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Soziale Gerechtigkeit ist das Gerüst der Demokratie.<br />
Armut macht es morsch.<br />
Traditionsreiche Verteilungsgerechtigkeit – wohlbemerkt<br />
gelebt und erfahren im reichen Norden – wird als unmodern<br />
und undurchsetzbar gegen die scheinbar naturwüchsige<br />
Herrschaft der globalen Profit- und Vermögensvermehrer<br />
gesetzt.<br />
Die Politik von Rot-Grün stützt ihre Lösungsansätze auf die<br />
Behauptung, dass Verteilungsspielräume enger geworden<br />
sind. Doch die Ursachen der wachsenden Schere zwischen<br />
privatem Reichtum und privater und öffentlicher Armut<br />
bleiben im Dunkeln. Die tatsächliche Reichtumsexplosion<br />
der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte wird mit einer<br />
Neiddiskussion tabuisiert. Doch schaut man genauer hin,<br />
dann ist die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung eine perspektivlose Reaktion auf<br />
empfindliche Störungen einer „unproduktiven“ Volkswirtschaft. Deren bitterster Ausdruck ist<br />
eine verfestigte Massenarbeitslosigkeit mit all ihren sozialen und kulturellen Folgen, wie<br />
Armut, Ausgrenzung und eine gefährlichen Entsolidarisierung. Doch die Ursachen, die in der<br />
ungleichen Aneignung und Verteilung des Reichtums liegen, bleiben unangetastet. Sie wurden<br />
sogar durch steuerpolitische Fehlentscheidungen der rot-grünen Bundesregierung verschärft.<br />
Das angebliche Ende der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft ist praktisch immer noch das<br />
gesellschaftliche und zugleich internationale ungleiche Anwachsen unbezahlter und schlecht<br />
bezahlter Arbeit, die durch die Politik des IWF und der G8-Staaten selbst forciert wird.<br />
Wie es gegen die politisch verordnete Alternativlosigkeit Alternativen geltend zu machen gilt,<br />
so ist zugleich die soziale Gerechtigkeit als modern zu behaupten gegenüber einer neoliberalen<br />
Politik staatlicher Reichtumspflege.<br />
Gleiche Bildungschancen, Gesundheitsversorgung nicht nach dem Geldbeutel, Zugang zur<br />
Kultur für jede und jeden, menschenwürdige Alterssicherung und existenzsichernde Arbeit<br />
ermöglichen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, einen Zuwachs an Kreativität<br />
und Solidarität. Damit das geht, müssen starke Schultern mehr tragen als schwache.<br />
Soziale Wohlfahrt ist auch das einzige Mittel, um dem internationalen Terrorismus weltweit<br />
dauerhaft den Boden zu entziehen.<br />
Mit detaillierten Analysen werden im RotGrün Buch der staatlichen Reichtumspflege die<br />
Ursachen und die zerstörende Dimension der ungebremsten Reichtumsexplosion – vor allem<br />
für das Wirtschaftswachstum und die Binnenkaufkraft – innerhalb der volkswirtschaftlichen<br />
Gesamtrechnung in Deutschland untersucht. Dabei werden Mythen neoliberaler Lösungsansätze<br />
offenbar. Durch diesen aufklärerischen Weg werden Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie,<br />
nach gerechter Steuerpolitik, nach der gesellschaftlich dringlichen Forderung<br />
eines existenzsichernden Mindestlohns und einer bedarfsgerechten Grundsicherung<br />
plausibel. Ganz deutlich wird auch, dass eine politische Steuerung wirtschaftlicher Entwicklung<br />
überhaupt möglich und notwendig ist.<br />
Durch umfangreiches Fakten- und Zahlenmaterial werden soziale Forderungen der PDS als<br />
realistische Alternativen skizziert. Die Untersuchungen in der vorliegenden Studie sind ein<br />
Beitrag zur Debatte um einen politischen Richtungswechsel in der Gesellschaft.<br />
Wir unterbreiten dieses Angebot, um mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, mit<br />
Betroffenen, mit kritischen Intellektuellen und alternativen politischen und sozialen Kräften<br />
ins Gespräch zu kommen. Wir suchen Wege des gemeinsamen Handelns für mehr soziale<br />
Gerechtigkeit, Solidarität und politische Selbstermächtigung, demokratische und friedliche<br />
Wege, die eine politische Durchsetzungskraft in der Bundesrepublik und in Europa entfalten.<br />
Vorsitzender der PDS
Inhalt<br />
Reichtumskritik – eine Neiddiskussion? 3<br />
Riese mit Gleichgewichtsstörung 4<br />
Das Jammern der Weltmeister 6<br />
Die Gier der Eliten 9<br />
Sind das „die Leute, die Werte schaffen“? 9<br />
Ein absurder Leistungsbegriff 10<br />
Das Recht im Schlaf reich zu werden 11<br />
Reichtum ist erblich – nicht nur das Vermögen 15<br />
Reichtum und Globalisierung 16<br />
Reichtum vom Finanzamt 16<br />
Die Kehrseite der Reichtumspflege 19<br />
Lohndumping als Reformpolitik 22<br />
Hartz IV – ein Verarmungsprogramm 25<br />
Privater Reichtum – öffentliche Armut 26<br />
Ausgewählte Literatur / Impressum 28<br />
2
Reichtumskritik – eine Neiddiskussion?<br />
Wer den zunehmenden Reichtum kritisiert, sieht sich<br />
sehr schnell dem Vorwurf einer Neiddiskussion ausgesetzt.<br />
Um es vorweg zu sagen: Reichtum ist eine<br />
höchst erfreuliche Angelegenheit, selbst wenn es<br />
reiche und weniger reiche Menschen nebeneinander<br />
gibt. Das Problem beginnt da, wo der Reichtum der<br />
einen aus der Armut anderer entsteht und der Reichtum<br />
im gleichen Maße wie die Armut wächst. Das ist<br />
in der Bundesrepublik seit langem der Fall und drückt<br />
sich zum Beispiel darin aus, dass die Zahl der Millionäre<br />
im Krisenjahr 2002 um 3,4 Prozent auf<br />
755.000 anstieg, obwohl das Wirtschaftswachstum<br />
um nur 1,7 Prozent zunahm, aber die Arbeitslosigkeit<br />
um 6,9 Prozent (Diagramm 1). Im Klartext heißt das:<br />
weniger Beschäftigte und weniger Wachstum, aber<br />
mehr Millionäre. Wobei es sich bei den von Merrill<br />
Lynch und Cap Gemini Ernst & Young ermittelten Millionären<br />
nur um Geldmillionäre handelt. Bezieht man<br />
neben dem Geld- auch das Immobilien- und Sachvermögen<br />
mit ein, zählt Deutschland rund 1,5 Millionen<br />
Millionäre. Das Diagramm 1 zeigt allerdings nicht das<br />
ganze Ausmaß der ungleichen Entwicklung. Der von<br />
den zitierten Anlageprofis erstellte Report verrät<br />
nämlich gleichzeitig, dass das Vermögen der Millionäre<br />
noch stärker steigt, als sie sich zahlenmäßig<br />
vermehren. In Europa, dem Kontinent mit der weltweit<br />
größten Millionärsdichte, wuchs ihr Vermögen<br />
um 4,8 Prozent. Bis 2007 prognostizieren die Analytiker<br />
jährliche Wachstumsraten von sieben Prozent.<br />
Wenn sich das erfüllt, dürfte die Zahl der deutschen<br />
Millionäre bald die Zahl der Arbeitslosen überrunden.<br />
Die Einkommenssteuerstatistik von 1992 ermittelte<br />
noch 25.245 Steuerpflichtige, die nicht nur<br />
Millionäre waren, sondern ein Jahreseinkommen von<br />
damals mehr als einer Million DM hatten. Neuere Zahlen<br />
dazu liegen nicht vor.<br />
Diagramm 1:<br />
Wachstum 2002<br />
BIP<br />
Arbeitslose<br />
Millionäre<br />
1,7%<br />
6,9%<br />
3,4%<br />
Die privaten Geldvermögen betrugen im Jahr 2002<br />
netto, das heißt abzüglich der Kreditverpflichtungen,<br />
2.195 Milliarden Euro und lagen damit um 91<br />
Prozent über dem Stand von 1995. Allerdings konzentrierten<br />
sie sich, wie im Diagramm 2 gezeigt,<br />
überwiegend auf den oberen Teil der Gesellschaft.<br />
Nach der Untersuchung des DIW über reiche Haushalte<br />
lebten 2002 in Deutschland 124.000 Menschen in<br />
Haushalten mit einem monatlichen Netto-Einkommen<br />
von mehr als 17.895 Euro.<br />
6%<br />
4%<br />
2%<br />
Diese Tatsachen entlarven den Vorwurf der Neiddiskussion<br />
als Totschlagargument, mit dem das Thema<br />
tabuisiert werden soll, um die mit der Reichtumsexplosion<br />
verbundenen Probleme und Risiken aus der<br />
öffentlichen Diskussion zu verbannen.<br />
Denn die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich<br />
ist nicht nur ein moralisches Problem oder ein Widerspruch<br />
zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Der<br />
überbordende Reichtum ist vor allem ein volkswirtschaftliches<br />
Problem, weil er das wirtschaftliche<br />
Gleichgewicht stört, das Wirtschaftswachstum bremst<br />
und Arbeitslosigkeit produziert. Geldreichtum in den<br />
Händen weniger ist ein Zeichen stockender Realinvestitionen<br />
wie insgesamt ein Ausdruck schwacher<br />
Nachfrage. Wobei selten beachtet wird, dass die<br />
Masse des privaten Geldvermögens einer ebenso<br />
großen Schuldenmasse entspricht, weil die Besitzenden<br />
ihr Vermögen zinsbringend anlegen. Es ist zu<br />
einem beliebten Argument geworden, die Staatsverschuldung<br />
als Belastung künftiger Generationen zu<br />
kritisieren. Doch die nachfolgenden Generationen<br />
haben nicht nur mit ihren Steuern die Zinsen der<br />
Staatsschulden zu begleichen, sie arbeiten auch für<br />
die Ansprüche der Geldbesitzer auf Zinsen und Aktiengewinne,<br />
und sie tragen die Lasten verschuldeter<br />
Immobilien. Je größer das private Geldvermögen,<br />
desto stärker lastet der Zinsdruck auf der gesamten<br />
Volkswirtschaft. Nicht nur der Staat baut unter dem<br />
Druck der Zinsen soziale Leistungen ab, auch die Unternehmen<br />
tun es. Sie erhöhen zur Absicherung der<br />
auf ihnen lastenden Renditeerwartungen der Vermögensbesitzer<br />
die Arbeitsproduktivität, bauen Arbeitsplätze<br />
ab und erzwingen Lohnzugeständnisse. Das<br />
gesamte Arsenal der neoliberalen Politik dient ausschließlich<br />
dem Zweck, die Renditen der explodierenden<br />
Geldvermögen zu sichern und die Abwanderung<br />
dieses Geldvermögens auf andere Märkte zu bremsen.<br />
Ein weiterer Grund für die Untersuchung des privaten<br />
Reichtums liegt darin, dass sich die herrschende Politik<br />
des massiven Sozialabbaus auf die Behauptung<br />
enger gewordener Verteilungsspielräume stützt und<br />
dabei geflissentlich die historisch einmalige Reichtumsexplosion<br />
der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte<br />
übergeht. Die gegenwärtige Sparpolitik und die<br />
Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung stehen<br />
nicht nur in einem Widerspruch zur Reichtumsexplosion,<br />
sondern die mit der Agenda 2010 angeblich zu lösenden<br />
Probleme sind durch die ungleiche Verteilung<br />
des Reichtums überhaupt erst verursacht worden.<br />
Weshalb sich nicht nur die Frage aufdrängt, weshalb<br />
ausgerechnet Arbeitslose, Kranke und Rentner die Folgen<br />
der Reichtumsexplosion tragen sollen. Sondern es<br />
ist auch zu fragen, weshalb diese Bundesregierung das<br />
Problem auf die Schwächsten der Gesellschaft abwälzt,<br />
statt seine Ursachen zu bekämpfen.<br />
Eine nicht unwesentliche Rolle spielt beim Vorwurf<br />
der Neiddiskussion, dass die Befürworter der ungehemmten<br />
Reichtumsvermehrung nicht nur den Ver-<br />
3
gleich von Leistung und Einkommen ablehnen oder<br />
Einkommen automatisch als Ausdruck von Leistung<br />
betrachten. Sie betrachten das Nebeneinander von<br />
großem Reichtum und bitterer Armut sogar als unverzichtbare<br />
Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts.<br />
Besonders drastisch formulierte das<br />
Friedrich August von Hayek 1981 in einem Interview<br />
mit der Wirtschaftswoche:<br />
„Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich.<br />
Sie ist einfach nötig. Für eine Welt, die auf<br />
egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der<br />
Überbevölkerung unlösbar … Gegen die Überbevölkerung<br />
gibt es nur die eine Bremse, nämlich, dass sich<br />
nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch<br />
selbst ernähren können.“<br />
Was der Vordenker der neoliberalen Theorie hier für<br />
die Völker der Welt verkündet, gilt der Theorie nach<br />
natürlich auch für die einzelnen Individuen. Das<br />
Wolfsgesetz des Überlebenskampfes ist für die Neoliberalen<br />
die entscheidende Voraussetzung für wirtschaftliche<br />
Entwicklung. Wer es in Frage stellt, rührt<br />
an die Wurzeln der Leistungsgesellschaft. Für die neo-<br />
Trotz Globalisierung und Europäischer Wirtschaftsund<br />
Währungsunion ist Deutschland ein eigener Wirtschaftsraum,<br />
für den alljährlich eine volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung aufgestellt wird. Nun behauptet<br />
die rot-grüne Bundesregierung, dass<br />
dieser Wirtschaftsraum notleidend ist, dass seine<br />
Wirtschaft kaum wächst und dass seine Konkurrenzfähigkeit<br />
gefährdet ist. Deshalb müssten soziale Leistungen<br />
abgebaut und die Arbeitskosten gesenkt<br />
werden, damit wieder mehr Ressourcen für innovative<br />
Investitionen frei werden. Der Spielraum für Lohnerhöhungen<br />
und Sozialleistungen sei ausgeschöpft.<br />
Kurz gesagt: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Ob das<br />
wirklich so ist, lässt sich nur ermessen, wenn man<br />
einen Blick in das Haushaltsbuch der Nation wirft.<br />
4<br />
Diagramm 2:<br />
Verteilung des Netto-Geldvermögens<br />
50%<br />
4,5%<br />
10%<br />
42,3%<br />
Anteil der Haushalte Anteil des Vermögens<br />
40%<br />
20%<br />
liberale Theorie ist Ungleichheit deshalb eine unverzichtbare<br />
Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung,<br />
weil sich überall, wo es ein hohes Maß an Ungleichheit<br />
gibt, ungeahnte Profitmöglichkeiten erschließen.<br />
Arme Völker wie arme Menschen, die ihr Letztes zum<br />
Überleben geben müssen, wecken die Lebensgeister<br />
des faulen Kapitals ebenso wie sie die unternehmerische<br />
Fantasie beleben. Vor diesem Hintergrund muss<br />
man auch die so genannte Angebotstheorie verstehen,<br />
die dem neoliberalen Konzept zu Grunde liegt.<br />
Sie besagt nichts anderes, als dass die Politik Bedingungen<br />
zur Verbesserung des Angebots von Arbeit und<br />
Kapital schaffen muss, um Stagnation und Arbeitslosigkeit<br />
zu überwinden. Eine ziemlich zynische Theorie<br />
übrigens, denn sie besagt, dass sich das Angebot an<br />
Kapital verbessert, wenn man ihm höhere Profite garantiert,<br />
während das Arbeitsangebot zunimmt, wenn<br />
man die soziale Absicherung und die Löhne absenkt –<br />
was natürlich die Senkung der Sozialausgaben und die<br />
Verlängerung der Arbeitszeit einschließt. Die Verwirklichung<br />
dieser Theorie führt aber nicht nur zu einer<br />
stärkeren sozialen Spaltung, sie setzt sie sogar voraus.<br />
Womit sich der Kreis zur rot-grünen Politik schließt,<br />
denn genau das ist ihre Grundrichtung: Sie stimuliert<br />
das Kapitalangebot durch Steuersenkungen und treibt<br />
die Arbeitslosen in Niedriglohnsektoren.<br />
Wir meinen:<br />
Riese mit Gleichgewichtsstörungen<br />
• dass die Lösung der sozialen Frage keine Frage der<br />
Mildtätigkeit ist, sondern Kernelement der dem<br />
Staat durch das Grundgesetz vorgegebenen Aufgaben.<br />
• dass die Konzentration privaten Reichtums in wenigen<br />
Händen ökonomische Deformationen verursacht<br />
und die wirtschaftliche Entwicklung<br />
behindert.<br />
• dass das überproportionale Wachstum privater<br />
Geldvermögen sowohl wachsende Armut als auch<br />
Arbeitslosigkeit nach sich zieht.<br />
Uns interessiert dabei vor allem die Entwicklung des<br />
privaten Reichtums im Verhältnis zu den anderen<br />
Posten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.<br />
Denn genau so, wie es richtig ist, dass eine Volkswirtschaft<br />
nicht mehr ausgeben kann als sie erwirtschaftet,<br />
muss sie auch darauf achten, dass das<br />
Erwirtschaftete richtig verteilt wird. Wohlgemerkt:<br />
richtig und nicht gerecht, denn die Verteilung zwischen<br />
Arbeits- und Gewinneinkommen ist zunächst<br />
eine rational ökonomische Frage. Wird das Gleichgewicht<br />
zwischen Arbeits- und Gewinneinkommen<br />
gestört, weil die Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
stärker als die Masseneinkommen wachsen, dann<br />
vergrößert das nicht nur das Ausmaß sozialer Ungleichheit,<br />
sondern verursacht auch anhaltende wirt
Diagramm 3:<br />
Gewinne und Verluste<br />
1991=100%<br />
118<br />
124<br />
96<br />
94<br />
Wertschöpfung<br />
Geldvermögen<br />
1994 1998<br />
129<br />
163<br />
95<br />
schaftliche Probleme. Die Binnennachfrage schrumpft,<br />
damit steigen Arbeitslosigkeit und öffentliche Ausgaben,<br />
während die Steuereinnahmen spärlicher<br />
fließen. Dieser Trend hält in Deutschland bereits seit<br />
fast zwei Jahrzehnten an, und die rot-grüne Bundesregierung<br />
konnte 1998 mit gutem Grund sagen, dass<br />
sie ein schweres Erbe übernommen hat. Doch sie hat<br />
diese Tendenz nicht umgekehrt, sondern weiter beschleunigt.<br />
Ein dafür entscheidender Grund ist die so<br />
genannte Steuerreform, die den öffentlichen Kassen<br />
Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag<br />
entzieht. Das Diagramm 3 zeigt dementsprechend so<br />
etwas wie eine Bilanz der volkswirtschaftlichen Unvernunft,<br />
eine krasse Störung des volkswirtschaftlichen<br />
Gleichgewichts. Über der Nulllinie erheben sich<br />
die Balken der Erträge, darunter die der Verluste.<br />
Über der Nulllinie nimmt die gesellschaftliche Wertschöpfung<br />
kontinuierlich zu, aber die privaten Geldvermögen<br />
steigen etwa doppelt so stark, was zwei<br />
Schlussfolgerungen nahe legt. Erstens scheinen die<br />
Einkommensbezieher ihre Neigung zum Geldausgeben<br />
verloren zu haben, so dass immer weniger Einkommen<br />
zurück in den Konsum fließen, und zweitens<br />
scheint sich die Vermehrung des privaten Geldvermögens<br />
von der Entwicklung der gesellschaftlichen<br />
Wertschöpfung abzukoppeln. Wir werden darauf weiter<br />
hinten zurückkommen, was es mit diesen privaten<br />
Geldvermögen auf sich hat. Unterhalb der Nulllinie<br />
erkennt man ein systematisch abnehmendes Arbeitspotenzial,<br />
weil immer weniger Menschen immer mehr<br />
produzieren. Das erhöht einerseits die Erträge, senkt<br />
aber andererseits auch die Summe der Arbeitseinkommen.<br />
Am dramatischsten sinken allerdings die Sachinvestitionen<br />
der Unternehmen, aber auch der<br />
privaten Haushalte und vor allem des Staates. Die<br />
Gründe liegen auf der Hand, denn wenn die privaten<br />
Haushalte weniger investieren – egal, ob aus Not oder<br />
aus Kaufunlust – dann bleiben auch die Unternehmensinvestitionen<br />
aus. Entscheidend aber ist der<br />
Rückgang der öffentlichen Investitionen. Sie haben<br />
von 1992 bis 2002 um 32 Prozent abgenommen und<br />
Deutschland innerhalb der EU zum Schlusslicht der<br />
öffentlichen Investitionstätigkeit gemacht. Deutschland<br />
ist Exportweltmeister und glänzt unter den Industrienationen<br />
mit konkurrenzlosen Lohnstückkosten,<br />
aber die Kehrseite ist ein schwächelnder Binnenmarkt<br />
87<br />
141<br />
Arbeitsvolumen<br />
Sachinvestionen<br />
183<br />
94<br />
2002<br />
40<br />
150<br />
125<br />
100<br />
und ein stagnierender Konsum. Nun soll die Steuerreform<br />
dem abhelfen und mehr Geld auf den Binnenmarkt<br />
lenken.<br />
Doch die Masse der Steuerleichterungen kommt, wie<br />
weiter hinten gezeigt wird, den Konzernen sowie den<br />
Beziehern von Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
zugute. Dass die Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts<br />
zu Gunsten der Vermögenden durch die rotgrüne<br />
Steuerreform beschleunigt wurde, zeigt das<br />
Diagramm 4, das sich ausschließlich auf die Jahre<br />
nach dem Regierungswechsel 1998 bezieht. Wie im<br />
vorangegangenen Diagramm 3 sieht man auch hier,<br />
wie sehr sich die Vermehrung des privaten Geldvermögens<br />
von der Nettowertschöpfung abkoppelt und<br />
diese bei weitem übersteigt. Zwar steigt die Wertschöpfung<br />
nach 1998 wieder langsam an, aber gleichzeitig<br />
setzt sich die Schrumpfung der direkten<br />
Steuern fort, und die Einnahmen sinken sogar stärker,<br />
als die Wertschöpfung steigt.<br />
Diagramm 4:<br />
Netto-Wertschöpfung-Geldvermögen<br />
und direkte Steuern<br />
1995=100%<br />
99<br />
97<br />
118<br />
1998<br />
97<br />
101<br />
2001<br />
125<br />
100<br />
=1995<br />
Um den Teufelskreis von Produktivitätssteigerung,<br />
Arbeitsplatzvernichtung und rückläufiger Binnennachfrage<br />
zu durchbrechen, sind folgende Maßnahmen<br />
notwendig:<br />
• Die steigende Produktivität muss durch sinkende<br />
Arbeitszeiten ausgeglichen werden, ohne dass die<br />
Summe der kaufkräftigen Löhne sinkt.<br />
• Die Arbeits- und Sozialeinkommen müssen im<br />
gleichen Maße wie die Produktivität und die Preisentwicklung<br />
steigen.<br />
• Der angehäufte Reichtum muss stärker besteuert<br />
werden, um die Nachfrage des Staates zu erhöhen.<br />
193<br />
Steuern Wertschöpfung<br />
93<br />
103<br />
191<br />
2002<br />
175<br />
150<br />
Geldvermögen<br />
5
Das Jammern der Weltmeister<br />
Glaubt man der Bundesregierung, den Unternehmerfunktionären<br />
und natürlich der rechten Opposition,<br />
dann ist die wirtschaftliche Lage des Standortes<br />
Deutschland außerordentlich gefährdet: Die Arbeitszeiten<br />
sind zu kurz, die Löhne zu hoch, die Steuern<br />
auch und die Sozialleistungen ohnehin. Mit großformatigen<br />
Anzeigen und bunten Plakatwänden wird vor<br />
dem Niedergang des Wirtschaftsstandortes Deutschland<br />
gewarnt. Nur eines passt nicht in dieses Jammertal,<br />
nämlich die deutsche Wirtschaftswirklichkeit. Kein<br />
Land verkauft auf den global vernetzten Märkten so<br />
viel wie Deutschland, und niemand hat einen höheren<br />
Exportüberschuss. Dies alles wäre zweifellos unmöglich,<br />
wenn deutsche Waren zu teuer oder technologisch<br />
veraltet wären. Sieht man sich die tatsächlichen Wirtschaftsdaten<br />
an, so ist der Exportweltmeister außerordentlich<br />
gut aufgestellt. Eine Ausnahme machen die<br />
kleinen und die meisten mittelständischen Unternehmen,<br />
die zwar einen großen Teil der Beschäftigten,<br />
nicht aber der Wertschöpfung auf sich vereinigen. Ihre<br />
Gewinnsituation hat sich deutlich verschlechtert.<br />
63,8 Prozent der gesellschaftlichen Wertschöpfung<br />
stammen aus dem Sektor der Kapitalgesellschaften.<br />
Sie konnten ihre Brutto-Gewinne zwischen 1991 und<br />
2002 um 69 Prozent erhöhen, steigerten jedoch ihre<br />
Brutto-Anlageinvestitionen im selben Zeitraum nur um<br />
1,25 Prozent. Das heißt, dass die Kapitalgesellschaften<br />
54-mal so viel verdienten, wie sie in neue Arbeitsplätze<br />
investierten.<br />
Die Masse des erzielten Profits wanderte in Finanzanlagen<br />
und ausländische Direktinvestitionen. Der Bestand<br />
an ausländischen Direktinvestitionen ist von<br />
1991 bis 2002 um 375 Prozent gestiegen. Wobei die Legendenbildung<br />
glauben machen möchte, dass diese<br />
Kapitalflucht hauptsächlich durch hohe Löhne und Sozialabgaben<br />
verursacht wird. Tatsächlich handelt es<br />
sich nur in einem geringen Umfang um kostenbedingte<br />
Produktionsverlagerungen. Zum Beispiel begründet<br />
sich die Fusion von Daimler und Chrysler nicht aus den<br />
angeblich niedrigeren Lohnkosten in den USA, sondern<br />
aus der Absicht von Daimler, den dortigen Markt<br />
zu erobern. Das gesamte Geldvermögen der Kapitalgesellschaften,<br />
also einschließlich aller Wertpapiere und<br />
geldähnlichen Ansprüche, hat sich in elf Jahren mehr<br />
als verdoppelt und wird bald so groß wie das gesamte<br />
Inlandsprodukt eines Jahres sein. Wenn es einen Grund<br />
zum Jammern gibt, dann liegt er in der wachsenden<br />
Schwierigkeit, diesen gewaltigen Kapitalstock gewinnbringend<br />
einzusetzen. So sagte denn auch Werner<br />
Schmidt, der Vorstandsvorsitzende der Bayerischen<br />
Landesbank, im vergangenen Jahr gegenüber dem<br />
Handelsblatt: „Es gibt genügend Geld und Kapital in<br />
Deutschland, allenfalls zu wenige Projekte, die man als<br />
Kaufmann sinnvoll finanzieren sollte.“ Kein Wunder<br />
angesichts der rückläufigen Nachfrage von Staat und<br />
Privathaushalten. Die Folge ist, dass sich das Kapital<br />
auf die globale Suche nach profitträchtigen Anlagen<br />
macht und dabei immer stärker auf Finanzanlagen, Beteiligungen<br />
oder Fusionen setzt.<br />
6<br />
Diagramm 5:<br />
Bestand an ausländischen<br />
Direktinvestitionen, Exportüberschuss<br />
sowie Gewinne<br />
und Steuern der Kapitalgesellschaften<br />
in Mrd. Euro<br />
1000<br />
500<br />
134<br />
185<br />
1991<br />
906<br />
189<br />
214<br />
Auslandsinvestitionen<br />
1995<br />
1.257<br />
2.273<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Angaben des<br />
Statistischen Bundesamtes und der Bundesbank<br />
2000 2002<br />
1.901<br />
Gewinne Geldvermögen<br />
Die Deutsche Wirtschaft verwandelt sich zunehmend<br />
in eine Vermögenswirtschaft, weil der übermäßig angehäufte<br />
Reichtum auf keine ausreichende Inlandsnachfrage<br />
stößt. Natürlich hat das etwas mit der<br />
Höhe von Löhnen und Steuern zu tun, doch in einer<br />
ganz anderen Weise als ständig behauptet wird: Sie<br />
sind nicht zu hoch, sondern zu niedrig, um im eigenen<br />
Land kauffähige Nachfrage zu sichern. Am deutlichsten<br />
wird dies, wenn man noch einmal zurück ins<br />
Kapitel „Riese mit Gleichgewichtsstörungen“ geht<br />
und sich den parallelen Absturz von geleisteten<br />
Arbeitsstunden und Sachinvestitionen anschaut.<br />
Dass die Politik der rot-grünen Bundesregierung<br />
daran nicht schuldlos ist, zeigt das untenstehende<br />
Diagramm. Die Steigerung des Brutto-Gewinns der<br />
Kapitalgesellschaften ist infolge der rot-grünen Steuerreform<br />
von einem Absturz der Unternehmenssteuern<br />
begleitet.<br />
Diagramm 6:<br />
Brutto-Gewinne und direkte Steuern der<br />
Kapitalgesellschaften – prozentuale Veränderung<br />
seit 1991<br />
+16%<br />
-15%<br />
1995<br />
+51%<br />
+23%<br />
1998<br />
Brutto-Gewinne<br />
+47%<br />
-61%<br />
1999<br />
Quelle: Claus Schäfer WSI /eigene Berechnungen<br />
+54%<br />
2000<br />
572<br />
-65%<br />
285<br />
+62%<br />
-86%<br />
Direkte Steuern<br />
637<br />
+70%<br />
-86%<br />
2001 2002<br />
314<br />
+50%<br />
-50%
Eine Hauptursache dafür ist zweifellos die Unternehmenssteuerreform<br />
der rot-grünen Bundesregierung,<br />
mit der den Konzernen neben der Senkung der Körperschaftssteuer<br />
zwei ganz besondere steuerliche Leckerbissen<br />
verabreicht wurden. Als erstes wurde den<br />
Kapitalgesellschaften eine rückwirkende Steuerentlastung<br />
geschenkt, in dem die einbehaltenen, aber bereits<br />
versteuerten Gewinne nach den neuen Sätzen<br />
veranlagt werden konnten. Auf diese Weise erhielten<br />
die Konzerne bereits im Jahr 2001 mehr Körperschaftssteuer<br />
zurückerstattet, als sie zu zahlen hatten.<br />
Im Jahr 2000, ein Jahr vor der Steuerreform,<br />
zahlten die Kapitalgesellschaften noch 23,6 Milliarden<br />
Euro an Körperschaftssteuern, ein Jahr später erhielten<br />
sie 400 Millionen Euro zurück, und 2002 kam<br />
gerade noch ein Zehntel des ursprünglichen Aufkommens<br />
zusammen, nämlich 2,9 Milliarden Euro. Interessant<br />
ist in diesem Zusammenhang eine Mitteilung des<br />
Bundesfinanzministeriums zum Thema Steuerehrlich-<br />
Tabelle 1:<br />
Ausgewählte Daten führender Konzerne im<br />
Jahr 2002 in Mio. Euro<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
Name<br />
DaimlerCrysler<br />
Dt. Telekom<br />
Volkswagen<br />
RWE<br />
Siemens<br />
BMW<br />
E.ON<br />
Bosch<br />
Bayer<br />
Dt. Post<br />
Metro<br />
ThyssenKrupp<br />
BASF<br />
Lufthansa<br />
Dt. Bahn<br />
SAP<br />
TUI<br />
Linde<br />
Vattenfall<br />
Heidelberger Cement<br />
Bertelsmann<br />
Münchner Rück<br />
Boehringer<br />
Continental<br />
MAN<br />
Henkel<br />
Porsche<br />
Schering<br />
KarstadtQuelle<br />
Adidas<br />
Summe<br />
Durchschnitt<br />
Cash Flow<br />
17.796,0<br />
12.463,0<br />
10.460,0<br />
5.933,0<br />
5.564,0<br />
4.374,0<br />
3.690,0<br />
3.352,0<br />
3.012,0<br />
2.850,0<br />
2.606,0<br />
2.454,0<br />
2.313,0<br />
2.311,6<br />
2.052,0<br />
1.686,7<br />
1.391,0<br />
1.274,0<br />
1.191,7<br />
1.147,0<br />
1.115,0<br />
1.081,0<br />
1.049,0<br />
919,0<br />
888,0<br />
863,0<br />
781,5<br />
749,0<br />
701,0<br />
534,1<br />
96.601,6<br />
3.220,0<br />
Löhne u.<br />
Gehälter<br />
19.701,0<br />
10.467,0<br />
10.836,0<br />
6.091,0<br />
22.639,0<br />
5.541,0<br />
4.791,0<br />
8.611,0<br />
6.317,0<br />
10.905,0<br />
4.735,0<br />
7.451,0<br />
4.751,3<br />
3.895,3<br />
7.075,0<br />
2.519,1<br />
2.054,0<br />
7.451,0<br />
509,8<br />
1.319,7<br />
3.828,0<br />
2.161,0<br />
1.689,0<br />
1.978,0<br />
3.184,0<br />
1.541,0<br />
548,0<br />
1.278,0<br />
2.544,0<br />
645,0<br />
167.056,2<br />
5.568,5<br />
* Cash Flow ist der reale Jahresüberschuss plus nicht ausgezahlter oder unterschiedlich<br />
investierter Erträge (Abschreibungen, Rücklagen etc.)<br />
Quelle: Rüdiger Liedke, Wem gehört die Republik, 2003<br />
Steuern<br />
1.177,0<br />
2.483,0<br />
1.389,0<br />
1.367,0<br />
849,0<br />
1.277,0<br />
645,0<br />
768,0<br />
107,0<br />
266,0<br />
328,0<br />
175,0<br />
1.042,2<br />
230,5<br />
30,0<br />
598,7<br />
239,0<br />
115,0<br />
176,1<br />
80,4<br />
57,0<br />
574,0<br />
486,0<br />
289,8<br />
72,0<br />
233,0<br />
366,9<br />
276,0<br />
30,9<br />
147,9<br />
15.876,4<br />
529,2<br />
keit. Ohne Betriebsprüfungen hätten die Kapitalgesellschaften<br />
2001 nicht 400 Millionen zurückerhalten,<br />
sondern 5.400 Millionen. Dabei ist es kein Geheimnis,<br />
dass die Betriebsprüfungen nicht nur relativ selten<br />
stattfinden, sondern auch recht großzügig gehandhabt<br />
werden. Es mangelt an Prüfern, und das hat seinen<br />
Grund. Verantwortlich für die Prüfungen sind die<br />
Länder, die nur nachträglich in den Genuss der Mehreinnahmen<br />
kommen, so dass im Rahmen der Sparhaushalte<br />
auch an Betriebsprüfungen gespart wird.<br />
Dabei haben die 11.000 Betriebsprüfer 2002 für den<br />
Fiskus 13 Milliarden Euro eingesammelt. Nirgendwo im<br />
Staatsdienst dürfte eine so hohe Produktivität erzielt<br />
werden, denn auf jeden Prüfer kommen 1,2 Millionen<br />
„Reingewinn“.<br />
Dementsprechend lag die Steuerquote der Kapitalgesellschaften<br />
2001 und 2002 nur noch bei einem<br />
Durchschnitt von etwa 4,2 Prozent. Berücksichtigt<br />
man gleichzeitig, dass fast zwei<br />
Drittel der bundesdeutschen Wertschöpfung<br />
in diesen Gesellschaf-<br />
Bezüge pro<br />
Vorstandsmitglied<br />
3,9<br />
2,1<br />
2,1<br />
1,6<br />
1,7<br />
2,0<br />
2,1<br />
0,9<br />
1,4<br />
0,9<br />
1,0<br />
1,0<br />
1,7<br />
0,9<br />
0,6<br />
1,1<br />
1,0<br />
1,0<br />
0,9<br />
0,8<br />
3,4<br />
0,9<br />
1,4<br />
0,9<br />
0,6<br />
1,1<br />
3,3<br />
1,8<br />
1,5<br />
1,0<br />
44,6<br />
1,5<br />
ten stattfindet, dann hat die<br />
rot-grüne Steuerreform Deutschland<br />
in eine Steueroase für Kapitalgesellschaften<br />
verwandelt. Sie<br />
brachte sogar das steuertechnische<br />
Kunststück fertig, die Logik<br />
von Brutto- und Nettoeinkommen<br />
auf den Kopf zu stellen. Denn<br />
während 2001 die Brutto-Gewinne<br />
der Kapitalgesellschaften immerhin<br />
um 39,1 Prozent stiegen, kletterten<br />
die Netto-Gewinne sogar<br />
auf 51 Prozent. Diese irrwitzige<br />
Reichtumspflege, die den Staat<br />
immer ärmer macht und die inländische<br />
Nachfrage austrocknet, hat<br />
freilich nicht nur fatale Folgen für<br />
Wachstum und Beschäftigung, sie<br />
zersetzt auch die gesamte Wirtschaftsstruktur.<br />
Der Überschuss<br />
an Konzernkapital hat zur Folge,<br />
dass das Kapital für die übrige<br />
Wirtschaft immer knapper wird.<br />
Was der weiter vorn zitierte Vorstandschef<br />
der Bayerischen Landesbank<br />
feststellte, nämlich den<br />
angeblichen Mangel an sinnvoll finanzierbaren<br />
Projekten, das hat<br />
die Bankenlandschaft in den vergangenen<br />
Jahren radikal verändert.<br />
Ging in den 80er Jahren<br />
noch der Witz um, dass es sich bei<br />
Siemens um eine Großbank handele,<br />
die nebenbei ein Elektrogeschäft<br />
betreibt, so sind die<br />
meisten Großbanken mittlerweile<br />
zu Großspekulanten geworden,<br />
die nebenbei ein Bankgeschäft<br />
betreiben. Das Schaltergeschäft<br />
für die Normalkunden und selbst<br />
die normale Kreditvergabe rangie-<br />
7
en bei den finanziellen Global Playern als Nebengeschäft.<br />
So erwirtschaftete die Deutsche Bank im vergangenen<br />
Jahr weniger als zehn Prozent ihres<br />
Rohgewinns aus dem Bankverkehr mit Privat- und Geschäftskunden,<br />
aber über 90 Prozent aus der Vermögensverwaltung<br />
und dem Investmentbanking. Wobei<br />
die weniger als 200 Investmentbanker rund 75 Prozent<br />
des Gewinns vor Steuern heranschafften. Kein Wunder,<br />
dass die Bank dem Kreditbegehren der kleinen<br />
und mittelständischen Unternehmen zunehmend die<br />
kalte Schulter zeigt und im normalen Bankgeschäft<br />
Tausende von Stellen abbaut. Nicht nur die großen<br />
Produktionskonzerne, sondern auch die Finanzdienstleister<br />
koppeln sich immer stärker von der Realwirtschaft<br />
ab und konzentrieren sich auf die für sie<br />
ertragreichere Spekulation mit Vermögenstiteln.<br />
Was bei der Deutschen Bank in reinster Form zu beobachten<br />
ist, nämlich die Konzentration auf die Vermögenswirtschaft,<br />
spiegelt sich auch in den<br />
Bilanzen der Produktionskonzerne wider. Beteiligungen,<br />
Fusionen und Übernahmen sind zu einem<br />
entscheidenden Instrument der Unternehmenspolitik<br />
geworden, um den Unternehmenswert zu erhöhen<br />
und damit die Aktionäre zu befriedigen. Wobei das<br />
zunehmende Engagement auf den Finanzmärkten aus<br />
zwei Gründen nichts an der Tatsache ändert, dass es<br />
nach wie vor die lebendige Arbeit ist, die die Werte<br />
schafft. Erstens muss jeder Finanzgewinn irgendwo<br />
in der Welt real erwirtschaftet werden, ehe er sich in<br />
einen Geldtitel verwandeln kann. Nur auf der Oberfläche<br />
sieht es so aus, als würden die Finanzrenditen<br />
durch Handel erwirtschaftet. So wie der Lottogewinn<br />
nicht von der Lottogesellschaft geschaffen wird,<br />
sondern von den Millionen, die ihre Lottobeiträge<br />
aus dem verdienten Einkommen abzweigen, entspringen<br />
Finanzgewinne aus von anderen real erwirtschafteten<br />
Werten. Zweitens ist die Basis der von den<br />
Konzernen eingesetzten Finanzmittel ihre eigene<br />
Wertschöpfung. Nur ertragsstarke Unternehmen<br />
können auch einträgliche Finanzgeschäfte tätigen.<br />
Wie ertragreich deutsche Konzerne 2002 gewirtschaftet<br />
haben, zeigt die Tabelle 1. Ausgewählt wurden<br />
Konzerne, die jeweils mehr als eine halbe<br />
Milliarde Euro an Cash Flow erwirtschaften konnten<br />
und diesen auch in ihren Geschäftsberichten auswiesen.<br />
Der Cash Flow ist eine allgemein anerkannte und<br />
zunehmend verwendete Größe, um die wirkliche Finanzkraft<br />
eines Unternehmens abzubilden.<br />
Anders als beim Gewinn wird mit ihm der tatsächliche<br />
Zugewinn eines Geschäftsjahres erkennbar, weshalb<br />
sich Börsenanalysten und Kreditgeber weniger<br />
auf den ausgewiesenen Gewinn, sondern auf den<br />
Cash Flow konzentrieren. Einige der oben aufgeführten<br />
Konzerne wiesen 2002 zum Beispiel einen sehr<br />
niedrigen Gewinn aus, obwohl ihre Erträge außerordentlich<br />
hoch ausfielen. Logisch wäre deshalb auch<br />
eine Besteuerung der Unternehmen nach dem errechenbaren<br />
Cash Flow.<br />
Wie die Tabelle zeigt, scheinen die Steuerzahlungen<br />
der aufgeführten Unternehmen gleichzeitig in keinem<br />
Verhältnis zu ihrem eigentlichen Ertrag zu ste-<br />
8<br />
hen. Sie sind nicht nur durchschnittlich relativ gering,<br />
sondern weichen auch stark voneinander ab,<br />
was als Ausdruck der außerordentlich weiten Gestaltungsspielräume<br />
bei der Steuerveranlagung gewertet<br />
werden kann. Die Deutsche Telekom etwa<br />
erwirtschaftete einen 4-mal so hohen Cash Flow wie<br />
Bayer, zahlte aber 23-mal so viel Steuern. Sinnvoll<br />
wäre deshalb eine Mindestbesteuerung der Unternehmen<br />
auf der Grundlage ihres Cash Flows und nicht<br />
der ausgewiesenen Gewinne. Überhaupt bewegt sich<br />
die Besteuerung der eigentlichen Leistungskraft auf<br />
äußerst niedrigem Niveau. Die durchschnittliche, am<br />
Cash Flow gemessene Steuerlast der aufgeführten<br />
Spitzenkonzerne lag 2002 bei 16,4 Prozent.<br />
„Wir haben unmittelbar nach Amtsübernahme<br />
eine Steuerreform gemacht, die sich sehen lassen<br />
kann. Sie brachte die Steuerbelastung der<br />
deutschen Unternehmen eher ins untere Drittel<br />
des europäischen Geleitzugs.“<br />
Gerhard Schröder, Handelsblatt 18.09.2003<br />
Interessant ist auch eine Berechnung der von den<br />
Beschäftigten erbrachten Leistung. Auf jeden Euro,<br />
den sie 2002 für ihre Arbeitsleistung erhielten, kommen<br />
0,58 Cent realer Unternehmensertrag. Oder anders<br />
ausgedrückt: Im Durchschnitt arbeiteten die<br />
Beschäftigten jeweils 26 Minuten für ihren Arbeitslohn<br />
und 34 Minuten für den Unternehmensertrag.<br />
Es gibt Alternativen:<br />
• Die Steuerfreistellung für Gewinne aus dem Verkauf<br />
von Anteilen an andere Unternehmen muss<br />
aufgehoben werden.<br />
• Die Bilanzierungsvorschriften der Kapitalgesellschaften<br />
müssen so verändert werden, dass ein<br />
Verschieben von Gewinnbestandteilen an Standorte<br />
mit niedrigeren Steuersätzen verhindert<br />
wird.<br />
• Die Bundesregierung muss zuerst auf europäischer<br />
Ebene und danach innerhalb der G8-Staaten<br />
auf eine Harmonisierung der Unternehmenssteuern<br />
drängen, damit der Unterbietungswettbewerb<br />
beendet wird.<br />
• Ausländische Direktinvestitionen sind als Gewinnbestandteile<br />
zu behandeln.<br />
• Die Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer<br />
muss erweitert werden.<br />
• Die Kapitalgesellschaften sind einer Mindestbesteuerung<br />
ihres Rohgewinns zu unterwerfen.
Die Gier der Eliten<br />
Anfang Februar überraschte das manager magazin<br />
seine potente Leserschaft mit dem Titel. „Gier ist<br />
geil – die Rückkehr zur Leistungsgesellschaft“. Die<br />
neue Offenheit im Umgang mit der Raffgier der<br />
Superreichen hat die Statistischen Ämter jedoch<br />
noch nicht erreicht, so dass man in den Statistischen<br />
Jahrbüchern vergeblich nach der Zahl der Vermögens-<br />
oder Einkommensmillionäre<br />
sucht. Die zuletzt<br />
1998 durchgeführte<br />
Einkommens- und<br />
Verbrauchsstichprobe<br />
des Statistischen<br />
Bundesamtes<br />
zählt zum Beispiel<br />
keine Millionäre,<br />
weil Haushalte mit<br />
einem Monatseinkommen<br />
von mehr<br />
als 35.000 DM<br />
(17.895 Euro) aus<br />
statistisch-mathematischen<br />
Gründen<br />
nicht mitgezählt werden. Die verlässlichste Quelle<br />
scheinen immer noch weltweit tätige Vermögensund<br />
Anlageberater wie etwa Merrill Lynch und Cap<br />
Gemini Ernst & Young zu sein, die durch ihren direkten<br />
Kontakt zu den Banken alljährlich einen Weltreport<br />
über die wohlhabenden Privatkunden erstellen.<br />
Nach deren letzter Erhebung wurden Ende 2002 in<br />
Deutschland 755.000 Menschen gezählt, die ohne<br />
Immobilien über ein Anlagevermögen von mehr als<br />
einer Million Euro verfügen. Ihre Zahl ist, wie schon<br />
erwähnt, gegenüber 2001 um 3,4 Prozent gestiegen.<br />
Rechnet man auch jene zu den Euro-Millionen, die<br />
einschließlich Immobilien und Sachanlagen auf<br />
mehr als eine Million kommen, sind es sogar 1,5 Millionen,<br />
denen seit Jahren die Vermögenssteuer erlassen<br />
bleibt. Schon jahrelang können sich die<br />
Superreichen so einen überproportional großen Teil<br />
des Volkseinkommens aneignen, die Kehrseite ist,<br />
dass der größere Teil der Bevölkerung einen immer<br />
kleineren Anteil erhält.<br />
Selbstverständlich kann die rot-grüne Bundesregierung<br />
bei dieser Reichtumsexplosion insofern ihre<br />
Hände in Unschuld waschen, als dieser Prozess der<br />
Natur der Marktgesetze folgt. Doch erstens zeigt sich<br />
gerade daran, wie unsinnig es ist, die Verteilung des<br />
gesellschaftlichen Reichtums allein dem Markt zu<br />
überlassen, und zweitens hat sie durch ihre Steuerreform<br />
nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Explosion<br />
des Reichtums zusätzlich zu beschleunigen.<br />
Sind das die Leute, die Werte schaffen?<br />
Anfang des Jahres machten ein Bild und ein Spruch<br />
die Runde, die den gesamten Unsinn unserer angeblichen<br />
Leistungsgesellschaft auf den Punkt brachten.<br />
Vor dem Düsseldorfer Landgericht hatten sich der<br />
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef<br />
Ackermann, und andere ehemalige Aufsichtsräte des<br />
Mannesmannkonzerns für einen Deal zu verantworten,<br />
bei dem der ehemalige Vorstandsvorsitzende<br />
Klaus Esser für seine neunmonatige Tätigkeit eine<br />
Prämie von mehr als 16,5 Millionen Euro erhalten<br />
hatte. Das Bild zeigte Ackermann, wie er Esser im Gerichtsgebäude<br />
mit dem Victory-Zeichen begrüßt und<br />
gegenüber der Presse erklärt: „Deutschland ist das<br />
einzige Land, wo man die Leute, die Werte schaffen, vor<br />
Gericht stellt.“ Der scheinbar von Klaus Esser geschaffene<br />
Wert bestand darin, den Mannesmann-Konzern<br />
für 110 Milliarden Euro an Vodafone verhökert zu<br />
haben. Die Börsennotierung von Mannesmann war in<br />
diesem Zeitabschnitt um 128 Prozent gestiegen. Doch<br />
dieser Kurssprung war kaum Esser zu verdanken, denn<br />
in diesen wilden Monaten stiegen die Aktienkurse<br />
aller Telekommunikationskonzerne um satte 108 Prozent.<br />
Das Übrige bewirkten die Spekulanten, die den<br />
Milliarden-Deal mit Vodafone rochen, kräftig Mannesmann-Aktien<br />
kauften und den Aktienkurs zusätzlich<br />
anheizten. Das einzige Verdienst von Esser bestand<br />
darin, zur rechten Zeit auf dem richtigen Stuhl gesessen<br />
zu haben. Von herausragender unternehmerischer<br />
Leistung keine Spur. Wie unsinnig in diesem Fall<br />
der Leistungsbegriff ist, verrät eine andere Rechnung.<br />
Allein für die Esser-Prämie hätte ein Stahlarbeiter<br />
bei Mannesmann 330 Jahre arbeiten müssen.<br />
Ganz zu schweigen davon, dass das „reguläre“ Gehalt<br />
von Esser ebenfalls einigen hundert Jahren Facharbeitertätigkeit<br />
entspricht.<br />
Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt:<br />
• 93 Richter und Beamte<br />
• 62 Angestellte<br />
• 10 Arbeiter<br />
• 66 Hilfskräfte<br />
Diese 231 Beschäftigten, einschließlich der<br />
höchstbezahlten Richter Deutschlands, kosteten<br />
2003 rund 13 Mio. Euro. Weniger also, als Mannesmann-Chef<br />
Esser neben seinem Gehalt als<br />
Prämie für eine neunmonatige Tätigkeit erhielt.<br />
9
Deutsche-Bank-Chef Ackermann ging 2003 mit einem<br />
Jahresentgelt von 11.1 Millionen Euro nach Hause,<br />
wofür selbst der Bundeskanzler 48 Jahre im Amt sein<br />
müsste und ein leitender Angestellter der Bank 180<br />
Jahre zu arbeiten hätte. Dagegen erhielten die wenige<br />
Dutzend zählenden Investmentbanker der Deutschen<br />
Bank laut Spiegel im vergangenen Jahr Boni von mehreren<br />
100 Millionen Euro. Diese Finanzjongleure kassieren<br />
teilweise noch mehr als ihr Chef, und da ihre<br />
Bonuszahlungen überwiegend aus Aktien der Deutschen<br />
Bank bestehen, könnten sie in absehbarer Zeit<br />
sogar zu den maßgeblichen Eigentümern ihres Institutes<br />
gehören. Überhaupt sagen die offiziell ausgewiesenen<br />
Millioneneinkommen von Spitzenmanagern, wie<br />
sie in der Tabelle 1 aufgelistet sind, wenig über ihre<br />
tatsächlichen Einkünfte aus. Die Wirtschaftselite wird<br />
von den Großaktionären immer häufiger durch die Ausgabe<br />
von Vorzugsaktien geködert, um ihr Interesse an<br />
der Erhöhung des Börsenwertes zu wecken, womit der<br />
so genannte Shareholder Value, also der Profit durch<br />
Kurssteigerung, zum Leitmotiv der gesamten Wirtschaft<br />
wird. Kein Wunder, dass sich damit der in der Gesellschaft<br />
vorherrschende Leistungsbegriff verändert<br />
und auf die Fähigkeit der Spekulation zusammenschrumpft.<br />
Es geht darum, aus Geld mehr Geld zu machen,<br />
unabhängig davon, wie viel reale Werte dabei<br />
geschaffen werden. Fast unmerklich hat sich die so genannte<br />
Leistungsgesellschaft von einem arbeitenden<br />
zu einem spekulierenden Gemeinwesen entwickelt, das<br />
gewöhnliche Arbeit nur noch als Kostenfaktor registriert,<br />
während sich die Millioneneinkommen jeder<br />
Begründung entziehen und ihre Bezieher als die wahren<br />
Leistungsträger auftreten können. Die Unternehmensberatung<br />
Kienbaum hat errechnet, dass die<br />
Vorstandsgehälter der 30 im DAX notierten Unternehmen<br />
zwischen 1997 und 2002 um 80 Prozent gestiegen<br />
sind, während die Gehälter der übrigen Angestellten<br />
nur um 15 Prozent zulegten. Interessant an dieser Kritik<br />
aus dem Unternehmerlager ist jedoch die Begründung.<br />
Den Spitzenmanagern wird nicht die Höhe ihrer<br />
Gehälter vorgehalten, sondern dass ihre Steigerung in<br />
keinem Verhältnis zur Entwicklung des Aktienwertes<br />
steht. Was natürlich die Prämie für Esser nachträglich<br />
rechtfertigt, weil sie vor dem Hintergrund eines<br />
sprunghaft gestiegenen Börsenwertes ausgezahlt<br />
wurde. Wäre der DAX zwischen 1997 und 2002 wie die<br />
Vorstandsbezüge um 80 Prozent gestiegen, hätte kaum<br />
jemand von diesen Kritikern einen Einwand erhoben.<br />
Ein absurder Leistungsbegriff<br />
Die von Wirtschaftsredakteuren, Politikern und sogar<br />
von Unternehmerfunktionären entfachte Diskussion<br />
über die Maßlosigkeit der Managerelite atmet bei allem<br />
berechtigten Anlass ein erhebliches Maß von Scheinheiligkeit,<br />
denn die Kritiker stellen natürlich nicht die<br />
Frage, ob die superreichen „Arbeitgeber“ dieser Manager<br />
ihre Vermögen durch Eigenleistung erworben<br />
haben oder ob der Besitz milliardenschwerer Aktienpakete<br />
nicht das menschliche Leistungsvermögen bei<br />
weitem überschreitet. Ganz zu schweigen davon, dass<br />
sich diese Vermögen meistens in den Händen von Familienmitgliedern<br />
befinden, die dem Unternehmertum<br />
mehr durch Eheschließung und Geburt als durch eige-<br />
10<br />
Tabelle 2:<br />
Die Vermögen der 50 reichsten Deutschen<br />
umgerechnet auf Stundenlöhne<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
Name<br />
Theo Albrecht<br />
Karl Albrecht<br />
Susanne Klatten<br />
Werner Otto<br />
Reinhard Mohn<br />
Familie von Holzbrinck<br />
Friedrich Karl Flick<br />
Anonymus<br />
Curt G. Engelhorn<br />
Hasso Plattner<br />
Familie Reimann<br />
M. u. R. Schmidt-Ruthenbeck<br />
Erivan Haub<br />
Stefan Quandt<br />
Reinhold Würth<br />
Johanna Quandt<br />
Erich von Baumbach<br />
Albert Boehringer<br />
Otto Boehringer<br />
Heinz Bauer<br />
Günter Herz<br />
Otto Beisheim<br />
August von Finck<br />
Familie Braun<br />
Familie Brenninkmeyer<br />
Adolf Merckle<br />
Rudolf August Oetker<br />
Familie Bosch<br />
Jürgen Heraeus<br />
Familie Porsche<br />
Klaus Tschira<br />
Familie Funke<br />
Wilhelm von Finck<br />
Alfred von Oppenheim<br />
Familie Quandt<br />
Friede Springer<br />
Karin Baronin von Ullmann<br />
Familie Freudenberg<br />
Dietmar Hopp<br />
Madelaine Schickedanz<br />
Familie Jahr<br />
Nikolaus u. Baldwin Knauf<br />
Hubert Burda<br />
Rolf Gerling<br />
Otto Happel<br />
Maria u. Georg Schaeffler<br />
Stefan Schörghuber<br />
Clemens Haindl<br />
Eberhard Schleicher<br />
Familie Ehlerding<br />
Vermögen<br />
in Mrd. Euro<br />
14,6<br />
12,6<br />
7,5<br />
6,6<br />
5,7<br />
5,6<br />
5,4<br />
5,1<br />
4,7<br />
4,7<br />
4,6<br />
4,6<br />
4,5<br />
4,5<br />
4,5<br />
4,4<br />
4,1<br />
4,1<br />
4,1<br />
4,0<br />
3,9<br />
3,7<br />
3,7<br />
3,6<br />
3,6<br />
3,5<br />
3,3<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,9<br />
2,9<br />
2,6<br />
2,6<br />
2,5<br />
2,5<br />
2,4<br />
2,4<br />
2,4<br />
2,4<br />
2,3<br />
2,1<br />
2,0<br />
2,0<br />
2,0<br />
2,0<br />
2,0<br />
1,9<br />
1,9<br />
1,9<br />
Summe: 196<br />
Stundenlohn<br />
in Euro<br />
409.009,41<br />
352.980,73<br />
210.107,58<br />
184.894,67<br />
159.681,76<br />
156.880,32<br />
151.277,45<br />
142.873,15<br />
131.667,41<br />
131.667,41<br />
128.865,98<br />
128.865,98<br />
126.064,55<br />
126.064,55<br />
126.064,55<br />
123.263,11<br />
114.858,81<br />
114.858,81<br />
114.858,81<br />
112.057,37<br />
109.255,94<br />
103.653,07<br />
103.653,07<br />
100.851,64<br />
100.851,64<br />
98.050,20<br />
92.447,33<br />
86.844,46<br />
84.043,03<br />
84.043,03<br />
81.241,60<br />
81.241,60<br />
72.837,29<br />
72.837,29<br />
70.035,86<br />
70.035,86<br />
67.234,42<br />
67.234,42<br />
67.234,42<br />
67.234,42<br />
64.432,99<br />
58.830,12<br />
56.028,69<br />
56.028,69<br />
56.028,69<br />
56.028,69<br />
56.028,69<br />
53.227,25<br />
53.227,25<br />
53.227,25<br />
Quelle:<br />
www.manager-magazin.de/koepfe/reichste/0,2828,183574,00.html (Stand Januar 2002)<br />
Berechnungen von Harald Wozniewski www.dr-wo.de
ne Leistung verbunden sind. Das US-amerikanische<br />
Magazin Forbes und nach ihm das deutsche Manager-<br />
Magazin veröffentlichen regelmäßig eine Liste der<br />
Reichsten, bei der selbstverständlich nicht in Frage<br />
steht, dass sich diese Vermögen auf unternehmerische<br />
Leistung gründen. Wie absurd dieser Leistungsbegriff<br />
ist, hat der Wirtschaftsjurist und Publizist Harald<br />
Wozniewskis demonstriert, in dem er die Stundenlöhne<br />
für diese angebliche Unternehmerleistung errechnete.<br />
Eine vielleicht nicht ganz präzise und auch mit vielen<br />
Unbekannten aufgestellte Rechnung, aber sie ist bei<br />
aller Gewagtheit immer noch entlarvend genug für den<br />
absurden Begriff der Unternehmerleistung.<br />
Dass sich die Managerelite Millioneneinkommen zuschanzen<br />
kann, geschieht im Übrigen auch nicht ohne<br />
Einverständnis ihrer „Arbeitgeber“, und wer die<br />
Maßlosigkeit der Manager kritisiert, darf zur Maßlosigkeit<br />
der Milliardäre nicht schweigen. Wobei der Milliarden-Reichtum<br />
eigentlich immer weniger verschwiegen,<br />
sondern sogar zur Schau gestellt und zum Maß aller gesellschaftlichen<br />
Werte erhoben wird. Ohne die Gesellschaftsfähigkeit<br />
der maßlosen Bereicherung ist weder<br />
die Maßlosigkeit der Manager denkbar noch das unverschämte<br />
Bekenntnis des Manager-Magazins zur Gier als<br />
Grundlage der Leistungsgesellschaft.<br />
Fragt man nach den politisch-kulturellen Folgen dieser<br />
schamlosen Bereicherung, dann zeigt sich schnell,<br />
dass die Kehrseite der Parole „Gier ist geil“ folgerichtig<br />
„Geiz ist geil“ heißt. Denn was das Manager-Magazin<br />
als Rückkehr zur Leistungsgesellschaft feiert, ist das<br />
unverhohlene Bekenntnis zur Ellenbogengesellschaft,<br />
in der sich die Gier der Mächtigen mit dem Geiz gegenüber<br />
den Schwächeren verbindet. Diese Parallelität von<br />
Gier und Geiz spiegelt sich denn auch in der Politik<br />
wider. Senkung des Spitzensteuersatzes sowie Verzicht<br />
auf die Vermögenssteuer auf der einen Seite und Senkung<br />
des Arbeitslosengeldes und der Netto-Renten auf<br />
der anderen. Einerseits Amnestie für Steuersünder und<br />
andererseits härtere Sanktionen für Arbeitslose.<br />
Wie wäre es, wenn<br />
Das Recht im Schlaf reich zu werden<br />
Mann könnte glauben, dass das zunehmend unverhohlene<br />
Bekenntnis zur maßlosen Bereicherung Ausdruck<br />
des viel beschworenen kulturellen Wertewandels ist.<br />
Tatsächlich ist der kulturelle Wandel jedoch nur eine<br />
Folgeerscheinung des langsamen, aber tiefen Wandels<br />
in der ökonomischen Wertschöpfung.<br />
Immer größere Teile des Volkseinkommens stammen<br />
nicht mehr unmittelbar aus abhängiger oder unternehmerischer<br />
Erwerbsarbeit, sondern aus Vermögenseinkommen.<br />
Zinsen, Dividenden oder auch Mieteinnahmen<br />
sind gerade für die oberen zehn Prozent<br />
der Gesellschaft eine maßgebliche Einnahmequelle –<br />
unabhängig davon, ob sie nebenbei als leitende Angestellte<br />
tätig sind oder über Einkünfte als Freiberufler<br />
verfügen. Die amtliche Statistik sagt darüber wenig<br />
aus, weil sie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung<br />
nur die Arbeitnehmereinkommen präzise er-<br />
• die Bezüge der Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer<br />
von Kapitalgesellschaften einschließlich<br />
aller Sonderzuwendungen nicht nur in den Geschäftsberichten<br />
der Aktiengesellschaften veröffentlicht,<br />
sondern auch den MitarbeiterInnen des<br />
Unternehmens bekannt gemacht würden?<br />
• die Bundes- und Landesrechnungshöfe verpflichtet<br />
würden, die Bezüge von Vorstandsmitgliedern bzw.<br />
Geschäftsführern von Unternehmen, an denen die<br />
öffentliche Hand beteiligt ist, einem öffentlichen<br />
Ranking zu unterziehen? Dabei müsste die Höhe der<br />
Bezüge mit der Bezahlung ähnlicher Verantwortungen<br />
in Politik und Verwaltung verglichen werden.<br />
• das für die Sozialhilfe geltende Lohnabstandsgebot<br />
auch auf Managergehälter angewandt würde, um<br />
den Leistungswillen und die Motivation der übrigen<br />
Bezieher von Erwerbseinkommen nicht zu beeinträchtigen?<br />
• die Bundesregierung einen jährlichen Bericht über<br />
die Entwicklung und Steuerbelastung der privaten<br />
Vermögen von mehr als 100 Millionen Euro vorlegen<br />
müsste?<br />
fasst, während die Einnahmen aus selbstständiger<br />
Tätigkeit und aus Vermögen zusammengezählt werden,<br />
als würden nur die Selbstständigen auch Vermögenseinkommen<br />
beziehen. Tatsächlich beziehen aber<br />
die meisten Selbstständigen kein höheres Einkommen<br />
als gut bezahlte Angestellte und Beamte, und die<br />
führenden Manager mit Einkommen von mehreren<br />
Hunderttausend Euro werden nicht als Selbstständige,<br />
sondern als unselbstständig Beschäftigte gezählt.<br />
So kommt es, dass selbst Hausierer oder Inhaber einer<br />
Ich-AG als Selbstständige gerechnet werden, während<br />
der angestellte Vorstandsvorsitzende mit einem Jahreseinkommen<br />
von mehreren Hunderttausend Euro als<br />
abhängig Beschäftigter gerechnet wird. Niemand<br />
weiß es genau, aber wahrscheinlich gibt es durch<br />
diese statistische Unschärfe unter den unselbstständig<br />
Beschäftigten bald ebenso viele Eigentumsmil-<br />
Die Bruttoeinkommen der Unselbstständigen haben sich von 1991 bis 2002 nur um rund 31 Prozent erhöht, während<br />
die privaten Geldvermögen im selben Zeitraum um 83 Prozent auf 3.739 Mrd. Euro gestiegen sind. Diese ungleiche<br />
Entwicklung signalisiert, dass immer mehr private Haushalte nicht nur mehr Vermögen, sondern auch mehr Vermögenseinkommen<br />
besitzen. Unterstellt man nämlich, dass dieses gewaltige Geldvermögen vom Sparbuch bis zum rentablen<br />
Aktienfond eine durchschnittliche Rendite von mindestens sechs Prozent abwirft, dann ergaben sich daraus<br />
2002 private Vermögenseinnahmen von 223.8 Mrd. Euro. Oder anders gerechnet: Die Einkommen der deutschen Privathaushalte<br />
stammten 2002 zu 16 Prozent nicht aus eigener Erwerbsarbeit, sondern aus Vermögenserträgen.<br />
11
lionäre wie unter den Selbstständigen. Die Kategorien<br />
Selbstständiger, Beamter oder abhängig Beschäftigter<br />
sagen immer weniger über die wahre soziale<br />
Lage der Betroffenen aus. Die Menschen, die ihren<br />
Reichtum wachsenden Vermögenseinkommen verdanken<br />
und gewissermaßen im Schlaf reich werden, sind<br />
mit der herkömmlichen Statistik schwer zu erfassen.<br />
Das kommt insbesondere daher, dass das Bundesstatistikamt<br />
und die Bundesbank unterschiedliche Datenquellen<br />
nutzen oder verschiedene Kategorien<br />
erheben. Nur in den Berichten der Bundesbank gibt<br />
es zum Beispiel eine kassenmäßig erfasste Auflistung<br />
der Geldbestände und Vermögensgewinne,<br />
während sich das Statistikamt auf Befragungen stützen<br />
muss.<br />
Eine annähernde Vorstellung von der wachsenden<br />
Bedeutung der Vermögenseinkommen erhält man,<br />
wenn man einerseits die Entwicklung der privaten<br />
Geldvermögen mit der Entwicklung der Arbeitseinkommen<br />
vergleicht und andererseits schätzt, wie<br />
hoch wohl die jährlichen Einkommen aus privaten<br />
Geldvermögen ausfallen.<br />
Diagramm 7:<br />
Anteile von Betriebsüberschuss und Vermögenseinkommen<br />
am Volkseinkommen in Prozent<br />
Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von<br />
einer Verschweizerung der Bundesrepublik, weil<br />
immer mehr Haushaltseinkommen nicht aus der eigenen<br />
abhängigen oder auch selbstständigen Arbeit<br />
stammen, sondern aus den Zinsen, Mieten oder Renditen,<br />
die das private Vermögen abwirft. Das wird besonders<br />
deutlich im Diagramm 5, wo die Entwicklung<br />
der privaten Vermögenseinkommen und der Anteil<br />
des Betriebsüberschusses am Volkseinkommen miteinander<br />
verglichen werden.<br />
Wobei unter Betriebsüberschuss die Nettowertschöpfung<br />
der Wirtschaftsbereiche und Sektoren verstanden<br />
wird, während die Vermögenseinkommen<br />
hauptsächlich die privaten Erträge aus Geld- und<br />
Sachvermögen umfassen. Der Betriebsüberschuss<br />
nimmt ständig ab, während die ohne unternehmerische<br />
oder abhängige Tätigkeit erworbenen Vermögenseinkommen<br />
stetig zunehmen. 1996 stammten<br />
noch 20,2 Prozent aller Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
aus dem Betriebsüberschuss und 11,1 Prozent<br />
aus Vermögenseinkommen. Bis 2002 hat der<br />
sogenannte Betriebsüberschuss etwa ein Zehntel sei-<br />
12<br />
20,2<br />
11,1<br />
1996<br />
19,6<br />
Betriebsüberschuss<br />
13,8<br />
1998<br />
18,1<br />
15,9<br />
17,8<br />
15,1<br />
2000 2002<br />
Vermögenseinkommen<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
nes Stellenwertes verloren, und die Vermögenseinkommen<br />
haben ihren Anteil fast um die Hälfte vergrößert.<br />
Allerdings sind bei der Wertung des „arbeitslosen“<br />
Vermögenseinkommens zwei Einwände fällig: Erstens<br />
werden die Vermögenseinkommen natürlich trotzdem<br />
erarbeitet, nämlich von Menschen, die in der Regel<br />
kaum Vermögenseinkommen beziehen, sondern sie<br />
mit ihrer Arbeit produzieren beziehungsweise für sie<br />
als Mieter oder Schuldner aufkommen müssen. Denn<br />
je größer der Geldreichtum in einer Gesellschaft,<br />
desto größer die Zahl der Schuldner oder derjenigen,<br />
die für die Verzinsung des Reichtums arbeiten müssen.<br />
Und zweitens sind die Vermögenseinkommen<br />
dementsprechend unterschiedlich verteilt. Was aber<br />
keineswegs heißt, dass diese Unterschiede mit den<br />
alten Klassenvorstellungen oder der Unterscheidung<br />
zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen<br />
zu erfassen sind. Die formal statistische Trennung<br />
zwischen abhängig Beschäftigten und<br />
Selbstständigen wird von der Aufspaltung in Vermögensbesitzer<br />
und Vermögenslose überlagert. Denn<br />
die unselbstständigen Spitzenverdiener, meistens angestellte<br />
Manager oder leitende Beamte, haben nicht<br />
nur unvergleichlich größere Einkommen als der<br />
durchschnittliche Arbeitnehmer, sie beziehen auch<br />
höhere Vermögenseinkommen als die meisten Selbstständigen.<br />
Überhaupt sind die herkömmlichen Kategorien der<br />
Sozialstatistik immer weniger geeignet, den Unterschied<br />
zwischen Arm und Reich zu beschreiben. Auf<br />
der einen Seite wird der statistische Durchschnitt der<br />
Arbeitnehmereinkommen durch die Spitzengehälter<br />
der Manager nach oben getrieben und auf der anderen<br />
der Durchschnitt der Selbstständigeneinkommen<br />
durch Millionen von Kümmerexistenzen kräftig nach<br />
unten korrigiert. In diesem Fall helfen nur Sonderuntersuchungen<br />
weiter, die nicht nach dem formalen<br />
Sozialstatus, sondern nach realen Haushaltseinkommen<br />
unterscheiden. Die aktuellste und genaueste Untersuchung<br />
über reiche Haushalte stammt vom<br />
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)<br />
und stützt sich auf eine Befragung von 1.224 Haushalten<br />
mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen<br />
von mehr als 3.855 Euro, was von der<br />
Wissenschaft üblicherweise als Reichtumsgrenze betrachtet<br />
wird, weil diese Haushalte mehr als 200 Prozent<br />
des durchschnittlichen Nettoeinkommens von<br />
rund 1.918 Euro beziehen. Wobei durch ein Rechenmodell<br />
auch die Haushaltsgröße berücksichtigt wird,<br />
so dass ein so genanntes Äquivalenzeinkommen besteht.<br />
Hochgerechnet liegen in Deutschland etwa 2,7 Millionen<br />
oder 7,3 Prozent aller Haushalte über der<br />
Reichtumsgrenze. Zwischen ihnen gibt es erhebliche<br />
Unterschiede, aber auch die unteren 92,7 Prozent<br />
aller Haushalte, nämlich die unterhalb der Reichtumsschwelle,<br />
sind noch wesentlich differenzierter<br />
zu betrachten, als es die Durchschnittszahlen in der<br />
ersten Spalte der Tabelle 3 vermuten lassen.
Reiche Haushalte im Osten unter der<br />
Ein-Prozent-Marke<br />
Nur 0,7 % der Haushalte in den neuen Bundesländern<br />
und Berlin-Ost verfügen über Nettoeinkommen<br />
zwischen 3.835 und 10.226 Euro, und<br />
die darüberliegenden Haushaltstypen sind so<br />
selten vertreten, dass sie in der Statistik mit<br />
dem Wert 0,0 % auftauchen.<br />
92,1 Prozent von ihnen verdienen nämlich weniger<br />
als 150 Prozent des Durchschnittseinkommens, nicht<br />
einmal die Hälfte besitzt Geldvermögen, und nur ein<br />
gutes Drittel verfügt über selbstgenutztes Wohneigentum.<br />
Doch letztlich ist die Polarisierung innerhalb<br />
der 7,3 Prozent reicher Haushalte erheblich<br />
größer. Wenn zum Beispiel ein Haushaltseinkommen<br />
von weniger als 3.835 Euro als Reichtumsgrenze angesetzt<br />
wird, dann machen diese „Spitzeneinkommen“<br />
der nicht reichen Haushalte maximal das<br />
Dreifache eines entsprechenden Haushaltseinkommens<br />
von SozialhilfeempfängerInnen aus, während<br />
die tatsächlichen Spitzeneinkommen innerhalb der<br />
Gruppe reicher Haushalte um mehr als das Zwanzigfache<br />
über der so genannten Reichtumsgrenze liegen.<br />
Nach nicht ganz sicheren Hochrechnungen<br />
sollen etwa 25.000 bis 30.000 Deutsche ein Jahres-<br />
Bruttoeinkommen von mehr als einer Million Euro<br />
beziehen.<br />
Doch so spektakulär und auch unangemessen solche<br />
wirklich hohen Einkommen auch sein mögen, sie sind<br />
für unsere Analyse eigentlich weniger wichtig als die<br />
Untersuchung der in der Tabelle aufgeführten reichen<br />
Haushalte. Erstens handelt es sich hier um eine<br />
Massenschicht und nicht um eine kleine Minderheit,<br />
und zweitens ballt sich in diesen Haushalten jenes<br />
Vermögen, das sich auch im Schlaf vermehrt und<br />
seine Besitzer zu realen Nutzern der Vermögenswirtschaft<br />
macht. Auch vermerkt die DIW-Studie, dass<br />
das Haushaltseinkommen der untersuchten Haushalte<br />
wahrscheinlich noch wesentlich höher ist, weil die<br />
Befragten von ihren monatlichen Einnahmen ausge-<br />
Tabelle 3:<br />
Vermögensverteilung nach Netto-Haushaltseinkommen und Tätigkeit<br />
Haushaltsnettoeinkommen<br />
davon: Selbstständige<br />
Höhere Beamte<br />
Höhere Angestellte<br />
Vermögensart<br />
davon: selbstgenutztes Wohneigentum<br />
andere Immobilien<br />
Geldanlagen<br />
Nettovermögen abzügl. Schulden<br />
Durchschnittliches<br />
Vermögen in Euro<br />
Quelle: DIW, Repräsentative Analyse der Lebenslagen einkommenstarker Haushalte, Juni 2003<br />
gangen sind und die Zinsgewinne ebenso unberücksichtigt<br />
ließen wie den erst bei Veräußerung anfallenden<br />
Vermögensgewinn. Gleichzeitig ist aber vor<br />
allem das politische Gewicht dieser Haushalte als<br />
Wähler- und meinungsbildende Schicht ungleich<br />
größer einzuschätzen als die Macht der vergleichsweise<br />
wenigen Einkommensmillionäre. Als Millionen<br />
zählende Massenschicht repräsentieren sie einen<br />
außerordentlich einflussreichen Teil der Bevölkerung,<br />
der die Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik<br />
und vor allem in der Medienindustrie besetzt. Sie formulieren<br />
die herrschende Ideologie und besitzen den<br />
Einfluss, sie zur angeblich herrschenden Meinung zu<br />
erheben.<br />
Wichtig sind noch zwei weitere Schlussfolgerungen<br />
aus der Tabelle 3 und den weiteren Ergebnissen der<br />
Studie. Erstens zeigt sie, dass die Mehrheit der reichen<br />
Haushalte wie der Vermögensreichen aus höheren<br />
Angestellten und Beamten und nicht aus<br />
Selbstständigen besteht. 43,9 Prozent aller Haushalte<br />
mit einem Netto-Monatseinkommen von mehr als<br />
5.113 Euro sind höhere Angestellte oder Beamte und<br />
nur 22,9 Prozent Selbstständige. Und zweitens darf<br />
man sich von den aktuellen Zahlen nicht den Blick für<br />
die Zukunft trüben lassen. Sich ohne eigene Arbeit<br />
vermehrender Reichtum hat die Tendenz zum potenziellen<br />
Wachstum, was nicht nur die Spaltung vertieft,<br />
sondern vor allem die Dominanz der<br />
Vermögenswirtschaft über die Realwirtschaft<br />
sprunghaft wachsen lässt.<br />
Wer hat – dem wird gegeben<br />
Wer hat, dem wird gegeben, sagt der Volksmund, und<br />
die Statistik bestätigt es mit ihren überproportionalen<br />
Wachstumsraten bei den privaten Geldvermögen.<br />
Deren Selbstvermehrung lässt sich leicht errechnen,<br />
wenn man eine simple Zinseszinsrechnung bemüht.<br />
Statistisch gesehen sparen die deutschen Haushalte<br />
durchschnittlich rund zehn Prozent ihres Einkommens<br />
und tragen es zur Bank, kaufen Wertpapiere<br />
oder sparen für Lebensversicherung oder Bausparvertrag.<br />
In Wirklichkeit ist diese Durchschnittszahl<br />
unter 3.835 Euro 3.835 – 5.113 Euro<br />
7,7 %<br />
0,8 %<br />
12,0 %<br />
36.980<br />
7.566<br />
5.909<br />
48.739<br />
15,0 %<br />
10,6 %<br />
30,8 %<br />
Durchschnittliches<br />
Vermögen in Euro<br />
102.368<br />
52.092<br />
20.817<br />
183.817<br />
über 5.113 Euro<br />
22,9 %<br />
12,5 %<br />
31,4 %<br />
Durchschnittliches<br />
Vermögen in Euro<br />
1332.242<br />
158.262<br />
40.889<br />
433.428<br />
13
eine Fiktion, denn die untere Hälfte der Gesellschaft<br />
besitzt nur 4,5 Prozent aller Vermögen, und 15,2 Prozent<br />
besitzen weder Rücklagen noch bilden sie Vermögen.<br />
Für die 92,7 Prozent der Haushalte, die über<br />
ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von weniger<br />
als 3.835 Euro verfügen, errechnete das DIW<br />
eine Sparquote von 8,2 Prozent.<br />
Insgesamt sind sich die Forscher darüber einig, dass<br />
der Besitz von Vermögen nicht nur aussagefähiger für<br />
die soziale Stellung ist als die formale Tätigkeit, sondern<br />
dass der Vermögensbesitz auch die soziale<br />
Stellung dauerhafter beeinflusst als das Erwerbseinkommen.<br />
Letzteres wird besonders dramatische<br />
Auswirkungen auf die soziale Entwicklung Ostdeutschlands<br />
haben, wo die Vermögensentwicklung<br />
noch wesentlich schlechter verläuft als die Einkommensangleichung.<br />
Einerseits wegen fehlender Altvermögen<br />
und andererseits wegen zu geringer<br />
Einkommen. Die Tabelle 3 macht deutlich, wie sehr<br />
hohe Einkommen das Hinüberwachsen vom gut verdienenden<br />
zum vermögenden Haushalt begünstigen.<br />
Ein Haushalt mit 3.835 Euro monatlichem Netto-Einkommen<br />
kann bei der durchschnittlichen Sparrate<br />
dieses Haushaltstyps sein Monatseinkommen nach 20<br />
Jahren zum Beispiel durch Vermögenseinkommen um<br />
300,33 Euro erhöhen, was 7,8 Prozent des regelmäßigen<br />
Einkommens entspricht. Das reicht nicht, um<br />
davon leben zu können, dürfte aber im Alter die durch<br />
die Rentenreform auftretende Einbuße ausgleichen.<br />
Nimmt man jedoch einen Haushalt mit 5.113 Euro monatlichem<br />
Netto-Einkommen, dann ergibt sich nach<br />
20 Jahren ein monatliches Vermögenseinkommen von<br />
4.179,33 Euro, was bereits 81,7 Prozent des ursprünglichen<br />
Netto-Haushaltseinkommens ausmacht und<br />
um 218 Prozent über dem Einkommen eines Durchschnittshaushalts<br />
liegt. Hier darf man getrost seinen<br />
Abschied vom Erwerbsleben nehmen und sein Geld<br />
weiterhin im Schlaf verdienen.<br />
Der Volksmund hat also Recht, wenn er sagt, dass<br />
denen gegeben wird, die bereits haben. Aber er irrt<br />
gründlich, wenn er meint, dass Geld nicht glücklich<br />
macht. Die DIW-Untersuchung belegt das Gegenteil.<br />
Mit wachsendem Einkommen steigt aber nicht nur die<br />
14<br />
Tabelle 4:<br />
Sparen und Vermögensbildung<br />
Haushaltsnettoeinkommen<br />
Anteil der Haushalte<br />
Sparquote<br />
Monatl.<br />
Netto-Sparbetrag<br />
Vermögen nach<br />
20 Jahren*<br />
Jährliches<br />
Vermögenseinkommen<br />
nach 20 Jahren<br />
unter<br />
3.835 €<br />
92,7 %<br />
8,2 %<br />
113 €<br />
55.484 €<br />
3.604 €<br />
3.835 bis<br />
5.113 €<br />
* bei Anlage des durchschnittlichen Sparbeitrages in dieser<br />
Gruppe und einer Rendite von 6,5 %<br />
Quelle: DIW, Juni 2003, eigene Berechnungen<br />
4,6 %<br />
13,6 %<br />
471 €<br />
231.268 €<br />
15.032 €<br />
über<br />
5.113 €<br />
2,7 %<br />
17,3 %<br />
1.588 €<br />
769.910 €<br />
50.044 €<br />
allgemeine Zufriedenheit, wie die Tabelle 4 zeigt. Von<br />
den Menschen in Haushalten bis 3.835 Euro Einkommen<br />
zeigten 19,1 Prozent der Befragten große Sorgen<br />
um ihre Gesundheit, während es bei den Haushalten<br />
mit mehr als 5.113 Euro Haushaltseinkommen nur 6,7<br />
Prozent waren. Das gleiche Verhältnis zeigt sich aber<br />
auch schon beim gegenwärtigen Gesundheitszustand.<br />
In den nicht reichen Haushalten bezeichneten<br />
nur 8,6 Prozent ihren Gesundheitszustand als sehr<br />
gut, während es in der Spitzengruppe 19 Prozent<br />
waren.<br />
Vor diesem Hintergrund, der Widerspiegelung der<br />
Einkommenslage in der Lebenszufriedenheit, sollte<br />
man auch die gegenwärtige Politik und Stimmungslage<br />
im Lande interpretieren. Einerseits spiegelt sich<br />
in der obigen Tabelle nicht nur der Zusammenhang<br />
von Einkommen und Zufriedenheit wider, sondern<br />
auch das Lebensgefühl der meinungsbildenden und<br />
politisch maßgeblichen Bevölkerungsgruppen. Es<br />
unterscheidet sich gravierend von der Mehrheitsbevölkerung<br />
und erklärt wahrscheinlich auch deren Unverständnis<br />
für den Widerstand gegen die so<br />
genannte Reformagenda der rot-grünen Bundesregierung.<br />
Nicht nur Spitzenmanager und Politiker,<br />
auch schon Bundestagsabgeordnete und die Elite der<br />
berufsmäßigen Meinungsproduzenten dürften sich<br />
ausnahmslos in der obersten der drei Gruppen befinden,<br />
die dreimal mehr Lebenszufriedenheit ausstrahlt<br />
als die untere Gruppe.<br />
Sie ist zwar am unzufriedensten mit ihrer Freizeit,<br />
aber rund fünfmal zufriedener mit Einkommen und<br />
Lebensstandard. Da lässt sich denn auch leicht über<br />
mangelnde Risikobereitschaft oder Verzagtheit der<br />
Tabelle 5:<br />
Zufriedenheit mit Bereichen des Lebens<br />
Haushaltsnettoeinkommen<br />
Zufriedenheit<br />
… mit der Arbeit<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
… mit der Freizeit<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
Quelle: DIW, Juni 2003<br />
unter<br />
3.835 €<br />
15,0 %<br />
8,5 %<br />
12,8 %<br />
15,0 %<br />
… mit der Haushaltseinkommen<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
… mit der Wohnung<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
… mit dem Lebensstandard<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
22,0 %<br />
5,3 %<br />
8,1 %<br />
16,9 %<br />
10,4 %<br />
5,9 %<br />
Allgemeine Lebenszufriedenheit<br />
unzufrieden<br />
hochzufrieden<br />
9,4 %<br />
4,0 %<br />
3.835 bis<br />
5.113 €<br />
5,2 %<br />
13,0 %<br />
11,9 %<br />
15,2 %<br />
4,4 %<br />
17,7 %<br />
2,4 %<br />
33,2 %<br />
1,3 %<br />
17,2 %<br />
2,5 %<br />
11,0 %<br />
über<br />
5.113 €<br />
4,8 %<br />
17,7 %<br />
13,3 %<br />
16,0 %<br />
2,8 %<br />
31,4 %<br />
1,9 %<br />
39,5 %<br />
0,7 %<br />
26,2 %<br />
2,3 %<br />
12,8 %
übrigen Bevölkerung klagen beziehungsweise zu<br />
mehr Optimismus aufrufen, wie es seit einiger Zeit<br />
üblich geworden ist. Im Stern vom 22. April 2004 erschienen<br />
die Ergebnisse einer Befragung von<br />
450.000 Deutschen, die in dieser Hinsicht nicht nur<br />
erhellende Ergebnisse brachte, sondern von ihrem<br />
sicherlich nicht unterbezahlten Chefredakteur in der<br />
angesprochenen Weise kommentiert wurde. Deutschland<br />
leidet nach seiner Meinung unter einer „Angstbremse“,<br />
und das Glück scheint – nach den diversen<br />
Landkarten zu urteilen, die über die Hochs und Tiefs<br />
der Zufriedenheit abgedruckt sind – immer dort am<br />
größten, wo CDU und CSU regieren. Es gibt eine frappierende<br />
Parallelität zwischen dem Grad der Zufriedenheit<br />
und dem Wahlverhalten. Der Osten, so<br />
stellen die Meinungsmacher dagegen fest, kippt auch<br />
mental ab. Allerdings haben die „Forscher vergessen,<br />
ihre Zufriedenheitskarten mit einer Karte der Einkommens-<br />
und Vermögensverteilung, der Arbeitslosenquoten<br />
und der Armutsrate zu ergänzen“. Das hätte die<br />
DIW-Untersuchung auf anschauliche Weise bestätigen<br />
und auch ergänzen können. Wer reich oder auch<br />
nur wohlhabend ist, ist nicht nur zufriedener und gesünder,<br />
sondern wählt auch anders und zeigt sich offener<br />
für die so genannte Reformagenda der<br />
herrschenden Politik.<br />
Reichtum ist erblich – nicht nur das Vermögen<br />
Man könnte die in Tabelle 3 ablesbare Anhäufung von<br />
Vermögenseinkommen durch hohe Einkommen noch<br />
fortsetzen und die Wirkung bis in die nächste Generation<br />
verfolgen. Doch bevor man sich dem Problem<br />
des materiellen Erbens zuwendet, lohnt es noch<br />
mehr darüber nachzudenken, was reiche Haushalte<br />
ihren Nachfahren sonst noch mit auf den Weg geben.<br />
Einmal natürlich eine eher positive Lebenseinstellung<br />
und mit Sicherheit eine bessere Gesundheit, vor<br />
allem aber das wichtigste Startkapital einer immer<br />
mehr auf Wissen basierenden Gesellschaft, nämlich<br />
Bildungs- und Ausbildungschancen. Die PISA-Studie<br />
hat den gerade in Deutschland besonders engen Zusammenhang<br />
zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss<br />
eindrucksvoll nachgewiesen, ohne<br />
dass sich die rot-grüne Politik damit ernsthaft auseinandersetzen<br />
musste. Sie setzt viel mehr auf Eliteuniversitäten<br />
oder Forschungsförderung als auf die<br />
Abkopplung des Bildungserfolgs von der sozialen<br />
Herkunft. Die DIW-Studie ermittelte bei den Erwerbstätigen<br />
in Haushalten unterhalb der Armutsschwelle<br />
nur 15,6 Prozent mit abgeschlossenem Studium, in<br />
der Gruppe der reichen dagegen 52,0 und in der Spitzengruppe<br />
59,5 Prozent. Das Humankapital der reichen<br />
Haushalte dürfte aber nicht nur den<br />
Bildungsweg der Kinder ebnen, es verbindet sich<br />
auch mit der materiellen Fähigkeit zur Bildungsfinanzierung.<br />
Das gilt bereits für die schulische Ausbildung,<br />
die immer häufiger Zusatzkosten verursacht,<br />
erst recht aber für die Hochschulausbildung und die<br />
immer längere Brücke in die Berufstätigkeit.<br />
Die maßgebliche Ursache für die Vererbung des Sozialstatus<br />
sind jedoch materielle Hinterlassenschaften<br />
und Schenkungen, die gerade in Zeiten der Krise an<br />
Tabelle 6:<br />
Erbschaften, Schenkungen und Lottogewinne<br />
Haushaltsnettoeinkommen<br />
Empfängerhaushalte<br />
Keine Angaben<br />
1.000 – 5.000 €<br />
5.000 – 10.000 €<br />
10.000 – 20.000 €<br />
20.000 – 50.000 €<br />
50.000 – 100.000 €<br />
100.000 – 250.000 €<br />
250.000 – 500.000 €<br />
500.000 – 1 Mio. €<br />
mehr als 1 Mio. €<br />
Mittelwert in €<br />
unter<br />
3.835 €<br />
2,0 %<br />
6,9 %<br />
15,8 %<br />
15,1 %<br />
20,5 %<br />
16,1 %<br />
14,0 %<br />
8,3 %<br />
2,1 %<br />
1,4 %<br />
0,0 %<br />
45.794<br />
Quelle: DIW, Repräsentative Analyse der Lebenslagen<br />
einkommensstarker Haushalte, Juni 2003<br />
3.835 bis<br />
5.113 €<br />
5,5 %<br />
7,3 %<br />
5,1 %<br />
13,5 %<br />
22,3 %<br />
11,9 %<br />
13,5 %<br />
16,3 %<br />
7,3 %<br />
0,0 %<br />
2,8 %<br />
128.513<br />
über<br />
5.113 € Gesamt<br />
6,1 %<br />
0,0 %<br />
0,0 %<br />
0,0 %<br />
16,9 %<br />
29,9 %<br />
9,5 %<br />
30,4 %<br />
9,5 %<br />
0,0 %<br />
3,7 %<br />
176.887<br />
2,3 %<br />
6,5 %<br />
13,5 %<br />
13,9 %<br />
20,4 %<br />
16,6 %<br />
13,6 %<br />
10,7 %<br />
3,2 %<br />
1,2 %<br />
0,6 %<br />
64,681<br />
Bedeutung gewinnen, weil sie die Erbenden oft<br />
schlagartig von Lebensrisiken befreien und in die<br />
nächsthöhere soziale Schicht katapultieren. Große<br />
Erbschaften verfestigen gleichzeitig die soziale Spaltung<br />
der Gesellschaft, beschränken die soziale Mobilität<br />
und ersetzen das Leistungsprinzip durch die<br />
Gnade der Geburt. Dementsprechend wird die Besteuerung<br />
großer Erbschaften von vielen Steuertheoretikern<br />
auch als ein ordnungspolitisches Mittel<br />
und nicht nur als staatliche Einnahmequelle betrachtet.<br />
Um diese Lenkungswirkung auf die tatsächlich<br />
großen Vermögen zu beschränken, sind in Deutschland<br />
die Freibeträge für Verwandte ersten Grades relativ<br />
hoch. Sie liegen für Ehepartner bei 307.000 und<br />
für Kinder bei 205.000 Euro. Erst jeder darüber liegende<br />
Euro ist versteuerbar. Die geringste Steuerbelastung<br />
liegt bei sieben, die höchste bei 50 Prozent,<br />
die freilich nur bei Erbschaften von mehr als 25,5<br />
Millionen fällig werden.<br />
Diagramm 8:<br />
Erbschaftssteuern im Vergleich<br />
Prozent des BIP 2001<br />
0,15 %<br />
D<br />
UK<br />
0,24 %<br />
0,28 %<br />
0,31 %<br />
0,36 %<br />
CH<br />
0,56 %<br />
0,25 %<br />
Welch geringe Wirkung die Erbschaftssteuer in<br />
Deutschland entfaltet, zeigt ein Vergleich (Diagramm<br />
8) mit dem Aufkommen dieser Steuer in vergleichbaren<br />
Ländern. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fallen<br />
in Deutschland die geringsten Steuern an, obwohl<br />
es nach den USA eine besonders hohe Zahl großer<br />
Vermögen gibt. Der Grund liegt freilich nicht nur im<br />
Steuertarif, sondern auch bei der Bemessungsgrundlage.<br />
Zur Zeit werden unbebaute Grundstücke nur mit<br />
NL<br />
USA<br />
F<br />
15
etwa 50 Prozent und bebaute Grundstücke mit 70<br />
Prozent ihres eigentlichen Verkaufswertes berechnet,<br />
so dass der Bundesfinanzhof 2002 Verfassungsklage<br />
in Karlsruhe eingereicht hat, um den<br />
Gesetzgeber zu einer Änderung der Erbschaftssteuer<br />
zu zwingen.<br />
Reichtum und Globalisierung<br />
Da insbesondere Geldvermögen außerordentlich flexibel<br />
bewegt und angelegt werden können, sind ihre<br />
Besitzer in der komfortablen Lage, sich die jeweils<br />
rentabelsten Anlagechancen auszusuchen und den<br />
Risiken rechtzeitig zu entziehen. Im Gegensatz zum<br />
Realkapital und den Arbeitskräften sind sie weder an<br />
Standorte noch an soziale Pflichten und öffentliche<br />
Meinungen gebunden. Sie sind die eigentlichen Profiteure<br />
der Globalisierung, denn im Gegensatz zur<br />
herrschenden Globalisierungsideologie sind es überwiegend<br />
die Finanzanleger, die von der neuen Flexibilität<br />
des globalen Marktes profitieren. Je größer<br />
der Anteil dieses flexiblen Reichtums in einer Gesellschaft<br />
ist, desto größer sind die Risiken der traditionellen<br />
Produktionsunternehmen und vor allem der<br />
Arbeitskräfte, weil sie durch die Flexibilität der Geldvermögen<br />
unter ständigen Anpassungsdruck gesetzt<br />
werden. Insbesondere die Arbeitskräfte werden zu<br />
fortgesetztem Lohnverzicht oder immer flexibleren<br />
Arbeitsformen gezwungen, um dem herumvagabundierenden<br />
Geldvermögen sichere Renditen zu garantieren.<br />
Wobei der Genauigkeit halber gesagt werden<br />
Reichtum vom Finanzamt<br />
Für kaum eine Für kaum eine politische Maßnahme der<br />
rot-grünen Bundesregierung ist der Vorwurf der staatlichen<br />
Reichtumspflege zutreffender als für die Reform<br />
des Einkommenssteuertarifs. Zunächst entsteht zwar<br />
der Eindruck, als würden die SteuerzahlerInnen am<br />
oberen wie am unteren Ende der Steuertabelle gleichermaßen<br />
entlastet, weil der Eingangssteuersatz<br />
fast um die gleiche Prozentzahl sinkt wie der Spitzensteuersatz.<br />
Der unterste Satz von 25,9 auf 15 und der<br />
höchste von 53 auf 42 Prozent. Die prozentuale Verminderung<br />
der persönlichen Steuerschuld, wie sie die<br />
16<br />
muss, dass diese globale Flexibilität durch politische<br />
Entscheidungen herbeigeführt wurde und keinesfalls<br />
naturwüchsig entstanden ist. Deregulierung, Flexibilisierung<br />
und Privatisierung sind keine politischen<br />
Glaubenssätze, sondern die handfesten Erfordernisse<br />
einer zunehmenden Vermögenswirtschaft. Diesen<br />
Anforderungen hat sich nicht nur die konservative<br />
Politik gebeugt, sondern seit einigen Jahren auch die<br />
neue Sozialdemokratie, indem sie durch ihre Steuerreform<br />
sowohl die privaten Geldvermögen als auch<br />
die Vermögenswirtschaft der Kapitalgesellschaften<br />
überaus freundlich behandelte. Das gilt für den Verzicht<br />
auf eine verfassungsgerechte Reform der Erbschaftssteuer<br />
wie auch für den Verzicht auf die<br />
Vermögenssteuer.<br />
Die maßlose Bereicherung kann begrenzt werden:<br />
• Wenn Zinserträge europaweit vollständig der Einkommenssteuer<br />
unterworfen werden.<br />
• Wenn Gewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren<br />
und Immobilien ohne jede Frist versteuert werden<br />
müssen.<br />
• Wenn Immobilien bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer<br />
nach ihrem tatsächlichen Verkehrswert<br />
veranschlagt werden.<br />
• Wenn die Erbschaftssteuer auf das Niveau vergleichbarer<br />
Länder angehoben wird.<br />
Bundesregierung in ihren Broschüren darstellt, macht<br />
sogar den Eindruck, als würden die unteren Einkommensgruppen<br />
besser wegkommen als die oberen. Die<br />
Rechnung sieht jedoch gänzlich anders aus, wenn man<br />
– wie in der Tabelle 7 – nicht nur auf die prozentuale<br />
Senkung des Steuersatzes schaut, sondern das Wachstum<br />
des Nettoeinkommens berechnet. Danach erhöht<br />
sich das Netto des Steuerzahlers mit einem Jahreseinkommen<br />
von 20.000 Euro nur um 6,3 Prozent,<br />
während das Nettoeinkommen des Millionärs um 21,9<br />
Prozent steigt (vergleiche auch Diagramm 10).<br />
Tabelle 7:<br />
Verteilungswirkung der rot-grünen Einkommenssteuerreform zwischen 1998 und 2005<br />
Jahreseinkommen Steuer 1998* Netto 1998 Steuer 2005* Netto 2005 Steuersenkung<br />
Neues<br />
Nettoeinkommen<br />
20.000 €<br />
30.000 €<br />
40.000 €<br />
50.000 €<br />
60.000 €<br />
70.000 €<br />
80.000 €<br />
90.000 €<br />
100.000 €<br />
500.000 €<br />
1.000.000 €<br />
19,4 %<br />
23,8 %<br />
27,2 %<br />
30,4 %<br />
33,6 %<br />
36,3 %<br />
38,4 %<br />
40,1 %<br />
41,3 %<br />
50,7 %<br />
51,8 %<br />
16.120 €<br />
22.860 €<br />
29.120 €<br />
34.800 €<br />
39.840 €<br />
44.590 €<br />
49.280 €<br />
53.910 €<br />
58.700 €<br />
246.500 €<br />
482.000 €<br />
14,3 %<br />
19,4 %<br />
23,1 %<br />
26,2 %<br />
28,8 %<br />
30,7 %<br />
32,1 %<br />
33,2 %<br />
34,1 %<br />
40,4 %<br />
41,2 %<br />
17.140 €<br />
24.180 €<br />
30.760 €<br />
36.900 €<br />
42.720 €<br />
48.510 €<br />
54.320 €<br />
60.120 €<br />
65.900 €<br />
298.000 €<br />
588.000 €<br />
1.020 €<br />
1.320 €<br />
1.640 €<br />
2.100 €<br />
2.880 €<br />
3.920 €<br />
5.040 €<br />
6.210 €<br />
7.200 €<br />
51.500 €<br />
106.000 €<br />
+6,3 %<br />
+5,7 %<br />
+5,6 %<br />
+6,0 %<br />
+7,2 %<br />
+8,8 %<br />
+10,2 %<br />
+11,5 %<br />
+12,2 %<br />
+20,8 %<br />
+21,9 %<br />
* Für die jeweiligen Einkommensgruppen wird der durchschnittliche Steuersatz zu Grunde gelegt. Quelle: Schäfer 2003 / eigene Berechnungen
Diese Schieflage wird auch bei der Verteilung der 40<br />
Milliarden Euro Steuerentlastung an die privaten<br />
Haushalte deutlich. Wie Diagramm 9 verdeutlicht,<br />
vertieft sich die soziale Spaltung der Gesellschaft<br />
durch die Steuerreform weiter, weil auf vier Fünftel<br />
der Haushalte nur ein knappes Drittel der 40 Milliarden<br />
entfallen, während das obere Fünftel der Haushalte<br />
mehr als zwei Drittel der Steuerentlastung<br />
kassiert. So kostet allein die Senkung des Spitzensteuersatzes<br />
von ursprünglich 53 auf demnächst 42<br />
Prozent 6 Milliarden Euro. Mehr als die Bundesregierung<br />
auf der anderen Seite durch die Hartz-Gesetze<br />
bei den Arbeitslosen einspart. Berücksichtigt man<br />
gleichzeitig, dass 54 Prozent der Haushalte ein Brutto-Jahreseinkommen<br />
von weniger als 30.000 Euro<br />
haben und verrechnet bei diesen Haushalten die Entlastung<br />
mit den Mehrkosten durch die Gesundheitsreform,<br />
dann dürfte der Entlastungseffekt noch<br />
wesentlich niedriger als oben angegeben ausfallen.<br />
Diagramm 9:<br />
Gewinner der Einkommenssteuerreform<br />
75%<br />
50%<br />
25%<br />
81%<br />
32%<br />
bis 50.000 € über 50.000 €<br />
Anteil der Steuerzahler<br />
Entlastung durch Reform<br />
Quelle: DIW Wochenbericht 27-28/2003<br />
Die sozial negative Verteilungswirkung dieser Steuerreform<br />
wird jedoch noch deutlicher, wenn die mögliche<br />
Verwendung der Steuergeschenke einkalkuliert<br />
wird. Die unteren vier Fünftel der Haushalte dürften,<br />
wenn sie überhaupt mehr Kaufkraft erhalten, dieses<br />
Geld in den Konsum stecken. Anders sieht es beim<br />
oberen Fünftel der Gesellschaft aus, wo jetzt schon<br />
ein beträchtlicher Teil des regelmäßigen Einkommens<br />
gespart wird. Während die durchschnittlichen<br />
oder unterdurchschnittlichen Einkommensgruppen<br />
im besten Fall an Kaufkraft gewinnen, werden die<br />
oberen durch das Finanzamt bei der Vermehrung<br />
ihres Vermögens unterstützt. Trotzdem haben wir<br />
nachgerechnet, was passieren würde, wenn vier ver-<br />
Diagramm 10:<br />
Steuerminderung und Erhöhung<br />
des Nettoeinkommens<br />
20.000<br />
30.000<br />
50.000<br />
70.000<br />
100.000<br />
19%<br />
500.000<br />
1.000.000<br />
68%<br />
22%<br />
17 %<br />
12 %<br />
Verringerung Steuersatz Erhöhung Nettoeinkommen<br />
7%<br />
schiedene Haushaltstypen ihre Steuerersparnis anlegen<br />
würden. Durch die Analyse des DIW zu den Lebenslagen<br />
einkommensstarker Haushalte liegen<br />
relativ zuverlässige Aussagen über das Sparverhalten<br />
vor, so dass sich ermitteln lässt, welcher Anteil des<br />
Steuernachlasses voraussichtlich in neue Vermögensanlagen<br />
fließen. In die Modellrechnung wurden<br />
vier Haushaltstypen mit einem Bruttoeinkommen von<br />
30.000, 80.000, 500.000 und einer Million Euro einbezogen.<br />
Weiterhin wurde unterstellt, dass alle vier<br />
Haushalte nur ihre eingesparten Steuern sparen, was<br />
zwar vorsichtig kalkuliert, aber unrealistisch ist,<br />
denn in Wirklichkeit dürften die besser gestellten<br />
Haushalte den größten Teil des Steuergeschenks anlegen,<br />
während die unteren Haushalte eher mehr<br />
ausgeben als mehr sparen dürften. Wobei gleichzeitig<br />
zu berücksichtigen ist, dass die besser gestellten<br />
Haushalte durch die Höhe des regelmäßigen Anlagebetrages<br />
und die längere Laufzeit auch höhere Zinsen<br />
erhalten.<br />
Den meisten Menschen mit durchschnittlichen Einkommen<br />
fällt es schwer, sich Größenordnungen von<br />
einigen hunderttausend Euro vorzustellen, aber das<br />
Diagramm 11 macht überaus deutlich, wie aus hunderttausend<br />
Euro sehr schnell knappe zwei Millionen<br />
werden. Betrachtet man die als Balken abgebildeten<br />
jährlichen Steuerminderungen der vier Haushaltstypen,<br />
dann wird die unterschiedliche Begünstigung<br />
durch die Steuerreform zwar schon sichtbar, sie fällt<br />
aber im Vergleich zur Vermögensentwicklung noch<br />
relativ harmlos aus. Erst wenn man die obere Kurve<br />
der Vermögensentwicklung betrachtet, zeigt sich die<br />
Absurdität des gesenkten Spitzensteuersatzes. Bei<br />
Einkommen von 500.000 Euro aufwärts findet<br />
tatsächlich staatliche Reichtumspflege statt. Nach<br />
Berechnungen der Steuerexperten wird die Senkung<br />
des Spitzensteuersatzes dem Fiskus jährlich sechs<br />
Milliarden Euro entziehen. Wenn die Spitzenverdie-<br />
Diagramm 11:<br />
Vermögensbildung<br />
durch Steuerminderung im<br />
Zeitraum von 10 Jahren<br />
16.679 €<br />
-1.320 € -5.040 €<br />
-51.500 €<br />
-106.000 €<br />
30.000 € 80.000 € 500.000 € 1.000.000 €<br />
Vermögen nach 10 Jahren Jährliche Steuerminderung<br />
Brutto<br />
30.000 €<br />
80.000 €<br />
500.000 €<br />
1.000.000 €<br />
69.061 €<br />
Netto 2005 Steuererlass<br />
24.180 € 1.320 €<br />
54.320 € 5.040 €<br />
298.000 € 51.500 €<br />
588.000 € 106.000 €<br />
835.184 €<br />
Sparrate<br />
monatl.<br />
110 €<br />
420 €<br />
4.300 €<br />
8.833 €<br />
1.923.198 €<br />
Zins<br />
4,5%<br />
6%<br />
9%<br />
11%<br />
Nach<br />
10 Jahren<br />
16.679€<br />
69.061€<br />
835.184€<br />
1.923.623€<br />
17
ner dieses Geschenk mit einem durchschnittlichen<br />
Zinssatz von 8,5% anlegen, wächst sich dieses Steuergeschenk<br />
zu einem Vermögen von 94,4 Mrd. Euro<br />
aus. Man könnte es auch anders rechnen: Würde der<br />
Spitzensteuersatz nicht gesenkt und Eichel legte die<br />
nicht verschenkten Steuergelder heimlich auf den Finanzmärkten<br />
an, dann könnte er nach zehn Jahren die<br />
Gemeinden mit einem Schlag von all ihren Kreditschulden<br />
befreien oder die Bundesschulden um mehr als ein<br />
Zehntel verringern.<br />
Den nach wie vor größten Gnadenakt der Finanzbehörden<br />
genießen die großen Vermögen in<br />
Deutschland allerdings durch die Aussetzung der Vermögenssteuer.<br />
Dieses Steuergeschenk wiegt sogar<br />
noch schwerer als die Senkung des Spitzensteuersatzes.<br />
Noch 1996 hatten die Länder über neun Milliarden<br />
DM Vermögenssteuer kassiert. Nach Angaben der<br />
Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat<br />
der Staat bis 2003 auf etwa 50 Milliarden Euro Vermögenssteuer<br />
verzichtet. Die Aussetzung erfolgte<br />
nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes,<br />
das die Steuer nicht an sich für verfassungswidrig<br />
hielt, sondern lediglich bemängelt hatte, dass Immobilienvermögen<br />
im Vergleich mit Geldvermögen zu<br />
gering belastet werden. Dem hätte durch eine<br />
Höherbewertung der Immobilien abgeholfen werden<br />
können, was gleichzeitig zu deutlichen Mehreinnahmen<br />
geführt hätte. Die SPD versprach in ihrem Wahlprogramm<br />
von 1998, die Vermögenssteuer wieder zu<br />
erheben, wozu sie sich allerdings weder im Bund<br />
noch in den Ländern durchringen konnte. Nur die<br />
Landesregierungen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern<br />
fassten auf Druck der PDS-Regierungsmitglieder<br />
einen solchen Beschluss. Nicht ohne eigenes<br />
Interesse übrigens, denn die Vermögenssteuer fließt<br />
den Ländern zu. Berlin könnte durch die Wiedererhebung<br />
der Vermögenssteuer mit Mehreinnahmen von<br />
800 Millionen und Mecklenburg-Vorpommern mit<br />
300 Millionen Euro rechnen. Ohne die Zustimmung<br />
des Bundestages und der übrigen Bundesländer läuft<br />
die Initiative der von der PDS mit getragenen Landesregierungen<br />
freilich ins Leere.<br />
Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />
würden die jährlichen Einnahmen<br />
aus der Vermögenssteuer heute insgesamt 15,9 Milliarden<br />
Euro betragen. Wobei ein Steuersatz von einem<br />
Prozent zu Grunde gelegt wurde. Geht man, wie etwa<br />
ver.di, von einem Freibetrag von 200.000 Euro für<br />
Alleinstehende und 100.000 Euro für jedes weitere<br />
Familienmitglied aus, dürfte der zur Vermögenssteuer<br />
herangezogene Personenkreis relativ klein sein<br />
und nicht mehr als drei Prozent der Haushalte betreffen.<br />
Aber selbst unter diesen drei Prozent dürfte die<br />
18<br />
„Sozialdemokraten sollten sich hüten, diejenigen,<br />
die heute schon leitstungsstärker, die heute schon<br />
selbstständiger sind, mit ständig neuen<br />
Diskussionen um Steuern und Zwangsmaßnahmen<br />
zu verunsichern.“<br />
Gerhard Schröder<br />
Vermögenssteuer auch für die meisten wohlhabenden<br />
Haushalte kein Problem sein. Eine vierköpfige<br />
Familie mit einem schuldenfreien Vermögen von<br />
einer halben Million Euro hätte monatlich nicht mehr<br />
als 83,33 Euro Vermögenssteuer zu bezahlen. Die<br />
Masse der Vermögenssteuer würde dementsprechend<br />
von den Millionären und Milliardären des Landes aufgebracht.<br />
Bei einem Vermögen von einer Milliarde<br />
Euro wäre immerhin eine jährliche Vermögenssteuer<br />
von 10 Millionen Euro fällig. Davon gab es in<br />
Deutschland im vergangenen 89, die ein Gesamtvermögen<br />
von 255 Milliarden auswiesen. Rein rechnerisch<br />
müssten ihre Vermögenssteuern bei einem<br />
Steuersatz von einem Prozent mehr als 25 Milliarden<br />
Euro einbringen. Tatsächlich dürfte freilich weniger<br />
als die Hälfte anfallen, da Betriebsvermögen wesentlich<br />
geringer besteuert werden und größere Freibeträge<br />
erhalten. Anders sieht es bei den 755.000 von<br />
Merrill Lynch ermittelten Millionären aus, da bei<br />
ihrer Bewertung ausschließlich flüssiges Vermögen<br />
herangezogen wurde. Sie müssten pro Person mindestens<br />
10.000 Euro Vermögenssteuer bezahlen,<br />
brächten dann aber auch zusammen weit mehr als die<br />
Hälfte der gesamten Vermögenssteuer auf.<br />
Der Verzicht auf die Vermögenssteuer ist nicht einmal<br />
mit der Steuerkonkurrenz gegenüber den anderen Industrieländern<br />
zu rechtfertigen, denn nirgendwo<br />
werden große Vermögen so niedrig besteuert wie<br />
hierzulande. Nimmt man Vermögens- und Erbschaftssteuer<br />
zusammen, dann ist Deutschland eine wahre<br />
Steueroase. Schon im Diagramm 8 auf Seite 15 nimmt<br />
Deutschland bei den Erbschaftssteuern den letzten<br />
Platz unter den vergleichbaren Industrienationen<br />
ein. Die Erbschaftssteuern betragen nur 0,15 Prozent<br />
des Bruttoinlandsprodukts, was nicht einmal die Hälfte<br />
des Anteils in den USA ausmacht. Noch drastischer<br />
fällt der Vergleich aus, wenn – wie im Diagramm 12 –<br />
sämtliche auf Eigentum zu entrichtenden Steuern zusammengerechnet<br />
werden. Nach dieser Rechnung ist<br />
der Anteil der Steuern auf Einkommen in den USA<br />
mehr als fünfmal so hoch wie in Deutschland. Selbst<br />
wenn die deutsche Vermögenssteuer wieder erhoben<br />
und die Erbschaftssteuer, wie etwa von ver.di vorgeschlagen,<br />
leicht erhöht würde, stünde Deutschland<br />
auf der untersten Stufe der Eigentumsbesteuerung.<br />
Der Anteil dieser Steuern am Bruttoinlandsprodukt<br />
läge dann bei etwa 1,7 Prozent.<br />
Diagramm 12:<br />
Steuern auf Einkommen in Prozent<br />
vom BIP 2001<br />
0,8 %<br />
D<br />
2,0 %<br />
I<br />
2,8 %<br />
Japan<br />
3,1 %<br />
F<br />
3,1 %<br />
USA<br />
4,3 %<br />
UK<br />
2%
Unerschlossene Quellen für Wachstum und Beschäftigung<br />
Nicht ganz zu Unrecht wird befürchtet, dass Steuererhöhungen den Konjunkturaufschwung bremsen<br />
können. das gilt jedoch nicht für Steuern, die weder die Ertragsfähigkeit der Unternehmen noch den<br />
Konsum schmälern würden. Der Verzicht auf die Senkung des Spitzensteuersatzes hätte die Kauflust<br />
der Spitzenverdiener ebenso wenig geschmälert, wie die Wiedererhebung der Vermögenssteuer oder<br />
die überfällige Anpassung der Erbschaftssteuer.<br />
Diese Maßnahmen hätten zu folgenden Mehreinnahmen geführt:<br />
· Beibehaltung des Spitzensteuersatzes 6,0 Mrd. Euro<br />
· Vermögenssteuer 15,9 Mrd. Euro<br />
· Erbschaftssteuer 2,0 Mrd. Euro<br />
Mehreinnahmen des Staates gesamt 23,9 Mrd. Euro<br />
Die Kehrseite der Reichtumspflege<br />
Obwohl es eine gängige Redensart ist, sein Geld arbeiten<br />
zu lassen, wird niemand ernsthaft bezweifeln,<br />
dass es keinen Lohn und auch keinen Gewinn ohne<br />
Arbeit gibt. Selbst die Goldsuche ist eine anstrengende<br />
Tätigkeit. Und auch Marx hat nie bestritten,<br />
dass selbst Unternehmer arbeiten. Die Meinungen<br />
gehen an der Stelle auseinander, wo über das Verhältnis<br />
von Leistung und Einkommen diskutiert wird.<br />
Für den Kapitalisten scheint es ziemlich klar, dass die<br />
Rendite der Lohn seiner unternehmerischen Anstrengungen<br />
ist, auch wenn erhebliche Zweifel an der<br />
bestehenden Bewertung „unternehmerischer Leistung“<br />
bestehen, wenn sich daraus Leistungslöhne<br />
von einigen tausend Euro pro Stunde ergeben. Ganz<br />
zu schweigen vom arbeitslosen Reichtum jener, die<br />
ihr Unternehmen nur vom Kontoauszug her kennen.<br />
Schon die oberflächliche Betrachtung der Reichtumsentwicklung<br />
in den vergangenen Jahren lässt freilich<br />
erahnen, dass sie nicht hauptsächlich kreativer<br />
Unternehmertätigkeit, sondern hoch produktiver Arbeit<br />
entspringt. Billige Arbeit und hohe Renditen<br />
hängen deshalb genauso zusammen wie der Diebstahl<br />
mit der Beute oder die Sünde mit dem Teufel.<br />
Das eine kann ohne das andere nicht existieren. In-<br />
sofern hat auch der eingangs zitierte neoliberale<br />
Freiherr von Hajek recht, wenn er<br />
meint, dass Ungleichheit nicht bedauerlich,<br />
sondern höchst erfreulich und von<br />
seinem Standpunkt aus auch unverzichtbar<br />
ist. Je ungleicher die gesellschaftlichen<br />
Güter verteilt sind und je weniger<br />
Menschen auf dem Markt nicht mehr als<br />
ihre Arbeitskraft anzubieten haben, desto<br />
größer die Chancen, mit billiger Arbeit<br />
billige Produkte und mit diesen hohe Gewinne<br />
herzustellen. Das meinen auch die<br />
Neoliberalen, wenn sie von den Chancen<br />
der Globalisierung oder der EU-Osterweiterung<br />
sprechen.<br />
Die Reichtumsexplosion der vergangenen<br />
Jahre wäre undenkbar ohne den verbesserten<br />
Zugriff auf die Arbeitsergebnisse<br />
armer und abhängiger Länder, aber sie<br />
wäre auch undenkbar ohne die Verbilligung der Arbeit<br />
im eigenen Land (Diagramm 13). Das wird einmal<br />
dadurch sichtbar, dass die Reallöhne seit 1991 deutlich<br />
gefallen sind, und zum anderen durch einen Vergleich<br />
mit den Gewinn- und Vermögenseinkommen,<br />
die im gleichen Zeitraum fast um die Hälfte gestiegen<br />
sind. Auch wenn ihr Höhenflug in der Krise einen<br />
deutlichen Dämpfer erfuhr. Die Entwicklung der<br />
Reallöhne, die der Kaufkraft der Nettolöhne entspricht,<br />
würde allein noch nicht sehr viel mehr<br />
sagen, als dass es den abhängig Beschäftigten im<br />
vergangenen Jahr nicht besser, aber auch nicht dramatisch<br />
schlechter ging als 1991. Das dürfte auch<br />
dem Empfinden der meisten entsprechen, die noch<br />
Arbeit haben und nicht zwischenzeitlich wegen Arbeitslosigkeit<br />
und verschärfter Zumutbarkeitskriterien<br />
in einen Niedriglohnsektor abgeschoben wurden.<br />
Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass die<br />
Höhe der Löhne noch gar nichts aussagt, wenn man<br />
sie nicht mit den Gewinnen vergleicht. Was den meisten<br />
jedoch verwehrt ist, weil solche Vergleiche noch<br />
seltener sind als die Berichterstattung über die Zahl<br />
der Millionäre. Wo die öffentliche Statistik Angaben<br />
dazu macht, wird erstens nicht von den Realöhnen<br />
Diagramm 13:<br />
Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
im Verhältnis zu Reallöhnen<br />
100 = 1991<br />
100<br />
1991<br />
117,3<br />
100<br />
1995<br />
134,0<br />
1998<br />
140,9<br />
1999<br />
Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
Reallohn<br />
146,2<br />
2000<br />
153,1<br />
95,9 96,8 97,1 98,2 97,6 97,2<br />
2001<br />
147,2<br />
2002<br />
147,5<br />
2003<br />
Quelle: Memorandum 2003/2004, eigene Berechnungen<br />
19
ausgegangen und zweitens dem Vergleich mit den<br />
Gewinn- und Vermögenseinkommen aus dem Wege<br />
gegangen, als hätte beides nichts miteinander zu<br />
tun. Das Gegenteil beweist das Diagramm 14, in dem<br />
die Produktivität pro Beschäftigtenstunde mit der<br />
Lohnentwicklung zwischen 1991 und 2003 verglichen<br />
wird. Die Abstände haben einen ähnlichen Verlauf<br />
wie im Diagramm 13, so dass eindeutig klar wird,<br />
weshalb die Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
stärker steigen als der Reallohn: Es liegt vor allem an<br />
der wachsenden Produktivität der deutschen Beschäftigten.<br />
Transfers aus anderen Märkten oder Gewinne<br />
auf den Finanzmärkten kommen hinzu, aber<br />
sie bilden offenbar nicht den Hauptfaktor der explosiven<br />
Entwicklung von Gewinn- und Vermögenseinkommen.<br />
Das zeigt auch ein Vergleich zwischen der<br />
Produktivitätsentwicklung, dem Verteilungsspielraum<br />
und der Ausschöpfung dieses Spielraums. Dabei<br />
wird angenommen, dass bei einer gleichbleibenden<br />
Verteilung zwischen Arbeit und Kapital die Löhne im<br />
gleichen Maße wachsen müssten wie Produktivität<br />
und Inflationsrate. Es wird in dem Fall auch von einer<br />
neutralen Verteilung gesprochen.<br />
In der Tabelle 8 wird in der ersten Spalte für jedes<br />
Jahr der mögliche, durch Produktivitäts- und Preissteigerung<br />
gebildete Verteilungsspielraum beziffert,<br />
und in der zweiten Spalte steht die tatsächliche<br />
durchschnittliche Erhöhung der Brutto-Löhne pro Beschäftigtenstunde.<br />
Danach wurde der Verteilungsspielraum<br />
seit 1992 nur in einem Jahr ausgeschöpft,<br />
und in zwei Jahren stiegen die Löhne leicht über diesen<br />
Spielraum hinaus. Aus der letzten Zeile ergibt<br />
sich, dass die abhängig Beschäftigten in den zehn<br />
Jahren zwischen 1992 und 2002 bei den Verteilungskämpfen<br />
insgesamt 3,5 Prozent weniger herausholen<br />
konnten, als bei einem gleichbleibenden Verteilungsverhältnis<br />
zwischen Arbeit und Kapital möglich gewesen<br />
wäre. Das mag wenig erscheinen, ist aber in der<br />
Verteilungsrechnung ein gewaltiger Betrag. Zum Beispiel<br />
entspricht allein der Verteilungsverlust von 0,6<br />
Prozent im Jahr 2002 einer Umverteilung zu Gunsten<br />
20<br />
Diagramm 14:<br />
Produktivität und Löhne im Vergleich, 1991–2003<br />
120<br />
115<br />
110<br />
105<br />
100<br />
= 1991<br />
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003<br />
Produktivität Brutto-Löhne Netto-Löhne<br />
der Gewinn- und Vermögenseinkommen in Höhe von<br />
6,7 Milliarden Euro, die sich nicht nur als Milliarden-<br />
Verlust in der Binnennachfrage bemerkbar machen,<br />
sondern auch ein etwa 1,3 Milliarden großes Loch in<br />
den Sozialkassen hinterlassen.<br />
Selbstverständlich stellt sich an dieser Stelle die<br />
Frage, weshalb die Unternehmen trotz dieser Milliardengewinne<br />
im Verteilungskampf über zu hohe<br />
Löhne klagen und auch keine nennenswerte Konjunkturbelebung<br />
Platz greift.<br />
Doch auf die zwei einfachen Fragen gibt es zwei eben<br />
so schlichte Antworten: Erstens gab es wohl noch nie<br />
eine Zeit, in der die Unternehmer nicht über zu hohe<br />
Löhne klagten, und wenn die Klage heute besonders<br />
laut geführt wird, dann hauptsächlich deshalb, weil<br />
ein großer Teil der deutschen Wirtschaft vom Export<br />
abhängt und die Position auf den Märkten der Welt<br />
nur gehalten werden kann, wenn Deutschland die<br />
Arbeitskosten der Konkurrenten unterbietet. Dass<br />
Deutschland dazu offenbar sehr gut in der Lage ist,<br />
zeigt seine Position als Exportweltmeister und be-<br />
Tabelle 8:<br />
Verteilungsspielraum und tatsächliche<br />
Verteilung seit 1992*<br />
Jahr Verteilungsspielraum Tatsächliche Verteilung<br />
1992<br />
1993<br />
1994<br />
1995<br />
1996<br />
1997<br />
1998<br />
1999<br />
2000<br />
2001<br />
2002<br />
92–02<br />
7,9<br />
6,1<br />
5,4<br />
4,3<br />
3,8<br />
3,9<br />
2,3<br />
2,1<br />
3,7<br />
3,4<br />
2,7<br />
4,2<br />
Quelle: DGB, 28.11.03<br />
9,1<br />
6,1<br />
2,1<br />
4,5<br />
3,0<br />
1,0<br />
1,4<br />
2,3<br />
2,8<br />
2,7<br />
2,1<br />
0,7<br />
* Die Berechnung bezieht sich auf den Bruttoverdienst pro<br />
Arbeitsstunde<br />
Quelle: DGB-Verteilungsbericht 2003
sonders eindeutig die Tabelle 9. In ihr wird die<br />
prozentuale Entwicklung der Lohnstückkosten in<br />
Deutschland, bei den wichtigsten deutschen Konkurrenten<br />
und in der EU zwischen 1996 und 2002<br />
ausgewiesen. Die Lohnstückkosten sind der durchschnittliche<br />
Lohnkostenanteil am produzierten<br />
Produkt und wesent-<br />
Tabelle 9:<br />
Steigerung der nominalen<br />
Lohnstückkosten<br />
zwischen 1996 und<br />
2002 im internationalen<br />
Vergleich<br />
Japan<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Belgien<br />
EU<br />
Italien<br />
Niederlande<br />
USA<br />
Großbritannien<br />
Quelle: DGB-Verteilungsbericht 2003<br />
-1,2<br />
0,2<br />
0,6<br />
0,7<br />
1,4<br />
1,7<br />
1,9<br />
2,1<br />
3,0<br />
lich aussagefähiger<br />
als der gängige Vergleich<br />
von nationalen<br />
Löhnen. Sieht man<br />
einmal von der Entwicklung<br />
Japans ab,<br />
das seit Mitte der 90er<br />
Jahre unter einer tiefen<br />
Depression leidet,<br />
haben sich die deutschen<br />
Arbeitskosten<br />
sehr viel langsamer<br />
entwickelt als die<br />
seiner Konkurrenten.<br />
Deutschland ist kein<br />
Niedriglohnland, aber<br />
seine Produktivität<br />
macht es zum Land<br />
der niedrigen Arbeitskosten. Deutschlands Spitzenposition<br />
als Exportweltmeister hat natürlich auch<br />
eine Kehrseite, und die besteht wie bei allen Weltmeistern<br />
darin, dass die Deutsche Wirtschaft außerordentliche<br />
Anstrengungen unternehmen muss, um<br />
diese Position zu halten. In der Konsequenz heißt<br />
das allerdings, dass insbesondere die deutschen Beschäftigten<br />
immer mehr Anstrengungen und Verzicht<br />
auf sich nehmen müssen, um den Export zu sichern.<br />
Die Folge ist nicht nur ein ständig steigender Arbeitsdruck<br />
bei unvergleichlich geringer steigenden<br />
Löhnen, sondern auch ein rapider Stellenabbau.<br />
Nimmt man all die Bedingungen zusammen, die<br />
Deutschland offensichtlich erfolgreich erfüllt, um<br />
seine Spitzenstellung auf den Märkten der Welt behaupten<br />
zu können, dann kommt man sehr schnell<br />
zur zweiten Frage, weshalb nämlich trotzdem Wachstum<br />
und Beschäftigung ausbleiben. Das liegt<br />
hauptsächlich daran, dass auch im Land des Exportweltmeisters<br />
rund drei Viertel der produzierten Produkte<br />
und Dienstleistungen immer noch auf dem<br />
eigenen Markt abgesetzt werden müssen. Wachstum<br />
und Beschäftigung hängen also in erster Linie von<br />
der inländischen Nachfrage ab. Doch je größer der<br />
Druck auf die Senkung der Masseneinkommen und<br />
die Verringerung der Steuereinnahmen, desto weniger<br />
Kaufkraft gibt es im eigenen Land. Was letztlich<br />
zur Folge hat, dass es dem Konjunkturmotor im<br />
größeren Teil der Wirtschaft an Treibstoff fehlt. Wer<br />
zwischen den Zeilen der Medienberichterstattung zu<br />
lesen vermag, der weiß: Alle freuen sich über den Exportmotor<br />
und fügen leise hinzu, dass leider die Binnenkonjunktur<br />
nicht anspringt. Wie auch, wenn die<br />
inländische Massenkaufkraft sinkt, weil die Beschäftigten<br />
und der Staat zu ständig neuen Opfern aufgerufen<br />
werden. Und vor diesem Hintergrund erweisen<br />
sich auch die Hartz-Gesetze, die Gesundheitsreform<br />
und die gesamte Agenda 2010 als wahre Giftspritze<br />
der Binnenkonjunktur. Zum Wohle des Exports und<br />
um das renditesüchtige Kapital im Lande zu halten,<br />
wird das Lebenselixier des Binnenmarktes, nämlich<br />
öffentliche und private Nachfrage, ausgetrocknet.<br />
Das ist zwar widersinnig, aber die Widersinnigkeit<br />
bleibt dem öffentlichen Bewusstsein so lange verborgen,<br />
wie die meisten Meinungsbildner an den führenden<br />
Wirtschaftsforschungsinstituten über die<br />
Politiker bis zu den Berichterstattern an der Frankfurter<br />
Börse am Aberglauben des Neoliberalismus<br />
festhalten und den Abbau von Löhnen und Sozialleistungen<br />
als Königsweg der Konjunkturbelebung ausgeben.<br />
Diagramm 15:<br />
Netto-Lohnquote und Gewinn- und<br />
Vermögenseinkommen in Prozent des<br />
verfügbaren Einkommens aller Haushalte<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
49,4<br />
1991<br />
27,7<br />
49,0<br />
1993<br />
26,2<br />
46,5<br />
1995<br />
28,6<br />
43,4<br />
1997<br />
1999<br />
Netto-Lohnquote<br />
Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
2001<br />
2003<br />
Quelle: WSI-Mitteilungen 11/2003 Die Angaben für 2003 beziehen sich auf das 1. Halbjahr<br />
Politische Alternativen<br />
Die Verteilungskämpfe zwischen Unternehmerverbänden<br />
und Gewerkschaften sind durch das Grundgesetz<br />
geschützt, was aber gleichzeitig heißt, dass sie<br />
eine Angelegenheit der Tarifparteien sind und die<br />
Politik lediglich den gesetzlichen Rahmen für die<br />
Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften setzten<br />
muss. Genau diesen Rahmen aber hat die rot-grüne<br />
Bundespolitik durch ihre Deregulierungspolitik eingeschränkt.<br />
Um die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften<br />
wieder herzustellen, setzt sich die PDS für<br />
folgende Alternativen ein:<br />
• Verbesserung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung<br />
von Tarifverträgen<br />
• Beseitigung des Antistreikparagraphen aus dem<br />
SGB III<br />
• Verbandsklagerecht der Gewerkschaften bei der<br />
Verletzung von Tarifverträgen<br />
• Einschränkung der Befristung von Arbeitszeitverträgen<br />
• Wiederherstellung des Kündigungsschutzes<br />
• Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes<br />
30,1<br />
43,2<br />
30,5<br />
26,1<br />
30,5<br />
23,8<br />
32,8<br />
21
Lohndumping als Reformpolitik<br />
Der von der Kohl-Regierung begonnene und von Rot-<br />
Grün forcierte Sozialabbau wird von den einen als<br />
überfällige Reform und von anderen als Abbau des<br />
Sozialstaates gewertet. Dass es dabei nicht nur um<br />
staatliche Sozialpolitik geht, wird meistens übersehen.<br />
Der sehr viel tiefer greifende Prozess betrifft den<br />
Rückzug aus der staatlichen Regulierung der Verteilungsverhältnisse<br />
zwischen Arbeit und Kapital. Was<br />
zum Beispiel von der Bundesregierung als „Reformen<br />
am Arbeitsmarkt“ ausgegeben wird, betrifft nämlich<br />
nicht nur die Arbeitslosen, es trifft sämtliche Beschäftigten,<br />
weil es die Basisbeziehungen und Rahmenbedingungen<br />
der Arbeitswelt verändert und die<br />
sozialstaatlichen Leitplanken der Einkommensverteilung<br />
beseitigt. Die als Reformpolitik verkauften Deregulierungs-<br />
und Flexibilisierungsmaßnahmen sind<br />
das gegenwärtig wirksamste Instrument zur Senkung<br />
der Lohnkosten. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher<br />
Maßnahmen findet seit Jahren ein flächendeckendes<br />
Lohndumping statt. Denn ob es um die<br />
Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Ausweitung<br />
von Leiharbeit und Befristung oder das umfassende<br />
Streichen von Gesundheitsleistungen und Rentenansprüchen<br />
geht, der übereinstimmende Effekt ist eine<br />
gesamtgesellschaftliche Senkung der Arbeitseinkommen.<br />
Der schleichende Verlust bei den Tarifrunden<br />
wird durch die gezielte Demontage des so genannten<br />
Normalarbeitsverhältnisses unterstützt und selten als<br />
Abbau des Sozialstaates, sondern als unbeeinflussbares<br />
Marktgeschehen gewertet. Tatsächlich entscheiden<br />
aber nicht nur die Lohnrunden und das<br />
Marktgeschehen über die Verteilung zwischen Arbeit<br />
und Kapital, denn auf die gesamtgesellschaftliche<br />
Lohnquote wirken sich auch Strategien aus, wie etwa<br />
die Steuer- und Abgabenpolitik, nachhaltig aus. Welche<br />
gewaltigen Effekte sich durch die staatliche Umverteilungspolitik<br />
in den privaten Haushalten<br />
niederschlagen, zeigt das Diagramm 16, in dem die<br />
Abgabenbelastung der privaten Arbeits- und Kapitaleinkommen<br />
in Deutschland über einen Zeitraum von<br />
22<br />
Diagramm 16:<br />
Direkte Abgaben auf Arbeits- und Kapitaleinkommen in Prozent<br />
20%<br />
10 %<br />
6,3<br />
8,4<br />
20,0<br />
3,0<br />
1960<br />
11,8<br />
10,7<br />
Lohnsteuerbelastung<br />
Sozialbeiträge auf Löhne<br />
16,1<br />
2,9<br />
1970<br />
15,8<br />
12,8 15,3<br />
3,9<br />
1980<br />
mehr als 40 Jahren dargestellt wird. Der Weg in den<br />
Lohnsteuerstaat weist eine Kontinuität auf, die sich<br />
fast unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung<br />
der Bundesregierung über mehrere Regierungswechsel<br />
fortsetzt. Wobei allerdings der Paradigmenwechsel<br />
zur forcierten staatlichen Reichtumspflege eindeutig<br />
unter der Kohl-Regierung stattgefunden hat. Mit dem<br />
Beginn der neoliberalen Politik im Übergang zu den<br />
80er Jahren beginnt ein radikaler Absturz der steuerlichen<br />
Belastung von Kapitaleinkommen. Insgesamt<br />
hat sich das Verhältnis zwischen Lohnsteuerbelastung<br />
und steuerlicher Belastung von Kapitaleinkommen<br />
seit 1960 in sein Gegenteil verkehrt.<br />
Während die Lohnsteuerbelastung heute dreimal so<br />
hoch ist wie vor 40 Jahren, beträgt die Steuerlast der<br />
privaten Kapitaleinkommen nur noch ein Drittel des<br />
damaligen Anteils. Man könnte auf Grund des Diagramms<br />
den Eindruck gewinnen, dass die rot-grüne<br />
Bundesregierung zumindest eine leichte Korrektur vorgenommen<br />
hat, doch eine differenzierte Grafik, die<br />
sämtliche Jahre nach 1998 einschließt, zeichnet wie<br />
vorab gezeigt ein anderes Bild. Seit zwei Jahren sinken<br />
die direkten Steuern auf Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
wesentlich stärker, als die Lohnsteuerbelastung<br />
durch die Korrektur der Lohnsteuertabelle<br />
abnimmt.<br />
Da die abhängig Beschäftigten die wachsende Differenz<br />
zwischen Brutto- und Nettoeinkommen selbst<br />
leidvoll nachvollziehen können, haben sich Politik<br />
und Arbeitgeber bereits seit Jahren darauf konzentriert,<br />
den Angriff auf die Löhne als Abbau der so genannten<br />
Lohnnebenkosten auszugeben. Wobei die<br />
Steigerung der Sozialabgaben der abhängig Beschäftigten<br />
maßlos übertrieben wird. Denn wie das Diagramm<br />
16 zeigt, hat sich ihre Lohnsteuerbelastung<br />
seit 1960 verdreifacht, während sich die Belastung<br />
der Einkommen durch Sozialbeiträge nur knapp verdoppelte.<br />
32,4<br />
28,4<br />
19,6<br />
6,0<br />
1990<br />
Direkte Steuern auf Gewinn- und Vermögen<br />
Sozialbeiträge auf Gewinn- und Vermögenseinkommen Quelle: WSI-Mitteilungen 11 /2003<br />
18,6<br />
15,6<br />
4,5<br />
3,2<br />
1995<br />
18,7<br />
16,1<br />
7,0<br />
3,6<br />
2002
Die Senkung der Lohnnebenkosten ist für den Arbeitgeber<br />
eine klare Lohnsenkung, weil es für ihn gleichgültig<br />
ist, ob seine Lohnkosten auf das Konto des<br />
Beschäftigten oder in die Sozialkassen fließen. Wenn<br />
die Bundesregierung die Lohnnebenkosten senkt,<br />
indem sie etwa die Riester-Rente einführt, den<br />
Beitragssatz nach oben begrenzt oder durch die<br />
Gesundheitsreform des<br />
Kassenbeitrag nach unten<br />
drücken will, dann ist das<br />
ein offenes, wenn auch<br />
nicht für alle erkennbares<br />
Lohndumping. Scheinbar<br />
werden die Sozialbeiträge<br />
gleichermaßen für Arbeitgeber<br />
und abhängig Beschäftigte<br />
gesenkt oder<br />
gedeckelt, aber nur die<br />
Arbeitgeber kommen in<br />
den Genuss eines wirklichen<br />
Spareffekts, während<br />
die Versicherten<br />
jeden bei den Sozialbeiträgen<br />
gesparten Euro<br />
doppelt mit ihrem Nettoeinkommen<br />
ausgleichen<br />
müssen. Wenn die Bundesregierung<br />
den Arbeitgebern<br />
nur einen Prozentpunkt<br />
bei den Lohnnebenkosten<br />
erspart, hat<br />
das den gleichen Effekt,<br />
als wenn in den Tarifrunden<br />
durchgängig ein Prozent<br />
weniger Lohnerhöhung<br />
durchgesetzt werden<br />
kann. Und wenn man<br />
bedenkt, dass die Senkung<br />
der Lohnnebenkosten<br />
sämtliche Beschäftigten<br />
betrifft, während<br />
die Tariferhöhung durch<br />
die ohnehin abnehmende<br />
Tarifbindung begrenzt<br />
wird, dann sind die politischen<br />
Maßnahmen der<br />
Bundesregierung für die<br />
Arbeitgeber fast noch<br />
wichtiger als ein Sieg bei<br />
den Tarifverhandlungen.<br />
Zumal solche Einschnitte<br />
wie die Teilprivatisierung<br />
der Rente oder die<br />
Senkung des Krankenkassenbeitrages<br />
auf Dauer<br />
Der starke Euro und die Lohnnebenkosten<br />
gestellt sind und sich dem Verteilungskampf zwischen<br />
Gewerkschaften und Arbeitgebern entziehen.<br />
Die Vielfalt der Maßnahmen, mit denen die Umverteilung<br />
von unten nach oben betrieben wird, macht<br />
die Angelegenheit außerordentlich unübersichtlich.<br />
Die gesamtgesellschaftliche Lohnquote, die Tariferhöhungen<br />
und die Lohnstückkosten sind noch statis-<br />
Bundesregierung und Arbeitgeber vermitteln ständig<br />
den Eindruck, als würde die globale Wettbewerbsfähigkeit<br />
der deutschen Industrie in sich zusammenbrechen,<br />
wenn nicht die Steigerung der Lohnnebenkosten<br />
gebremst würde. Der Genauigkeit halber muss<br />
man sagen, dass es dabei um Größenordnungen von<br />
maximal drei bis vier Prozent vom Bruttolohn geht,<br />
die auf die Arbeitgeber in einigen Jahren zugekommen<br />
wären – ohne Hartz-Gesetze sowie Gesundheitsund<br />
Rentenreform.<br />
Auf dem Binnenmarkt sind solche Erhöhungen ohne<br />
Bedeutung, weil die Konkurrenten die gleichen Lohnnebenkosten<br />
zu tragen haben. Eine Bedeutung<br />
kommt diesen Kosten allenfalls in der Konkurrenz innerhalb<br />
der EU zu. Aber auch hier sind die so<br />
genannten Lohnnebenkosten von untergeordneter Bedeutung.<br />
Bei einem Lohnkostenanteil am Endprodukt<br />
von rund 20 Prozent würde sich zum Beispiel die Erhöhung<br />
des Arbeitgeberbeitrages zur Rentenversicherung<br />
um zwei Prozent in einer Verteuerung der<br />
Verkaufspreise um 0,4 Prozent niederschlagen. Das<br />
liegt weit unterhalb der Inflationsrate und damit<br />
unter allen Kostensteigerungen, die die Unternehmen<br />
sonst zu verkraften haben. Völlig absurd wird die<br />
Lohnnebenkostendiskussion, wenn es um die Konkurrenzfähigkeit<br />
der deutschen Wirtschaft auf dem globalen<br />
Markt geht. Hier sind Wechselkursparitäten um<br />
ein Vielfaches entscheidender als die bescheidenen<br />
Steigerungsraten der deutschen Löhne. Der Höhenflug<br />
des Euro macht eine mögliche Steigerung der Lohnnebenkosten<br />
zu einer lächerlichen Angelegenheit. Nehmen<br />
wir an, die Bundesregierung hätte auf die<br />
Gesundheits- und Rentenreform verzichtet, dann<br />
wären die Exportpreise beim Eintreten des schlimmsten<br />
Szenarios in einigen Jahren um 0,4 oder vielleicht<br />
sogar 0,5 Prozent gestiegen. Die Kurssteigerung<br />
des Euro seit seinem Tiefpunkt Mitte 2001 hat die<br />
deutschen Exportpreise gegenüber dem Dollar jedoch<br />
um 47 Prozent erhöht. Das Hundertfache von dem,<br />
was die prognostizierte Erhöhung der Krankenversicherungs-<br />
und Rentenbeiträge ausgemacht hätte.<br />
tisch nachweisbar, doch die Einkommensverluste<br />
durch die Deregulierung des Beschäftigungssystems<br />
werden so gut wie gar nicht erfasst. Zumindest weiß<br />
man, dass bereits vor den Hartz-Gesetzen 35 Prozent<br />
aller Beschäftigten in Teilzeit, in geringfügiger Beschäftigung,<br />
in Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit<br />
oder befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt<br />
waren. Doch das Arsenal<br />
staatlich unterstützten<br />
Lohndumpings ist von der<br />
rot-grünen Bundesregierung<br />
durch die Hartz-Gesetze<br />
noch außerordentlich<br />
erweitert worden.<br />
Wie Tabelle 10 beispielhaft<br />
an verschiedenen<br />
Maßnahmen zeigt, handelt<br />
es sich bei allen<br />
als Reform ausgegebenen<br />
Veränderungen des<br />
Beschäftigungssystems<br />
grundsätzlich um Instrumente<br />
des Lohndumpings.<br />
Nur einige dieser Instrumente<br />
sind durch die<br />
Hartz-Gesetze neu eingeführt<br />
worden, die meisten<br />
sind das Ergebnis eines<br />
Prozesses, den die Kohl-<br />
Regierung begonnen und<br />
die rot-grüne Bundesregierung<br />
lediglich fortgesetzt<br />
oder ausgeweitet<br />
hat. Trotzdem kann man<br />
von einer neuen Qualität<br />
des Lohndumpings sprechen.<br />
Nicht nur wegen der<br />
Härte der Maßnahmen,<br />
sondern vor allem durch<br />
die Ausweitung auf einen<br />
gewaltigen Personenkreis.<br />
So wurden Niedriglohnsektoren<br />
in der ersten<br />
Amtszeit der rot-grünen<br />
Regierung vor allem als<br />
Modellversuche diskutiert.<br />
Doch ohne die Modellversuche<br />
abzuwarten<br />
oder ihre bereits erwiesene<br />
Wirkungslosigkeit für<br />
die Schaffung neuer Arbeitsplätze<br />
zur Kenntnis<br />
zu nehmen, wurden sie<br />
durch die Hartz-Gesetze<br />
flächendeckend eingeführt. Dabei sind Niedriglöhne,<br />
auch tariflich abgesicherte, in Deutschland längst<br />
schon auf dem Vormarsch. Dass sie keine neuen Arbeitsplätze<br />
schaffen, muss nicht neu bewiesen werden.<br />
Wenn niedrige Löhne Arbeit schaffen würden,<br />
müsste Ostdeutschland unter Arbeitskräftemangel<br />
und nicht unter Arbeitslosenquoten von mehr als 20<br />
Prozent leiden.<br />
23
Tabelle 10:<br />
Die staatlichen Instrumente des Lohndumpings<br />
Maßnahme<br />
Ausweitung der<br />
Teilzeitarbeit<br />
Wie das Diagramm 17 zeigt, sind Niedriglöhne keine<br />
Ausnahme. Die Darstellung zeigt das Ausmaß von<br />
Löhnen, die unterhalb des Durchschnittslohns beziehungsweise<br />
sogar unter der Armutsschwelle liegen,<br />
die von der EU bei 50 Prozent des durchschnittlichen<br />
nationalen Lohns angesetzt wurde. Wobei hinzuzufügen<br />
ist, dass 1977 ein zur Interpretation der Europäischen<br />
Sozialcharta eingesetzter Sachverständigenrat<br />
die untere, zumutbare Lohngrenze bei 68 Prozent des<br />
nationalen Durchschnittslohns festsetzte. Inzwischen<br />
ist der Schwellenwert allerdings unter dem Einfluss<br />
der neoliberalen Beschäftigungsstrategien auf 60<br />
Prozent abgesenkt worden.<br />
In Deutschland würden mindestens 2,5 Millionen<br />
Vollzeitbeschäftigte von einem solchen Mindestlohn<br />
profitieren. Als Armutslöhne, also unter der 50-Prozent-Marke,<br />
müssten in Deutschland Stundenlöhne<br />
von weniger als 7,07 Euro und Brutto-Monatseinkommen<br />
von Vollzeitbeschäftigten unter 1.168 Euro eingestuft<br />
werden. Tatsächlich gibt es aber sogar über<br />
130 Tarifverträge mit Stundenlöhnen von unter 6,00<br />
Euro. Würde man in Deutschland einen gesetzlichen<br />
Mindestlohn auf der Grundlage der aktuellen EU-Empfehlung<br />
einführen, dann müsste dieser nach den Zahlen<br />
von 2001 eine Höhe von stündlich 8,49 und<br />
monatlich 1.401 Euro haben. Dass sich die ansonsten<br />
europafreundliche Bundesregierung dieser EU-Maßgabe<br />
bisher nicht nur verweigert, sondern sogar die<br />
gesetzliche Ausweitung von Armutslöhnen beschlossen<br />
hat, spricht für sich.<br />
24<br />
Erleichterung der<br />
Befristung von Arbeitsverträgen<br />
Verschärfung der Zumutbarkeit<br />
nachgewiesener<br />
Arbeit<br />
Scheinselbstständigkeit,<br />
Ich-AG etc.<br />
Lohnkostensenkende Effekte<br />
Höhere Disponibilität des Arbeitsvolumens,<br />
Ausweitung der Betriebszeiten<br />
Erhöhter Druck auf die individuelle<br />
Arbeitsleistung, Vermeidung v. Leistungsverlusten<br />
durch Krankheit oder Alter,<br />
Abbau von Normalarbeitsplätzen<br />
Ausweitung des Niedriglohnsektors,<br />
Beschäftigung unterhalb der ortsüblichen<br />
Bezahlung<br />
Auslagerung tariflich gebundener Arbeit,<br />
Abbau von Normalarbeitsplätzen<br />
Diagramm 17:<br />
Anteil der Entgeltklassen unter den<br />
Vollzeitbeschäftigten<br />
Angaben für 1997 in %<br />
40<br />
20<br />
12,1<br />
0–50%<br />
23,8<br />
50–75%<br />
Quelle: DGB-Bundesvorstand, Informationen zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 1/2004<br />
47,5<br />
75–125%<br />
16,5<br />
über 125%<br />
Abschaffung der Arbeitslosenhilfe<br />
durch Hartz IV<br />
Ausweitung der Leiharbeit<br />
durch PSA<br />
Begrenzung des<br />
Kündigungsschutzes<br />
Überstunden<br />
Arbeitszeitverlängerung<br />
Flexibilisierung<br />
Direkter Zwang zur Aufnahme gering bezahlter<br />
und ungeschützter Beschäftigung<br />
Senkung von Tariflöhnen, Abbau von Normalarbeitsplätzen,<br />
Vermeidung von Leistungsverlusten<br />
durch Krankheit oder Alter<br />
Verjüngung der Belegschaft bei Kündigungen<br />
und Erhöhung der Produktivität<br />
Vermeidung von Neueinstellungen, Senkung<br />
der allgemeinen betrieblichen Lohnnebenkosten<br />
Direkte Lohnkostensenkung<br />
Erhöhung der Produktivität der Arbeit ohne<br />
technische Innovation<br />
Neun der 15 alten EU-Länder haben bereits gesetzliche<br />
Mindestlöhne eingeführt, in Großbritannien werden<br />
sie ab 01. Oktober 2004 gezahlt. In Frankreich,<br />
wo der gesetzliche Mindestlohn auf 7,19 Euro in der<br />
Stunde und bei einer 39-Stunden-Woche monatlich<br />
1.127 Euro beträgt, beziehen 13,9 Prozent aller Beschäftigten<br />
den gesetzlichen Mindestlohn. In Luxemburg,<br />
wo die untere Grenze bei 7,91 beziehungsweise<br />
1.369 Euro liegt, sind sogar 15,5 Prozent aller Beschäftigten<br />
durch den Mindestlohn geschützt.<br />
Eine Studie des WSI von 2000 zeigt, dass in Deutschland<br />
sowohl der Anteil der Armutslöhne zunimmt als<br />
auch der der gutverdienenden Beschäftigten. Zum<br />
Zeitpunkt der Untersuchung hatten 16,5 Prozent<br />
aller Beschäftigten ein Arbeitseinkommen von mehr<br />
als 130 Prozent des Durchschnitts, während es 1980<br />
noch 15,4 Prozent waren. Nicht überraschen kann<br />
bei dieser Polarisierung, dass die Mitte ausgedünnt<br />
wird und sich das Band der Solidarität innerhalb der<br />
abhängig Beschäftigten lockert. Obwohl Beschäftigte<br />
mit mehr als 130 Prozent des Durchschnittseinkommens<br />
nicht als wohlhabend und erst recht nicht<br />
als reich bezeichnet werden können, kommt ihnen in<br />
der Politik der Bundesregierung immer noch eine gesteigerte<br />
Aufmerksamkeit zu, weil sie überwiegend<br />
zum Kernpotenzial der sozialdemokratischen Wählerschaft<br />
gehören. Obwohl sich auch ihre soziale Situation<br />
verschlechtert hat, sind sie die eigentlichen<br />
Adressaten jener rot-grünen Reformrhetorik, die das<br />
untere Drittel der Gesellschaft als leistungsschwach<br />
denunziert. Mit der Parole vom „fördern und fordern“<br />
wird der falsche Eindruck erweckt, als sei zum<br />
Beispiel die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe oder<br />
die Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingen eine<br />
Art Liftkurs zur Weckung von Motivation und Eigeninitiative,<br />
damit die Betroffenen über eine geringfügige<br />
Beschäftigung ins Arbeitsleben zurückfinden.<br />
Doch die Ergebnisse der Sozialstatistik des Niedriglohnbereichs<br />
zeigen erstens, dass seine Aufnahmefähigkeit<br />
begrenzt ist und in den gemeinten<br />
Bereichen wie auch in der Gesamtwirtschaft mehr Arbeitsplätze<br />
abgebaut als neu geschaffen werden.<br />
Zweitens zeigt die Statistik, dass für die Aufnahme<br />
einer gering bezahlten Beschäftigung andere Merkmale<br />
verantwortlich sind als schwache Leistungsfähigkeit<br />
oder Qualifikation. Verantwortlich ist vor
allem die regionale Wirtschaftsstruktur, wie etwa die<br />
Dominanz von kleinen Betrieben oder traditionell<br />
schlecht bezahlten Berufen. Unübersehbare Merkmale<br />
für die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung<br />
sind auch Geschlecht und Alter der<br />
Erwerbstätigen. Die Diskriminierung durch den Arbeitsmarkt<br />
ist bei Frauen und Menschen über 40<br />
deutlich ausgeprägt.<br />
Die Bezieher von Armutslöhnen unterhalb der 50-<br />
Prozent-Marke sind zu über 80 Prozent in kleinen Betrieben<br />
mit weniger als 100 Beschäftigten tätig, zu<br />
über 70 Prozent weiblich und arbeiten zu 63 Prozent<br />
im Dienstleistungsbereich. Ein weit verbreitetes Vorurteil<br />
widerlegend, kam die WSI-Studie zum Ergebnis,<br />
dass über 60 Prozent von ihnen eine abgeschlossene<br />
Berufsausbildung haben und nur etwa<br />
ein Drittel einfache Tätigkeiten ausübt. Womit eindeutig<br />
die Behauptung widerlegt wird, dass Armutslöhne<br />
in der Regel für nicht qualifizierte<br />
Arbeitskräfte bezahlt werden. Da aber fast zwei Drittel<br />
der Bezieher von Armutslöhnen über 30 Jahre alt<br />
sind, liegt auch die Vermutung nahe, dass es sich hier<br />
um Beschäftigte handelt, die in Branchen mit traditionell<br />
schlechter Bezahlung arbeiten oder aber<br />
keine Chancen zur Umschulung oder Weiterbildung<br />
hatten. Und auch hier zeigt sich ein Versäumnis rotgrüner<br />
Politik: Sie hat durch die Hartz-Gesetze einerseits<br />
Umschulung und Weiterbildung eingeschränkt<br />
Hartz IV – ein Verarmungsprogramm<br />
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe<br />
stand schon zu Beginn der rot-grünen Amtszeit<br />
im Jahr 1998 auf der Wunschliste. Ursprünglich als<br />
Maßnahme gedacht, mit der die erwerbsfähigen Hilfeempfänger<br />
zwecks besserer Vermittlungsmöglichkeiten<br />
unter die Fittiche der Arbeitsämter kommen<br />
sollten. Da gleichzeitig die Kommunen von der Sozialhilfe<br />
entlastet werden sollten, fand das Projekt nicht<br />
nur Ablehnung. Zumal SPD und Grüne noch im Wahlkampf<br />
2002 schriftlich und mündlich versicherten,<br />
dass eine Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau<br />
mit ihnen nicht zu machen sei. Sie haben<br />
es trotzdem getan und sind dabei auf die gleiche<br />
Weise verfahren wie bei allen anderen so genannten<br />
Reformvorhaben. Erst kommt ein programmatischer<br />
Vorschlag mit vielen guten Begründungen und noch<br />
mehr Versprechungen, und im Laufe der Zeit, wenn<br />
sich alle mit der laut propagierten Reformnotwendigkeit<br />
abgefunden haben, schrumpft sie auf eine durchgreifende<br />
Verschlechterung zusammen.<br />
Abgesehen von einem befristeten Zuschlag für die<br />
jetzigen Bezieher wird sich die Arbeitslosenhilfe in<br />
Sozialhilfe und diese in Sozialgeld verwandeln. Der<br />
Begriff Arbeitslosengeld II ist reine Sprachkosmetik<br />
– es handelt sich viel mehr um Sozialhilfe II. Schon<br />
vor der für Januar 2005 geplanten Einführung von<br />
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld ist die auslaufen-<br />
und andererseits gleichzeitig den Zwang zur Annahme<br />
von Beschäftigung mit Armutslöhnen erhöht.<br />
Ermuntert durch das auf breiter Linie von der Bundespolitik<br />
vorangetriebene Lohndumping, haben die<br />
Unternehmer unlängst begonnen, ihrerseits zur offenen<br />
Lohnsenkung überzugehen. In der diesjährigen<br />
Metalltarifrunde wurde von Seiten der<br />
Arbeitgeber erstmals der Versuch unternommen, die<br />
tarifliche Arbeitszeit auf 40 Stunden auszudehnen,<br />
ohne die Mehrarbeit zu bezahlen. Seitdem vergeht<br />
keine Woche, in der nicht einer der Spitzenvertreter<br />
deutscher Unternehmerverbände öffentlich zur Verlängerung<br />
der deutschen Arbeitszeiten bei gleichbleibenden<br />
Einkommen aufruft. Auch das ist ein<br />
Novum in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.<br />
Nach dem jahrzehntelang der Streit um<br />
Arbeitszeitverkürzung mit oder ohne vollen Lohnausgleich<br />
geführt wurde, müssen die Gewerkschaften<br />
nun gegen Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich<br />
kämpfen. Maßgebliche Teile der rot-grünen<br />
Koalition, wie etwa Wirtschafts- und Arbeitsminister<br />
Clement und natürlich die Union, sekundieren den<br />
Arbeitgebern, in dem sie in die Klage über zu kurze<br />
Arbeitszeiten einstimmen. Auch Länder und Kommunen<br />
haben längst schon Witterung aufgenommen<br />
und gehen ihrerseits daran, die notleidenden Haushalte<br />
durch Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich<br />
zu entlasten.<br />
de Arbeitslosenhilfe durch schärfere Anrechnung<br />
von Partnereinkommen und Erspartem der Sozialhilfe<br />
angeglichen worden, so dass die Betroffenen<br />
schon einmal auf den großen Schnitt vorbereitet<br />
werden. Wie groß der Einschnitt wirklich sein wird,<br />
verdeutlicht die Tabelle 11.<br />
Mehr als eine halbe Million Menschen wird überhaupt<br />
keine Leistungen mehr beziehen, im Osten<br />
sind das wegen der höheren Stellung im früheren<br />
Tabelle 11:<br />
Auswirkungen von Hartz IV – Abschaffung der<br />
Arbeitslosenhilfe<br />
Arbeitslosenhilfeempfänger<br />
im<br />
Juni 2003<br />
davon beziehen nach<br />
Hartz IV:<br />
keine Leistungen mehr<br />
geringere Leistungen<br />
etwa gleiche Leistungen<br />
höhere Leistungen<br />
West<br />
Mio. %<br />
1,087<br />
0,217<br />
0,554<br />
0,120<br />
0,196<br />
100<br />
20<br />
51<br />
11<br />
18<br />
Ost<br />
Mio. %<br />
0,967<br />
0,348<br />
0,425<br />
0,060<br />
0,135<br />
100<br />
36<br />
44<br />
6<br />
14<br />
Gesamt<br />
Mio.<br />
2,054<br />
0,565<br />
0,979<br />
0,180<br />
0,331<br />
Quelle: DGB-Berechnungen auf Grundlage der Bundesdrucksache 15/1279 und des BA Statistik<br />
25
Beruf 36 Prozent aller Empfänger von Arbeitslosenhilfe.<br />
Und weil die Zahl der Langzeitarbeitslosen hier<br />
besonders hoch ist, stellen die neuen Länder auch 61<br />
Prozent all derjenigen, die künftig leer ausgehen<br />
werden. Berücksichtigt man gleichzeitig die um ein<br />
Mehrfaches höhere Arbeitslosenquote, entpuppt<br />
sich Hartz IV als ein Sonderprogramm zur Verarmung<br />
im Osten. Weil insgesamt 80 Prozent aller Bezieher<br />
von Arbeitslosenhilfe im Osten keine oder stark abgesenkte<br />
Leistungen drohen, wird die Kaufkraft in<br />
vielen Gemeinden zusammenbrechen, den Mittelstand<br />
mit herunterziehen und zahllose noch bestehende<br />
Arbeitsplätze vernichten. Die Zahl der<br />
Arbeitslosen wird trotzdem sinken, weil die künftig<br />
ohne Lohnersatzleistungen dastehenden 565.000<br />
Menschen lautlos aus der Statistik verschwinden.<br />
Dass sich darüber bisher kein Volksaufstand entwickelt<br />
hat, hängt wohl überwiegend mit der Unüberschaubarkeit<br />
des gegenwärtigen Reformfiebers zusammen.<br />
Wobei zu berücksichtigen ist, dass der Leistungsentzug<br />
ausschließlich Arbeitslose trifft, deren<br />
Partner einen Vollzeitarbeitsplatz haben oder die<br />
vom Gesetz zunächst auf den Verbrauch ihrer Notgroschen<br />
oder Altersversorgung verwiesen werden. So<br />
wird die von der rot-grünen Politik aufgekündigte Solidarität<br />
wieder einmal den Familien aufgelastet.<br />
Niemand steht plötzlich mittellos da, aber einige<br />
Hunderttausend Familien werden in Zukunft an der<br />
Armutsschwelle leben. Dass ausgerechnet Rot-Grün<br />
damit das konservative Familienbild belebt und die<br />
Frauendiskriminierung verstärkt, ist mindestens so<br />
prinzipienlos wie die seit den Brüningschen Notverordnungen<br />
in Deutschland nicht mehr erlebte Verarmungsstrategie.<br />
Privater Reichtum und öffentliche Armut<br />
Nirgendwo wird der Widersinn der rot-grünen Steuerpolitik<br />
sichtbarer als in den Ländern und Kommunen,<br />
wo sich die Steuergeschenke an Konzerne sowie<br />
die Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />
als deutlicher Verlust an öffentlicher Daseinsvorsorge<br />
niederschlagen. Alle Segnungen, die sich die Besitzer<br />
privaten Reichtums schon immer leisten<br />
konnten und in Folge der großzügigen Steuersenkungspolitik<br />
noch mehr leisten können, kommen in<br />
den Ländern und Kommunen unter den Rotstift:<br />
Schwimmbäder, gut ausgestattete Schulen, kostenlose<br />
Lehrmittel, Kultureinrichtungen und sogar persönliche<br />
Sicherheit. Die rot-grüne Politik, die jede<br />
Steuersenkung und jeden Sozialraub damit begründet,<br />
die Zukunft des Landes zu sichern, unternimmt<br />
gleichzeitig alles, um die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens<br />
kaputtzusparen. Wobei die Paradoxie<br />
noch dadurch verstärkt wird, dass die gleichen Parteipolitiker,<br />
die diese Politik vorantreiben, in ihren<br />
Gemeinden und Landesparlamenten über mangelnde<br />
Steuereinnahmen klagen.<br />
26<br />
Die Agenda sozial der PDS<br />
bleibt nicht dabei stehen, die Hartz-Gesetze, das<br />
flächendeckende Lohndumping oder den Abbau des<br />
Sozialstaates zu kritisieren. Sie hat unter anderem<br />
folgende Alternativen entwickelt, mit denen auch<br />
unter den komplizierten Bedingungen die Sozialsysteme<br />
gesichert und die Lohnspreizung gemindert<br />
werden kann:<br />
• Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der<br />
über der Schwelle von 60 Prozent des nationalen<br />
Durchschnittslohns liegt und scharfe gesetzliche<br />
Sanktionen gegen Arbeitgeber, die den Mindestlohn<br />
unterschreiten.<br />
• Einschränkung der Befristung von Arbeitsverträgen<br />
und Besserstellung der Leiharbeit durch Erschwerniszuschläge,<br />
die zu einer Entlohnung über<br />
der betrieblichen Bezahlung führen; gleichzeitig<br />
ein Weiterbildungszwang für Leiharbeitsunternehmen.<br />
• Abschaffung der Zwangsmaßnahmen zur Aufnahme<br />
einer geringfügig bezahlten oder die Qualifikation<br />
weit unterschreitenden Beschäftigung und<br />
Auflage eines breit gefächerten Weiterbildungsund<br />
Umschulungsprogramms.<br />
• Beibehaltung der Arbeitslosenhilfe und Sanierung<br />
der sozialen Sicherungssysteme durch die Umstellung<br />
der Arbeitgeberbeiträge auf die reale Wertschöpfung<br />
des jeweiligen Betriebes sowie die<br />
Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Beitragspflicht.<br />
• Verringerung der Überstunden durch eine Novellierung<br />
des Arbeitszeitgesetzes, in dem Arbeitszeiten<br />
über 40 Wochenstunden ausgeschlossen<br />
werden.<br />
Das Diagramm 18 macht den rapiden Verfall der öffentlichen<br />
Investitionen in Ländern und Gemeinden<br />
sichtbar. Sie sind innerhalb von zehn Jahren um ein<br />
Drittel gesunken und haben einen historischen Tiefstand<br />
erreicht, der dafür verantwortlich ist, dass<br />
Deutschland bei den öffentlichen Investitionen in<br />
der EU die rote Laterne hält. Immerhin wird der<br />
Löwenanteil der öffentlichen Investitionen von Ländern<br />
und Kommunen geleistet. Wobei allein die Gemeinden<br />
bereits 60 Prozent davon aufbringen.<br />
Hauptursache für die rückläufige Investition in die<br />
öffentliche Daseinsvorsorge ist der Rückgang der<br />
Steuereinnahmen der Kommunen. Während sie 1980<br />
noch 14 Prozent aller Steuereinnahmen erhielten,<br />
waren es 2002 nur noch 11,9 Prozent. Hinzu kommt,<br />
dass der Sozialabbau des Bundes bei Ländern und<br />
Kommunen zu höheren Sozialetats führt und der<br />
Bund immer mehr Aufgaben nach unten weiter gibt.<br />
Diese allgemeine Tendenz zur Senkung des Anteils<br />
der Steuereinnahmen von Ländern und Gemeinden<br />
wird durch die allgemeine Senkung der Steuern noch
Diagramm 18:<br />
Investitionen der Gemeinden in Mrd. Euro<br />
30<br />
20<br />
10<br />
ergänzt. So sind die Länder vor allem von der Aussetzung<br />
der Vermögenssteuer betroffen, weil sie vollständig<br />
an die Länder abgeführt wird und<br />
dementsprechend auch den kommunalen Zuweisungen<br />
zu Gute kommt.<br />
So könnte alleine das von einer extremen Haushaltsnotlage<br />
am meisten gebeutelte Land Berlin mit jährlich<br />
800 Millionen Euro rechnen, wenn die<br />
Vermögenssteuer wieder erhoben würde. Eine entsprechende<br />
Initiative Berlins stößt aber nicht nur bei<br />
der Unionsmehrheit im Bundesrat, sondern auch bei<br />
der rot-grünen Bundesregierung auf taube Ohren.<br />
Alles in allem gehen den Kommunen im Vergleich zu<br />
1980 jährlich zehn Milliarden Euro verloren. In etwa<br />
genau der Betrag, der ihnen bei den Investitionen<br />
fehlt. Schon im vergangenen Jahr mahnte der Städtetag:<br />
„Wenn nicht sofort gehandelt wird, droht (...)<br />
ein beispielloser Kahlschlag bei den kommunalen<br />
Dienstleistungen.“ Mit der nächsten Stufe der Steuerreform<br />
und der Umsetzung von Hartz IV droht sich<br />
die Lage einer Katastrophe zu nähern. Zwar sind den<br />
Kommunen nach der Einigung zwischen Union und<br />
Bundesregierung im Vermittlungsausschuss 2,5 Millionen<br />
zusätzlicher Einnahmen zugesichert worden,<br />
aber damit wird nicht einmal ein Viertel des bereits<br />
vorhandenen Defizits ausgeglichen. Konjunkturflaute<br />
und Steuerreform werden das Defizit jedoch noch<br />
weiter ansteigen lassen. Die Einführung des Arbeits-<br />
Diagramm 19:<br />
Einnahmen und Ausgaben der Kommunen<br />
in Mrd. Euro<br />
150<br />
140<br />
130<br />
33,5<br />
1992<br />
147<br />
144<br />
2000<br />
28,5<br />
1995<br />
144<br />
24,7<br />
2000<br />
148<br />
2001<br />
Einnahmen Ausgaben<br />
24,2<br />
2001<br />
145<br />
2002<br />
149<br />
2002<br />
23,6<br />
141<br />
23,4<br />
2003<br />
151<br />
2003<br />
Quelle: ver.di Argumente 08/04<br />
Quelle: Dt. Städtetag<br />
losengeldes II sollte die Kommunen ursprünglich von<br />
der Sozialhilfe entlasten, wird aber in vielen Gemeinden<br />
zu Mehrbelastungen führen, weil sie weiter für<br />
das so genannte Sozialgeld zahlen müssen, das viele<br />
Niedriglöhner werden in Anspruch nehmen müssen.<br />
Die Ausweitung der öffentlichen Armut spiegelt sich allerdings<br />
nicht nur in geschlossenen Schwimmhallen<br />
oder eingestellten Förderprogrammen für Jugend- und<br />
Seniorenarbeit wider. Sie trifft auch die Beschäftigten<br />
besonders hart. In den 90er Jahren wurden 20 Prozent<br />
des Personals abgebaut. Überwiegend durch nicht wieder<br />
besetzte Stellen und Teilzeitarbeit, im zunehmenden<br />
Maße aber auch durch Entlassungen. In vielen<br />
Bereichen, insbesondere im Gesundheitswesen, wo die<br />
rot-grüne Gesundheitsreform für weitere Auszehrung<br />
sorgt, ist die Arbeitsbelastung enorm gestiegen. Da sowohl<br />
dem Personalabbau als auch der Arbeitsverdichtung<br />
Grenzen gesetzt sind, stehen als nächstes<br />
Einkommenskürzungen und Arbeitszeitverlängerungen<br />
auf der Tagesordnung. Und während vor einigen Jahren<br />
die Privatisierung kommunaler Einrichtungen noch<br />
neoliberales Wunschdenken war, ist sie heute eine<br />
durch den Niedergang der Gemeindefinanzen erzwungene<br />
Notmaßnahme. Dabei wird nicht nur das Tafelsilber<br />
verkauft, um die Pflichtaufgaben erfüllen zu<br />
können, sondern immer mehr Wohnungsunternehmen<br />
oder Versorgungseinrichtungen werden privatisiert,<br />
weil die Gemeindeväter die laufenden Zuschüsse nicht<br />
mehr zahlen können.<br />
Keinen Cent Gewerbesteuer mehr für München<br />
Die bayerische Landeshauptstadt, bislang eine<br />
der reichsten Kommunen Deutschlands, wurde<br />
im Sommer 2002 mit einem Schlag durch seine<br />
Großunternehmen zu einem Investitionsstopp<br />
getrieben. Der Kämmerer musste ab sofort eine<br />
Haushaltssperre verhängen und das bis 2006<br />
aufgelegte Investitionsprogramm in der Schublade<br />
verschwinden lassen. Die Gewerbesteuereinnahmen<br />
waren mit einem Mal auf Null<br />
gestellt, weil die Hypovereinsbank nicht nur die<br />
30 Millionen Vorauszahlungen für die Gewerbesteuer<br />
gestoppt, sondern sogar Rückforderungen<br />
von 120 Millionen Euro geltend gemacht hatte.<br />
Anlass war nicht nur die Geschäftslage einer der<br />
drei größten deutschen Banken, sondern vor<br />
allem die rot-grüne Unternehmensteuerreform.<br />
Im Zuge der nachträglichen Rückerstattung von<br />
Körperschaftssteuern waren vor allem an den<br />
Firmensitzen der deutschen Multis gleichzeitig<br />
Gewerbesteuerrückzahlungen in Milliardenhöhe<br />
angefallen. Nach Eichels Steuergeschenken stellten<br />
in München alle sieben Großunternehmen<br />
ihre Gewerbsteuerzahlungen ein: neben der Hypovereinsbank<br />
Allianz, BMW, Infineon, MAN,<br />
Münchner Rück und Siemens.<br />
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 23. Juli 2002<br />
27
Dass die Finanznot der Gemeinden nicht hauptsächlich<br />
die Folge struktureller oder konjunktureller Probleme<br />
ist, zeigt der oben stehende Kasten zur Haushaltsnot<br />
Münchens im Jahr 2002. Die durch die rot-grüne Steuerreform<br />
betriebene Reichtumspflege ist die Hauptursache<br />
für die plötzliche Verarmung bislang sogar<br />
reicher Kommunen. Die Wünsche der Wirtschaft gehen<br />
jedoch noch weiter, sie will die Gewerbesteuer abschaffen<br />
und durch einen Zuschlag auf die Einkommenssteuer<br />
ersetzen, was letztlich auch die Lohnsteuer<br />
einschließt. Nach Berechnungen der ver.di-Wirtschaftsabteilung<br />
würde sich damit der Beitrag der<br />
Unternehmen zu den kommunalen Steuereinnahmen<br />
von durchschnittlich 52 auf 36 Prozent verringern,<br />
während der Beitrag der Beschäftigten von knapp 50<br />
auf 64 Prozent stiege. Der Rückzug der Unternehmen<br />
aus der Finanzierung des Gemeinwesens wäre damit<br />
auf kommunaler Ebene abgeschlossen. Gleichzeitig<br />
würde sich an den ungleichen Lebensverhältnissen<br />
zwischen armen und reichen Gemeinden nichts ändern.<br />
Im Gegenteil, die armen Gemeinden müssten die<br />
höchsten Zuschläge zur Einkommenssteuer erheben,<br />
und die wohlhabenden könnten sich bei den Besserverdienenden<br />
schadlos halten.<br />
Was den Gemeinden helfen würde:<br />
• Ein nationales Investitionsprogramm zur<br />
Verbesserung der kommunalen Infrastruktur<br />
• Die Wiedererhebung der Vermögenssteuer<br />
• Die Umwandlung der Gewerbesteuer in eine<br />
Gewerbebetriebssteuer, in die alle selbstständigen<br />
Tätigkeiten einbezogen werden<br />
• Die Einrichtung eines Bundesfonds für soziale<br />
und ökologische Gemeinschaftsaufgaben,<br />
mit der ein öffentlich geförderter<br />
Beschäftigungssektor für gemeinwohlorientierte<br />
und selbstorganisierte Projekte geschaffen<br />
würde.<br />
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Ausgewählte Literatur<br />
- Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik,<br />
Memorande Köln 1995 – 2003<br />
- Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung,<br />
Lebenslagen in Deutschland, Bonn 2001<br />
- Bundesministerium der Finanzen,<br />
Finanzbericht 2003<br />
- Deutsche Bundesbank,<br />
Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung<br />
für Deutschland 1991 bis<br />
2002, Statistische Sonderveröffentlichung 4,<br />
Frankfurt/M September 2003<br />
- Deutscher Gewerkschaftsbund,<br />
Bundesvorstand Abteilung Wirtschaftspolitik,<br />
Verteilungsbericht 2003, Berlin 28.11.03<br />
- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW,<br />
Repräsentative Analyse der Lebenslagen<br />
einkommensstarker Haushalte, Berlin Juni 2003<br />
- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW,<br />
Erbschaften und Schenkungen in Deutschland,<br />
Wochenbericht 5/04, Berlin 2004<br />
- Liedke, Rüdiger,<br />
Wem gehört die Republik? 2004,<br />
Frankfurt/M 2003<br />
- Schäfer, Claus,<br />
Mit einer ungleichen Verteilung in eine schlechtere<br />
Zukunft – Die Verteilungsentwicklung in<br />
2002 und den Vorjahren,<br />
WSI Mitteilungen 11/2003<br />
- Statistisches Jahrbuch, Jahrgänge 1995 - 2003<br />
- ver.di Bundesvorstand,<br />
Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer,<br />
Berlin Dezember 2003<br />
- ver.di Bundesvorstand,<br />
Staatsfinanzen stärken,<br />
Berlin 2003<br />
Herausgeber<br />
Parteivorstand der PDS<br />
Kleine Alexanderstr. 28<br />
10178 Berlin<br />
Verantwortlich<br />
Harald Werner<br />
Druck<br />
Mediaservice GmbH<br />
Satz und Layout<br />
DiG Plus GmbH, Berlin