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Mit Freiheit und Werten zu Wohlstand. Aus dem Erfahrungsschatz ...

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<strong>Mit</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>und</strong> <strong>Werten</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wohlstand</strong><br />

K. Villiger / 22.05.2013<br />

<strong>Aus</strong> <strong>dem</strong> <strong>Erfahrungsschatz</strong> eines Pendlers zwischen Wirtschaft <strong>und</strong> Politik<br />

Walter-Eucken-Vorlesung 2013<br />

Einleitung<br />

Ich fühle mich sehr geehrt, hier an der Wiege des Ordoliberalismus sprechen <strong>zu</strong> dürfen. Ich<br />

bin zwar Maschineningenieur mit einem Diplom in Nukleartechnik (will mir aber Bemer-<br />

kungen <strong>zu</strong>m Atomausstieg heute verkneifen!), wurde aber in meinem Denken von Ökono-<br />

men wie Eucken, Müller-Armack, Röpke <strong>und</strong> Erhard stark beeinflusst. Ich habe, als ich Ihre<br />

Einladung erhielt, in meinem Büchergestell ein Rororo-Taschenbuch aus <strong>dem</strong> Jahre 1969<br />

gef<strong>und</strong>en, völlig vergilbt, mit für mein heutiges Alter <strong>zu</strong> klein gedruckter Schrift <strong>und</strong> voller<br />

Bleistiftmarkierungen, nämlich Euckens Gr<strong>und</strong>sätze der Wirtschaftspolitik. Herzlichen<br />

Dank also für die Einladung.<br />

Meine Grossmutter gründete 1910 in Tiengen am Oberrhein die Deutsche Niederlassung<br />

unseres Familienunternehmens. Ich führte zwar während 23 Jahren das Schweizer Stamm-<br />

haus, war aber <strong>Mit</strong>geschäftsführer <strong>und</strong> Aufsichtsrat der von meinem Bruder geführten Vil-<br />

liger Deutschland <strong>und</strong> Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft in München. Ich lud in<br />

meinem ersten Präsidialjahr Roman Herzog <strong>zu</strong>m Staatsbesuch ein, einen liberalen Geist,<br />

<strong>dem</strong> ich mich sehr verwandt fühle, <strong>und</strong> ich stritt mit Hans Eichel über die Zinsbesteuerung.<br />

Immer hatte ich das Gefühl, eigentlich unter Fre<strong>und</strong>en <strong>zu</strong> weilen. Ich fühle mich Ihrem<br />

Land verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> zwar von Kindesbeinen an. Auch wenn Sie von mir heute die eine<br />

oder andere kritische Bemerkung hören: Sie entspricht der Sorge unter Fre<strong>und</strong>en, nicht<br />

der Spannung zwischen Konkurrenten.<br />

Ich hatte in meinem Leben das grosse Privileg, in oft schwierigen Situationen in Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Politik Verantwortung <strong>zu</strong> tragen. Ich will heute versuchen, einige meiner wichtigsten<br />

Erfahrungen aus 46 Jahren Berufsleben als mittelständischer Unternehmer, Verteidigungs-<br />

<strong>und</strong> Finanzminister sowie Verwaltungsrat global tätiger Unternehmen in 10 Thesen <strong>zu</strong><br />

verdichten. Es geht mir nicht darum, heute meine Analyse der Finanzkrise dar<strong>zu</strong>legen. Ich<br />

werde mir aber gestatten, <strong>zu</strong>r Exemplifizierung meiner Thesen auch auf aktuelle Entwick-<br />

lungen Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> nehmen.<br />

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1. These: Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg sind eine Funktion von Institutionen, Kultur, Menschen<br />

<strong>und</strong> Zufall: E = I + K + M + Z<br />

Ich habe kürzlich versucht, meine Lebenserfahrung mit einer plakativen Formel – ich nen-<br />

ne sie Lebensformel – <strong>zu</strong> symbolisieren. Was in Politik <strong>und</strong> Wirtschaft geschieht, ist die<br />

Folge menschlichen Handelns. Die grosse Frage ist, warum Menschen so handeln wie sie<br />

handeln, <strong>und</strong> wie erreicht werden kann, dass das Handeln einzelner Individuen in seiner<br />

Summe <strong>zu</strong> Ergebnissen führt, welche den Menschen ein Leben in Würde <strong>und</strong> <strong>Wohlstand</strong><br />

ermöglichen. Welche Determinanten bestimmen letztlich das, was Menschen tun oder un-<br />

terlassen? So einfach die Frage ist, so schwierig ist die Antwort. Zunächst sind da die Men-<br />

schen selbst als Individuen. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass jeder Mensch anders ist.<br />

Charaktere, Talent <strong>und</strong> Intelligenz sind ungleich verteilt. Auch das Verhalten der Menschen<br />

gegenüber anderen Menschen könnte unterschiedlicher nicht sein. Die Erfahrung zeigt<br />

auch, dass immer wieder herausragende Persönlichkeiten die Dinge stark beeinflussen. Es<br />

ist deshalb eine Selbstverständlichkeit, in der Lebensformel den Menschen <strong>zu</strong> verankern.<br />

Nun zeigt die Erfahrung auch, dass sich die gleichen Menschen je nach äusseren Umständen<br />

anders verhalten. Warum können Teile des gleichen Volkes gleichzeitig eine Diktatur à la<br />

DDR <strong>und</strong> eine B<strong>und</strong>esrepublik aufbauen? Warum haben die Türkei <strong>und</strong> Griechenland, bei-<br />

de noch vor 10 Jahren mausearm, eine derart unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung<br />

eingeschlagen? Menschen, <strong>und</strong> dies zeigt auch die moderne Verhaltensökonomie, reagieren<br />

auf Anreize. Anreize erzeugen Erwartungen, welche Menschen da<strong>zu</strong> bewegen, etwas an<strong>zu</strong>-<br />

streben oder <strong>zu</strong> vermeiden, etwas <strong>zu</strong> tun oder <strong>zu</strong> unterlassen. Anreize entstehen aus zwei<br />

Quellen: Einerseits erzeugen Institutionen Anreize, sei es durch Regeln, Vorschriften oder<br />

gesicherte Freiräume, andererseits ist es die obwaltende Kultur, welche Menschen veran-<br />

lassen kann, etwas <strong>zu</strong> tun oder eben nicht <strong>zu</strong> tun. Dies bedeutet, dass die Lebensformel ne-<br />

ben den Menschen auch die Institutionen <strong>und</strong> die Kultur enthalten muss.<br />

In unserer komplexen Wirklichkeit spielt der Zufall eine grössere Rolle, als wir denken.<br />

Aber eigentlich wissen wir das <strong>und</strong> haben in der Umgangssprache eine positive <strong>und</strong> negati-<br />

ve Bezeichnung für den Zufall entwickelt: Glück <strong>und</strong> Pech. Die Menschheit, die aus Milliar-<br />

den in der Wirtschaft <strong>und</strong> Politik tätigen Akteuren besteht, ist letztlich ein immenses Ver-<br />

such-Irrtum-System. Es ist völlig klar, dass in einem solchen System immer irgendwer Er-<br />

folg hat, aber auch immer irgendwer Misserfolg. Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg sind deshalb nicht<br />

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immer auf Können <strong>und</strong> Verhalten <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen, sondern schlicht auf Zufall. Der Zufall<br />

braucht in der Lebensformel deshalb einen prominenten Platz. Er verkörpert in der For-<br />

mel, die alles erklären soll, so<strong>zu</strong>sagen das Unerklärliche <strong>und</strong> das Unvorhersehbare.<br />

2. These: Menschen reagieren meist anders auf Regulierung, als die Politiker gerne möch-<br />

ten.<br />

Ich habe erwähnt, dass Institutionen das menschliche Handeln stark beeinflussen. Institu-<br />

tionen sind die rechtlichen <strong>und</strong> organisatorischen Leitplanken, innerhalb derer sich die<br />

menschliche Tätigkeit entfalten kann. Sie setzen Grenzen <strong>und</strong> schaffen Anreize. Sie sind<br />

gleichsam die Hardware, welche das kollektive Zusammenleben <strong>und</strong> Handeln der Men-<br />

schen strukturiert. Beim Staat sind das Verfassung, Gesetze, Verordnungen, Regierung, Par-<br />

lamente, Gerichte, Verwaltung usw. Bei der Wirtschaft <strong>und</strong> den Unternehmen sind es die<br />

staatlich verordnete Wirtschaftsverfassung, generell die staatlichen Rahmenbedingungen,<br />

die Statuten, die Reglemente, die Governance usw.<br />

Diese Anreize verändern sich, wenn Politiker eingreifen, <strong>und</strong> zwar häufig in einer Weise,<br />

welche die Politiker weder vorausgesehen noch beabsichtigt haben. Ich machte während<br />

meiner politischen Laufbahn immer wieder die Erfahrung, dass wegen unbedachter Fehl-<br />

anreize Regulierungen anderes bewirken, als ihre Schöpfer wollten. Horst Siebert, ein<br />

Deutscher Ökonom, nannte dies den Kobra Effekt. Vor Jahrzehnten musste sich der indi-<br />

sche Vizekönig offenbar mit Klagen wegen einer <strong>zu</strong>nehmenden Kobraplage herumschlagen.<br />

Um die Kobrapopulation <strong>zu</strong> reduzieren, bezahlte er je<strong>dem</strong> eine Prämie, der einen Kobra-<br />

kopf ablieferte. Das Gegenteil geschah: Die Kobras begannen sich noch viel rascher <strong>zu</strong> ver-<br />

mehren. Die Menschen hatten begonnen Kobras <strong>zu</strong> züchten, um in den Genuss der Prämie<br />

<strong>zu</strong> kommen.<br />

Ich darf nur wenige Beispiele von Kobraeffekten erwähnen. Ich fange mit einer Erfahrung<br />

an, die ich als junger Unternehmer in Deutschland machte. Als Deutschland meiner Erinne-<br />

rung nach etwa anfangs der 70iger Jahre die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vom ersten<br />

Tag an einführte, stieg der Krankenstand bei Villiger Deutschland in München <strong>und</strong> Berlin<br />

um r<strong>und</strong> 100%, in Tiengen – bei den bescheidenen Badensern, wie mein Vater <strong>zu</strong> sagen<br />

pflegte – nur um etwa 30%. Das schweizerische Pensionskassengesetz schreibt einen poli-<br />

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tisch festgelegten Mindestzins <strong>und</strong> einen politisch festgelegten Umwandlungssatz für die<br />

Umrechnung des Sparkapitals in die Rente vor, um möglichst hohe Renten <strong>zu</strong> sichern. Lei-<br />

der tun weder die Märkte noch die Demographie der Politik den Gefallen, sich nach ihr <strong>zu</strong><br />

richten. Das bringt viele Kassen in existentielle Schwierigkeiten. Als die Schweiz vor eini-<br />

gen Jahren den Goldhandel mit der Warenumsatzsteuer belastete, verschwand dieser<br />

Goldhandel auf Nimmerwiedersehen nach London. <strong>Mit</strong> den Finanztransaktionssteuern in<br />

einigen EU Ländern dürften sich ähnliche Folgen wie beim Schweizer Goldhandel ergeben.<br />

Meist sind es Marktkräfte, welche sich als stärker als falsch konzipierte Gesetze erweisen<br />

<strong>und</strong> sich auf Umwegen trotz<strong>dem</strong> durchsetzen, allerdings selten im Sinne der Erfinder. So-<br />

lange beispielsweise Steuern so hoch sind, dass die Bürger kein faires Preis- Leistungsver-<br />

hältnis mehr <strong>zu</strong> erkennen vermögen, werden Schwarzarbeit <strong>und</strong> Steuerhinterziehung nie<br />

aus<strong>zu</strong>rotten sein.<br />

3. These: Leistung, Investieren <strong>und</strong> Sparen müssen sich lohnen<br />

<strong>Wohlstand</strong> wird nicht vom Staat, wie viele Politiker glauben, sondern von Millionen von<br />

Menschen durch Leistung erarbeitet. Das tun diese Menschen nur, wenn die Institutionen<br />

ihnen die Früchte dieser Leistung nicht vergällen.<br />

Ökonomisch leistungsfähige Institutionen erlauben allen Menschen die Entfaltung ökono-<br />

mischer Aktivitäten, ermöglichen ihnen die Nut<strong>zu</strong>ng ihrer Fähigkeiten <strong>und</strong> Talente <strong>und</strong><br />

gewährleisten, dass sie die Früchte ihrer Anstrengungen behalten dürfen. Bildung, Weiter-<br />

bildung, Sparen, Investieren <strong>und</strong> Innovieren lohnen sich. Privateigentum ist gesichert, <strong>zu</strong>-<br />

reichende öffentliche Dienstleistungen stehen <strong>zu</strong>r Verfügung, private Verträge werden<br />

durchgesetzt, es besteht ein langfristig berechenbares <strong>und</strong> stabiles wirtschaftliches Spiel-<br />

feld, <strong>und</strong> das System ist offen für Innovationen <strong>und</strong> neue Geschäftstätigkeiten. Da<strong>zu</strong> kommt<br />

das wichtige Eucken’sche Prinzip, wonach die Haftung im Misserfolgsfall so<strong>zu</strong>sagen der<br />

Preis dafür ist, dass man die Früchte des Erfolgs behalten darf.<br />

Ein weiteres ist wichtig: Nur ständige Erneuerung, nicht Strukturerhaltung kann Wohl-<br />

stand erhalten. Schumpeter nannte das die „Creative Destruction“. Deshalb muss alles ver-<br />

mieden werden, was Strukturwandel behindert: Übersteigerter Kündigungsschutz, struk-<br />

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turerhaltende Subventionen, Ächtung neuer Technologien wegen diffuser Ängste, Blockie-<br />

rung von notwendigen Stillegungen, Markteintrittsbarrieren etc.<br />

Lassen Sie mich das an einigen aktuellen Beispielen verdeutlichen!<br />

Anreize <strong>zu</strong>m Sparen hat man dann, wenn vom Lohn <strong>zu</strong>nächst überhaupt etwas <strong>zu</strong>m Sparen<br />

übrigbleibt <strong>und</strong> wenn man Vertrauen haben kann, dass das Ersparte seinen Wert behält<br />

<strong>und</strong> später nicht wegbesteuert wird. Alle drei Erwartungen werden derzeit erschüttert.<br />

Steuern <strong>und</strong> Sozialabgaben sind auch für normale Verdiener in vielen Ländern so, dass<br />

schlicht nichts <strong>zu</strong>m Sparen bleibt, es sei denn, über Steuerhinterziehung oder Schwarzar-<br />

beit. Die Geldpolitik im Nachgang <strong>zu</strong>r Finanzkrise, welche die gravierenden Fehlleistungen<br />

der Finanzpolitik ausbügeln soll, führt in vielen Ländern <strong>zu</strong> realen Negativzinsen, welche<br />

schon jetzt <strong>und</strong> ohne Inflation das Ersparte auf<strong>zu</strong>zehren beginnen. Das bringt beispielswei-<br />

se Pensionskassen in Finanzierungsschwierigkeiten. Da<strong>zu</strong> kommt die <strong>zu</strong>nehmende Angst<br />

vor Inflation, der perfidesten Form <strong>dem</strong>okratisch nicht legitimierter <strong>und</strong> behördlich ver-<br />

ordneter Enteignung. Weiter hat die Teilenteignung der Einleger auf zypriotischen Banken<br />

<strong>und</strong> die ernsthafte Diskussion darüber, ob auch Anleger mit weniger als 100'000 Euro <strong>zu</strong>r<br />

Kasse <strong>zu</strong> bitten seien, gezeigt, dass die heute Regierenden im Notfall <strong>zu</strong> je<strong>dem</strong> Bruch lang-<br />

fristig gegebener Versprechen fähig sind. Es sind also diesmal nicht Könige, Fürsten oder<br />

die Diktatoren, welche <strong>zu</strong>r Enteignung ihrer Untertanen ansetzen, sondern Demokratien.<br />

Das ist hinsichtlich des Vertrauens in die Gemeinwesen verheerend.<br />

<strong>Mit</strong> den Anreizen <strong>zu</strong>m Investieren <strong>und</strong> <strong>zu</strong>m Innovieren steht es noch schlimmer. Investieren<br />

ist immer mit Verlustrisiken verb<strong>und</strong>en. Deshalb ist eine Investition nur dann verantwort-<br />

bar, wenn das Risiko entschädigt wird, wenn langfristige Rechtssicherheit <strong>und</strong> Berechen-<br />

barkeit der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestehen, wenn der Arbeitsmarkt flexi-<br />

bel ist <strong>und</strong> auch die Bereinigung von Fehlinvestitionen <strong>und</strong> den Ersatz von Obsoletem er-<br />

möglicht (eben die Creative Destruction), wenn die behördlichen Hürden einigermassen<br />

bewältigbar bleiben <strong>und</strong> wenn der Erfolg der Investition sowie die überdurchschnittliche<br />

Leistung nicht übermässig besteuert werden. In allen diesen Bereichen besteht in der EU,<br />

von Land <strong>zu</strong> Land natürlich unterschiedlich, Gr<strong>und</strong> <strong>zu</strong>r Besorgnis. Die erwähnten Diskussi-<br />

onen um die Einlagen in Zypern, die fortgesetzte Bruch der Maastricht Verträge, die Nicht-<br />

einhaltung der Nichtbeistands-Klausel in Art. 25 des Vertrages von Lissabon <strong>und</strong> die durch<br />

politische <strong>und</strong> mediale Empörungsbewirtschaftung getriebenen handstreichartigen Ein-<br />

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führungen neuer Restriktionen wie Salärvorschriften oder Finanztransaktionssteuern, zer-<br />

stören systematisch Vertrauen in die Zuverlässigkeit <strong>und</strong> Berechenbarkeit der Investiti-<br />

onsbedingungen auf europäischen Standorten.<br />

In Ländern, wo Gewerkschaften es durch politischen Druck fertigbringen, etwa durch über-<br />

steigerten Kündigungsschutz die Anreize der Unternehmen ab<strong>zu</strong>töten, Menschen ohne Ar-<br />

beit <strong>und</strong> Junge ein<strong>zu</strong>stellen, werden ganze Gruppen vom Arbeitsmarkt abgeschottet <strong>und</strong><br />

notwendige Restrukturierungen erschwert oder mit fatalen Folgen unterlassen. In Frank-<br />

reich etwa macht eine Vernet<strong>zu</strong>ng von Gewerkschaft <strong>und</strong> Politik Restrukturierungen <strong>und</strong><br />

Betriebsstilllegungen so langwierig <strong>und</strong> teuer, dass grosse Konzerne neue Unternehmen<br />

kaum mehr dort ansiedeln. Nestlé hätte die zwei jüngsten Nespresso Fabriken vom Markt<br />

her eigentlich in Frankreich bauen müssen. Die verheerenden gewerkschaftlichen <strong>und</strong> be-<br />

hördlichen Bremsmanöver bei der der Stilllegung einer französischen Glasflaschenfabrik<br />

<strong>und</strong> der dringend notwendigen Restrukturierung von Perrier haben aber Nestlé bewogen,<br />

diese beiden Fabriken in der Schweiz <strong>zu</strong> bauen.<br />

Dass gerade auch in den besonders notleidenden europäischen Staaten auswuchernde <strong>und</strong><br />

verkrustete Bürokratien, die teilweise auch von Korruption durchsetzt sind, langwierige<br />

Bewilligungsverfahren <strong>und</strong> unübersichtliche <strong>und</strong> dichte Regulierungsgeflechte eigentliche<br />

Investitionsverhinderer sind, sei der Vollständigkeit halber ebenfalls erwähnt. Das europä-<br />

ische politische Klima, welches im Gegensatz etwa <strong>zu</strong>m Klima in Asien oder den USA wirt-<br />

schaftliche Tätigkeit als letztlich minderwertiger als kulturelle oder politische betrachtet<br />

<strong>und</strong> welches wirtschaftlichen Erfolg mit einer Mischung aus Neid <strong>und</strong> Misstrauen betrach-<br />

tet, begünstigt unternehmerische Tätigkeit ebenfalls nicht.<br />

4. These: <strong>Freiheit</strong> über alles! Aber sie hat einen Preis.<br />

Für mich war in der Politik immer das Bild des freien, mündigen <strong>und</strong> selbstverantwortli-<br />

chen Bürgers wegleitend, <strong>und</strong> nicht das Bild des staatlich gegängelten <strong>und</strong> auf mannigfache<br />

Art vom Staat abhängigen Bürgers. Die schleichende Entmündigung der Bürger, sei es<br />

durch ein immer dichteres Vorschriftengeflecht oder durch Ködern mit staatlichem Manna,<br />

führt <strong>zu</strong>nehmend <strong>zu</strong> einer Drift vom Selbstverantwortungs- <strong>zu</strong>m Anspruchsbürger mit all<br />

den damit verb<strong>und</strong>enen politischen Konsequenzen für das Verhalten von Politikern <strong>und</strong><br />

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Parteien. Ich müsste lügen, wenn ich nicht bekennte, dass dies eine meiner grössten Sorgen<br />

ist. Es scheint, dass für immer mehr Menschen die Gewöhnung an <strong>Freiheit</strong> das Gefühl für<br />

deren Wert hat verkümmern lassen.<br />

Nun zeigt die Erfahrung, dass nur Marktwirtschaft <strong>zu</strong>reichenden <strong>Wohlstand</strong> für alle erar-<br />

beiten kann. Nur Märkte <strong>und</strong> nicht Pläne schaffen es, Angebot <strong>und</strong> Nachfrage in Überein-<br />

stimmung <strong>zu</strong> bringen <strong>und</strong> dafür <strong>zu</strong> sorgen, dass die richtige Anzahl Güter <strong>zu</strong>r richtigen Zeit<br />

in der <strong>zu</strong>reichenden Qualität am richtigen Ort <strong>zu</strong>r Verfügung steht. Das ist deshalb möglich,<br />

weil Märkte Millionen individueller Einzelentscheide <strong>zu</strong> aggregieren vermögen. Ein <strong>dem</strong>o-<br />

kratischerer Prozess ist eigentlich gar nicht vorstellbar. Im Wettbewerb wird Erfolg be-<br />

lohnt <strong>und</strong> Misserfolg bestraft. Das schafft Anreize <strong>zu</strong>r Innovation <strong>und</strong> <strong>zu</strong> ständigen Höchst-<br />

leistungen. Weil erfolgreiche Menschen aber immer wieder versuchen werden, den einmal<br />

erreichten Erfolg über Einschränkungen des Wettbewerbs für sich auf Dauer <strong>zu</strong> sichern,<br />

muss der Staat stets für Wettbewerb sorgen. Der Gesamtwohlstand wächst dann, wenn die<br />

Produktionsfaktoren Kapital <strong>und</strong> Arbeit durch technologischen Fortschritt <strong>und</strong> <strong>zu</strong>nehmen-<br />

des Wissen <strong>und</strong> Können produktiver werden.<br />

Seit der Finanzkrise wird uns von Politikern, deren Geschäftmodell die Umverteilung des-<br />

sen ist, was andere erarbeiten, <strong>und</strong> von vielen Medien eingehämmert, die Welt werde stän-<br />

dig ungleicher <strong>und</strong> ärmer <strong>und</strong> die Märkte hätten versagt <strong>und</strong> bedürften der Korrektur<br />

durch die Politik. Bei Nobelpreisträger Daniel Kahneman können Sie nachlesen, dass viele<br />

Menschen eine permanent wiederholte falsche <strong>Aus</strong>sage mit der Zeit <strong>zu</strong> glauben beginnen.<br />

Das hat eine Gerechtigkeitsdiskussion ausgelöst, die fatal an Phantomschmerzen erinnert.<br />

Natürlich rede ich nicht von den echten Tragödien, die sich in einigen Eurostaaten selbst-<br />

verschuldet ab<strong>zu</strong>spielen beginnen. Aber ansonsten ist das Gegenteil wahr. So ist etwa das<br />

Verhältnis der Einkommen der reichsten <strong>und</strong> der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung in<br />

Ihrem <strong>und</strong> meinem Land sei Jahren kaum verändert <strong>und</strong> viel gesünder als in den Ländern<br />

mit den überregulierten Arbeitsmärkten. Die Welt ist nicht ungleicher geworden. Aber<br />

Marktwirtschaft <strong>und</strong> nicht Umverteilung von Nord nach Süd hat H<strong>und</strong>erte Millionen aus<br />

Armut befreit. Der Glaube an das Gegenteil führt indessen <strong>zu</strong> einer Regulierungswut, die,<br />

wird sie nicht gebremst, <strong>zu</strong> jenem Zustand führen wird, den <strong>zu</strong> verhindern man vorgibt.<br />

Meine Überlegungen <strong>zu</strong>r Bedeutung der Institutionen zeigen, dass der Staat in einer<br />

Marktwirtschaft von zentraler Bedeutung ist. Aber er bedarf der Grenzen. Denn alles das<br />

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kann Marktwirtschaft nur leisten, wenn sie über <strong>zu</strong>reichende Freiräume <strong>zu</strong>r Entfaltung<br />

ihrer Kreativität verfügt. Diese Freiräume wird ihr in einer Demokratie die Politik aber nur<br />

gewähren, wenn die Menschen das Vertrauen haben, dass die Wirtschaft ihre <strong>Freiheit</strong>en<br />

mit Verantwortung nutzt. Das hat viel mit Kultur <strong>zu</strong> tun.<br />

Während die Institutionen die Hardware des menschlichen Zusammenlebens sind, ist die<br />

Kultur die Software. Kultur besteht aus ungeschriebenen, aber gelebten Normen <strong>und</strong> Ver-<br />

haltensweisen. Kultur ist nichts Angeborenes, sondern etwas von Menschen Geschaffenes,<br />

Künstliches. Eine gute Kultur veranlasst die Menschen, das <strong>zu</strong> tun, was sie sollen, ohne dass<br />

man ihnen das befehlen muss. Obschon ein durch Kultur vorgeschriebenes Handeln freiwil-<br />

lig ist, gibt es faktisch sehr wirksame, aber subtile Sanktionsmechanismen, welche kultur-<br />

konformes Verhalten begünstigen. Ich denke etwa an Ächtung eines Fehlbaren durch die<br />

Gesellschaft oder die <strong>Mit</strong>arbeiter.<br />

Kultur ist in der Wirtschaft deshalb wichtig, weil auch das beste Aktienrecht, das beste<br />

Verwaltungsratsreglement oder der beste Ethikkodex wenig taugen, wenn Personen am<br />

Werk sind, denen es an Integrität mangelt oder wenn keine Compliance-Kultur herrscht.<br />

Man kann fehlende Kultur auch nicht durch immer umfassendere Regulierung ersetzen.<br />

Von einer gewissen Regulierungsintensität an werden Kultur <strong>und</strong> Verantwortungsbe-<br />

wusstsein zerstört. Wo alles <strong>und</strong> jedes geregelt ist, verkümmert die Selbstverantwortung.<br />

Weil das sich Herumschlagen mit den Vorschriften immer lästiger wird <strong>und</strong> die Hand-<br />

lungsoptionen <strong>zu</strong>nehmend eingeschränkt werden, sucht man akribisch nach Lücken in den<br />

Vorschriften, die man mit umso besserem Gewissen nutzt, als man davon ausgeht, dass die<br />

Lücke gewiss schon durch eine Vorschrift geschlossen wäre, wenn man sie nicht nutzen<br />

dürfte. Das Checklistendenken nimmt überhand. Verwaltungsräte konzentrieren sich auf<br />

das Durchackern der explosiv wachsenden Checklisten <strong>und</strong> bekommen das beruhigende<br />

Gefühl, ihre Pflicht getan <strong>zu</strong> haben, wenn alle Kästchen abgehakt sind. Aber vielleicht haben<br />

sie darob das Nachdenken vergessen.<br />

Wie ich schon angedeutet habe, werden die Bürger via Politik den Unternehmen die not-<br />

wendige <strong>Freiheit</strong> aber nur gewähren, wenn sie annehmen, dass diese <strong>Freiheit</strong> mit Verant-<br />

wortung genutzt wird. Der Glaube daran hat in der Finanzkrise gelitten. Fehlleistungen von<br />

Managern <strong>und</strong> ganzen Branchen haben der Glaubwürdigkeit der Wirtschaft geschadet. Das<br />

hat eine enorme Regulierungswelle ausgelöst. Die <strong>Freiheit</strong> hat also einen Preis: Die Ver-<br />

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antwortung. Nicht alles, was nicht verboten ist, darf auch getan werden. Gerade deshalb ist<br />

im Unternehmen die Kultur genauso wichtig wie die eigentlichen Reglemente <strong>und</strong> Regeln.<br />

Etwas vereinfacht kann die Unternehmenskultur mit den Tugenden des ehrbaren Kauf-<br />

mannes umschrieben werden. Das sind keine philosophisch hochfliegenden moralisch-<br />

ethischen Ansprüche, sondern so einfache Dinge wie das Verantwortungsbewusstsein nicht<br />

nur gegenüber <strong>dem</strong> Unternehmen <strong>und</strong> seinen Aktionären, sondern auch gegenüber der<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> der Umwelt. Da<strong>zu</strong> gehören auch Werte wie Fairplay, Wahrhaftigkeit, Red-<br />

lichkeit <strong>und</strong> Ehrlichkeit. Ein korrektes ethisches Verhalten ist sogar <strong>zu</strong> einem wichtigen<br />

Erfolgsfaktor geworden. Mehr <strong>und</strong> mehr Konsumentenorganisationen, NGO's, Medien <strong>und</strong><br />

Bürgerinitiativen wachen über die Ethik der Unternehmen. Das ist gut so. Verstösse gegen<br />

die ethische Kultur können sehr handfeste negative Folgen für das Unternehmen haben.<br />

Auch ethische Codes <strong>und</strong> Verhaltensvorschriften nützen wenig, wenn keine Unterneh-<br />

menskultur besteht, wonach diese Vorschriften eingehalten werden müssen. Gerade<br />

Grossunternehmen müssen deshalb die Kultur bewusst pflegen. Dies braucht natürlich<br />

schriftlich festgehaltene Regeln, aber die grosse Aufgabe besteht darin, diese Regeln mit<br />

Leben <strong>zu</strong> erfüllen, etwa durch Vorbild, Schulung, Belohnung <strong>und</strong> Sanktion. Und bei der<br />

<strong>Aus</strong>wahl der Manager muss der Charakter ein ebenso wichtiges Kriterium wie die Fach-<br />

kenntnisse sein.<br />

Selbstverständlich spielen in den Unternehmen auch institutionelle Faktoren eine wichtige<br />

Rolle. Ich denke hier an die schon erwähnten Reglemente, Governance Regeln, Codes of<br />

Conduct u. dgl. Auch die Lohnsysteme können Anreize beinhalten, welche die Unterneh-<br />

mensentwicklung massgeblich beeinflussen, positiv oder negativ. Bei alle <strong>dem</strong>, was ein Un-<br />

ternehmen regelt, muss auch es – wie ein Staat - die Anreizstrukturen berücksichtigen.<br />

5. These: Es gibt <strong>zu</strong>r Demokratie keine Alternative. Aber ihre Fehlanreize bedürfen der<br />

Korrektur.<br />

Für <strong>Wohlstand</strong> unentbehrliche Erfordernisse wie Chancengleichheit, Bildung für alle <strong>und</strong><br />

<strong>zu</strong>reichende <strong>Freiheit</strong>en haben viel mit <strong>dem</strong> politischen System <strong>zu</strong> tun. Nicht<strong>dem</strong>okratische<br />

politische Institutionen begünstigen privilegierte Personen, Familien oder Gruppen, si-<br />

chern Wenigen grosse, kaum begrenzte <strong>und</strong> wenig kontrollierte Machtbefugnisse <strong>und</strong> las-<br />

sen auf weite Strecken Willkür <strong>zu</strong>. Die privilegierte Elite strukturiert dann die ökonomi-<br />

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schen Institutionen so, dass sie die Ressourcen der übrigen Gesellschaft für sich ausbeuten<br />

kann. Demokratische politische Institutionen hingegen sichern die Gleichheit aller Bürger<br />

vor <strong>dem</strong> Gesetze, vertrauen Macht nur auf Zeit an, lassen die Abwahl von Politikern <strong>zu</strong>,<br />

welche ihre Macht missbrauchen, verteilen diese Macht breit <strong>und</strong> ermöglichen <strong>dem</strong>okra-<br />

tisch allen Gruppen Zugang <strong>zu</strong>r Macht auf Zeit.<br />

Nun sind aber gerade in der gegenwärtigen Krise bewährte Demokratien in grosse Proble-<br />

me geraten, während autokratische Systeme <strong>und</strong> „gelenkte“ Demokratien im Aufschwung<br />

sind. Für viele aufstrebende Länder hat die Demokratie als an<strong>zu</strong>strebendes Modell viel an<br />

Strahlungskraft verloren. Ich bin <strong>und</strong> bleibe allerdings überzeugt, dass in den meisten jetzt<br />

so gelobten Halb- oder Pseudo<strong>dem</strong>okratien Probleme aufbrechen werden, welche den Er-<br />

folgspfad abrupt beenden könnten, wenn diese Länder sich nicht politisch <strong>und</strong> <strong>dem</strong>okra-<br />

tisch <strong>zu</strong>reichend <strong>zu</strong> öffnen vermögen. Das selbstherrliche Gebaren Erdogans gefährdet <strong>zu</strong>r-<br />

zeit nicht nur die politischen Errungenschaften der Türkei, sondern auch deren eindrückli-<br />

chen wirtschaftlichen Erfolg, weil es das Vertrauen ausländischer Investoren zerstört, auf<br />

welche das Land <strong>zu</strong>r Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits angewiesen ist. Langfristiger<br />

Erfolg eines Landes bedingt eben den Einbe<strong>zu</strong>g aller massgebenden politischen, wirtschaft-<br />

lichen <strong>und</strong> kulturellen Kräfte in die politische Willensbildung, so komplex das auch sein<br />

mag. Aber Demokratien müssen versuchen, einige Fehlanreize institutionell <strong>zu</strong> korrigieren.<br />

Ich kann auch da<strong>zu</strong> nur einige Hinweise geben!<br />

Ein Charakteristikum nicht<strong>dem</strong>okratischer Systeme ist es, dass privilegierte Minderheiten<br />

die Mehrheit des Volkes <strong>zu</strong> ihren Gunsten ausbeuten. Es gibt leider auch den umgekehrten<br />

Effekt, wenn in einer Demokratie eine Mehrheit eine Minderheit ausbeutet. Wenn eine<br />

nicht betroffene <strong>dem</strong>okratische Mehrheit beispielsweise wohlhabenden Unternehmern<br />

eine so hohe Erbschaftssteuer auferlegt, dass eine Übergabe eines Unternehmens an die<br />

nächste Generation <strong>zu</strong> vernünftigen Bedingungen verunmöglicht wird, oder wenn gemäss<br />

<strong>dem</strong> François-Hollande-Modell in Frankreich eine kleine Minderheit sehr hoher Einkom-<br />

mensbezüger 75% Steuern abliefern muss, hat das wenig mit Gerechtigkeit, aber viel mit<br />

Enteignung <strong>zu</strong> tun. Das politische Signal, das solche Massnahmen aussenden, ist eindeutig:<br />

Das Eigentum hoher Leistungsträger ist nicht mehr sicher. Die langfristigen Konsequenzen<br />

trägt die gesamte Volkswirtschaft!<br />

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Die unverantwortliche explizite Verschuldung vieler Staaten <strong>und</strong> die in den Staatsrechnun-<br />

gen leider nicht sichtbare <strong>und</strong> teilweise noch dramatischere implizite Verschuldung, wel-<br />

che auf nicht finanzierte <strong>und</strong> nicht bilanzierte sozialstaatliche Leistungsversprechen <strong>zu</strong>-<br />

rück<strong>zu</strong>führen ist, gefährden in vielen Fällen den <strong>Wohlstand</strong> für Jahrzehnte. Sie sind auf ei-<br />

nen der gr<strong>und</strong>legendsten Fehlanreize der Demokratie <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen: Den gefährlichen<br />

Anreiz nämlich, aus wahlpolitischen Gründen Leistungen an die eigenen Wähler <strong>zu</strong> be-<br />

schliessen, die andere bezahlen müssen oder die man durch Schulden finanziert.<br />

Die Neigung <strong>zu</strong>r Verschuldung öffentlicher Gemeinwesen hat noch eine weitere Ursache.<br />

Private Schuldner haften bei Verlusten persönlich. Sie haben dadurch eine klare Verant-<br />

wortung. Politiker, welche Schulden beschliessen, haften indessen nie. Es sind die Steuer-<br />

zahler von morgen, die <strong>zu</strong>r Kasse gebeten werden, <strong>und</strong> dann<strong>zu</strong>mal sind längst andere Poli-<br />

tiker am Zuge. Zu<strong>dem</strong> entscheiden in der Politik immer Kollektive in komplexen Prozessen,<br />

so dass die individuell für Fehlentscheide Verantwortlichen kaum je eruierbar sind. Des-<br />

halb funktioniert in der Politik die Eucken’sche Zusammengehörigkeit von Risiko <strong>und</strong> Haf-<br />

tung nicht.<br />

<strong>Aus</strong> diesen Gründen brauchen Demokratien gewisse Selbstbindungen. Ich denke beispiels-<br />

weise an eine Schuldenbremse, welche die Politiker wie Odysseus an den Mast bindet, da-<br />

mit sie den Sirenengesängen der Wähler <strong>und</strong> Interessengruppen nicht folgen können. Ich<br />

denke aber auch an so wichtige Dinge wie Gr<strong>und</strong>rechte oder Rechtsstaat, die auch von de-<br />

mokratischen Mehrheiten nicht angetastet werden dürfen.<br />

6. These: Die Selbstverantwortung der Staaten, Gliedstaaten <strong>und</strong> Kommunen muss institu-<br />

tionell abgesichert werden.<br />

Institutionen haben über ihre Anreizstrukturen nicht nur <strong>Aus</strong>wirkungen auf das Verhalten<br />

der Menschen als Individuen, sondern auch auf das Verhalten der einzelnen Gemeinwesen,<br />

also auf Staaten, Gliedstaaten <strong>und</strong> Kommunen. Deshalb brauchen diese Gemeinwesen<br />

Strukturen, welche ihre Selbstverantwortung stärken. Bei stark zentralisierten Staaten<br />

wird <strong>zu</strong>viel Verantwortung an die oft bürgerferne Zentrale abgeschoben. Dezentrale Sys-<br />

teme, in welchen die Verantwortung für einzelne Aufgaben gemäss <strong>dem</strong> Subsidiaritätsprin-<br />

zip so tief wie möglich <strong>und</strong> damit in Bürgernähe angesiedelt ist <strong>und</strong> in welchen nach <strong>dem</strong><br />

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fiskalischen Äquivalenzprinzip für jede Aufgabe Verantwortung, <strong>Aus</strong>führung <strong>und</strong> Finanzie-<br />

rung in einer Hand sind, sind erfolgreicher <strong>und</strong> krisenresistenter als zentralistische Syste-<br />

me. Selbstverantwortlich werden Gemeinwesen aber nur dann handeln, wenn sie auch<br />

bankrott gehen können. Die Politik verlangt das richtigerweise von systemrelevanten Ban-<br />

ken. Es gilt aber auch beim Staat. In der Schweiz machte vor einiger Zeit die Gemeinde Leu-<br />

kerbad pleite, weil niemand <strong>zu</strong> Hilfe eilte, als sie durch Misswirtschaft in Probleme geriet.<br />

Nach dieser bitteren Erfahrung wird nicht so bald wieder eine Gemeinde in der Schweiz<br />

Bankrott gehen. Das Euckenprinzip von Risiko <strong>und</strong> Haftung muss auch für Gemeinwesen<br />

gelten.<br />

Gewiss hat das Credo der EU, wonach es wegen des „Level Playing Fields“ für die Wirt-<br />

schaftsteilnehmer eine <strong>zu</strong>reichende Zentralisierung braucht, eine gewisse Logik. Es wird<br />

aber unterschätzt, dass es einen Zentralisierungsgrad gibt, ab welchem negative Folgen <strong>zu</strong><br />

überwiegen beginnen, <strong>und</strong> zwar deshalb, weil mit <strong>zu</strong>nehmender Zentralisierung <strong>und</strong> Har-<br />

monisierung die Mechanismen der Selbstverantwortung geschwächt werden.<br />

Mir scheint, dieses Problem sei in der EU gravierend, <strong>und</strong> die Politik entwickle sich in der<br />

falschen Richtung. Die Gewissheit, dass mit allerhand Rettungsschirmen verhindert wird,<br />

dass ein EU-Staat Bankrott gehen kann <strong>und</strong> dass die EZB für eine nicht risikogerechte tiefe<br />

Verzinsung der Staatsanleihen sorgt, dämpft den Reformwillen der schwachen Staaten <strong>und</strong><br />

macht starke Staaten faktisch haftbar für die Schulden der Schwachen. Das erzeugt Frust<br />

bei beiden, den sich unterjocht <strong>und</strong> kontrolliert fühlenden Schwachen <strong>und</strong> den sich ausge-<br />

beutet fühlenden Starken. Der Weg <strong>zu</strong> faktischen Steuerkartellen eliminiert Schritt für<br />

Schritt die Steuerkonkurrenz, das einzige wirksame Instrument, welches die Staaten <strong>zu</strong><br />

einem für die Bürger optimalen staatlichen Preis-Leistungs-Verhältnis zwingt. Zwar redet<br />

die EU ständig vom Subsidiaritätsprinzip. Aber die konkurrierende Zuständigkeit zwischen<br />

<strong>Mit</strong>gliedstaaten <strong>und</strong> Brüssel in vielen Bereichen führt <strong>zu</strong> einer wenig systematischen Ver-<br />

lagerung von Kompetenzen nach Brüssel durch Usurpation durch eine Zentrale, die mehr<br />

Einfluss sucht, <strong>und</strong> durch Abschieben von ungeliebter Verantwortung nach Brüssel durch<br />

viele Staaten selber. Beide Phänomene kennen wir bestens auch in der Schweiz bei den<br />

Kantonen. Dieser Effekt wird befeuert durch die Ideologie der Harmonisierung, welche per<br />

se verantwortungstötend ist.<br />

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Alles das führt <strong>zu</strong> einer klaren Erosion aller Mechanismen, welche die Selbstverantwortung<br />

fördern können. In vielen Bereichen hält sich die EU an segensreiche Prinzipien, etwa im<br />

Bereich der vier <strong>Freiheit</strong>en oder vieler <strong>dem</strong>okratischer Werte. In Be<strong>zu</strong>g auf Anreize <strong>zu</strong>r<br />

Selbstverantwortung <strong>und</strong> Subsidiarität erscheint sie als eigentümlich konzeptlos.<br />

7. These: „Wo Bürgertugenden blühen, können sich die zwangsbefugten staatlichen Insti-<br />

tutionen <strong>zu</strong>rückhalten“ (Otfried Höffe)<br />

Dieser Satz von Otfried Höffe sagt etwas sehr Wichtiges aus. Man kann im Staat letztlich<br />

nicht alles <strong>und</strong> jedes regeln. Gewisse Regeln muss eine Gesellschaft so<strong>zu</strong>sagen automatisch<br />

<strong>und</strong> von sich aus einhalten, wenn sie nicht zerfallen soll. Sie muss sich an gewissen <strong>Werten</strong><br />

orientieren. Beispiele sind etwa die sogenannte Goldene Regel („Was Du nicht willst, dass<br />

man Dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern <strong>zu</strong>!“) oder die bekannten Kardinaltugenden. Ich<br />

halte eine solche Kultur für das Funktionieren eines Staatswesens nicht nur für wün-<br />

schenswert. Ich bin vielmehr überzeugt, dass Institutionen nur dann <strong>zu</strong>reichend funktio-<br />

nieren, wenn sie auf eine Kultur abgestützt sind, oder mit anderen Worten, wenn sie von<br />

den Menschen getragen werden, <strong>und</strong> das hat immer mit Kultur <strong>und</strong> <strong>Werten</strong> <strong>zu</strong> tun. Deshalb<br />

gewichte ich Kultur ebenso stark wie die Institution. Das simpelste Beispiel ist die Einhal-<br />

tung von Gesetzen. In vielen Ländern bestehen durchaus akzeptable Gesetze, aber niemand<br />

hält sie ein. Das mag Geschwindigkeitsbegren<strong>zu</strong>ngen betreffen, was wahrscheinlich für das<br />

Schicksal eines Landes nicht Match entscheidend ist, aber es kann auch die Steuermoral<br />

oder die Umweltgesetzgebung oder die täglichen Libor Meldungen betreffen, <strong>und</strong> dann<br />

wird es ernst. Auch dort, wo eine Kultur der Korruption herrscht, werden gut konstruierte<br />

Institutionen nie ihr volles Potential entwickeln können. Institutionen <strong>und</strong> Kultur ergänzen<br />

sich also gegenseitig. Wo Menschen von sich aus das Richtige tun, muss man es nicht re-<br />

geln. Wo an Sportanlässen nicht randaliert wird, braucht es keine Hooligan Gesetze.<br />

8. These: Niemand soll unverschuldet durch Not <strong>und</strong> Armut seine Würde verlieren.<br />

Eine Gesellschaft braucht eine gewisse <strong>Aus</strong>geglichenheit des <strong>Wohlstand</strong>es, damit sie stabil<br />

ist <strong>und</strong> die politischen Zustände als fair empfindet. Ich habe darauf hingewiesen, dass es<br />

überzeugende empirische Evidenz dafür gibt, dass nur eine Marktwirtschaft dieses Ziel<br />

hinreichend erreichen kann. Weil aber eine Marktwirtschaft naturgemäss auch <strong>zu</strong> Un-<br />

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gleichheiten führt, braucht es einen gewissen sozialen <strong>Aus</strong>gleich. Niemand soll unverschul-<br />

det Not leiden <strong>und</strong> dadurch seine Würde verlieren müssen. Studien zeigen, dass sozial ab-<br />

gesicherte Menschen risikofreudiger sind, <strong>und</strong> das Eingehen von Risiken ist für Wachstum<br />

wichtig. Zu<strong>dem</strong> sind Strukturanpassungen einfacher um<strong>zu</strong>setzen, wenn es ein soziales Auf-<br />

fangnetz gibt. Sozialwerke müssen aber finanziert werden. Das ist nicht ohne eine ange-<br />

messene Umverteilung möglich. Jemand muss <strong>zu</strong>erst erarbeiten, was nachher als Sozialleis-<br />

tung ausgeschüttet werden kann. Deshalb ist es wichtig, so<strong>zu</strong>sagen in der ersten Stufe eine<br />

möglichst effiziente, nicht durch soziale Fehlanreize gebremste Marktwirtschaft <strong>zu</strong> konzi-<br />

pieren, die maximale Werte schafft. In einer zweiten Stufe greift Umverteilung auf einen<br />

angemessenen Teil dieser Werte, um ausgleichend <strong>zu</strong> wirken. Was angemessen bedeutet,<br />

muss sorgsam erwogen werden.<br />

Im Wesentlichen geht es darum, dass die Zahlenden nicht überfordert werden <strong>und</strong> die Leis-<br />

tungsbezüger zwar <strong>zu</strong>reichenden Schutz erhalten, aber nicht den Leistungswillen <strong>und</strong> den<br />

Willen <strong>zu</strong>r Selbsthilfe verlieren. Falsche Anreizsysteme begünstigen bei den Zahlenden et-<br />

wa Leistungsverweigerung, Schwarzarbeit oder Steuerhinterziehung, bei den Empfängern<br />

abnehmende Lust <strong>zu</strong>r Arbeit, missbräuchliche Erschleichung von Sozialleistungen oder<br />

sogenannten Sozialtourismus.<br />

Wir wissen alle, dass die Industrieländer, auch die Schweiz, vor <strong>dem</strong>ografischen Verände-<br />

rungen stehen, welche die Finanzierung der Sozialwerke <strong>zu</strong>m Kollaps bringen können. Ich<br />

halte deshalb einen <strong>Aus</strong>bau der Sozialwerke <strong>zu</strong>rzeit nicht nur für unverantwortlich, son-<br />

dern auch für unsozial. Jetzt ist Konsolidierung angesagt.<br />

9. These: Politik braucht klare strategische Ziele <strong>und</strong> politische Leitplanken, an denen sich<br />

die einzelnen Massnahmen <strong>zu</strong>r Zielerreichung orientieren müssen.<br />

Ich will das am Beispiel der Sanierung der Schweizer B<strong>und</strong>esfinanzen zeigen, welche an-<br />

fangs der Neunzigerjahre als Folge finanzpolitischer Nachlässigkeit nach guten Jahren aus<br />

<strong>dem</strong> Ruder liefen.<br />

Eine nachhaltige Finanzpolitik hat nicht <strong>zu</strong>m Ziel, <strong>dem</strong> Bürger die Rente oder den Film-<br />

schaffenden die Subvention <strong>zu</strong> kürzen. Sie hat extrem vereinfacht gesagt <strong>zu</strong>m Ziel, durch<br />

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Standortqualität <strong>Wohlstand</strong> <strong>zu</strong> ermöglichen, durch Verteilungsgerechtigkeit politische Sta-<br />

bilität <strong>zu</strong> fördern <strong>und</strong> durch Nachhaltigkeit die Chancen der künftigen Generationen <strong>zu</strong><br />

wahren. Die Bürger werden schmerzhaften Einzelmassnahmen nur <strong>zu</strong>stimmen, wenn sie<br />

diese Massnahmen als notwendige Schritte <strong>zu</strong>r Erreichung dieses Ziels verstehen <strong>und</strong> ein-<br />

ordnen können. Die Politik braucht deshalb einen konzeptionellen Rahmen, um eine kohä-<br />

rente Finanzpolitik verständlich <strong>zu</strong> machen <strong>und</strong> <strong>zu</strong> realisieren. Zu<strong>dem</strong> ist die Diskussion<br />

solcher Konzepte bewusstseinsbildend. Deshalb muss das übergeordnete strategische Ziel<br />

klar definiert <strong>und</strong> kommuniziert werden, <strong>und</strong> es sind Leitplanken <strong>zu</strong> erarbeiten, welche für<br />

die Konzipierung der einzelnen Massnahmen massgebend sind. Die Leitplanken schaffen<br />

einen Handlungskorridor, welcher einen wirren Zickzackkurs verhindert <strong>und</strong> Politik lang-<br />

fristig erwartbar macht.<br />

Ich hatte das grosse Privileg, <strong>zu</strong>sammen mit einem hervorragenden Team <strong>und</strong> unter Bei<strong>zu</strong>g<br />

der Wissenschaft ein solches Konzept erarbeiten <strong>zu</strong> dürfen. Es war das Finanzleitbild des<br />

B<strong>und</strong>esrates vom 4. Oktober 1999, welches vom Parlament im März <strong>und</strong> Juni 2000 <strong>zu</strong>r<br />

Kenntnis genommen wurde. Es definierte die Ziele, Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Instrumente der künf-<br />

tigen Finanzpolitik. Es liest sich noch heute wie ein gutes Lehrbuch, <strong>und</strong> für mich ist es<br />

noch immer der <strong>Aus</strong>gangspunkt der erfolgreichen Wende bei den B<strong>und</strong>esfinanzen, auch<br />

wenn es keine bindenden Vorschriften umfasste. Es definierte vorab die Allokations-, Ver-<br />

teilungs- <strong>und</strong> Stabilisierungsziele der Finanzpolitik; verlangte aus Standortgründen Fiskal-,<br />

Steuer- <strong>und</strong> Staatsquoten bei den tiefsten innerhalb der OECD; forderte eine schwerge-<br />

wichtig ausgabenseitige Sanierung, weil empirisch nachgewiesen werden kann, dass ein-<br />

nahmenseitige Sanierungen meist scheitern; schrieb die Beseitigung der strukturellen De-<br />

fizite vor; plante eine periodische Überprüfung der Notwendigkeit der Aufgaben des Bun-<br />

des; definierte Subventions- <strong>und</strong> Besteuerungsgr<strong>und</strong>sätze; <strong>und</strong> formulierte den Gr<strong>und</strong>satz<br />

der allmählichen Senkung der Verschuldungsquote durch den Rechnungsausgleich über<br />

einen Konjunkturzyklus hinweg. Einige konkrete Instrumente wurden im Leitbild schon<br />

angedacht, davon zwei ganz zentrale mit vergleichbarer Bedeutung: Die Schuldenbremse<br />

<strong>und</strong> der neue Finanzausgleich, das Kürzel für die grosse Föderalismusreform.<br />

Die Schuldenbremse ist eine Vorschrift. Das ist aus den geschilderten Gründen nötig. Wich-<br />

tiger aber ist letztlich, dass die Institutionen die richtigen ökonomischen Anreize vermit-<br />

teln. Der Föderalismus ist hier gerade aus liberaler Sicht ein zentraler Baustein. Er bändigt<br />

die Staatsmacht durch Aufteilung auf drei Ebenen. Er führt durch den Systemwettbewerb<br />

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<strong>zu</strong> innovativen Lösungen. Er führt die Entscheide näher <strong>zu</strong>m Bürger, was bedarfsgerechte-<br />

re Staatsleistungen ergibt. Er gestattet den Minderheiten, ihr näheres Umfeld gemäss ihrer<br />

Identität <strong>zu</strong> gestalten. Und der Steuerwettbewerb erzwingt ein günstiges Preis- Leistungs-<br />

verhältnis für die Bürger wie bei einem Unternehmen.<br />

Aber das funktioniert nur, wenn bei der Staatstätigkeit die Verantwortung, Entscheidbe-<br />

fugnis <strong>und</strong> Finanzierung gemäss <strong>dem</strong> erwähnten Äquivalenzprinzip nicht auseinanderklaf-<br />

fen. Weil auch bei uns dieses Erfordernis <strong>zu</strong>nehmend verwischt worden war, war dieses<br />

wohl grösste Reformprojekt der letzten Jahre nötig, <strong>und</strong> dass es ohne <strong>zu</strong> grosse Verwässe-<br />

rung erfolgreich realisiert wurde, macht mich fast noch stolzer als die Schaffung der Schul-<br />

denbremse. Wir haben versucht, uns bei dieser Reform von wichtigen ökonomischen Prin-<br />

zipien leiten <strong>zu</strong> lassen, etwa <strong>dem</strong> Subsidiaritätsprinzip, <strong>dem</strong> fiskalischen Äquivalenzprinzip<br />

<strong>und</strong> der Tinbergenregel. Dieses Projekt ist denn auch europaweit auf grosses Interesse ges-<br />

tossen.<br />

Die Schuldenbremse ist eine globale Vorgabe. Sie ist zwar restriktiv, aber doch flexibel ge-<br />

nug, um sich antizyklisch ökonomischen Realitäten an<strong>zu</strong>passen. Aber durch diese Vorgabe<br />

allein ist noch nichts gespart. Wenn ein Parlament nicht will, kann auch eine Schulden-<br />

bremse nichts bewirken. Unsere alte wirkungslose Verfassungsvorschrift, aber auch alle<br />

gebrochenen Verträge in der EU, welche Finanzdisziplin betreffen, sind Beispiele. Die ei-<br />

gentliche Knochenarbeit kommt nachher: Die Disziplin bei der Budgetierung, die Zurück-<br />

haltung bei der Übertragung neuer Aufgaben an den Staat <strong>und</strong>, wo nötig, die Sparpakete.<br />

Deshalb war es so wichtig, dass das Schweizervolk der Schuldenbremse Autorität verlieh.<br />

Sie wurde im Parlament im Juni 2001 mit vielen politischen Nebengeräuschen verabschie-<br />

det <strong>und</strong> vom Stimmvolk am 2. Dezember 2001 mit 84.7 Prozent Ja angenommen. Eigentlich<br />

ist sie nichts anderes als ein Pakt des Finanzministers mit <strong>dem</strong> Volk gegen die Begehrlich-<br />

keiten der Kollegen <strong>und</strong> des Parlaments. Das Ergebnis der Volksabstimmung war ein Pau-<br />

kenschlag, der auch <strong>dem</strong> ahnungslosesten Hinterbänkler klarmachte, dass es wie früher<br />

nicht mehr weitergehen konnte. Damit war der Boden für grosse Sparprogramme bereitet,<br />

die nach zähem Ringen <strong>zu</strong>stande kamen. Sie bändigten das strukturelle Defizit, <strong>und</strong> das<br />

folgende Wirtschaftswachstum führte <strong>zu</strong> den jüngsten Überschüssen.<br />

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Wenn es <strong>dem</strong> Staat gut geht, steigen in der Politik der Frust am Sparen <strong>und</strong> die Lust am<br />

<strong>Aus</strong>geben wieder an. Ganz sanft – so habe ich den Eindruck - beginnt der Supertanker B<strong>und</strong><br />

wieder in die falsche Richtung <strong>zu</strong> drehen. Bis alle das merken, kann es schon wieder <strong>zu</strong> spät<br />

sein. Die Anstrengungen <strong>zu</strong>r erneuten Korrektur sind langwierig <strong>und</strong> enorm, auch mit der<br />

Schuldenbremse. Deshalb wäre gerade jetzt Finanzdisziplin wieder besonders wichtig. Ich<br />

hoffe, unsere Politiker seien sich dessen genügend bewusst.<br />

10. These: Europa braucht nicht „more of the same“. Europa braucht eine marktwirtschaft-<br />

liche Konterrevolution!<br />

Gestatten Sie mir <strong>zu</strong>m Schluss doch noch einige Bemerkungen <strong>zu</strong>r aktuellen Situation. Eu-<br />

ropa bietet nach wie vor ein beklemmendes Bild. Ich bin mir bewusst, dass sich die Stim-<br />

mung aufgehellt hat, dass da <strong>und</strong> dort Reformen erfolgreich angepackt wurden (so sanken<br />

etwa die Lohnstückkosten in Spanien, Griechenland <strong>und</strong> Portugal), dass die Leistungsbi-<br />

lanzdefizite gesunken sind, dass die Zinsen für Staatsanleihen sehr günstig sind <strong>und</strong> dass<br />

die Wirtschaft weniger rasch schrumpft. Aber noch ist keines der grossen Probleme wirk-<br />

lich gelöst, noch ist der Schuldenstand alles andere als nachhaltig, noch haben die Märkte<br />

die implizite Verschuldung nicht eingespeist, noch ist die Sanierung der Bankbilanzen <strong>zu</strong><br />

wenig fortgeschritten, noch weiss keiner, welches die Spätfolgen der – vorsichtig ausge-<br />

drückt – verwegenen Notenbankpolitiken sind.<br />

Um so eindrücklicher ist in diesem Umfeld der Erfolg Deutschlands. Ich sehe dafür vier<br />

Gründe. Erstens zahlt sich die Lohn<strong>zu</strong>rückhaltung durch günstige Lohnstückkosten aus.<br />

Zweitens hat sich die Agenda 2010, auch wenn sie aus meiner damaligen Sicht <strong>zu</strong> wenig<br />

weit ging, äusserst positiv ausgewirkt. Drittens stimulieren die für die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

ökonomisch <strong>zu</strong> tiefen Zinsen auch die deutsche Wirtschaft <strong>und</strong> entlasten den Haushalt<br />

(wie in der Schweiz übrigens auch). Viertens hat Deutschland tüchtige Unternehmer <strong>und</strong><br />

hervorragende Fachkräfte. Weil aber Standortqualität nie gesichert ist, müsste Deutschland<br />

jetzt eigentlich – <strong>und</strong> das gilt auch für die Schweiz – die Reformen konsequent fortsetzen.<br />

Davon lese ich allerdings im deutschen Wahlkampf bisher wenig.<br />

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Wie weiter nun mit <strong>dem</strong> Euro? Als <strong>Aus</strong>senstehender habe ich Zweifel, ob in dieser EU eine<br />

genügend enge politische Union realisierbar ist, so dass sie den Kriterien eines optimalen<br />

Währungsraumes entspricht. Ich fürchte auch, dass eine solche Union, wäre sie denn mög-<br />

lich, die eigentlichen Stärken Europas, nämlich Vielfalt <strong>und</strong> Systemkonkurrenz, <strong>zu</strong> stark<br />

einebnen würde. Ich könnte mir aber vorstellen, dass eine schlanke Union mit Steuerkon-<br />

kurrenz statt Steuerkartellen, mit institutionell gesicherten vergemeinschaftungsfreien<br />

Bereichen gemäss Subsidiaritätsprinzip, mit klarer Durchset<strong>zu</strong>ng des fiskalischen Äquiva-<br />

lenzprinzips <strong>und</strong> einem ökonomisch klug konzipierten Transfersystem auch mit einer er-<br />

folgreichen Gemeinschaftswährung denkbar wäre.<br />

Nach allem, was ich lese, bin ich mit dieser Meinung allerdings so ziemlich allein. Deshalb<br />

glaube ich, dass trotz der momentanen Aufhellungen die nächsten Jahre durch bestenfalls<br />

schwaches Wachstum <strong>und</strong> ständige kleinere oder grössere Krisen charakterisiert sein wer-<br />

den, bis schliesslich eine <strong>zu</strong>reichende Entschuldung stattgef<strong>und</strong>en hat, wahrscheinlich mit<br />

viel fiskalischer Repression <strong>und</strong> möglicherweise Inflation oder gar Stagflation. Auch das<br />

<strong>Aus</strong>einanderbrechen der Eurozone bleibt eine Möglichkeit, deren Wahrscheinlichkeit ich<br />

allerdings unter 50 Prozent bewerte. <strong>Aus</strong> diesen Gründen fürchte ich, dass Europa gegen-<br />

über Asien <strong>und</strong> den USA wirtschaftlich <strong>und</strong> damit auch politisch für sehr lange Zeit ins Hin-<br />

tertreffen geraten wird.<br />

Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Befürchtungen hier so offen darlege. Ich wage es nur<br />

deshalb, weil mir Herr Prof. Feld freies Geleit <strong>zu</strong>gesagt hat. Gestatten Sie mir eine letzte<br />

Bemerkung hier an der Geburtsstätte des Neoliberalismus im ursprünglichen Sinn des<br />

Wortes: Es wäre in Europa Zeit für eine liberale Konterrevolution, nicht für eine ständige<br />

Steigerung der Dosierung jener Medizinen, welche die Krankheit verursacht haben!<br />

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