23.09.2013 Aufrufe

Kants Metaphysik und Religionsphilosophie

Kants Metaphysik und Religionsphilosophie

Kants Metaphysik und Religionsphilosophie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Norbert Fischer (Hg.)<br />

<strong>Kants</strong> <strong>Metaphysik</strong> <strong>und</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong>


KANT-FORSCHUNGEN<br />

– Band 15 –<br />

FELIX MEINER VERLAG<br />

HAMBURG


NORBERT FISCHER (Hg.)<br />

<strong>Kants</strong> <strong>Metaphysik</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong><br />

FELIX MEINER VERLAG<br />

HAMBURG


Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über ‹ http://dnb.ddb.de › abrufbar.<br />

© Felix Meiner Verlag 2004. Alle Rechte vorbehalten.<br />

Dies betrifft auch die Vervielfältigung <strong>und</strong> Übertragung<br />

einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung <strong>und</strong><br />

Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten <strong>und</strong><br />

andere Medien, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten.<br />

Satz: Jens-Sören Mann. Druck: Strauss, Mörlenbach.<br />

Buchbinderische Verarbeitung: Litges & Dopf, Heppenheim.<br />

Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp.<br />

DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff.<br />

Printed in Germany.


Inhalt<br />

Vorwort .................................................................................................... XIII<br />

Einleitung des Herausgebers. Die Fragen nach <strong>Metaphysik</strong> <strong>und</strong><br />

Religion als Zentrum der kritischen Philosophie <strong>Kants</strong> ........................... XV<br />

besondere aspekte der metaphysik <strong>und</strong><br />

religionsphilosophie kants<br />

Zur theoretischen Philosophie<br />

Friedrich-Wilhelm von Herrmann<br />

Die »Kritik der reinen Vernunft« als Transzendental-<strong>Metaphysik</strong> ........ 1<br />

1. Die Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnistheorie oder als <strong>Metaphysik</strong> (1)<br />

2. Die Kritik der reinen Vernunft als eine Gr<strong>und</strong>legung der <strong>Metaphysik</strong> qua<br />

System (2) | 3. <strong>Metaphysik</strong> als der Name für das System <strong>und</strong> die Kritik (4)<br />

4. Die Kritik der reinen Vernunft als eine <strong>Metaphysik</strong> von der <strong>Metaphysik</strong> (7)<br />

5. Transzendentalphilosophie als kritische Ontologie (10) | 6. Die Kritik der reinen<br />

Vernunft als das dritte Stadium im Gang der Geschichte der <strong>Metaphysik</strong> (14)<br />

Paola-Ludovika Coriando<br />

Ich <strong>und</strong> Seele. Zu <strong>Kants</strong> »Paralogismen der reinen Vernunft« .............. 21<br />

1. Die Paralogismen der reinen Vernunft <strong>und</strong> ihre Stellung innerhalb der transzendentalen<br />

Dialektik (21) | 2. Von der Seele zum formalen Ich. <strong>Kants</strong> Destruktion<br />

der psychologia rationalis (27) | 3. Vom formalen zum offenen Ich. Die Unsterblichkeit<br />

der Seele als Postulat <strong>und</strong> das Unverhoffte im Wesen des Menschen (36)<br />

Wolfgang Ertl<br />

Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit: ein kosmologischer Schlüssel zum<br />

Verständnis von <strong>Kants</strong> Kompatibilismus ................................................ 43<br />

1. Vorüberlegungen (43) | 2. Das Konsequenzen-Argument für den Inkompatibilismus<br />

(46) | 3. Zwei Lesarten des Kantischen Kompatibilismus <strong>und</strong> ihre Probleme<br />

(50) | 4. Providentia universalis <strong>und</strong> Kompatibilismus (67)


VI Inhalt<br />

Robert Theis<br />

Zur Topik der Theologie im Projekt der<br />

Kantischen Vernunftkritik ....................................................................... 77<br />

1. <strong>Metaphysik</strong> unter dem Anspruch der Notwendigkeit des Fragens (78) | 2. Die<br />

Gewinnung der Perspektive des Unbedingten (82) | 3. Die dritte transzendentale<br />

Idee <strong>und</strong> das Ideal der reinen Vernunft (87) | 4. Die Vollendung des kritischen<br />

Geschäfts (96) | 5. Reflektierende Physikotheologie als Ergänzung der Naturforschung<br />

(99) | 6. Transzendentale Sinnstiftung <strong>und</strong> Gottesfrage (105)<br />

Zur praktischen Philosophie<br />

Norbert Fischer<br />

<strong>Kants</strong> <strong>Metaphysik</strong> der reinen praktischen Vernunft .............................. 111<br />

1. <strong>Kants</strong> Bemerkungen zum Titel der Kritik der praktischen Vernunft (115) | 2. Die<br />

Differenz des Vernunftgebrauchs in den beiden ersten kritischen Hauptwerken<br />

(118) | 3. Das »einzige Factum der reinen Vernunft« als Ursprung der praktischen<br />

<strong>Metaphysik</strong> (120) | 4. Die »Autonomie der Vernunft« <strong>und</strong> die Gegebenheit<br />

des moralischen Gesetzes (124) | 5. Die Unmöglichkeit der Rückkehr zu einer<br />

Ontologie des Übersinnlichen (127)<br />

Maximilian Forschner<br />

Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft.<br />

Transzendentale <strong>und</strong> praktische Freiheit ................................................ 131<br />

1. Freiheit als Ausgangs- <strong>und</strong> Schlußpunkt der kritischen Philosophie (131)<br />

2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit« (133) | 3. Freiheit als<br />

Spontaneität des Denkens (134) | 4. Transzendentale <strong>und</strong> praktische Freiheit (139)<br />

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Der Beweis transzendentaler Freiheit (152)<br />

Friedo Ricken SJ<br />

Die Postulate der reinen praktischen Vernunft ...................................... 161<br />

1. Postulate <strong>und</strong> reiner praktischer Vernunftglaube (163) | 2. Das Dasein Gottes<br />

(167) | 3. Die Unsterblichkeit der Seele (173) | 4. Reiner praktischer Vernunftglaube<br />

<strong>und</strong> theoretische Philosophie (175)


Inhalt VII<br />

Emmanuel Levinas<br />

Le primat de la raison pure pratique / Das Primat der reinen<br />

praktischen Vernunft. Eingeleitet, übersetzt <strong>und</strong> kommentiert<br />

von Jakub Sirovátka ................................................................................ 179<br />

i. einleitung (179) | ii. le primat de la raison pure pratique / das primat der<br />

reinen praktischen vernunft (191) | 1. Rien que Raison / Nichts als Vernunft<br />

(191) | 2. La raison théorétique ou spéculative / Die theoretische oder spekulative<br />

Vernunft (192) | 3. La Raison pure pratique / Die reine praktische Vernunft<br />

(194) | 4. Le primat de la raison pure pratique / Das Primat der reinen praktischen<br />

Vernunft (197) | 5. Le primat de la Raison pure pratique et la Religion / Das Primat<br />

der reinen praktischen Vernunft <strong>und</strong> die Religion (200) | iii. anmerkungen<br />

zum text (203)<br />

Zur <strong>Religionsphilosophie</strong><br />

Bernd Dörflinger<br />

Führt Moral unausbleiblich zur Religion?<br />

Überlegungen zu einer These <strong>Kants</strong> ....................................................... 207<br />

1. Moral <strong>und</strong> Zwecke (207) | 2. Notwendige Verbindung von Tugend <strong>und</strong> Glück<br />

(209) | 3. Gott als Element der Idee des höchsten Guts (214) | 4. Moral <strong>und</strong><br />

Glaube (217) | 5. Glaubensentscheidung (221)<br />

Giovanni B. Sala SJ<br />

Das Reich Gottes auf Erden. <strong>Kants</strong> Lehre von der Kirche als<br />

»ethischem gemeinen Wesen« ................................................................ 225<br />

1. Zur <strong>Religionsphilosophie</strong> <strong>Kants</strong> (225) | 2. <strong>Kants</strong> Denkweg zum »Reich Gottes<br />

auf Erden« (231)<br />

Costantino Esposito<br />

Kant: von der Ethik zur Religion (<strong>und</strong> zurück) ...................................... 265<br />

1. Vernunft <strong>und</strong> Religion: vom Konflikt zur Befriedung. Zum systematischen<br />

Stellenwert von »<strong>Kants</strong> Vorlesungen über die philosophische Religionslehre«<br />

(265) | 2. Kant im Durchgang durch die Schulmetaphysik <strong>und</strong> jenseits der Schulmetaphysik.<br />

Die kritische Aneignung der Transzendentaltheologie (270) | 3. Von<br />

der spekulativen Theologie zur Moraltheologie. Die notwendige Religion als<br />

Postulat der Moral (280) | 4. Der entscheidende Gegenbeweis: das Problem des<br />

Bösen (287)


VIII Inhalt<br />

übergreifende gr<strong>und</strong>fragen der<br />

kritischen philosophie kants<br />

Aloysius Winter<br />

Die ›Endabsicht‹ der <strong>Metaphysik</strong> vor ›allen ihren Zurüstungen‹ ........... 293<br />

1. Die Fragestellung (293) | 2. Die vorkritische Zeit (300) | 3. Die Kritik (312)<br />

4. Folgerungen (329)<br />

Clemens Schwaiger<br />

Denken des ›Übersinnlichen‹ bei Kant. Zu Herkunft <strong>und</strong> Verwendung<br />

einer Schlüsselkategorie seiner praktischen <strong>Metaphysik</strong> ........................ 331<br />

1. Einleitung: Zum Stand der Forschung (331) | 2. Übersinnliche Begriffe als Gegenstand<br />

der <strong>Metaphysik</strong> bei Johann August Eberhard (335) | 3. Die Suche nach<br />

Orientierung im Übersinnlichen angesichts der Desorientierung im Pantheismusstreit<br />

(338) | 4. Die kritische Selbstbeschränkung menschlicher Vernunft bezüglich<br />

übersinnlicher Gegenstände. <strong>Kants</strong> offene Kontroverse mit Eberhard (341)<br />

Reiner Wimmer<br />

Homo noumenon: <strong>Kants</strong> praktisch-moralische Anthropologie .............. 347<br />

1. Einleitung (347) | 2. <strong>Kants</strong> Konzeption einer praktisch-moralischen Anthropologie<br />

(349) | 3. Handlungsfreiheit (357) | 4. Willens- <strong>und</strong> Entscheidungsfreiheit<br />

(365) | 5. Das noumenale Reich der Zwecke oder das ethische Gemeinwesen<br />

(375) | 6. Schluß (389)<br />

Joachim Kopper<br />

Die Bedeutung der Methodenlehren ....................................................... 391<br />

1. Einführung in das Problem (391) | 2. Zum Verhältnis von Elementarlehre <strong>und</strong><br />

Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft (391) | 3. Zu den Methodenlehren<br />

der Kritik der praktischen Vernunft <strong>und</strong> der Kritik der Urtheilskraft (401)<br />

Norbert Fischer<br />

Die Zeit als Problem in der <strong>Metaphysik</strong> <strong>Kants</strong> ....................................... 409<br />

1. Das Zeitproblem in den höchsten Punkten der Transzendentalphilosophie<br />

(413) | 2. Zum Zeitbezug in <strong>Kants</strong> Frage: »Was kann ich wissen?« (416) | 3. Zum<br />

Zeitbezug in <strong>Kants</strong> Frage: »Was soll ich tun?« (420) | 4. Zum Zeitbezug in <strong>Kants</strong><br />

Frage: »Was darf ich hoffen?« (424) | 5. Zum zeitlichen Sinn von <strong>Kants</strong> Beantwortung<br />

der Frage: »Was ist der Mensch?« (427)


Inhalt IX<br />

zum schicksal der metaphysik kants in der<br />

unmittelbaren nachfolgephilosophie<br />

Edith Düsing<br />

Gott als Horizont oder Gr<strong>und</strong> des Ich?<br />

Von <strong>Kants</strong> praktischer <strong>Metaphysik</strong> zu Fichtes<br />

<strong>Metaphysik</strong> des Einen Seins .................................................................... 433<br />

1. Einleitung (433) | 2. <strong>Kants</strong> positive Theologie der praktischen Vernunft im Horizont<br />

der negativen Theologie (438) | 3. <strong>Kants</strong> Postulate im Spiegel von Fichtes<br />

Denkweg (464)<br />

Robert Jan Berg<br />

Das Verhältnis von Glauben <strong>und</strong> Wissen bei Kant <strong>und</strong> Hegel ............... 493<br />

1. Zwei systematische Ausgangsfragen: Religion – Wissenschaft – Philosophie<br />

(496) | 2. Kant: Der Weg zum Glauben durch das Wissen (498) | 3. Hegel: Die<br />

Aufhebung des Glaubens in Wissen (506)<br />

Rudolf Langthaler<br />

»Man wird von der Philosophie den wirklichen Gott fordern,<br />

nicht die bloße Idee Gottes«. Zur Kritik des späten Schelling<br />

an <strong>Kants</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong> ................................................................ 517<br />

1. Vorbemerkung: Zu leitenden Motiven der Kant-Kritik beim späten Schelling<br />

(517) | 2. <strong>Kants</strong> ›Aufhebung‹ der Wissensansprüche im Vorblick auf Schellings<br />

Kritik an der Kantischen <strong>Religionsphilosophie</strong> (521) | 3. Zu Schellings Kritik an<br />

<strong>Kants</strong> Postulatenlehre (529) | 4. Zu Schellings Kritik an dem von Kant geltend<br />

gemachten »Bedürfnis der fragenden Vernunft« (545) | 5. Schellings Verkennung<br />

wichtiger religionsphilosophischer Motive bei Kant (554)<br />

Margit Ruffing<br />

Muß ich wissen wollen? – Schopenhauers Kant-Kritik ......................... 561<br />

1. Zur Rezeptionsgeschichte der Kant-Kritik Schopenhauers (561) | 2. Schopenhauers<br />

Kant-Kritik in systematischer Hinsicht (567) | 3. Der Mensch als mitleidiges<br />

Vernunftwesen oder Vernunft als Erscheinung des Willens (573)


X Inhalt<br />

zur wirkung kants im<br />

nichtdeutschen sprachraum<br />

Jean Greisch<br />

»Freiheit im Lichte der Hoffnung«.<br />

Zu Paul Ricœurs Kantdeutung ................................................................ 583<br />

1. Die Reflexivität des Bewußtseins <strong>und</strong> die Selbstverständigung als Gr<strong>und</strong>aufgabe<br />

der Philosophie (Jean Nabert) (584) | 2. <strong>Kants</strong> Frage: »Was ist der Mensch?« <strong>und</strong><br />

die Aufgaben einer »<strong>Metaphysik</strong> des Daseins« (Martin Heidegger) (588) | 3. Endlichkeit<br />

oder Fehlbarkeit? Ricœurs Antwort auf <strong>Kants</strong> Frage: »Was ist der<br />

Mensch?« (592) | 4. Freiheit im Horizont der Hoffnung: ein neuer Zugang zu<br />

<strong>Kants</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong> (605)<br />

Mario Caimi<br />

<strong>Kants</strong> <strong>Metaphysik</strong> <strong>und</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong><br />

in spanischen Arbeiten ............................................................................ 609<br />

1. Einleitung (609) | 2. Das zu betrachtende Corpus (612) | 3. Darstellung einzelner<br />

Werke (615) | 4. Schlußbemerkungen (622) | 5. Übersicht über die Literatur<br />

zur Kantforschung in romanischen Ländern (Schwerpunkt auf Arbeiten in<br />

spanischer Sprache) (625)<br />

Peter Schulz<br />

Gibt es eine kopernikanische Wende im Begriff des<br />

›summum bonum‹? Zur Wirkung von <strong>Kants</strong><br />

praktischer <strong>Metaphysik</strong> im angelsächsischen Raum .............................. 631<br />

1. Einführung (631) | 2. Zum Begriff des ›summum bonum‹ bei Kant (635)<br />

3. Kant <strong>und</strong> die Aristotelische eu2daimoni1a (638) | 4. Selbstliebe <strong>und</strong> Egoismus (641)<br />

5. Authentische <strong>und</strong> nichtauthentische Selbstbezogenheit (647)<br />

Jakub Sirovátka<br />

Slavica sunt, non leguntur. Kant est, non legitur.<br />

Zur Wirkung von <strong>Kants</strong> <strong>Metaphysik</strong> <strong>und</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong><br />

in den slawischen Ländern ...................................................................... 651<br />

1. Einführung (651) | 2. Zur Rezeption <strong>Kants</strong> in den slawischen Ländern (653)<br />

3. Wladimir Solowjow als exemplarisches Beispiel einer ambivalenten Rezeption<br />

der <strong>Metaphysik</strong> <strong>und</strong> <strong>Religionsphilosophie</strong> <strong>Kants</strong> (656)


Inhalt XI<br />

Wolfgang Erb<br />

Kritische <strong>Religionsphilosophie</strong> <strong>und</strong> absolutes Nichts –<br />

Kant <strong>und</strong> die Kyō to-Schule ..................................................................... 663<br />

1. Kant, der Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden (663) | 2. Überwindung<br />

des moralischen Gottes (671) | 3. Intermezzo giapponese (678) | 4. Vergöttlichung<br />

des Nichts (683) | 5. Gott-Denken angesichts Nietzsches Kritik am<br />

›Monotono-Theismus‹ (689)<br />

Siglenverzeichnis ..................................................................................... 695<br />

Literaturverzeichnis ................................................................................ 697<br />

Personenregister ...................................................................................... 727


1. Vorüberlegungen<br />

Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit.<br />

Ein kosmologischer Schlüssel zu<br />

<strong>Kants</strong> Kompatibilismus<br />

von Wolfgang Ertl<br />

Die überragende Bedeutung, die den Bemühungen <strong>Kants</strong> für das Gesamtgefüge<br />

der kritischen Philosophie zukommt, im Rahmen der Auflösung der<br />

dritten Antinomie eine kompatibilistische Position zu etablieren, kontrastiert<br />

scharf mit der Bewertung ihres Erfolgs durch weite Teile der Kant-Forschung<br />

ebenso wie durch <strong>Kants</strong> Nachfolger auf dem Höhenkamm der Philosophiegeschichte.<br />

Trägt man die verschiedenen Stimmen zusammen, so ergibt sich ein<br />

vergleichsweise düsteres Bild, <strong>und</strong> es stellt sich einmal mehr die Frage, wie<br />

viele Fehler man einem großen Philosophen, zumal an einer derart exponierten<br />

Schlüsselstelle seines Œuvres, unterstellen will. <strong>Kants</strong> Versuch einer Versöhnung<br />

von Freiheit <strong>und</strong> Determinismus scheitere kläglich, hätte er doch, so<br />

wird hier gesagt, schlicht die Position der Antithese als die des transzendentalen<br />

Idealismus auszeichnen sollen, denn sie sei es, die durch die Vorgaben<br />

der zweiten Analogie gedeckt werde. Doch just im Argument für die zweite<br />

Analogie unterlaufe ihm allerdings ein kolossales non-sequitur, <strong>und</strong> zu allem<br />

Überfluß habe er sein terminologisches Korsett so eng geschnürt, daß unmoralische<br />

Handlungen, <strong>Kants</strong> eigenen Überzeugungen zum Trotz, gar nicht als<br />

freie klassifiziert werden können. 1 Im folgenden soll gezeigt werden, daß die<br />

Beantwortung der genannten Frage getrost zurückgestellt werden darf, denn<br />

nimmt man ein oftmals als Kuriosität abgetanes Faktum <strong>und</strong> seine Funktion<br />

1 Vgl. für die ersten beiden Punkte Strawson: The Bo<strong>und</strong>s of Sense. An Essay on<br />

Kant’s Critique of Pure Reason, 207 ff., 137 f.; der dritte Punkt wird unter dem Stichwort<br />

›Reinhold’s dilemma‹ in der Literatur diskutiert, z. B. bei Allison: Morality and Freedom:<br />

Kant’s Reciprocity Thesis, 295. Allison selbst hält <strong>Kants</strong> Terminologie in dieser Hinsicht<br />

allerdings sehr wohl für konsistent <strong>und</strong> das Dilemma von daher für behebbar.


44 Wolfgang Ertl<br />

für die Architektonik von <strong>Kants</strong> Argument für den Kompatibilismus ernst, so<br />

erscheint mindestens eine neuerliche Prüfung seiner Schlagkraft angezeigt,<br />

denn womöglich erweist es sich als genau der Meilenstein der Freiheitsphilosophie,<br />

den gesetzt zu haben man von Kant auch erwarten kann. Dies gilt<br />

in ähnlicher Form auch für die restlichen zwei der erhobenen Bedenken <strong>und</strong><br />

Verbesserungsvorschläge, die aus Platzgründen allerdings nicht mehr als gestreift<br />

werden können.<br />

Dieses Faktum ist die Engführung des Schöpfungs- <strong>und</strong> des Freiheitsproblems<br />

innerhalb der dritten Antinomie <strong>und</strong> ihrer Auflösung. 2 Es wird von<br />

Kant selbst in seiner Brisanz schon dadurch heruntergespielt, daß er ein<br />

praktisches Interesse auf der Seite des »Dogmatism der reinen Vernunft«<br />

(KrV A 466 / B 494) ausmacht <strong>und</strong> von daher zu insinuieren scheint, daß die<br />

Freiheit des Menschen mit der Existenz Gottes <strong>und</strong> seinen verschiedenen Aktivitäten<br />

in bezug auf die Welt quasi selbstverständlich vereinbar sei. Doch in<br />

Wirklichkeit handelt es sich hierbei spätestens seit der Marionettenmetapher<br />

im platonischen Spätdialog Nomoi (644 d) um ein Gr<strong>und</strong>problem der Philosophie,<br />

das das Ingenium etwa eines Augustinus, Boethius, Wilhelm von Ockham<br />

oder Luis de Molina auf eine harte Bewährungsprobe gestellt hat. 3<br />

Ich werde versuchen, diese Engführung in der Auseinandersetzung mit zwei<br />

früheren Vorschlägen zum Verständnis von <strong>Kants</strong> Kompatibilismus in ihrer<br />

Funktion in den Überlegungen <strong>Kants</strong> zu durchleuchten <strong>und</strong> zu zeigen, daß in<br />

dieser Kopplung in der Tat der Schlüssel für den Kantischen Kompatibilismus<br />

zu sehen ist. Diese früheren Beiträge, die generell als exemplarisch für zwei<br />

entgegengesetzte Ansätze im Umgang mit den Texten <strong>Kants</strong> gelten können,<br />

sind (i) der Versuch, <strong>Kants</strong> Position als die eines anomischen Monisten im<br />

Sinne Donald Davidsons zu rekonstruieren, <strong>und</strong> (ii) die gewissermaßen in die<br />

2 Heimsoeths <strong>und</strong> Schmuckers Kontroverse betrifft nicht die Frage, welche Funktion<br />

die Schöpfungsidee für den Kompatibilismus hat, sondern lediglich ob beide zusammen<br />

in der Auflösung der dritten Antinomie behandelt werden oder nicht. Heimsoeth geht<br />

allenfalls von einer Parallele zwischen der kritischen Schöpfungsidee <strong>und</strong> der kritischen<br />

Freiheitstheorie aus; vgl. Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu <strong>Kants</strong> Kritik der<br />

reinen Vernunft. Zweiter Teil, 334 –387; Schmucker: Das Weltproblem in <strong>Kants</strong> Kritik<br />

der reinen Vernunft. Kommentar <strong>und</strong> Strukturanalyse des ersten Buches <strong>und</strong> des ersten<br />

Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik, 332–340.<br />

3 Vgl. Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from<br />

Aristotle to Suarez; Zagzebski: The Dilemma of Freedom and Foreknowledge; Hasker:<br />

God, Time, Knowledge and Freedom: The Historical Matrix.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 45<br />

entgegengesetzte philosophiehistorische Richtung weisende Interpretation<br />

Allen W. Woods, die Kant hier im Kontext der Theorie der Ewigkeit sieht, wie<br />

sie von dem gerade genannten spätantiken Philosophen Boethius entwickelt<br />

wurde <strong>und</strong> die in der Tat bis weit in die Neuzeit hinein nachgewirkt hat.<br />

Wie gezeigt werden soll, sind beide Ansätze zwar nicht erfolgreich, sie zeigen<br />

aber den Weg für eine Interpretation auf, die die entscheidenden Hindernisse<br />

überwinden kann. Was (i) anbelangt, so soll erläutert werden, daß diese<br />

Rekonstruktion letztendlich <strong>Kants</strong> Konzept einer Kausalität aus Freiheit nicht<br />

gerecht werden kann, <strong>und</strong> in puncto (ii) scheint das gewünschte Ergebnis nur<br />

um den Preis einer ontologisch verstandenen Zwei-Welten-Lehre sowie, paradoxerweise,<br />

einer massiven Überdehnung des Begriffs der Verantwortung zu<br />

bekommen zu sein.<br />

Im einzelnen soll in diesem Beitrag wie folgt vorgegangen werden: Zunächst<br />

wird im zweiten Abschnitt das sogenannte ›Konsequenzenargument‹<br />

Peter van Inwagens diskutiert, das jede kompatibilistische Theorie zu unterminieren<br />

in der Lage sein muß. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem<br />

Stellenwert, der dem heftig umstrittenen Prinzip alternativer Möglichkeiten<br />

in diesem Argument zukommt. Van Inwagens Vorgaben liefern uns die entscheidenden<br />

Orientierungspunkte für die Suche nach den relevanten Theoriestücken<br />

in <strong>Kants</strong> Œuvre. Der erste Teil des dritten Abschnitts präsentiert<br />

Hudsons rationale Rekonstruktion <strong>Kants</strong> als anomischen Monisten, die er<br />

zudem mit David Lewis’ Ansatz eines ›altered law compatibilism‹ kombiniert.<br />

Wiewohl letztendlich nicht erfolgreich, so statten uns Hudsons Überlegungen<br />

zumindest mit einem leistungsfähigen Analysewerkzeug aus, paßt Lewis’<br />

Etikett doch im Gegensatz zu Davidsons genau auf die Überlegungen <strong>Kants</strong>.<br />

Erforderlich ist allerdings eine leistungsfähigere Begründung des Kernprinzips<br />

dieser Variante des Kompatibilismus. Auf der Suche nach einer solchen<br />

Begründung wird im zweiten Teil des dritten Abschnitts Woods Rekurs auf<br />

Boethius’ Überlegungen zur Ewigkeit diskutiert. Der vierte Abschnitt präsentiert<br />

schließlich die neue Interpretation, die die ›Ewigkeitslösung‹, wie sie<br />

mitunter in der Literatur zum Freiheitproblem genannt wird, als integralen<br />

Bestandteil des Kantischen ›altered-law‹-Kompatibilismus begreift. Zur Stützung<br />

dieser These wird auf Material aus <strong>Kants</strong> rationaltheologischen Kollegien,<br />

einer der wichtigsten Quellen für <strong>Kants</strong> Konzeption des Gottesbegriffs<br />

zurückgegriffen werden.<br />

Der im folgenden zu entwickelnde Ansatz modifiziert Woods Vorgaben<br />

dabei in zweifacher Hinsicht: Zum einen soll gezeigt werden, daß es sich


46 Wolfgang Ertl<br />

beim Träger dieser Eigenschaft nicht um das transzendentale Subjekt handelt,<br />

sondern, wie traditionellerweise üblich, um Gott. Zum anderen wird<br />

verdeutlicht, daß die ›Ewigkeitslösung‹ nur ein erster Schritt auf dem Weg<br />

zur Etablierung des Kantischen ›altered-law‹-Kompatibilismus sein kann, zu<br />

deren Komplettierung zwei weitere erforderlich sind: nämlich zum einen eine<br />

primär moralische Konzeption des m<strong>und</strong>us-optimus-Theorems, zum anderen<br />

die in die Lehre vom regulativen Vernunftgebrauch eingebettete These, wonach<br />

es für die Gesamtheit der speziellen Naturgesetze im Geist Gottes kein<br />

extra-mentales Pendant gebe. Bei alldem muß natürlich eingeräumt werden,<br />

daß es sich hierbei selbst um eine Art Rekonstruktion handelt, da Kant selbst<br />

die Elemente seiner Strategie nirgends explizit zusammenfügt. 4<br />

2. Das Konsequenzen-Argument für den Inkompatibilismus<br />

Kommen wir damit zum sogenannten ›Konsequenzen-Argument‹ Peter van<br />

Inwagens. 5 Vorauszuschicken ist dabei der Hinweis, daß im folgenden nicht<br />

etwa behauptet werden soll, daß es Kant in irgendeinem Sinn selbst verwendet<br />

habe; vielmehr stellt sich die Frage, ob Kant über die nötigen Mittel verfügt,<br />

diese in der Literatur nahezu einhellig als stärkste Waffe im Arsenal der<br />

Inkompatibilisten betrachtete Überlegung aushebeln zu können. Gr<strong>und</strong>legend<br />

für dieses Argument ist ein Prinzip, das eine zentrale Stellung in der Auseinandersetzung<br />

zwischen Kompatibilisten <strong>und</strong> Inkompatibilisten eingenommen<br />

hat, nämlich das von Harry Frankfurt sogenannte Prinzip alternativer<br />

Möglichkeiten (im folgenden abgekürzt durch ›PAM‹): »A person is morally<br />

responsible for what he has done only if he could have done otherwise.« 6<br />

Um dieses PAM ist im Anschluß an Frankfurts wegweisenden Artikel eine<br />

extensive <strong>und</strong> intensive Diskussion 7 entbrannt, die uns an dieser Stelle aller-<br />

4 Anstelle einer eigentlich vorgesehenen, detaillierten Übersicht über die dritte Antinomie,<br />

ihre Auflösung sowie deren jeweilige Kontexte <strong>und</strong> Parallelstellen verweise ich<br />

auf Allison: The Antinomy of Pure Reason, Section 9.<br />

5 Vgl. van Inwagen: An Essay on Free Will, 55–105.<br />

6 Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, 829. Ich werde aus<br />

Platzgründen nicht zwischen ›moralisch verantwortlich‹ <strong>und</strong> ›frei‹ unterscheiden, da<br />

Frankfurt selbst sich in seinen Überlegungen auf die Freiheit konzentriert, die er als<br />

notwendige Bedingung der Verantwortung bezeichnet.<br />

7 Vgl. John Martin Fischer: Frankfurt-type Examples and Semi-Compatibilism.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 47<br />

dings nicht weiter zu beunruhigen braucht. Für unsere Zwecke entscheidend<br />

ist dagegen die Frage, ob Kant von der Geltung dieses Prinzips ausgeht. Wie<br />

nun ein Blick auf das von Kant bemühte Beispiel der boshaften Lüge aus dem<br />

Auflösungsabschnitt der dritten Antinomie verdeutlicht, will Kant tatsächlich<br />

von der Geltung dieses Gr<strong>und</strong>satzes ausgehen; es ist allerdings zunächst einmal<br />

zu untersuchen, in welchem Umfang das PAM Kant zufolge gelten soll.<br />

Das Beispiel der boshaften Lüge (KrV A 555 / B 583) kann ja nur insofern als<br />

Beleg für <strong>Kants</strong> Festhalten am PAM gelten, als es unmoralische Handlungen<br />

anbelangt. Doch dies ist für unsere Zwecke schon ausreichend, sollen doch<br />

diese Art von Handlungen für Kant zweifellos als freie gelten, auch wenn in<br />

bezug auf sie das eingangs angesprochene terminologische Dilemma nicht<br />

auflösbar wäre. Ob nun Kant am PAM auch in bezug auf Handlungen festhalten<br />

möchte, die in die Rubrik ›moralisch‹ gehören, ist eine Frage, deren Beantwortung<br />

hier aus Platzgründen nicht in Angriff genommen werden kann.<br />

Hierzu bedürfte es einer genauen Untersuchung des Konzepts eines heiligen<br />

Willens, wobei etwa zu fragen wäre, ob für einen derartigen Willen unter<br />

denselben Antezendensbedingungen wenigstens verschiedene Handlungsoptionen<br />

im Exemplar-Sinn möglich sein müssen, die aber allesamt unter den<br />

Begriff ›moralisch‹ einzuordnen sind.<br />

Neben dem PAM ist der Begriff des Naturgesetzes integraler Bestandteil<br />

der Argumentation van Inwagens. Ohne eine explizite Definition anzubieten,<br />

formuliert er lediglich ein von ihm sogenanntes ›de-re-Prinzip‹ für Naturgesetze,<br />

das folgendermaßen lautet: »It is necessary that, for every person x<br />

and every proposition y, if y is a law of nature, then x cannot render y false«. 8<br />

Van Inwagen argumentiert deshalb expressis verbis mit physikalischen Naturgesetzen,<br />

was uns bei der Übertragung seiner Überlegungen auf die Kantische<br />

Argumentationsstrategie vor der Beantwortung der schwierigen Frage<br />

bewahrt, ob <strong>und</strong> inwiefern es für den Bereich der empirischen Psychologie<br />

spezielle Kausalgesetze gibt. Doch wenn es sie gibt, genügen sie sicher auch<br />

dem van Inwagenschen de-re-Prinzip, so daß die Argumentation entsprechend<br />

gilt.<br />

Nach diesen Vorüberlegungen können wir uns nun dem Konsequenzen-<br />

Argument selbst zuwenden: Van Inwagen unterscheidet eine Gr<strong>und</strong>formulierung<br />

<strong>und</strong> drei verschiedene Feindarstellungen des Arguments, die jeweils ein<br />

Strukturmoment besonders hervorzuheben in der Lage sind. Die Gr<strong>und</strong>for-<br />

8 Van Inwagen: An Essay on free Will, 63.


48 Wolfgang Ertl<br />

mulierung lautet: »If determinism is true, then our acts are the consequences<br />

of the laws of nature and events in the remote past. But it is not up to us<br />

what went on before we were born, and neither is it up to us what the laws of<br />

nature are. Therefore, the consequences of these things (including our present<br />

acts) are not up to us.« 9 Von den drei detaillierteren Darstellungen wähle ich<br />

diejenige aus, die bereits mehrfach im Kontext der Kantischen Überlegungen<br />

diskutiert wurde. 10 Wie wir gesehen haben, operiert van Inwagen mit<br />

physikalischen Gesetzen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage er zu einer Definition von<br />

›Determinismus‹ gelangt, die wiederum aus zwei Teilsätzen besteht: (i) Für<br />

jeden Zeitpunkt gibt es eine Proposition, die den Zustand der Welt zu diesem<br />

Zeitpunkt beschreibt. (ii) Wenn P <strong>und</strong> Q Propositionen sind, die den Zustand<br />

der Welt zu verschiedenen Zeiten beschreiben, so folgt P aus der Konjunktion<br />

von Q <strong>und</strong> L, <strong>und</strong> dies im Sinne der materialen Implikation, wobei L selbst<br />

die Konjunktion aller aktual gültigen (physikalischen) Naturgesetze ist. Da<br />

der ›Determinismus‹ es van Inwagen zufolge primär mit Aussagen <strong>und</strong> deren<br />

logischen Beziehungen zu tun hat, muß das PAM ebenfalls auf die Ebene der<br />

Propositionen transformiert werden, um in das Argument für den Inkompatibilismus<br />

einzugehen. Van Inwagen verwendet zu diesem Zweck das Konzept<br />

des »rendering a proposition false«, also des ›eine (wahre) Aussage in eine<br />

falsche Verwandelns‹. Dies, genauer eine Person »s can render (t) false«<br />

wiederum versteht van Inwagen folgendermaßen: »It is within s’s power to<br />

arrange or modify the concrete objects that constitute his environment in<br />

some way such that it is not possible in the broadly logical sense that he<br />

arrange or modify those objects in that way and the past have been exactly as<br />

it in fact was and (t) be true«. 11 Als letzter Vorbemerkung bedarf es schließlich<br />

noch des Hinweises, daß van Inwagens Argument mit einem exemplarischen<br />

Fall arbeitet, der sich entsprechend verallgemeinern läßt, nämlich mit<br />

den Annahmen, daß mit der Proposition P auch eine Tatsache in bezug auf<br />

eine Person J erfaßt werde, nämlich das Nicht-Heben ihres Armes, <strong>und</strong> daß<br />

sich die Proposition Q auf einen Zeitpunkt beziehe, der vor der Geburt dieser<br />

Person liegt. Somit können wir die Schritte im einzelnen darstellen:<br />

9 Ebd. 56.<br />

10 Ebd. 68 –78.<br />

11 Ebd. 68.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 49<br />

(i) Wenn der Determinismus wahr ist, so folgt P aus der Konjunktion von<br />

Q <strong>und</strong> L.<br />

(ii) Es ist nicht möglich, daß J zum Zeitpunkt p die Hand gehoben hat <strong>und</strong><br />

P wahr ist.<br />

(iii) Wenn (ii) wahr ist <strong>und</strong> J die Hand zum Zeitpunkt p heben konnte, dann<br />

konnte er P in eine falsche Aussage verwandeln.<br />

(iv) Wenn J die Aussage P in eine falsche Aussage verwandeln konnte, dann<br />

konnte er auch die Konjunktion L <strong>und</strong> Q in eine falsche Aussage verwandeln,<br />

da L <strong>und</strong> Q die Aussage P material impliziert.<br />

(v) Wenn J die Konjunktion L <strong>und</strong> Q in eine falsche Aussage verwandeln<br />

konnte, dann konnte er L in eine falsche Aussage verwandeln.<br />

(vi) J konnte L nicht in eine falsche Aussage verwandeln.<br />

(vii) Wenn die Determinismusthese wahr ist, konnte J zum Zeitpunkt p seinen<br />

Arm nicht heben.<br />

(i) bis (iii) scheinen unproblematisch zu sein; in bezug auf (iv) kann man den<br />

›Verstandesschluß‹ der Kontraposition beziehungsweise den ›Vernunftschluß‹<br />

des modus tollens zu Hilfe nehmen, wobei allerdings noch die Verknüpfung<br />

zwischen der Ebene der Propositionen <strong>und</strong> die der Sachverhalte herzustellen<br />

ist, was auf folgende Weise geschehen kann: Alles was im breiten logischen<br />

Sinn hinreichend für die Falschheit des Sukzedens ist, ist im selben Sinne<br />

hinreichend für die Falschheit des Antezedens. (vi) operiert mit dem oben angesprochenden<br />

de-re-Prinzip für Naturgesetze, so daß die Frage übrig bleibt,<br />

wie in (v) die Aussage Q eliminiert werden kann. Dies ist nach van Inwagens<br />

Ansicht deshalb der Fall, weil es sich bei (v) um eine Instantiierung des allgemeinen<br />

Prinzips handle, wonach gilt: »If q is a true proposition that concerns<br />

only states of affairs that obtained before s’s birth, and if s can render the<br />

conjunction of q and r false, then s can render r false.« 12<br />

Van Inwagens Argument ist vom Streit zwischen den Inkompatibilisten<br />

<strong>und</strong> Kompatibilisten selbstverständlich nicht verschont geblieben; es ist dennoch<br />

das prominenteste <strong>und</strong> am ausführlichsten diskutierte. Die Anhänger<br />

Frankfurts unter den Kompatibilisten glauben auf das PAM ganz verzichten<br />

zu können <strong>und</strong> brechen dem Konsequenzenargument dadurch von vornherein<br />

die Spitze; andere, wie etwa Lewis, dessen Position weiter unten detailliert<br />

behandelt wird, wollen zwar am PAM festhalten, es allerdings weitaus schwä-<br />

12 Ebd. 72.


50 Wolfgang Ertl<br />

cher lesen als die Inkompatibilisten <strong>und</strong> so die Gr<strong>und</strong>lage der entscheidenden<br />

Argumentationsschritte untergraben. Wie weiter unten deutlich werden wird,<br />

hängt diese Strategie wiederum auf das engste mit dem genauen Verständnis<br />

des van Inwagenschen de-re-Prinzips zusammen: Van Inwagen interpretiert<br />

seine Formulierung aus der Gr<strong>und</strong>version, wonach es nicht ›up to us‹ sei, was<br />

die Naturgesetze seien, eo ipso als Unvermögen, die aktual gültigen Naturgesetze<br />

zu brechen. Daß dies nicht die einzig mögliche Lesart ist, wird sich<br />

als entscheidend erweisen. Innerhalb der genannten Koordinaten wird sich<br />

zudem auch die Bewertung der Lesarten des Kantischen Kompatibilismus zu<br />

positionieren haben. Die Komplikation besteht dabei darin, daß Kant das PAM<br />

im starken Sinn der Inkompatibilisten zu verstehen scheint, dabei aber ganz<br />

offensichtlich zugleich eine kompatibilistische Position einnehmen will.<br />

3. Zwei Lesarten des Kantischen Kompatibilismus <strong>und</strong> ihre Probleme<br />

a) Anomischer Monismus avant la lettre<br />

Ich beginne mit einer Lesart, die sich dezidiert nicht als Interpretation oder<br />

historische Rekonstruktion, sondern als rationale Rekonstruktion versteht,<br />

nämlich mit dem Versuch Hud Hudsons, <strong>Kants</strong> Position als eine Art Vorwegnahme<br />

von Donald Davidsons anomischem Monismus sehen zu wollen. 13<br />

Davidson entwickelt seinen Ansatz 14 selbst in der Auseinandersetzung mit<br />

Kantischen Positionen, ohne allerdings selbst eine Identifikation zu insinuieren:<br />

»But the broader issue can remain alive even for someone who believes a<br />

correct analysis of free action reveals no conflict with determinism. Autonomy<br />

(freedom, self-rule) may or may not clash with determinism; anomaly (failure<br />

to fall <strong>und</strong>er a law) is, it would seem, another matter. […] And of course the<br />

connection is closer, since Kant believed freedom entails anomaly.« 15<br />

Er geht aus von drei Thesen, die gleichermaßen plausibel, dennoch aber<br />

eine inkonsistente Menge von Aussagen zu ergeben scheinen. Dies ist einmal<br />

13 Vgl. Hudson: Kant’s Compatibilism; Hudson: Kant’s Third Antinomy and anomalous<br />

monism, 234–267. Weitaus detailliertere Auseinandersetzungen mit Hudsons<br />

These finden sich in Ertl: Hud Hudson. Kant’s Compatibilism; Ertl: Davidson or Kant on<br />

Freedom and Determinism: Transcendental Idealism as Anomalous Monism?<br />

14 Vgl. Davidson: Mental Events.<br />

15 Ebd. 207.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 51<br />

das Prinzip der Interaktion, zweitens das nomologische Prinzip der Kausalität<br />

<strong>und</strong> drittens das Prinzip der Anomalie des Geistigen. Das Prinzip der<br />

Interaktion besagt, daß einige geistige Ereignisse in kausaler Wechselwirkung<br />

mit physischen Ereignissen stehen. Das nomologische Prinzip der Kausalität<br />

besagt, daß eine kausale Beziehung, als deren Relata nur Ereignisindividuen<br />

in Frage kommen, die sich raum-zeitlich lokalisieren lassen, von einem ›covering<br />

law‹ abgedeckt sein muß, das strikt deterministisch ist. Das Prinzip der<br />

Anomalie des Geistigen schließlich besagt, daß es keine Gesetze gibt, auf deren<br />

Gr<strong>und</strong>lage sich geistige Ereignisse vorhersagen oder erklären lassen.<br />

Was die Begründungen der einzelnen Prinzipien anbelangt, so interessiert<br />

uns primär natürlich die Argumentation zugunsten des Prinzips der Anomalie<br />

des Geistigen. Zunächst fällt auf, daß Davidson für die These argumentiert,<br />

wonach es keinerlei Brückengesetze zwischen dem Geistigen <strong>und</strong> dem Physischen<br />

geben könne, eine These, die allerdings unter vernünftigen Annahmen<br />

das besagte Prinzip impliziere. Was diese vernünftigen Annahmen sind, läßt<br />

Davidson offen; es ist allerdings davon auszugehen, daß aufgr<strong>und</strong> des Prinzips<br />

der Interaktion zumindest manche geistige Ereignisse mittels physikalischer<br />

Ereignisse erklärbar sein müßten. Wie versucht Davidson nun, die Unmöglichkeit<br />

solcher Brückenprinzipien zu etablieren? Er tut dies, indem er zu<br />

zeigen versucht, daß mentalistisches <strong>und</strong> physikalistisches Vokabular quasi<br />

nicht zueinander ›passen‹, wie es Beckermann plastisch formuliert. 16 Und sie<br />

passen laut Davidson deshalb nicht zueinander, weil sich die ceteris-paribus-<br />

Klauseln, die schon dafür erforderlich sind, um die durchaus vorhandenen,<br />

nicht-strikten gesetzesartigen Aussagen über Korrelationen von Geistigem<br />

<strong>und</strong> Physischen zu formulieren, nicht homonom, d. h. in einem einheitlichen<br />

Vokabular, präzisieren lassen. Und dies liege wiederum daran, daß sich Aussagen<br />

mit geistigen Prädikaten aufgr<strong>und</strong> der Prinzipien der Rationalität in<br />

bezug auf Revidierbarkeit ganz anders verhalten als Aussagen, die in physikalischem<br />

Vokabular formuliert sind.<br />

Der Ausweg, den Davidson wählt, um den Schein des Widerspruchs zwischen<br />

seinen Ausgangsthesen zu beseitigen, ist eine Identitätstheorie, eine<br />

Identitätstheorie, die sich allerdings wesentlich von ihren Vorgängertheorien<br />

unterscheidet. Semantische Physikalisten vom Schlage der logischen Behaviouristen<br />

etwa, vertraten die Ansicht, daß mentale Prädikate synonym mit<br />

physikalischen Prädikaten seien. Andere Identitätstheoretiker glaubten zwar<br />

16 Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 193.


52 Wolfgang Ertl<br />

nicht an diese Synonymie, meinten aber doch, mentale Phänomene ließen<br />

sich auf dieselbe Weise gesetzesartig mit physischen Phänomenen identifizieren,<br />

wie etwa Temperatur als mittlere kinetische Energie von Molekülen<br />

bestimmt werden könne beziehungsweise gar nichts anderes sei als diese. Die<br />

genannten Identitätstheorien sind von daher allesamt sogenannte Typenidentitätstheorien.<br />

Mentale Phänomene eines bestimmten Typs M sind identisch<br />

mit physikalischen Phänomenen eines Typs P, also z. B. Schmerz, genauer<br />

jedes einzelne Schmerzphänomen, identisch mit einem physikalischen Ereignis<br />

des Typs P, in unserem Fall dem Feuern der C-Fasern im Gehirn. Dieser<br />

Schachzug steht Davidson aufgr<strong>und</strong> des Anomalie-Prinzips nicht offen. Für<br />

ihn sind ja mentale Ereignisse weder definitorisch noch nomologisch auf<br />

physikalische reduzierbar. Seine Version der Identitätstheorie ist deshalb die<br />

einer sogenannten Exemplaridentität, d. h. jedes individuelle Exemplar eines<br />

geistigen Ereignisses ist mit einem Exemplar eines physikalischen Ereignisses<br />

identisch, aber es lassen sich gerade keine Typen-Korrelationen herstellen,<br />

ein Ansatz, der zweifellos mit Erkenntnissen der Neurophysiologie korrespondiert,<br />

die von so etwas wie Multirealisierbarkeit ausgehen.<br />

Davidsons Strategie zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs verdeutlicht<br />

zugleich die Attraktivität der Idee, diese Position mit der Kantischen zu<br />

identifizieren. Extensional aufgefaßte, d. h. unabhängig von ihrer jeweiligen<br />

Beschreibung betrachtete, als solche raum-zeitlich lokalisierbare Ereignisexemplare<br />

sind die Relata der Kausalbeziehung. Die große Stärke dieses<br />

Ansatzes besteht darin, eine plausible Theorie anzubieten, wie geistige Ereignisse<br />

kausal wirksam sein können. Damit scheinen eine Reihe von andernfalls<br />

hochproblematisch erscheinenden Thesen <strong>Kants</strong> erheblich an Plausibilität zu<br />

gewinnen. Es sind dies im einzelnen die folgenden Behauptungen <strong>Kants</strong>, die<br />

Hudson so zusammenfaßt: (i) Auf der einen Seite gehe Kant von der Unabhängigkeit<br />

des Menschen von pathologischer Nezessitation aus, auf der<br />

anderen Seite aber auch von der kausalen Determination aller Handlungen.<br />

(ii) Auf der einen Seite behaupte Kant, daß bei Handlungen – der Kausalität<br />

nach – absolute Anfänge von Kausalreihen vorlägen, die aus den Bedingungen<br />

der Zeitbestimmung herausfielen, auf der anderen Seite behaupte er<br />

aber auch, daß alle Handlungen in einen lückenlosen Kausalzusammenhang<br />

eingepaßt seien. (iii) Während Kant auf der einen Seite die These vertrete,<br />

daß Handlungen aus nicht erkennbaren <strong>und</strong> nicht verstehbaren Gründen entsprängen,<br />

gehe er auf der anderen Seite allerdings auch von der Erklärbarkeit<br />

<strong>und</strong> Prognostizierbarkeit einer Handlung als Naturereignis aus. Hudsons


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 53<br />

Strategie besteht nun klarerweise darin, die linke Seite der genannten Gegenüberstellung<br />

der Beschreibung des Ereignisindividuums in mentalistischem<br />

Vokabular zuzuordnen, die rechte Seite dagegen seiner Beschreibung in physikalistischem<br />

Vokabular. Generell weist die Idee der zweifachen, nicht-reduzierbaren<br />

Beschreibbarkeit bei Exemplaridentität natürlich Ähnlichkeit mit<br />

der sogenannten Zwei-Aspekte-Deutung des transzendentalen Idealismus<br />

überhaupt auf, wobei allerdings nicht gesagt sein soll, daß die Dinge an sich<br />

per se geistiger Natur sein sollen. 17<br />

Aber wie ist es um die Möglichkeit eines PAM-Kompatibilismus bestellt?<br />

Hudson ist der Ansicht, der anomische Monismus, <strong>und</strong> damit nach seinem<br />

Verständnis auch der Ansatz <strong>Kants</strong>, lasse sich mit einer Theorie verknüpfen,<br />

durch die genau dies gewährleistet werden kann. Um zu sehen wie, rufen wir<br />

uns zur Beantwortung dieser Frage noch einmal die entscheidenden Schritte<br />

aus van Inwagens Konsequenzenargument ins Gedächtnis. Es sind dies die<br />

Schritte (v) <strong>und</strong> (vi) aus dem obigen Argument. Die Kernüberlegung können<br />

wir unter Anwendung eines der de Morganschen Gesetze folgendermaßen<br />

zusammenfassen. Wenn die Person J die Aussage P in eine falsche Aussage<br />

verwandeln konnte, so konnte sie auch Q oder L in eine falsche Aussage verwandeln.<br />

Doch sie konnte weder (laut (v)) Q noch (laut (vi)) L in eine falsche<br />

Aussage verwandeln, <strong>und</strong> deshalb konnte sie auch P nicht in eine falsche<br />

Aussage verwandeln. Hudson zufolge speist sich die Plausibilität dieser beiden<br />

Argumentationsschritte aus der Annahme, die Fähigkeit des ›rendering<br />

false‹ müsse selbst in kausalistischen Termini konzipiert werden, wie es van<br />

Inwagens oben zitierte Überlegung auch in der Tat nahelegt. Da wir selbstverständlich<br />

nicht die Vergangenheit kausal verändern noch – im Horizont<br />

des de-re-Prinzips – die Naturgesetze ändern bzw. brechen können, scheint<br />

das Argument schlüssig zu sein.<br />

Doch ist es Hudson zufolge gerade kontrovers, daß das ›rendering false‹ in<br />

kausalistischen Termini konzipiert werden müsse. Der sogenannte ›alteredpast‹-<br />

<strong>und</strong> der ›altered-law‹-Kompatibilismus offerierten gerade eine nichtkausalistische<br />

Lesart <strong>und</strong> unterminierten dadurch die entscheidenden Argumentationsschritte<br />

(v) <strong>und</strong> (vi): »The reason for the denial is straightforward:<br />

when the compatibilist says that Kant could have done otherwise; she simply<br />

means that Kant had an ability that is such that, if he had exercised it, then<br />

17 Hudson: Kant’s Compatibilism, 49–56; Hudson: Kant’s Third Antinomy and ano-<br />

malous monism, 252–257.


54 Wolfgang Ertl<br />

either the past or the laws of nature would have been different than they in<br />

fact are.« 18 Und wenn dem so ist, wird van Inwagens Argument klarerweise<br />

ungültig. Betrachten wir zunächst den ›altered-past‹-Kompatibilismus, wie<br />

er etwa von Robert Foley vertreten wurde: Foley macht sich in seinen Überlegungen<br />

das logische Gesetz der Kontraposition sowie das Konzept einer<br />

hinreichenden Bedingung zunutze. Wenn eine Menge M von Bedingungen<br />

B hinreichend für das Eintreten eines Ereignisses E oder eines Sachverhaltes S<br />

sind, so ist das Nicht-Eintreten des Ereignisses E oder das Nicht-Bestehen des<br />

Sachverhalts S selbst hinreichend für das Nicht-Vorliegen mindestens einer<br />

der Bedingungen B aus M, ohne daß im letzteren Fall Kausalbeziehungen im<br />

Spiel sein müssen. 19 Der etwa von David Lewis vertretene ›altered-law‹-Kompatibilismus<br />

stützt sich auf eine ähnliche Überlegung. Wenn die Naturgesetze<br />

in der aktualen Welt sowie ihr aktualer Ereignisverlauf das Eintreten eines<br />

bestimmten Ereignisses, z. B. das Heben meiner Hand, unmöglich machen, so<br />

heiße dies nur, daß das Heben meiner Hand auf eine ganz spezifische Form<br />

des ›Brechens‹ mindestens eines Naturgesetzes hinauslaufe. Doch sei dieses<br />

›Hinauslaufen‹ gerade nicht eo ipso kausalistisch zu lesen, besage dies ja<br />

nicht, daß das Heben meiner Hand den ›Bruch‹ des Kausalgesetzes bewirke.<br />

Vielmehr sei das Heben meiner Hand hinreichend für das Vorliegen irgendeines<br />

›divergence-miracle‹, kraft dessen ein Gesetz der aktualen Welt kein<br />

wirkliches, sondern allenfalls ein ›almost law‹ wäre. Dabei ist zu beachten,<br />

daß das Heben meiner Hand das ›divergence miracle‹ ebenfalls nicht bewirke,<br />

sondern lediglich hinreichend für das Vorliegen irgend eines ›divergence miracle‹<br />

sei. 20<br />

Es ist korrekt, daß zwischen den Inkompatibilisten <strong>und</strong> Kompatibilisten die<br />

Frage gerade umstritten ist, ob das ›rendering false‹-Prinzip (<strong>und</strong> damit das<br />

PAM) so konstruiert werden muß, daß (i) die Vergangenheit <strong>und</strong> (ii) die Naturgesetze<br />

gleichsam festgehalten werden, ›hold fixed‹ wie Hudson sagt. 21 Ich<br />

denke allerdings, es kann wenigstens in bezug auf (i) nicht umstritten sein, daß<br />

dies bei Kant der Fall ist. Dies verdeutlicht einmal mehr ein Blick in das oben<br />

skizzierte Beispiel der ›boshaften Lüge‹. Es ist klar, daß nach <strong>Kants</strong> Meinung<br />

die Vergangenheit ›festgehalten‹ wird, so daß wir den ›altered past‹-Ansatz<br />

18 Hudson: Kant’s Compatibilism, 97.<br />

19 Foley: Compatibilism and Control over the Past, 72 f.<br />

20 Lewis: Are we free to break the laws?<br />

21 Hudson: Kant’s Compatibilism, 96.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 55<br />

tatsächlich ad acta legen dürfen. In welchem Sinn dieses Festhalten auch für<br />

die Naturgesetze gelten soll, werden wir noch genauer zu untersuchen haben.<br />

Jedenfalls scheint der Eindruck der Konfusion, die eine ganze Reihe von Kommentatoren<br />

in bezug auf die Kantische Vorgehensweise vermuten, in der Tat<br />

dadurch entstanden zu sein, daß man meint, Kant wolle eben genau die Menge<br />

der aktualen Naturgesetze ›festhalten‹ <strong>und</strong> zugleich vom PAM ausgehen. Von<br />

daher liefert das van Inwagensche Argument <strong>und</strong> die sich daran anschließende<br />

Diskussion ein ausgesprochen brauchbares Instrumentarium zum Verständnis<br />

des sachlichen Problems, mit dem sich Kant hier auseinandersetzt.<br />

Werfen wir von daher also einen genaueren Blick auf den ›altered law‹-<br />

Kompatibilismus! Folgende Punkte sind für sein Gelingen konstitutiv: a) Die<br />

Naturgesetze dürfen nicht notwendig in dem Sinne sein, daß sie in allen<br />

möglichen Welten gelten. In diesem Fall gäbe es nämlich trivialerweise keine<br />

mögliche Welt, in der andere Naturgesetze Gültigkeit besitzen. b) Das PAM<br />

verknüpft naturgemäß mögliche Welten miteinander, denn hätte eine Person<br />

anders gehandelt, als es tatsächlich der Fall war, so wäre eine andere mögliche<br />

Welt die aktuale. Im Rahmen des ›altered law‹-Kompatibilismus unterscheiden<br />

sich diese möglichen Welten zudem hinsichtlich der in ihnen gültigen<br />

speziellen Naturgesetze. Genau dies konfligiert allerdings mit der Intuition,<br />

das PAM müsse doch in einem stärkeren Sinn möglich sein, nämlich relativ<br />

zu denjenigen möglichen Welten, in denen dieselben Naturgesetze gelten wie<br />

in der aktualen. Diese Intuition führt bei den metaphysischen Libertarianern<br />

dazu, aufgr<strong>und</strong> des PAM die Geltung eines lückenlosen Netzes von speziellen<br />

Kausalgesetzen zu leugnen, während die harten Deterministen aufgr<strong>und</strong><br />

des Vorhandenseins dieser Gesetze das PAM aufgeben wollen. Doch möglicherweise<br />

ist der Verzicht auf diese Intuition genau der Preis, den wir für<br />

die philosophische Klärung unseres Alltagsverständnisses bezahlen müssen<br />

c) Wir benötigen eine plausible These in bezug auf den ›truth maker‹ oder<br />

Wahrheitsgr<strong>und</strong> der irrealen Konditionalaussage in der oben zitierten Passage<br />

bei Hudson. Betrachten wir also noch einmal diesen ( jetzt geringfügig<br />

modifizierten <strong>und</strong> im folgenden als Kernprinzip K des ›altered past‹-Kompatibilismus<br />

bezeichneten) entscheidenden Satz: The agent had an ability that<br />

is such that, if he had exercised it, then the laws of nature would have been<br />

different than they in fact are. 22<br />

22 Hudson: Kant’s Compatibilism, 97. Diese Überlegungen Hudsons gehen zurück<br />

auf Lewis: Are we free to break the laws?, 114–117. Vgl. ebd. 115 die Unterscheidung


56 Wolfgang Ertl<br />

Wie kann nun die Wahrheit des ›counterfactuals‹, also der irrealen Konditionalaussage,<br />

die das fragliche Vermögen erläutern soll, begründet werden?<br />

Lewis’s Ansatz liefert, wie wir gesehen haben, als Wahrheitsgr<strong>und</strong> für diese<br />

irreale Konditionalaussage seinerseits ein ›counterfactual‹, das mit der Idee<br />

eines ›divergence miracle‹ operiert, dessen Wahrheit sich aber unschwer über<br />

seinen mögliche-Welten-Ansatz abstützen läßt. Diese irreale Konditionalaussage<br />

ist nach Lewis’ eigener Theorie wahr, wenn es eine Welt gibt, in der<br />

das Antezedens <strong>und</strong> das Sukzedens wahr sind <strong>und</strong> die der aktualen Welt ähnlicher<br />

ist als eine Welt, in der das Antezedens wahr ist, das Sukzedens dagegen<br />

falsch. Dies heißt in unserem Fall, es muß eine mögliche Welt geben, in der<br />

ich meine Hand hebe (um das obige Beispiel Lewis’ aufzugreifen) <strong>und</strong> in der<br />

das ›divergence miracle‹ eintritt. Und dabei handelt es sich wiederum um ein<br />

Ereignis, das mit den Gesetzen der aktualen Welt unvereinbar, mit denen der<br />

fraglichen möglichen Welt allerdings sehr wohl vereinbar ist. Diese mögliche<br />

Welt unterscheidet sich von der aktualen damit also um das Heben meiner<br />

Hand zum fraglichen Zeitpunkt, dem ›divergence miracle‹ <strong>und</strong> der minimal<br />

verschiedenen Menge von speziellen Naturgesetzen. Wir müssen somit<br />

allerdings auch eine minimale Differenz innerhalb der Geschichte in den<br />

möglichen Welten zugestehen. Wenn nicht, muß das Heben des Armes auf<br />

andere Weise als zumindest partiell hinreichend für das Bestehen einer anderen<br />

Menge von speziellen Kausalgesetzen erwiesen werden.<br />

Wie sieht nun Davidson diese Problemlage, <strong>und</strong> wie steht er zum PAM?<br />

Davidson lehnt die von G. E. Moore entwickelte, konditionalistische Analyse<br />

von ›können‹ ab, die im Zentrum des ›altered past‹-Ansatzes steht, weil sie<br />

just die Brückenprinzipien präsupponiere, deren Vorhandensein er gerade<br />

leugnet. 23 Wenn wir sagen, jemand habe anders handeln können, so äußern<br />

wir Moore zufolge nämlich zunächst einmal einen unvollständigen Satz, der<br />

durch einen Bedingungssatz ergänzt werden müsse: die Person habe anders<br />

handeln können, wenn sie sich dafür entschieden hätte. Dies sei allerdings<br />

äquivalent mit der Aussage ›sie hätte anders gehandelt, wenn sie sich dafür<br />

entschieden hätte‹. Die zugr<strong>und</strong>eliegende Idee dieser konditionalistischen<br />

Analyse von ›können‹ ist damit folgende: wir schalten vor die fragliche Hand-<br />

einer starken <strong>und</strong> einer schwachen These in bezug auf die Fähigkeit, die Naturgesetze zu<br />

brechen: die schwache These lautet: »I am able to do something such that, if I did it, a law<br />

would be broken«; die starke These dagegen lautet: »I am able to break a law«.<br />

23 Vgl. für das Folgende auch Davidson: Freedom to Act, insbesondere 73, Fn. 9.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 57<br />

lung eine hinreichende Bedingung oder wenigstens einen Aspekt einer hinreichenden<br />

Bedingung, die in unserer Kontrolle, <strong>und</strong> nicht zugleich notwendige<br />

Bedingung ist; in letzterem Fall hätte nämlich bei ihrem Nichteintreten<br />

die Handlung nicht erfolgen können. 24<br />

Davidson diskutiert allerdings einen Rettungsversuch <strong>und</strong> schneidet den<br />

in bezug auf diese konditionalistische Analyse oftmals erhobenen Regreßvorwurf<br />

dadurch ab, daß er im Gegensatz zu den Mooreschen Vorgaben nicht<br />

etwa eine Handlung, sondern einen Zustand, genauer ein Paar, bestehend aus<br />

einer ›pro-attitude‹ <strong>und</strong> einem ›belief‹, als hinreichende Bedingung für eine<br />

intentionale Handlung vorschaltet. Davidson zufolge scheitert allerdings<br />

auch diese Strategie letztlich daran, daß sich die genauen kausalen Bedingungen,<br />

unter denen eine Handlung intentional ist, nicht in mentalistischen<br />

(<strong>und</strong> natürlich auch nicht in physikalistischen) Termini formulieren lassen.<br />

In diesem Zusammenhang stellt Davidson klar, daß er sich Frankfurts Position<br />

anschließt. Um frei zu sein, muß eine Handlung intentional sein, <strong>und</strong><br />

die Freiheit selbst ist eine kausale Kraft (›power‹), insofern freie Handlungen<br />

von mentalen Zuständen bzw. Ereignissen, da diese mit physikalischen identisch<br />

sind, verursacht werden. Das PAM benötigen wir Davidson zufolge dazu<br />

nicht.<br />

Doch genau dies bleibt kontrovers, denn ebenso wie in bezug auf Moores<br />

Strategie zurückgefragt werden kann, ob sich der Handelnde hatte anders<br />

entscheiden können, ergibt sich – <strong>und</strong> zwar völlig unabhängig von der Möglichkeit<br />

von Brückengesetzen – nunmehr das Problem, ob der Handelnde in<br />

einem anderen geistigen Zustand sein konnte. Wenn der vorhergehende neuronale<br />

Zustand den darauf folgenden kausal bewirkt, dann mußte, da dieses<br />

Exemplar mit dem fraglichen Exemplar des geistigen Zustands identisch ist,<br />

der Handelnde in diesem geistigen Zustand sein <strong>und</strong> über die fragliche Intention<br />

verfügen.<br />

An dieser entscheidenden Stelle geht Hudson über Davidsons Ideen hinaus,<br />

indem er sie mit Lewis’ Ansatz anreichert. Damit kann unter den Vorzeichen<br />

eines anomischen Monismus zwar die Position eines PAM-Kompatibilismus<br />

24 Ich orientiere mich hier an der Darstellung von Berofsky: Ifs, Cans, and Free Will:<br />

the Issues, hier 180–188. Die Struktur der Mooreschen Analyse, so Berofsky, könne<br />

bewahrt werden, obwohl Austin gezeigt habe, daß die von Moore selbst untersuchten<br />

if-Sätze keine Bedingungssätze <strong>und</strong> insbesondere keine kausalen Bedingungssätze sind.<br />

Austin habe demnach nicht etwa die konditionalistische Analyse per se widerlegt, sondern<br />

lediglich deren konkrete Ausgestaltung durch Moore.


58 Wolfgang Ertl<br />

etabliert werden; es stellt sich spätestens jetzt allerdings die Frage, ob die Etikette<br />

(i) ›anomischer Monismus‹ <strong>und</strong> (ii) ›altered law-Kompatibilismus‹ Kant<br />

zu Recht angeheftet werden können?<br />

ad (i) Der anomische Monismus leidet an einer systematischen Schwäche,<br />

<strong>und</strong> diese systematische Schwäche koinzidiert mit einer interpretatorischen,<br />

wenn man Kant als Vertreter dieser Position verstehen will. In systematischer<br />

Hinsicht ist dies das Problem, daß – zumindest laut einer einflußreichen<br />

Theorie 25 – mit dem Zugeständnis der Kontingenz der Identitätsthese zugleich<br />

deren Falschheit behauptet werde.<br />

In interpretatorischer Hinsicht erweist sich die Kopplung der Kausalrelation<br />

an ein physikalistisches Vokabular, was viele gerade als Stärke des<br />

anomischen Monismus betrachten, insofern als Schwäche, als ›Kausalität<br />

aus Freiheit‹ (KrV A 532 / B 560) – entgegen <strong>Kants</strong> eigenen Aussagen – nicht<br />

wirklich als eigene Art von Kausalität aufgefaßt werden kann, sondern auf<br />

so etwas »telling himself the approppriate internal story« reduziert werden<br />

muß, um diese Formulierung Meerbotes aufzugreifen. 26 Kausalität aus Freiheit<br />

wird in diesem Ansatz nämlich de facto gleichgesetzt mit Deliberation.<br />

ad (ii) Man ist hier zweifellos auf einem vielversprechenden Weg, jedoch ergibt<br />

sich eine Schwierigkeit in bezug auf das oben angesprochene Kernprinzip<br />

dieser Variante des Kompatibilismus, insbesondere aber in bezug auf seinen<br />

Wahrheitsgr<strong>und</strong>. Die Relation zwischen der alternativen Handlung zu dem<br />

›divergence miracle‹ ist, wie wir oben gesehen haben, die einer hinreichenden<br />

Bedingung, <strong>und</strong> dies wird wiederum im Rekurs auf die Semantik der möglichen<br />

Welten erläutert. Aber können wir uns mit dieser Erläuterung bereits<br />

zufrieden geben? Wäre es nicht Aufgabe einer solchen Lösungsstrategie, uns<br />

näheren Aufschluß über den ›Mechanismus‹ zu geben, der die alternative<br />

Handlung über das ›divergence miracle‹ mit der dieser zugeordneten Menge<br />

an speziellen Kausalgesetzen verknüpft?<br />

Eine solche Erläuterung des fraglichen Zusammenhangs ergibt sich indirekt<br />

aus einer Interpretation Allen Woods. Greift man einen Einwand Ralph<br />

Walkers auf, so zeigt sich, daß Wood einen Keil zwischen van Inwagens<br />

Gr<strong>und</strong>formulierung <strong>und</strong> seiner Selbstinterpration treibt, wonach die These,<br />

25 Kripke: Naming and Necessity, 140 –155.<br />

26 Meerbote: Kant on the Nondeterminate Character of Human Actions, 150.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 59<br />

daß die Naturgesetze nicht ›up to us‹ seien, zwangsläufig im Sinne der Unfähigkeit,<br />

die Naturgesetze der aktualen Welt zu brechen, interpretiert werden<br />

müsse. Mit der These, Kant rekurriere zur Lösung des Freiheitsproblems<br />

auf das antike Lebenswahlmotiv muß Wood nämlich zugleich behaupten, daß<br />

der Inhalt der Gesetze in der aktualen Welt von dieser Wahl abhängt. Da es<br />

ihm damit gelingt, Kausalität aus Freiheit als eigene <strong>und</strong> genuine Form von<br />

Kausalität zu retten, soll diese Überlegung näher expliziert werden.<br />

b) Charakterwahl <strong>und</strong> Ewigkeit des transzendentalen Ich<br />

Wood greift hier auf Überlegungen Schopenhauers zum Verhältnis von empirischem<br />

<strong>und</strong> intelligiblen Charakter zurück. 27 Der empirische Charakter ist<br />

für Schopenhauer die Beschaffenheit eines jeden Dinges in der Welt, nach der<br />

es wirke, <strong>und</strong> in dieser Beschaffenheit seien alle ›Äußerungen‹ dieses Dinges<br />

bereits »potentia« vorhanden, die »actu aber eintreten, wann äußere Ursachen<br />

sie hervorrufen«. Der durch Erfahrung unzugängliche innere Gr<strong>und</strong> sei<br />

bei jedem Ding dessen intelligibler Charakter, nämlich »das Wesen an sich<br />

dieses Dinges«. 28<br />

Schopenhauer bedient sich hier zur Verdeutlichung des Verhältnisses von<br />

intelligiblem <strong>und</strong> empirischen Charakter der aus dem Druckereihandwerk<br />

entlehnten Metaphorik von Prägestempel <strong>und</strong> Siegel. Im Unterschied zu<br />

nicht-menschlichen Dingen bzw. zu solchen Dingen, die nicht Personen sind,<br />

verfüge der Mensch allerdings über die Freiheit, daß er ein anderer hätte sein,<br />

d. h. einen anderen intelligiblen Charakter hätte wählen können. Durch diesen<br />

Schachzug würden wir zudem von dem Gr<strong>und</strong>irrtum zurückgebracht, der die<br />

»Notwendigkeit ins ›esse‹ <strong>und</strong> die Freiheit ins ›operari‹ verlegte«, wiewohl es<br />

sich genau umgekehrt verhalte. Die moralische Verantwortlichkeit des Menschen<br />

beziehe sich nämlich im Gr<strong>und</strong>e auf das, was er sei. Schopenhauer sieht<br />

damit das PAM lediglich in bezug auf diese Wahl des intelligiblen Charakters<br />

gewahrt. Im Hinblick auf einzelnen Handlungen, die notwendige Folgen der<br />

inneren Beschaffenheit <strong>und</strong> der äußeren Ursachen seien, könne nur im abgeleiteten<br />

Sinn davon gesprochen werden, daß alternative Ereignisketten initiiert<br />

werden könnten, nämlich insofern die innere Beschaffenheit eine andere<br />

27 Schopenhauer: Preisschrift über die Gr<strong>und</strong>lage der Moral, 704 –710.<br />

28 Ebd. 706 f.


60 Wolfgang Ertl<br />

hätte sein können. Relativ zum gegebenen empirischen Charakter könne es<br />

dagegen bei einer bestimmten Motivlage nur einen möglichen Ereignisverlauf<br />

geben. Hier schließt sich Schopenhauer einer generellen Tendenz der<br />

Rezeptionsgeschichte an <strong>und</strong> amalgamiert den platonischen Mythos des Er<br />

aus dem Schluß der Politeia, 29 den er der Vorstellung der Charakterwahl zugr<strong>und</strong>eliegen<br />

sieht, mit der stoischen Unterscheidung von causa principalis<br />

<strong>und</strong> causa auxiliaris, wie sie uns in Ciceros de fato anhand des sogenannten<br />

Walzengleichnisses verdeutlicht wird. 30<br />

Schopenhauer scheint nun allerdings <strong>Kants</strong> Lehre in einer wichtigen Hinsicht<br />

umzudeuten, indem er sie der eigenen annähert: »Hiedurch war nun<br />

auch jene Unveränderlichkeit, jene unbiegsame Starrheit des empirischen<br />

Charakters jedes Menschen, welche denkende Köpfe von jeher wahrgenommen<br />

hatten (während die übrigen meinten, durch vernünftige Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> moralische Vormahnungen sei der Charakter eines Menschen umzugestalten),<br />

auf einen rationellen Gr<strong>und</strong> zurückgeführt, mithin auch für die<br />

Philosophie festgestellt <strong>und</strong> diese dadurch mit der Erfahrung in Einklang<br />

gebracht«. 31<br />

Jene Vorstellung der ›unbiegsamen Starrheit‹ ist nun zweifellos genuin<br />

Schopenhauersche Lehre; sie ist allerdings ebenso klarerweise nicht die Kantische.<br />

Während Schelling laut Schopenhauer die Kantische Lösung als die<br />

seine ausgibt, weist Schopenhauer sein eigenes Theoriestück als Gedanken<br />

<strong>Kants</strong> aus. Was er damit unberücksichtigt läßt, ist zum einen dasjenige, was<br />

man den oder vielmehr einen Paulinischen Zug der Moralphilosophie <strong>Kants</strong><br />

nennen könnte. Für Kant ist es ausgemacht, daß moralische Konversionen<br />

jederzeit möglich sein müssen. Die Vorstellung einer Starrheit des intelligiblen<br />

wie des empirischen Charakters ist damit aber zweifellos inkompatibel.<br />

Zum zweiten ist es die von Kant konzedierte Möglichkeit des moralischen<br />

Fortschritts, die sich mit dem Schopenhauerschen Attribut der Unbiegsamkeit<br />

kaum in Einklang bringen lassen dürfte.<br />

29 Platon: Politeia 614b – 621d. Vgl. hierzu die Ausführungen Amands: Fatalisme et<br />

liberté dans l’antiquité grecque. Recherches sur la survivance de l’argumentation morale<br />

antifataliste de Carnéade chez les philosophes grecs et les théologiens chrétiens des<br />

quatres premiers siècles. Amand liefert ein konzises Referat sowohl des Mythos selbst<br />

(31–33) als auch seiner Auslegung durch Porphyrios (164 f.).<br />

30 Schopenhauer: Preisschrift über die Gr<strong>und</strong>lage der Moral, 706 f.<br />

31 Ebd. 705 f.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 61<br />

An genau dieser Stelle setzt der Versuch Allen W. Woods an, eine ausgefeiltere<br />

Lesart der Wahl des intelligiblen Charakters zu entwickeln, die eben<br />

jenen beiden Erfordernissen gerecht werden kann. 32 Er tut dies, indem er ein<br />

traditionellerweise Gott vorbehaltenes Prädikat, nämlich das Prädikat der<br />

Ewigkeit, auf das transzendentale Ich überträgt. Daß Wood <strong>Kants</strong> transzendentalphilosophischen<br />

Ansatz damit notwendigerweise als Zwei-Welten-<br />

Lehre liest, ist ein Punkt, auf den weiter unten noch detailliert einzugehen<br />

sein wird.<br />

Was ist nun unter Ewigkeit zu verstehen <strong>und</strong> inwiefern kann mithilfe<br />

dieses Prädikats Konversion wie moralischer Fortschritt zugelassen werden?<br />

Zunächst einmal müssen wir unterscheiden zwischen der Funktion, die dieses<br />

Prädikat in den Überlegungen bei Boethius hat, <strong>und</strong> der Funktion, an der<br />

Wood wenigstens primär interessiert ist. Boethius bestimmt ›Ewigkeit‹ als<br />

»interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio«. 33 Es geht ihm darum,<br />

das göttliche Wissen um Taten, die vom Standpunkt des Menschen aus in der<br />

Zukunft liegen, mit der Vorstellung zu versöhnen, daß diese Taten nichtsdestoweniger<br />

aus Freiheit erfolgen. Ein Kontext dieser Überlegungen ist<br />

dabei das Aristotelische Problem der sogenannten contingentia futura aus<br />

de interpretatione 9, denen Boethius zwei wichtige Kommentare gewidmet<br />

hat. Der Kern der Überlegungen des Boethius besteht darin, daß das ewige<br />

Wesen selbst außerhalb der Zeit ist, dennoch aber in einer Art Simultaneitätsrelation<br />

zu allen Zeitpunkten selbst steht. Diese Simultaneitätsrelation,<br />

die wir im Einklang mit dem Sprachgebrauch in der einschlägigen Literatur<br />

e-Simultaneität nennen können, zeichnet sich durch folgende Eigenschaften<br />

aus. Sie ist symmetrisch, nicht-reflexiv, <strong>und</strong> ebenfalls nicht-transitiv. Kraft<br />

dieser e-Simultaneität bedarf das göttliche Wissen nicht etwa der Hilfe von<br />

Kausalgesetzen, um das, was aus der menschlichen Perspektive Gegenwart ist,<br />

in das für Menschen Zukünftige zu verlängern. Gott kann auch um solche zukünftige<br />

Ereignisse wissen, die auch anders verlaufen können, genau wie wir<br />

um gegenwärtige Ereignisse wissen können, die auch nicht hätten stattfinden<br />

können.<br />

Es gibt eine Reihe von Versuchen, diese eigenartige Beziehung zwischen<br />

dem Ewigem <strong>und</strong> dem Zeitlichen mittels geometrischer Modelle zu veranschaulichen,<br />

so etwa bei Thomas von Aquin, der mit einem schlichten Ver-<br />

32 Wood: Kant’s Compatibilism.<br />

33 Boethius: De consolatione philosophiae, v, pr 6, 10 sq.


62 Wolfgang Ertl<br />

gleich operiert: »Zum dritten ist zu sagen, daß das, was darauf beschränkt ist,<br />

zeitlich im Akt zu sein, von uns nacheinander in der Zeit erfaßt wird, dagegen<br />

von Gott in Ewigkeit, die über der Zeit ist. Von daher können contingentia<br />

futura für uns, weil wir sie als solche erfassen, nicht sicher sein, sondern nur<br />

für Gott, dessen Verstehen in Ewigkeit über der Zeit ist. So wie derjenige, der<br />

auf einem Weg geht, diejenigen, die hinter ihm gehen, nicht sieht, während<br />

derjenige, der von einer gewissen Höhe aus den gesamten Weg erfaßt, alle<br />

zugleich sieht, die den Weg entlang gehen. Das, was von uns gewußt wird,<br />

muß in der Tat notwendig in dem Sinne sein, wie es in sich selbst ist. Doch dasjenige,<br />

was von Gott gewußt wird, muß notwendig im Sinne des Modus sein,<br />

in dem es unter dem göttlichen Wissen steht, wie gesagt wurde; also nicht im<br />

absoluten Sinn, im Hinblick auf seine eigenen Ursachen erwogen«. 34<br />

Die thomanische Überlegung verdeutlicht zudem die Beziehung zwischen<br />

dem Wissen um Ereignisse, die aus der Perspektive des Menschen zukünftig<br />

sind, mit dem kausalen Determinismus auf der einen, dem logischen Determinismus<br />

auf der anderen Seite. Folgende Punkte sind hierbei zu beachten:<br />

(i) Das göttliche Wissen um (aus der Perspektive des Menschen) zukünftige<br />

Ereignisse impliziert bei Thomas, <strong>und</strong> hier folgt er den Überlegungen des<br />

Boethius auf das genaueste, weder die Geltung eines logischen noch die eines<br />

kausalen Determinismus. Dies hieße nämlich, ein Defizit der menschlichen<br />

Erkenntniskräfte als systematische Wahrheit auszeichnen. Denn für Menschen<br />

ist die (kausale oder essentielle) Notwendigkeit eines Ereignisses notwendige<br />

Bedingung für dessen Vorhersagbarkeit. Aufgr<strong>und</strong> der notwendigen<br />

kausalen Bedingungen läßt sich so mit Sicherheit bestimmen, welcher Sachverhalt<br />

zu einem bestimmten Zeitpunkt der Fall sein wird, auch wenn dieser<br />

34 S.th. I 14,13 ad 3: »Ad tertium dicendum quod ea quae temporaliter in actum reducuntur,<br />

a nobis succesive cognoscuntur in tempore, sed a Deo in aeternitate, quae est<br />

supra tempus. Unde nobis, quia cognoscimus futura contingentia inquantum talia sunt,<br />

certa esse non possunt: sed soli Deo, cuius intelligere est in aeternitate supra tempus.<br />

Sicut ille qui vadit per viam, non videt illos qui post eum veniunt: sed ille qui ab aliqua<br />

altitudine totam viam intuetur, simul videt omnes transeuntes per viam. Et ideo illud<br />

quod scitur a nobis, oportet esse necessarium etiam sec<strong>und</strong>um quod in se est: quia ea<br />

quae in se sunt contingentia futura, a nobis sciri non possunt. Sed ea quae sunt scita a<br />

Deo, oportet esse necessaria sec<strong>und</strong>um modum quo subsunt divinae scientiae, ut dictum<br />

est: non autem absolute, sec<strong>und</strong>um quod in propriis causis considerantur.« Zu Thomas’<br />

Freiheitslehre allgemein vgl. Goris: Free Creatures of an Eternal God. Thomas Aquinas<br />

on God›s infallible foreknowledge and irrestibile will.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 63<br />

Sachverhalt zum Zeitpunkt der Beobachtung eben noch nicht besteht. Für ein<br />

Wesen mit anders gearteten Erkenntniskräften ist die kausale Determination<br />

dagegen keine notwendige Bedingung, nämlich für solche, die kraft ihrer<br />

Ewigkeit in einer Beziehung der e-Simultaneität zu jedem beliebigen Zeitpunkt<br />

stehen. Wie sieht es aber mit dem logischen Determinismus aus? Ist es<br />

nicht so, daß Wissen der-Fall-sein impliziert, so daß der angeblich zukünftige<br />

Sachverhalt in irgend einer Weise doch schon besteht, so daß wir zwar dem<br />

kausalen Determinismus vielleicht entrinnen mögen, allerdings nur um in<br />

den Klauen des logischen Determinismus zu enden. Auch das ist bei Thomas<br />

nicht der Fall; der Wahrheitsgr<strong>und</strong> des entsprechenden Satzes ist nämlich der<br />

Archetyp des contingens futurum, das aus der Perspektive des Menschen noch<br />

nicht besteht, im Wesen Gottes. 35 Somit kann Gott wissen, was seine freien<br />

Geschöpfe tun, ohne selbst gewissermaßen in der Welt ›nachsehen‹ zu müssen.<br />

Anders formuliert: was das contingens futurum wahr macht, ist, wie wir<br />

uns frei verhalten werden. Aus der Perspektive des Menschen ergibt sich so<br />

eine unbestimmte Wahrheitswertverteilung in bezug auf kontradiktorische<br />

contingentia futura. 36<br />

Wood ist nun am Prädikat der Ewigkeit nicht in Hinblick auf dessen Funktion<br />

zur Etablierung eines theologischen Kompatibilismus, sondern in einer<br />

wichtigen anderen Hinsicht interessiert. Mithilfe der besagten Simultaneitätsbeziehung,<br />

die auf das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Ich <strong>und</strong><br />

der Zeit übertragen wird, soll dagegen bei Wood zum einen Schopenhauers<br />

Vorstellung einer nichtzeitlichen Wahl des intelligiblen Charakters bewahrt<br />

werden, die die naturkausale Erklärung von Handlungen im Rekurs auf den<br />

empirischen Charakter ermöglicht, zum anderen aber deren Kompatibilität<br />

mit Konversionen <strong>und</strong> moralischem Fortschritt gesichert werden. Diese<br />

nichtzeitliche Wahl ist damit e-simultan mit jeder unserer Handlungen <strong>und</strong><br />

damit ein entscheidender kausaler Faktor für ihr Zustandekommen.<br />

35 Vgl. hierzu Gilson: Le Thomisme. Introduction à la Philosophie de Saint Thomas<br />

d’Aquin, 132 –134. Robinsons Problem (vgl. Fn. 46) eines angeblichen Widerspruches<br />

in bezug auf das Konzept der ›scientia visionis‹ läßt sich auflösen, wenn man zwischen<br />

primärer <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer Ursache unterscheidet. Thomas’ Behauptung, scientia visionis<br />

beziehe sich nicht auf die Ursachen eines contingens futurum muß klarerweise so<br />

verstanden werden, als seien damit die sek<strong>und</strong>ären Ursachen gemeint. Vgl. hierzu auch:<br />

Kretzmann <strong>und</strong> Stump: God’s Knowledge and its Causal Efficacy.<br />

36 Vgl. hierzu Seel: Introduction. Future Contingencies: The problem and its possible<br />

solutions, 34 –38.


64 Wolfgang Ertl<br />

Beschränken wir uns hier auf das Problem von Konversionen, zumal dies<br />

– wie wir gleich sehen werden – für die Bewertung, wie leistungsfähig Woods<br />

Ansatz letztendlich ist, entscheidend sein wird. Betrachten wir zu diesem<br />

Zweck, <strong>und</strong> zwar unter Rückgriff auf <strong>und</strong> Weiterführung von <strong>Kants</strong> entsprechendem<br />

Beispiel, den Fall eines notorischen Lügners, der sich plötzlich eines<br />

Besseren besinnt <strong>und</strong> in einem entscheidenden Moment die Wahrheit sagt.<br />

Insofern muß die Maxime, aufgr<strong>und</strong> der der ehemalige Lügner nach seiner<br />

Konversion handelt, eine andere sein als die, auf deren Gr<strong>und</strong>lage er der<br />

Lügner war, der er war. Maximen, d. h. selbstgewählte Handlungsgr<strong>und</strong>ätze,<br />

wiederum zeichnen sich strukturell dadurch aus, daß sie Situationstypen<br />

mit Handlungstypen verknüpfen. Kommt es zu einer Konversion, muß die<br />

entprechende Maxime so ersetzt werden, daß ihr Situationstyp mit einem anderen,<br />

dem vorherigen quasi entgegegengesetzten Handlungstyp verknüpft<br />

wird. Dies verdeutlicht, wie Wood im übrigen selbst hervorhebt, 37 daß die<br />

Charakterwahl als Wahl der Maximen insgesamt nicht als einmaliger, allen<br />

konkreten Handlungen vorausliegender Akt in der Zeit begriffen werden<br />

kann, denn in diesem Fall ist nicht zu sehen, wie es in einer Situation, die<br />

genau dem in der bis zum Zeitpunkt der Konversion relevanten Maxime spezifierten<br />

Typ entspricht, auf einmal zu Handlungen des ›entgegengesetzten‹<br />

Typs kommen kann. Die Maximenwahl muß e-simultan zum Zeitpunkt der<br />

Konversion sein. Doch damit nicht genug, denn damit es zum fraglichen Zeitpunkt<br />

zur Konversion kommen kann, muß das transzendentale Ich wissen, in<br />

der entsprechenden Situation, obwohl sie genau dem in der bislang geltenden<br />

Maxime spezifizierten Typus entspricht, diese Maxime aufzugeben. Das<br />

heißt wiederum, daß die Konversion nicht so in die Charakterwahl integriert<br />

werden kann, daß gewissermaßen eine übergeordnete Maxime vorgeschaltet<br />

wird, die besagt, in der fraglichen Situation die bisher gültige, untergeordnete<br />

Maxime aufzugeben. Dies deshalb, weil der Situationstyp für beide Maximen<br />

derselbe sein müßte, wodurch es zu inkompatiblen Handlungsanweisungen<br />

käme. Es könnte gar nicht auf Gr<strong>und</strong>lage der untergeordneten Maxime<br />

gehandelt werden. Um eine Konversion zu sein, dürfen sich die jeweiligen<br />

Situationen im Typen-Sinn eben nicht unterscheiden. Damit steht uns der<br />

Weg, die betreffende Situation durch Beschreibungen zu spezifizieren, nicht<br />

offen. Mit anderen Worten muß nicht nur davon ausgegangen werden, daß<br />

die zeitlose Wahl e-simultan mit den konkreten Handlungen ist, vielmehr<br />

37 Vgl. Wood: Kant’s Compatibilism, 90 f. <strong>und</strong> 95 ff.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 65<br />

ist dem transzendentalen Ich darüber hinaus auch so etwas wie ›knowledge<br />

by acquaintance‹ der konkreten Situation zuzuprechen, in der der Wechsel<br />

der Maximen erfolgt. Dies entspricht zwar durchaus der Logik der e-Simultaneität,<br />

es entspricht ihr allerdings auch, daß sie sich zudem auf zukünftige<br />

Ereignisse bezieht, wiewohl deren ontologischer Status selbst – wie wir gesehen<br />

haben – am besten als der einer Art Präfiguration zu verstehen ist. Von<br />

der Schwierigkeit einmal abgesehen, dieses Konzept der Präfiguration auf das<br />

transzendentale Ich zu übertragen, wird damit zumindest bestätigt, daß mit<br />

Woods Lesart transzendentales <strong>und</strong> empirisches Ich de facto als numerisch<br />

distinkte Entitäten aufgefaßt werden müssen, denn ein solches Wissen um<br />

die Zukunft kann, anders als im Fall des Wissens um die Aktivitäten der einzelnen<br />

Gemütsvermögen innerhalb des Erkenntnisprozesses, diesem empirischen<br />

Ich nicht einmal in einem impliziten Modus zugeschrieben werden.<br />

Für Woods Ansatz ergibt sich mindestens eine weitere Schwierigkeit. Wir<br />

sehen dies, wenn wir einen von Ralph Walker gegen die Vorstellung der<br />

Charakterwahl <strong>und</strong> der damit verknüpften Idee betrachten, der einzelne sei<br />

für diesen Charakter verantwortlich. 38 Der empirische Charakter ist kausale<br />

Folge <strong>und</strong> Zeichen des intelligiblen in einem, eine Doppelbeziehung, die,<br />

wie wir oben sahen, in Schopenhauers Bild vom Petschaft <strong>und</strong> Siegel geradezu<br />

handgreiflich veranschaulicht ist. Er muß andererseits, als empirische<br />

Größe, selbst naturkausal erklärbar sein. Insofern der empirische Charakter<br />

nun seinerseits einer naturkausalen Erklärung unterworfen ist, muß mit der<br />

Wahl des intelligiblen Charakters durch das transzendentale Ich auch ein<br />

Weltverlauf gewählt werden, der – im Verein mit den entsprechenden Naturgesetzen<br />

– die gewünschte Erklärung des empirischen Charakters liefert.<br />

Dies, so Walker hat zur Folge, daß das transzendentale Ich für einen weitaus<br />

größeren Bereich von Ereignissen <strong>und</strong> Sachverhalten verantwortlich zu<br />

machen ist, als der lebensweltliche Begriff der Verantwortung nahezulegen<br />

scheint <strong>und</strong> uns lieb sein kann. 39 Da die Gegebenheiten, die den empirischen<br />

Charakter erklären, wiederum selbst einer naturkausalen Erklärung zugänglich<br />

sein müssen <strong>und</strong> zudem von einer durchgängigen kausalen Interaktion<br />

in der Erscheinungswelt auszugehen sei, heiße dies, daß letztlich der gesamte<br />

Ereignisverlauf der Erscheinungswelt von dem je einzelnen oder aber von der<br />

Gesamtheit der transzendentalen Subjekte verantwortet werden müsse.<br />

38 Walker: Kant, 149.<br />

39 Ebd.


66 Wolfgang Ertl<br />

Wood antwortet auf die Bedenken Walkers wie folgt: Es erscheine doch<br />

vernünftig anzunehmen, daß ich nur für diejenigen Ereignisse verantwortlich<br />

sei, die eintreten, weil ich den empirischen Charakter habe, den ich habe. Dies<br />

möge sich in der Tat auf Ereignisse <strong>und</strong> Sachverhalte beziehen, die sich in<br />

einiger Entfernung zu meinem Leben in der zeitlichen Welt befänden. Doch<br />

da wir nicht wissen könnten, wie unsere zeitlose Wahl in der zeitlichen Welt<br />

wirke, bleibe der Ausweg offen, zu behaupten, sie können zumindest mit<br />

denjenigen Ereignissen <strong>und</strong> Sachverhalten korrespondieren, für die wir uns<br />

normalerweise für verantwortlich halten. 40 Es scheint allerdings, daß diese<br />

Strategie das Gewünschte nicht zu leisten im Stande ist, <strong>und</strong> dies aus folgendem<br />

Gr<strong>und</strong>. Einmal gehört es gerade zu den Bedingungen von zu verantwortendem<br />

Handeln, die näheren Umstände, vor deren Hintergr<strong>und</strong> dieses Handeln<br />

erfolgt, zu kennen, zum anderen – <strong>und</strong> hier können wir diesen Einwand<br />

mit dem vorher erhobenen verknüpfen – macht es Woods Strategie der – um<br />

das Schopenhauersche Bild aufzugreifen – ›biegsamen‹ Charakterwahl gerade<br />

erforderlich, das transzendentale Subjekt mit ›knowledge by acquaintance‹<br />

sogar in bezug auf zukünftige Zeitpunkte auszustatten, so daß man sich nicht<br />

zugleich hinter den Schild des ignoramus zurückziehen kann. Die einmal<br />

gerufenen Geister der Ewigkeit lassen sich nicht ohne weiteres wieder in die<br />

Schranken weisen.<br />

Bevor wir uns nach diesen langen Ausflügen in die zeitgenössische sowie<br />

in die antike <strong>und</strong> mittelalterliche Philosophie wieder Kant selbst zuwenden,<br />

können wir die Ergebnisse dieses Abschnittes noch einmal zusammenfassen.<br />

Gegen Woods These, Kant rekurriere auf das Motiv der Lebenswahl <strong>und</strong><br />

übertrage dabei das Prädikat Ewigkeit auf das transzendentale Ich ließen sich<br />

zwei miteinander verknüpfte Einwände erheben: (i) Wood mußte unplausiblerweise<br />

ein Wissen des transzendentalen Ich um die Zukunft veranschlagen;<br />

(ii) zudem ergab sich das Problem der Überdehnung des lebensweltlichen<br />

Verantwortungsbegriffs durch eine Theorie, die doch die ›gemeine sittliche<br />

Venunfterkenntnis‹ durch Klärung (<strong>und</strong> Rekonstruktion) vindizieren soll.<br />

Wood verfügt damit zwar über eine Rechtfertigung der Wahrheit des Kernprinzips<br />

des ›altered law‹-Kompatibilismus, sie erweist sich allerdings als zu<br />

stark.<br />

40 Wood: Kant’s Compatibilism, 92 f.


4. Providentia universalis <strong>und</strong> Kompatibilismus<br />

Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 67<br />

Daß das Ewigkeitsprädikat in der Tat ein zentrales Element bei der Etablierung<br />

des Kantischen Kompatibilismus darstellt, zeigt eine Passage aus dem<br />

›Kanon der reinen Vernunft‹ der ersten Kritik, in der es heißt, daß uns die<br />

Moraltheologie »unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten<br />

<strong>und</strong> vernünftigen Urwesens führet«, dessen Wille über folgende<br />

Eigenschaften verfügt: »Dieser Wille muß allgewaltig sein, damit die ganze<br />

Natur <strong>und</strong> deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt ihm unterworfen sei;<br />

allwissend, damit er das Innerste der Gesinnungen <strong>und</strong> deren moralischen<br />

Wert erkenne; allgegenwärtig, damit er unmittelbar allem Bedürfnisse, welches<br />

das höchste Weltbeste erfordert, nahe sei; ewig, damit in keiner Zeit<br />

diese Übereinstimmung der Natur <strong>und</strong> Freiheit ermangle, usw.« (KrV A 815 /<br />

B 843; Hvh. vom Vf.).<br />

Zunächst einmal wird aus diesem Abschnitt klar, daß das Prädikat der<br />

Ewigkeit auf Gott, nicht auf das transzendentale Subjekt zu beziehen ist. Es<br />

stellt sich allerdings die Frage, wie diese ›Übereinstimmung‹ zu verstehen sei,<br />

die durch die Ewigkeit gesichert werden soll? Hervorzuheben ist, daß Kant<br />

hier nicht von der Übereinstimmung von Sittlichkeit <strong>und</strong> Natur spricht, wie<br />

man es im Kontext von Überlegungen erwarten könnte, die später in die Auflösung<br />

der ›Antinomie der praktischen Vernunft‹ einmünden, sondern von<br />

Freiheit <strong>und</strong> Natur. Darüber hinaus verdeutlicht uns ein Blick in <strong>Kants</strong> Vorlesungen<br />

über die philosophische Religionslehre, wie sie von Pölitz genannt<br />

wurden, 41 daß das Prädikat der Ewigkeit, ganz wie in seiner ursprünglichen<br />

41 Religion Pölitz; AA 28.2.2, 989 –1126. Von besonderem Wert sind Woods Anmerkungen<br />

im Rahmen der von ihm besorgten englischen Übersetzung (Immanuel Kant:<br />

Religion and Natural Theology, 474 – 483). Der deutsche Text basiert auf der Abschrift<br />

einer von einem oder mehreren Hörern angefertigten Nachschrift der Vorlesung über<br />

natürliche Theologie, die Kant wahrscheinlich 1783/84 gehalten hat. Sie gelangte über<br />

Friedrich Theodor Rink, der noch zu Lebzeiten <strong>Kants</strong> einige seiner Texte ediert hatte, in<br />

den Besitz Pölitz’, der sie 1817 in erster Auflage veröffentlichte. Über die Zuverlässigkeit<br />

der Pölitzschen Herausgebertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf mögliche Eingriffe<br />

<strong>und</strong> Kontaminationen, wurden immer wieder Zweifel laut. Dies <strong>und</strong> der Umstand, daß<br />

wir das, was Kant in dieser Vorlesung sagte, nur über mehrere Vermittlungsinstanzen<br />

greifbar haben, ändert nichts an der Tatsache, daß, wie Allen Wood im Vorwort seiner<br />

englischen Übersetzung (338) feststellt, dieser Text eine der wichtigsten Quellen zu<br />

<strong>Kants</strong> Ansichten über den Gottesbegriff <strong>und</strong> traditionell scholastischen Fragen nach<br />

der göttlichen Natur <strong>und</strong> den göttlichen Attributen darstelle; vgl. hierzu auch Gerhard


68 Wolfgang Ertl<br />

Funktion bei Boethius, zum Nachweis der Vereinbarkeit des göttlichen Wissens<br />

um die freien Taten des Menschen mit deren Freiheit verwendet wird<br />

(Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1054 f.): »Allein diese Eintheilung ist wieder<br />

nach menschlichen Vorstellungen abgefaßt, <strong>und</strong> läßt sich in der göttlichen<br />

Erkenntniß selbst nicht denken. Für ihn, den Unveränderlichen, ist nichts<br />

vergangen, oder zukünftig; denn er ist gar nicht in er Zeit. Er kennet alles auf<br />

einmal anschauend, es mag nach unserer Vorstellung gegenwärtig, oder nicht<br />

gegenwärtig seyn. Wenn Gott alles erkennet; so erkennet er auch unsere<br />

freien Handlungen, ja auch die, welche wir erst in der Zukunft vollbringen<br />

werden. Die Freiheit unserer Handlungen wird aber dadurch, daß Gott sie<br />

vorher siehet, nicht aufgehoben noch eingeschränkt; denn er siehet zugleich<br />

den ganzen Nexus, im welchem jene Handlungen mit begriffen sind, vorher;<br />

die Bewegungsgründe, welche uns dazu vermögen, die Absichten, welche wir<br />

dadurch zu erreichen uns bestreben werden. Indem nun Gott alles dieses vorher<br />

siehet; so bestimmt er dadurch ganz <strong>und</strong> gar nicht, daß es geschehen muß.<br />

Er macht also durch sein Vorhersehen gar nicht unsere künftigen Handlungen<br />

nothwendig, wie einige fälschlich geglaubet haben, sondern er sieht nur,<br />

Lehmann in AA 28.2.2,1360–1364. Wie allerdings bereits von Erich Adickes gefordert<br />

<strong>und</strong> uns unlängst wieder von Norbert Hinske <strong>und</strong> Steve Naragon in Erinnerung gerufen<br />

wurde, müssen die uns zur Verfügung stehenden Vorlesungstexte mindestens anhand<br />

der Reflexionen <strong>Kants</strong> überprüft werden, die wir ja überwiegend in den Kompendien<br />

finden, die Kant diesen Vorlesungen zugr<strong>und</strong>elegt hat. Vgl. Hinske: Die Kantausgabe der<br />

preußischen Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> ihre Probleme, 247–252; Naragon: The<br />

Metaphysics Lectures in the Academy Edition of Kant›s Gesammelte Schriften, 190 f.<br />

Ohne dies hier im einzelnen durchführen zu können, sei beispielsweise auf die aus der<br />

nach Adickes wahrscheinlich zeitlich in Teilen parallelen Phase q sowie den vorangehenden<br />

Phasen c <strong>und</strong> u stammenden Reflexionen 5551b (AA 18,216 f.), 5632 (AA 18,263 f.),<br />

6167 (AA 18,473 f.), 6170 (AA 18,475), 6172 (AA 18,476), 6173 (AA 18, 476 ff.), 6175<br />

(AA 18,479), 6178 (AA 18,481) zur Providenz verwiesen, die die oben referierten Aussagen<br />

aus der Religionslehre Pölitz weitestgehend bestätigen. Dies gilt ebenfalls für die<br />

Parallelstellen zur Providenz in der ›Danziger Rationaltheologie‹ (hier AA 28,2.2,1307–<br />

1316) <strong>und</strong> in der ›Natürlichen Theologie Volckmann‹ (hier AA 28.2.2,1206–1221), die<br />

auf (Abschriften bzw. Bearbeitungen von) Nachschriften desselben Kollegs zurückgehen,<br />

auf die sich auch die Religionslehre Pölitz bezieht (vgl. Lehmann in AA 28.2.2, 1361,<br />

Adickes in AA 18,489 Fn.). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Reflexionen,<br />

auch <strong>und</strong> gerade im Hinblick auf die hier zutage tretenden Unterschiede zur Baumgartenschen<br />

<strong>und</strong> Eberhardschen Vorlage, <strong>und</strong> zwar insbesondere was die Begriffe des<br />

concursus <strong>und</strong> der scientia visionis anbelangt, muß einer späteren Untersuchung vorbehalten<br />

bleiben.


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 69<br />

daß diese oder jene Handlungen geschehen werden. Überdem ist der Begriff<br />

vom Vorhersehen anthropomorphistisch, <strong>und</strong> kann daher in Gott selbst nicht<br />

gedacht werden. Vielmehr macht es nicht die geringste Schwierigkeit mehr,<br />

sich vorzustellen, wie Gott die künftigen freien Handlungen der Menschen<br />

erkennet. Eines ist für unsere Verrnunft ebenso nothwendig einzusehen, wie<br />

das andere.«<br />

Die Passage findet sich im Abschnitt ›Cosmotheologie‹, <strong>und</strong> zwar im Kontext<br />

des Bemühens, den Begriff Gottes zu explizieren <strong>und</strong> darzulegen, in welchem<br />

Sinn Gott ein Erkenntnisvermögen, ein Vermögen des Wohlgefallens<br />

<strong>und</strong> Mißfallens sowie ein Begehrungsvermögen zuzusprechen ist (Religion<br />

Pölitz; AA 28.2.2,1059). Das göttliche Erkenntnisvermögen verfügt Kant zufolge<br />

über folgende drei Eigenschaften: (i) Es ist reiner Verstand; weder Sinnlichkeit<br />

noch Vernunft kommen Gott zu. (ii) Dieser Verstand ist intuitiv <strong>und</strong><br />

operiert nicht mit Begriffen. (iii) Gott erkennt alles a priori (Religion Pölitz;<br />

AA 28.2.2,1052): »Gott erkennet alle Dinge, indem er sich selbst, den Gr<strong>und</strong><br />

aller Möglichkeit, erkennet.«<br />

Daß wir hier tatsächlich die Stimme <strong>Kants</strong> vernehmen, 42 <strong>und</strong> zwar jenseits<br />

dessen, was ihm das Baumgartensche Kompendium hier in den §§ 800 –1000<br />

vorgibt, das neben Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie <strong>und</strong><br />

42 Daß es sich bei den Ausführungen aus dem Kanon der ersten Kritik sowie aus der<br />

Pölitzschen Vorlesung nicht etwa um anachronistische oder gewissermaßen nicht authentische<br />

Aussagen des kritischen Philosophen Kant handelt, zeigt sich zudem bezeichnenderweise<br />

an einem Zusatz zur Argumentation der transzendentalen Ästhetik in der<br />

Auflage B, in dem expressis verbis auf Überlegungen zur natürlichen Theologie zurückgegriffen<br />

wird, um zu zeigen, daß es sich bei Raum <strong>und</strong> Zeit lediglich um Anschauungsformen<br />

des Menschen handelt (KrV B 71 f.): »In der natürlichen Theologie, da man sich<br />

einen Gegenstand denkt, der nicht allein für uns gar kein Gegenstand der Anschauung,<br />

sondern der ihm selbst durchaus kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann,<br />

ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller seiner Anschauung (denn dergleichen muß<br />

alles sein Erkenntnis sein <strong>und</strong> nicht Denken, welches jederzeit Schranken beweiset) die<br />

Bedingungen der Zeit <strong>und</strong> des Raumes wegzuschaffen. Aber mit welchem Rechte kann<br />

man dies tun, wenn man beide vorher zu Formen der Dinge an sich selbst gemacht hat,<br />

<strong>und</strong> zwar solchen, die, als Bedingungen der Existenz der Dinge a priori, übrig bleiben,<br />

wenn man gleich die Dinge selbst aufgehoben hätte: denn, als Bedingungen alles Daseins<br />

überhaupt, müßten sie es auch vom Dasein Gottes sein. Es bleibt nichts übrig, wenn man<br />

sie nicht zu objektiven Formen aller Dinge machen will, als daß man sie zu subjektiven<br />

Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart macht«. Somit deutet sich<br />

auch an, wie gezeigt werden kann, daß die sogenannte ›Trendelenburg-Alternative‹ für<br />

Kant nicht akzeptabel ist.


70 Wolfgang Ertl<br />

Christoph Meiners’ Historia doctrinae de vero deo omnium rerum auctore<br />

atque rectore der Vorlesung insgesamt zugr<strong>und</strong>e liegt, zeigt sich in folgendem<br />

wichtigen Umstand: Kant wendet sich hier nämlich expressis verbis gegen<br />

Baumgarten <strong>und</strong> dessen exzessiv anthropomorphisierende Darstellung,<br />

sowie – noch wichtiger für unseren Zusammenhang – gegen die auf Molina 43<br />

zurückgehenden Distinktion von ›scientia simplicis intelligentiae‹, ›scientia<br />

libera‹ <strong>und</strong> ›scientia media‹ in den §§ 874 – 876. Scientia simplicis intelligentiae<br />

bezieht sich auf alle möglichen Welten, scientia libera auf die von Gott durch<br />

seinen freien Willen hervorgebrachte. Diese Distinktion sei deshalb unnötig,<br />

weil das Aktuale selbst möglich <strong>und</strong> daher von Gott eo ipso mitgedacht werde.<br />

Scientia media, die ›Erkenntniß‹ dessen was in möglichen Welten außerhalb<br />

der unsrigen vor sich gehe, sei ebenfalls unnütz, denn das Mögliche werde<br />

von Gott ›in nexu‹ erkannt (Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1053 ff.).<br />

Wie wir also gesehen haben, behauptet Kant hier ganz im Sinne der im<br />

letzten Abschnitt zitierten Thomas-Passage, daß das göttliche ›Vorher‹wissen<br />

der zukünftigen Handlungen nicht deren (kausale) Notwendigkeit impliziere.<br />

Andererseits, wenn wir an die Wiederaufnahme des Schöpfungsgedankens<br />

im Kontext des regulativen Gebrauchs der Vernunft denken (z. B. KrV A 772–<br />

775 / B 800–803), wird klar, daß die These vom Ursprung der Welt in Gottes<br />

kreativem Verstand als Garant für den systematischen Charakter der Gesamtheit<br />

der speziellen Naturgesetze fungiert, den man für die Erklärungen <strong>und</strong><br />

Vorhersagen benötigt, von denen im Auflösungsabschnitt die Rede war. Es ist<br />

eine der am heftigsten umstrittenen Fragen innerhalb der Kantforschung, ob<br />

die Geltung spezieller Kausalgesetze überhaupt ebenfalls erst im Horizont<br />

dieser sogenannten ›Vernunfteinheit‹ (KrV A 326 / B 383) behauptet werden<br />

oder ob dies bereits durch das Argument für die zweite Analogie geschehen<br />

soll. 44 Wie bereits in der Vorbemerkung angesprochen wurde, hat man in bezug<br />

auf eben dieses Argument mitunter den Vorwurf erhoben, daß es genau<br />

dies nicht leiste <strong>und</strong> von daher scheitere. Die vielleicht eleganteste, in jedem<br />

Fall aber schlagendste Erwiderung besteht natürlich darin zu entgegnen, daß<br />

hierin gerade nicht das Beweisziel des Arguments für die zweite Analogie<br />

bestand.<br />

43 Vgl. hierzu Molina: On Divine Foreknowledge (Concordia IV). In Eberhards Kompendium,<br />

abgedruckt in AA 18,513–606, findet sich der explizite Hinweis auf ›Ludewig<br />

Molina‹ (ebd. 596) <strong>und</strong> die dritte Auflage der Concordia, Antwerpen 1609.<br />

44 Vgl. etwa Geiger: Is the Assumption of a Systematic Whole of Empirical Concepts<br />

a Necessary Condition of Knowledge?


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 71<br />

Die Stellen in der ersten <strong>und</strong> dritten Kritik – <strong>und</strong> dies müßte eine Untersuchung<br />

selbstverständlich am Detail aufzeigen 45 – scheinen in der Tat beide<br />

mögliche Interpretationen zuzulassen, letztendlich aber die Variante zu favorisieren,<br />

die auch die Geltung der speziellen Naturgesetze an die Schöpfungsidee<br />

bindet. Dies würde bedeuten, daß sich eine deterministische Position<br />

selbst erst im Kontext des regulativen Vernunftgebrauchs ergibt.<br />

Jedenfalls läßt sich hier festhalten, daß sich eine deterministische Position<br />

nicht kraft des göttlichen ›Vorher‹wissens ergibt, daß aber andererseits die<br />

Schöpfungsidee zumindest für a) den systematischen Charakter der Gesamtheit<br />

der speziellen Naturgesetze, wenn nicht b) deren Geltung verantwortlich<br />

zeichnet. Wie nun das Verhältnis zwischen göttlichem ›Vorher‹wissen <strong>und</strong><br />

a) beziehungsweise b) zu denken ist, darüber erhalten wir Auskunft, wenn<br />

wir einen erneuten Blick in die Vorlesungen über die philosophische Religionslehre<br />

werfen:<br />

Wir finden die entsprechenden Abschnitte im zweiten Teil der Vorlesung,<br />

überschrieben mit ›Die Moraltheologie‹. Hier geht es unter anderem<br />

um die nähere Explizierung des Verhältnisses zwischen Welt <strong>und</strong> Gott, der<br />

»durch Verstand <strong>und</strong> Freiheit der Urheber aller Dinge ist« (Religion Pölitz;<br />

AA 28.2.2,1047). Schöpfung <strong>und</strong> Erhaltung, so erfahren wir nun, »gehet<br />

nur auf die Substanzen« (ebd.,1104), nicht auf die Akzidentien. Dabei ist die<br />

Actuation des Anfangs der Welt […] die Schöpfung«, die »Actuation ihrer<br />

Fortdauer […] die Erhaltung« (ebd.).<br />

Von daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Gottes zu den Ereignissen<br />

in der Welt, die ja als Wechsel von Akzidentien an Substanzen analysiert<br />

werden können. Der entsprechende Schlüsselbegriff ist dabei der des ›concursus‹.<br />

»Concursus«, so Kant, heißt »die Causalität der causarum. Es können<br />

nämlich mehrere Ursachen sich vereinigen, um eine Wirkung hervorzubringen.<br />

Geschiehet das; so concurriren in solchem Falle mehrere concausae«<br />

(ebd., 1105).<br />

In bezug auf die Schöpfung <strong>und</strong> Erhaltung der Substanzen gibt es keinen<br />

concursus zur Kausalität Gottes, er ist die alleinige ›causa prima‹ (ebd.,1106).<br />

Ebenso gibt es keinen concursus Gottes in bezug auf die ›Naturbegebenheiten‹<br />

(ebd.), denn hier sei die »erste nächste Ursache in der Natur« hinreichend,<br />

ganz im Sinne der Lehre, wonach es in der geschaffenen Welt<br />

45 Vgl. für einen entsprechenden Versuch Ertl: <strong>Kants</strong> Auflösung der ›dritten Antinomie‹.<br />

Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, 63–78.


72 Wolfgang Ertl<br />

wirklich Kausalität gebe <strong>und</strong> nicht etwa wie im Okkasionalismus von der<br />

alleinigen Kausalität Gottes auszugehen sei. Dennoch sei ein solcher concursus<br />

in bezug auf Naturursachen nicht unmöglich. Gibt es W<strong>und</strong>er, dann gibt<br />

es auch einen solchen concursus in bezug auf die Naturursachen.<br />

Sodann stellt Kant die Frage nach dem ›concursus divinus‹ in bezug auf die<br />

freien Handlungen (ebd.,1106): »Wie ein Geschöpf überhaupt frei seyn kann,<br />

ist weder die speculative Vernunft im Stande zu begreifen, noch die Erfahrung<br />

zu beweisen; aber unser praktisches Interesse erfordert es, daß wir voraussetzen,<br />

wir können nach der Idee der Freiheit handeln. Ist das aber so, daß<br />

sich unser Wille unabhängig von allen Naturursachen zu Etwas entschließen<br />

kann; so läßt sich gar nicht absehen, wie Gott, unbeschadet unserer Freiheit,<br />

zu unsern Handlungen concurrire <strong>und</strong> in uns selbst als eine Mitursache unsers<br />

Willens concurriren könne; dann würden wir ja eo ipso nicht selbst, wenigstens<br />

nicht ganz die Urheber unserer Handlungen seyn.« Die Wirkungen<br />

eines solchen concursus wären jedenfalls nichts anderes als »W<strong>und</strong>er in der<br />

moralischen Welt« (ebd.).<br />

Weitere Auskunft über die Beziehung Gottes zu den freien Taten des Menschen<br />

erhalten wir nun unter dem Stichwort der Vorsehung. Die Vorsehung<br />

Gottes wird eingeteilt in ›Providenz‹, ›Gubernation‹ <strong>und</strong> ›Direction‹. Sie ist<br />

zwar ein einziger ›Actus‹, es lassen sich aber dennoch diese drei ›Functionen<br />

denken‹ (ebd.,1110). Die Providenz »bestehet in der Stiftung gewisser Gesetze,<br />

nach welchen der Weltlauf fortgehen soll. Die Regierung ist die Erhaltung<br />

des Weltlaufs nach diesen Gesetzen, <strong>und</strong> die göttliche Direction oder<br />

Lenkung ist die Bestimmung der einzelnen Begebenheiten in der Welt seinem<br />

Rathschlusse gemäß. In sofern die Vorsehung Gottes gütig ist, heißt sie Vorsorge«<br />

(ebd.; Hvh. vom Vf.).<br />

Sodann kritisiert Kant die Praxis, die Vorsehung »gewöhnlich« in »providentiam<br />

generalem <strong>und</strong> specialem« einzuteilen (ebd.). Erstere beziehe sich<br />

auf die Erhaltung der Geschlechter <strong>und</strong> Arten, letztere – hier der juristischen<br />

Begriffsverwendung folgend – auf die einzelnen Individuen. Der Stein des<br />

Anstoßes ist hier einmal mehr ein dieser Einteilung zugr<strong>und</strong>eliegender,<br />

überzogener Anthropomorphismus, wie sich anhand des Vergleichs aufzeigen<br />

läßt, mit dem die Vorstellung einer allgemeinen Vorsehung mitunter<br />

erläutert wird. Der Vergleich bezieht sich auf einen irdischen Monarchen, der<br />

– insofern er generaliter für seine Untertanen sorge – die Erfahrung benötige,<br />

um sich Kenntnis über die bestehenden Bedürfnisse zu verschaffen. Dabei liefere<br />

Erfahrung allerdings immer nur ›abstrahirte Regeln‹, die von daher »nie


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 73<br />

allgemeine seyn« können, so daß die entsprechenden Gesetze unmöglich auf<br />

alle Individuen passen könnten (ebd.,1111).<br />

Die Allgemeinheit der göttlichen Vorsehung dagegen ist Kant zufolge von<br />

vorneherein nicht ›logisch‹, d. h. gewonnen durch eine Klassifikation von<br />

Merkmalen, sondern ›real‹, <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> des intuitiven Charakters<br />

seines Verstandes, der jedes einzelne Individuum in toto erfaßt. Seine Vorsehung<br />

ist deshalb ›allgemein‹ im Sinne von ›universalis‹, »<strong>und</strong> dann fällt der<br />

Unterschied von einer providentia speciali von selbst weg« (ebd.). Insbesondere<br />

aber bedarf er nicht der Erfahrung, denn wie wir gesehen haben, erkennt<br />

er alles a priori. Und nun folgt der entscheidende Satz: »Die Gesetze, nach<br />

welchen der Weltlauf gehen sollte, hat er demnach mit einer durchgängigen<br />

Kenntniß aller einzelnen Begebenheiten in demselben abgefaßt, <strong>und</strong> gewiß<br />

auch ihre größtmögliche Vollkommenheit bei ihrer Stiftung zum Augenmerk<br />

gehabt, weil er selbst der Allweiseste, <strong>und</strong> Alles in Allem ist« (ebd.; Hvh.<br />

vom Vf.).<br />

Bevor diese Aussagen <strong>Kants</strong> auf unsere Ausgangsfrage zurückbezogen<br />

werden können, sind noch zwei Anmerkungen vonnöten, <strong>und</strong> zwar zum<br />

einen zum Kriterium, nach dem sich die Vollkommenheit der Welt bemessen<br />

soll. Unter der Überschrift ›Vom Zwecke der Schöpfung‹ lesen wir<br />

dazu (ebd.,1099): »Die wahre Vollkommenheit des Weltganzen wird in dem<br />

Gebrauche liegen, den die vernünftigen Geschöpfe von ihrer Vernunft <strong>und</strong><br />

Freiheit machen.« Dies verlangt zum anderen, nach dem Umfang der Lizenz<br />

zum Gebrauch der Freiheit zu fragen, <strong>und</strong> zwar im Kontext der Überlegungen<br />

zur ›Direction‹ Gottes gemäß dem ›göttlichen Rathschlusse‹ (ebd.,1113; Hvh.<br />

vom Vf.): »Sollte nun der Mensch ein freies Geschöpf seyn, <strong>und</strong> sich selbst die<br />

Entwickelung <strong>und</strong> Ausbildung seiner Fähigkeiten <strong>und</strong> Anlagen zu verdanken<br />

haben; so mußte es auch in seiner Gewalt stehen, ob er den Gesetzen der Moralität<br />

folgen, oder sie fliehen sollte. Der Gebrauch seiner Freiheit mußte von<br />

ihm abhängen, selbst wenn solcher ganz wider den Plan, den Gott von der<br />

moralischen Welt entwarf, streiten sollte«. Anders als bei Leibniz wird Vollkommenheit<br />

damit primär in moralischen Termini verstanden, was zugleich<br />

bedeutet, daß Gott auch die Autonomie endlicher Vernunftwesen respektiert<br />

<strong>und</strong> sie nicht als Mittel für irgendwelche höhere Zwecke instrumentalisiert.<br />

Wir können nunmehr diese Überlegungen <strong>Kants</strong> mithilfe des Analyse-<br />

Instrumentariums beschreiben, das wir im Zusammenhang mit Hudsons<br />

Kopplung von Davidsons <strong>und</strong> Lewis’ Ansatz herauspräpariert haben. Im Unterschied<br />

zum Etikett ›anomischer Monismus‹, das die Kausalität aus Freiheit


74 Wolfgang Ertl<br />

als eine eigenständige Form der Kausalität unterschlägt, ist die Bezeichnung<br />

›altered law‹-Kompatibilismus, wie sich jetzt zeigt, zur Klassifizierung von<br />

<strong>Kants</strong> Position durchaus zutreffend.<br />

Die Gesetze, kraft deren eine deterministische Position besteht, sind eine<br />

Funktion der freien Taten des Menschen, was zugleich nahelegt, daß von der<br />

Pölitzschen Vorlesung her die Schlüsselpassagen zur Vernunfteinheit so zu<br />

lesen sind, als solle tatsächlich auch die Geltung spezieller Kausalgesetze über<br />

die regulativ verstandene Schöpfungsvorstellung abgesichert werden. Damit<br />

wäre der non-sequitur-Vorwurf in bezug auf die zweite Analogie in der Tat<br />

pariert.<br />

Dabei setzt Kant allerdings weitaus tiefer an, um den Wahrheitsgr<strong>und</strong> des<br />

Kernprinzips des ›altered law‹-Kompatibilismus zu sichern. Eine alternative<br />

Handlung ist zusammen mit Gottes Vorsehung hinreichend für eine von der<br />

aktualen verschiedenen Menge spezieller Kausalgesetze, weil sie Gott in diesem<br />

Fall aktualisiert hätte. Anders als bei Lewis braucht damit nicht einmal<br />

das Konstrukt eines ›divergence miracle‹ bemüht zu werden, so daß quasi bis<br />

zum Erfolgen der alternativen Handlung sich die möglichen Welten hinsichtlich<br />

deren Vorgeschichte gleichen.<br />

Weil sich aber der Mechanismus, der die alternative Handlung mit der<br />

veränderten Menge spezieller Kausalgesetze verknüpft, laut der soeben entwickelten<br />

Interpretation insofern von dem Woods unterscheidet, als quasi<br />

zwischen meine Handlung <strong>und</strong> den geltenden Kausalgesetzen Gott ›geschaltet‹<br />

wird, kann eine Überdehnung des Verantwortungsbegriffs verhindert<br />

werden. Allerdings kommt noch eine weitere Pointe hinzu, wenn wir die<br />

Frage zu beantworten suchen, was genau wir annehmen, wenn wir von der<br />

regulativen Idee einer Weltschöpfung ausgehen. Extrapoliert aus <strong>Kants</strong> oben<br />

zitierten Aussagen zum Erkenntnisvermögen Gottes scheint sich folgendes<br />

zu ergeben. 1) Die Gesetze der Welt weiß Gott a priori, <strong>und</strong> zwar sub specie<br />

aeternitatis. 2) Wie es für die contingentia futura vor dem Eintreten des<br />

zugehörigen Ereignisses kein extramentales ontologisches Korrelat gibt, das<br />

sie wahr macht, so existiert für die Gesetze im Geist Gottes deshalb ebenfalls<br />

kein derartiges Korrelat, weil die Erscheinungswelt nicht als Ganzes existiert,<br />

<strong>und</strong> zwar weder formaliter noch materialiter.<br />

Die Wichtigkeit dieser Extrapolation wird dann deutlich, wenn wir sie auf<br />

die verschiedenen Intuitionen beziehen, die oben in Abschnitt 3a) bezüglich<br />

des PAM diskutiert wurden <strong>und</strong> die sich aus der Frage ergeben, inwieweit<br />

die speziellen Kausalgesetze selbst zu den Antezedensbedingungen gezählt


Schöpfung <strong>und</strong> Freiheit 75<br />

werden müssen, unter denen das PAM gilt: i) Die libertarianische Intuition<br />

besteht darauf, daß das PAM nur unter der Voraussetzung gelten kann, daß<br />

es kein lückenloses Netz spezieller Kausalgesetze gibt, weil sie zu diesen<br />

Antezedensbedingungen zählen müßten. ii) Die hart deterministische Intuition<br />

will dagegen nur mit denjenigen möglichen Welten operieren, in denen<br />

dieselben Gesetze gelten wie in der aktualen, <strong>und</strong> zwar weil diese Gesetze<br />

zu den Antezedensbedingungen des PAM zählen. Daß damit auf eine Weise<br />

›Druck‹ auf das PAM ausgeübt wird, der seine Geltung letztlich sprengt, zeigt<br />

die Struktur des van Inwagenschen Arguments für den Inkompatibilismus.<br />

iii) Die Lewis-Lösung selbst umfaßt mögliche Welten mit unterschiedlichen<br />

Mengen von speziellen Kausalgesetzen <strong>und</strong> nimmt diese von daher in toto<br />

aus den Antezedensbedingungen für das PAM heraus. Wie oben bereits angedeutet,<br />

kann diese Ausblendung genau der Preis der Klärung eines möglicherweise<br />

unscharfen Vorverständnisses sein, aus dem i) <strong>und</strong> ii) ihre Plausibilität<br />

beziehen.<br />

Der Rekurs auf die Ewigkeitslösung in Verbindung mit der Funktion Gottes<br />

als Garant der Vernunfteinheit kann nun in einem bestimmten Sinn allen<br />

Vorgaben aus i) bis iii) gerecht zu werden. ad i) In bezug auf das indefinit<br />

ausdehnbare Etwas der Erscheinungswelt, die aber nicht als Ganze gegeben<br />

ist, läßt sich in der Tat behaupten, daß insofern keine speziellen Naturgesetze<br />

vorliegen, als es für sie kein extramentales Korrelat gibt. ad ii) Die Gesetze<br />

der aktualen Welt wurden ausgewählt, weil die einzelnen Handelnden zu den<br />

einzelnen Zeitpunkten so oder anders haben handeln können <strong>und</strong> dann in der<br />

Tat auf eine bestimmte Weise handeln. Aufgr<strong>und</strong> seiner Ewigkeit kann Gott<br />

erkennen, auf welche Weise die Handelnden von ihrer Freiheit Gebrauch machen.<br />

ad iii) Die unterschiedlichen Mengen spezieller Naturgesetze beziehen<br />

sich ebenfalls auf die Perspektive sub ratione aeternitatis. Hätten die einzelnen<br />

Handelnden auf andere Weise von ihrer Freiheit Gebrauch gemacht, so<br />

wären im göttlichen Erkenntnisvermögen andere spezielle Kausalgesetze für<br />

die aktuale Welt.<br />

Die in diesem Beitrag entwickelte Interpretation <strong>Kants</strong> mag überraschend<br />

›metaphysisch‹ oder gar ›theologisch‹ sein, präsentiert sie doch Kant als<br />

›altered law‹-Kompatibilist im Rekurs auf die Schöpfungsidee. Daß dies tief<br />

verwurzelten Rezeptionsmustern zuwiderläuft, bedarf kaum der Erwähnung,<br />

was angesichts der Berufung auf eine Vorlesungsnachschrift zur Stützung<br />

dieser These Bedenken nie ganz ausräumen können wird, hier doch nicht den


76 Wolfgang Ertl<br />

›eigentlichen Kant‹ vor uns zu haben. Es scheint allerdings keineswegs ein geringer<br />

Vorzug dieser Interpretation zu sein, eine Antwort auf die Frage nach<br />

dem Gr<strong>und</strong> der eigentümlichen Engführung des Freiheits- <strong>und</strong> Schöpfungsproblems<br />

in der dritten Antinomie zu liefern, die uns darüber hinaus vor der<br />

Notwendigkeit bewahrt, Kant just in bezug auf eines der Herzstücke seiner<br />

Philosophie beinahe triviale Fehler unterstellen zu müssen. Damit soll indessen<br />

nicht schon behauptet werden, daß Kant’s ›altered past‹-Kompatibilismus<br />

in vollem Umfang systematisch überzeugen kann. Dazu bedürfte es einer<br />

eingehenden Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ewigkeit im Hinblick<br />

auf die Frage nach seiner Kohärenz, <strong>und</strong> zwar insbesondere was die Möglichkeit<br />

göttlichen Wissens zeitlicher <strong>und</strong> kontingenter Ereignisse anbelangt. 46 In<br />

diesem Beitrag ging es einzig um den Versuch nachzuweisen, daß Kant auf<br />

diese Weise das Problem menschlicher Freiheit gelöst zu haben glaubt. Eine<br />

nicht weniger provozierende Pointe dieser Lösung besteht in der Behauptung,<br />

daß der physikalische Determinist von denselben starken ›theologischen‹<br />

Voraussetzungen abhängig ist wie der Kantische Kompatibilist. Wenn es zudem<br />

gelungen ist zu zeigen, daß <strong>Kants</strong> Stategie eine eingehende Überprüfung<br />

verdient, so haben diese Ausführungen ihr Ziel erreicht.<br />

46 Eine detallierte Studie zu diesem Thema, die zudem zu einem positiven Ergebnis<br />

kommt, wurde vorgelegt von Robinson: Eternity and Freedom: A Critical Analysis of<br />

Divine Timelessness as a Solution to the Foreknowledge/Free Will Debate. Robinson<br />

beschäftigt sich allerdings nicht mit Kant, sondern mit den klassischen Vertretern dieses<br />

Ansatzes, nämlich Boethius, Anselm <strong>und</strong> Thomas sowie mit deren modernen Kritikern<br />

wie Stump/Kretzmann, John Yates <strong>und</strong> Brian Leftow.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!