockt werden. Dafür gehen die Kosten für die Anrechnung<br />
von K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungszeiten und für die K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungsleistungen, die<br />
<strong>der</strong> Bund <strong>bis</strong>lang exakt erstattet hat, <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>anzverantwortung <strong>der</strong> RV<br />
über. E<strong>in</strong>e nennenswerte Ent- o<strong>der</strong> Belastung ist mit dieser Regelung (noch)<br />
nicht verbunden, selbst wenn die Rentenbegründenden und -steigernde<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehungszeit auf drei Jahre verlängert wird. Die Gefahr für die<br />
Solidargeme<strong>in</strong>schaft liegt jedoch dar<strong>in</strong>, dass entwe<strong>der</strong> diese Zeiten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Kreis <strong>der</strong> Begünstigten später ausgeweitet werden, ohne dass <strong>der</strong><br />
Bundeszuschuss entsprechend erhöht wird, o<strong>der</strong> dass dieser - wie schon oft<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit - gekürzt wird und die Ausgaben dieser<br />
familienpolitischen Leistung dennoch voll bei <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong><br />
bleibt.<br />
Der Gesetzgeber versucht, zwischen den f<strong>in</strong>anziellen<br />
Grundentscheidungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> RV über Beitrags- und Anpassungssatz e<strong>in</strong>en<br />
sich selbst regulierenden (Siehe oben Diagramm 1, mit Erläuterungen)<br />
Automatismus e<strong>in</strong>zuführen. Mit dieser "Entpolitisierung" soll zugleich das<br />
Vertrauen <strong>in</strong> die Versicherung gestärkt werden. Die Schwankungsreserve<br />
<strong>der</strong> RV wird auf <strong>der</strong> niedrigen Höhe von e<strong>in</strong>er Monatsausgabe<br />
festgeschrieben. Ist zur Jahresmitte abzusehen, dass <strong>zum</strong> Ende des<br />
Folgejahres diese Monatsausgabe über- o<strong>der</strong> unterschritten wird, werden<br />
die Höhe des Beitragssatzes - und wegen se<strong>in</strong>er Anb<strong>in</strong>dung - auch die des<br />
Bundesanteils so neu bemessen, dass die e<strong>in</strong>e Monatsausgabe <strong>zum</strong><br />
nächsten Jahresende wie<strong>der</strong> erreicht wird. Steigt <strong>der</strong> Beitragssatz, fällt über<br />
die neue Anpassungsformel <strong>der</strong> Anpassungssatz entsprechend niedriger<br />
aus. Ergeben sich unterjährige Liquiditätsprobleme, wird <strong>der</strong> Bund<br />
verpflichtet e<strong>in</strong> z<strong>in</strong>sloses Darlehn (Liquiditätshilfe) zur Verfügung zu<br />
stellen. Die für 1990 vorgesehene Absenkung des Beitragssatzes von 18,7<br />
auf 18,5% entfällt.<br />
I.14.2.8 Die E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung des Rentenrechts <strong>in</strong> das SGB.<br />
Der Gesetzgeber nutzt die Rentenreform zur E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung des<br />
Rentenrechts <strong>in</strong> das Sozialgesetzbuch als dessen VI. Buch. Damit wird das<br />
Rentenrecht auch gesetzgebungstechnisch zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit. Es gibt <strong>in</strong><br />
Zukunft ke<strong>in</strong>e unterschiedlichen Gesetze mehr für die ArV, AnV o<strong>der</strong> für<br />
die KnV. In das SGB VI werden auch - soweit noch von Bedeutung - die<br />
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104
Eckbert Ingenhuett, <strong>Wandlungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Rentenversicherung</strong> <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> RRG ´92<br />
Neuregelungsgesetze und das Handwerkerversicherungsgesetz mit<br />
aufgenommen. Von über 900 Vorschriften bleiben etwas mehr als 300<br />
übrig. Nicht mit e<strong>in</strong>gezogen werden jedoch Son<strong>der</strong>vorschriften wie z.B. das<br />
Fremdrentenrecht o<strong>der</strong> das Recht <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Sozialversicherung. Doch auch da gibt es Än<strong>der</strong>ungen.<br />
Das gesamte Rentenrecht ist neuformuliert und -systematisiert worden.<br />
Vorschriften über die Wartezeiten, die Anspruchsvoraussetzungen, die<br />
beitragsfreien Zeiten, Verfahrens- o<strong>der</strong> Kumulationsregelungen s<strong>in</strong>d<br />
zusammengefasst und besser strukturiert worden. Zahlreiche Begriffe<br />
wurden ausgetauscht.<br />
I.14.2.9 Die neue Rentenformel<br />
Hervorzuheben ist noch die neue Rentenformel 226 . Sie br<strong>in</strong>gt - sieht man<br />
von den "Zugangsfaktoren" ab, die Vor- o<strong>der</strong> Nachteil e<strong>in</strong>es vorzeitigen<br />
o<strong>der</strong> h<strong>in</strong>ausgeschobenen Rentenbeg<strong>in</strong>ns ausgleichen sollen - soweit <strong>bis</strong><br />
jetzt ersichtlich, aber ke<strong>in</strong>e materiellen Än<strong>der</strong>ungen. Ob jedoch durch sie<br />
die Rentenberechnung erleichtert wird, ist zweifelhaft, da die<br />
Neuregelungen - wie z.B. das Beitragsdichtemodell - die Ermittlung <strong>der</strong> für<br />
die Höhe <strong>der</strong> Rente maßgeblichen "Entgeltpunkte" (100 Werte<strong>in</strong>heiten nach<br />
altem Recht ergeben 1 Entgeltpunkt nach neuen Recht) sehr erschwert<br />
haben.<br />
226 Dazu Ausführlich, Ruhland, DRV 1989,375;<br />
<strong>Forum</strong>-Sozialhilfe - http://www.forum-sozialhilfe.de<br />
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