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Soziale Gerechtigkeit ist das Gerüst der Demokratie.<br />

Armut macht es morsch.<br />

Traditionsreiche Verteilungsgerechtigkeit – wohlbemerkt<br />

gelebt und erfahren im reichen Norden – wird als unmodern<br />

und undurchsetzbar gegen die scheinbar naturwüchsige<br />

Herrschaft der globalen Profit- und Vermögensvermehrer<br />

gesetzt.<br />

Die Politik von Rot-Grün stützt ihre Lösungsansätze auf die<br />

Behauptung, dass Verteilungsspielräume enger geworden<br />

sind. Doch die Ursachen der wachsenden Schere zwischen<br />

privatem Reichtum und privater und öffentlicher Armut<br />

bleiben im Dunkeln. Die tatsächliche Reichtumsexplosion<br />

der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte wird mit einer<br />

Neiddiskussion tabuisiert. Doch schaut man genauer hin,<br />

dann ist die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung eine perspektivlose Reaktion auf<br />

empfindliche Störungen einer „unproduktiven“ Volkswirtschaft. Deren bitterster Ausdruck ist<br />

eine verfestigte Massenarbeitslosigkeit mit all ihren sozialen und kulturellen Folgen, wie<br />

Armut, Ausgrenzung und eine gefährlichen Entsolidarisierung. Doch die Ursachen, die in der<br />

ungleichen Aneignung und Verteilung des Reichtums liegen, bleiben unangetastet. Sie wurden<br />

sogar durch steuerpolitische Fehlentscheidungen der rot-grünen Bundesregierung verschärft.<br />

Das angebliche Ende der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft ist praktisch immer noch das<br />

gesellschaftliche und zugleich internationale ungleiche Anwachsen unbezahlter und schlecht<br />

bezahlter Arbeit, die durch die Politik des IWF und der G8-Staaten selbst forciert wird.<br />

Wie es gegen die politisch verordnete Alternativlosigkeit Alternativen geltend zu machen gilt,<br />

so ist zugleich die soziale Gerechtigkeit als modern zu behaupten gegenüber einer neoliberalen<br />

Politik staatlicher Reichtumspflege.<br />

Gleiche Bildungschancen, Gesundheitsversorgung nicht nach dem Geldbeutel, Zugang zur<br />

Kultur für jede und jeden, menschenwürdige Alterssicherung und existenzsichernde Arbeit<br />

ermöglichen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, einen Zuwachs an Kreativität<br />

und Solidarität. Damit das geht, müssen starke Schultern mehr tragen als schwache.<br />

Soziale Wohlfahrt ist auch das einzige Mittel, um dem internationalen Terrorismus weltweit<br />

dauerhaft den Boden zu entziehen.<br />

Mit detaillierten Analysen werden im RotGrün Buch der staatlichen Reichtumspflege die<br />

Ursachen und die zerstörende Dimension der ungebremsten Reichtumsexplosion – vor allem<br />

für das Wirtschaftswachstum und die Binnenkaufkraft – innerhalb der volkswirtschaftlichen<br />

Gesamtrechnung in Deutschland untersucht. Dabei werden Mythen neoliberaler Lösungsansätze<br />

offenbar. Durch diesen aufklärerischen Weg werden Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie,<br />

nach gerechter Steuerpolitik, nach der gesellschaftlich dringlichen Forderung<br />

eines existenzsichernden Mindestlohns und einer bedarfsgerechten Grundsicherung<br />

plausibel. Ganz deutlich wird auch, dass eine politische Steuerung wirtschaftlicher Entwicklung<br />

überhaupt möglich und notwendig ist.<br />

Durch umfangreiches Fakten- und Zahlenmaterial werden soziale Forderungen der PDS als<br />

realistische Alternativen skizziert. Die Untersuchungen in der vorliegenden Studie sind ein<br />

Beitrag zur Debatte um einen politischen Richtungswechsel in der Gesellschaft.<br />

Wir unterbreiten dieses Angebot, um mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, mit<br />

Betroffenen, mit kritischen Intellektuellen und alternativen politischen und sozialen Kräften<br />

ins Gespräch zu kommen. Wir suchen Wege des gemeinsamen Handelns für mehr soziale<br />

Gerechtigkeit, Solidarität und politische Selbstermächtigung, demokratische und friedliche<br />

Wege, die eine politische Durchsetzungskraft in der Bundesrepublik und in Europa entfalten.<br />

Vorsitzender der PDS


Inhalt<br />

Reichtumskritik – eine Neiddiskussion? 3<br />

Riese mit Gleichgewichtsstörung 4<br />

Das Jammern der Weltmeister 6<br />

Die Gier der Eliten 9<br />

Sind das „die Leute, die Werte schaffen“? 9<br />

Ein absurder Leistungsbegriff 10<br />

Das Recht im Schlaf reich zu werden 11<br />

Reichtum ist erblich – nicht nur das Vermögen 15<br />

Reichtum und Globalisierung 16<br />

Reichtum vom Finanzamt 16<br />

Die Kehrseite der Reichtumspflege 19<br />

Lohndumping als Reformpolitik 22<br />

Hartz IV – ein Verarmungsprogramm 25<br />

Privater Reichtum – öffentliche Armut 26<br />

Ausgewählte Literatur / Impressum 28<br />

2


Reichtumskritik – eine Neiddiskussion?<br />

Wer den zunehmenden Reichtum kritisiert, sieht sich<br />

sehr schnell dem Vorwurf einer Neiddiskussion ausgesetzt.<br />

Um es vorweg zu sagen: Reichtum ist eine<br />

höchst erfreuliche Angelegenheit, selbst wenn es<br />

reiche und weniger reiche Menschen nebeneinander<br />

gibt. Das Problem beginnt da, wo der Reichtum der<br />

einen aus der Armut anderer entsteht und der Reichtum<br />

im gleichen Maße wie die Armut wächst. Das ist<br />

in der Bundesrepublik seit langem der Fall und drückt<br />

sich zum Beispiel darin aus, dass die Zahl der Millionäre<br />

im Krisenjahr 2002 um 3,4 Prozent auf<br />

755.000 anstieg, obwohl das Wirtschaftswachstum<br />

um nur 1,7 Prozent zunahm, aber die Arbeitslosigkeit<br />

um 6,9 Prozent (Diagramm 1). Im Klartext heißt das:<br />

weniger Beschäftigte und weniger Wachstum, aber<br />

mehr Millionäre. Wobei es sich bei den von Merrill<br />

Lynch und Cap Gemini Ernst & Young ermittelten Millionären<br />

nur um Geldmillionäre handelt. Bezieht man<br />

neben dem Geld- auch das Immobilien- und Sachvermögen<br />

mit ein, zählt Deutschland rund 1,5 Millionen<br />

Millionäre. Das Diagramm 1 zeigt allerdings nicht das<br />

ganze Ausmaß der ungleichen Entwicklung. Der von<br />

den zitierten Anlageprofis erstellte Report verrät<br />

nämlich gleichzeitig, dass das Vermögen der Millionäre<br />

noch stärker steigt, als sie sich zahlenmäßig<br />

vermehren. In Europa, dem Kontinent mit der weltweit<br />

größten Millionärsdichte, wuchs ihr Vermögen<br />

um 4,8 Prozent. Bis 2007 prognostizieren die Analytiker<br />

jährliche Wachstumsraten von sieben Prozent.<br />

Wenn sich das erfüllt, dürfte die Zahl der deutschen<br />

Millionäre bald die Zahl der Arbeitslosen überrunden.<br />

Die Einkommenssteuerstatistik von 1992 ermittelte<br />

noch 25.245 Steuerpflichtige, die nicht nur<br />

Millionäre waren, sondern ein Jahreseinkommen von<br />

damals mehr als einer Million DM hatten. Neuere Zahlen<br />

dazu liegen nicht vor.<br />

Diagramm 1:<br />

Wachstum 2002<br />

BIP<br />

Arbeitslose<br />

Millionäre<br />

1,7%<br />

6,9%<br />

3,4%<br />

Die privaten Geldvermögen betrugen im Jahr 2002<br />

netto, das heißt abzüglich der Kreditverpflichtungen,<br />

2.195 Milliarden Euro und lagen damit um 91<br />

Prozent über dem Stand von 1995. Allerdings konzentrierten<br />

sie sich, wie im Diagramm 2 gezeigt,<br />

überwiegend auf den oberen Teil der Gesellschaft.<br />

Nach der Untersuchung des DIW über reiche Haushalte<br />

lebten 2002 in Deutschland 124.000 Menschen in<br />

Haushalten mit einem monatlichen Netto-Einkommen<br />

von mehr als 17.895 Euro.<br />

6%<br />

4%<br />

2%<br />

Diese Tatsachen entlarven den Vorwurf der Neiddiskussion<br />

als Totschlagargument, mit dem das Thema<br />

tabuisiert werden soll, um die mit der Reichtumsexplosion<br />

verbundenen Probleme und Risiken aus der<br />

öffentlichen Diskussion zu verbannen.<br />

Denn die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich<br />

ist nicht nur ein moralisches Problem oder ein Widerspruch<br />

zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Der<br />

überbordende Reichtum ist vor allem ein volkswirtschaftliches<br />

Problem, weil er das wirtschaftliche<br />

Gleichgewicht stört, das Wirtschaftswachstum bremst<br />

und Arbeitslosigkeit produziert. Geldreichtum in den<br />

Händen weniger ist ein Zeichen stockender Realinvestitionen<br />

wie insgesamt ein Ausdruck schwacher<br />

Nachfrage. Wobei selten beachtet wird, dass die<br />

Masse des privaten Geldvermögens einer ebenso<br />

großen Schuldenmasse entspricht, weil die Besitzenden<br />

ihr Vermögen zinsbringend anlegen. Es ist zu<br />

einem beliebten Argument geworden, die Staatsverschuldung<br />

als Belastung künftiger Generationen zu<br />

kritisieren. Doch die nachfolgenden Generationen<br />

haben nicht nur mit ihren Steuern die Zinsen der<br />

Staatsschulden zu begleichen, sie arbeiten auch für<br />

die Ansprüche der Geldbesitzer auf Zinsen und Aktiengewinne,<br />

und sie tragen die Lasten verschuldeter<br />

Immobilien. Je größer das private Geldvermögen,<br />

desto stärker lastet der Zinsdruck auf der gesamten<br />

Volkswirtschaft. Nicht nur der Staat baut unter dem<br />

Druck der Zinsen soziale Leistungen ab, auch die Unternehmen<br />

tun es. Sie erhöhen zur Absicherung der<br />

auf ihnen lastenden Renditeerwartungen der Vermögensbesitzer<br />

die Arbeitsproduktivität, bauen Arbeitsplätze<br />

ab und erzwingen Lohnzugeständnisse. Das<br />

gesamte Arsenal der neoliberalen Politik dient ausschließlich<br />

dem Zweck, die Renditen der explodierenden<br />

Geldvermögen zu sichern und die Abwanderung<br />

dieses Geldvermögens auf andere Märkte zu bremsen.<br />

Ein weiterer Grund für die Untersuchung des privaten<br />

Reichtums liegt darin, dass sich die herrschende Politik<br />

des massiven Sozialabbaus auf die Behauptung<br />

enger gewordener Verteilungsspielräume stützt und<br />

dabei geflissentlich die historisch einmalige Reichtumsexplosion<br />

der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte<br />

übergeht. Die gegenwärtige Sparpolitik und die<br />

Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung stehen<br />

nicht nur in einem Widerspruch zur Reichtumsexplosion,<br />

sondern die mit der Agenda 2010 angeblich zu lösenden<br />

Probleme sind durch die ungleiche Verteilung<br />

des Reichtums überhaupt erst verursacht worden.<br />

Weshalb sich nicht nur die Frage aufdrängt, weshalb<br />

ausgerechnet Arbeitslose, Kranke und Rentner die Folgen<br />

der Reichtumsexplosion tragen sollen. Sondern es<br />

ist auch zu fragen, weshalb diese Bundesregierung das<br />

Problem auf die Schwächsten der Gesellschaft abwälzt,<br />

statt seine Ursachen zu bekämpfen.<br />

Eine nicht unwesentliche Rolle spielt beim Vorwurf<br />

der Neiddiskussion, dass die Befürworter der ungehemmten<br />

Reichtumsvermehrung nicht nur den Ver-<br />

3


gleich von Leistung und Einkommen ablehnen oder<br />

Einkommen automatisch als Ausdruck von Leistung<br />

betrachten. Sie betrachten das Nebeneinander von<br />

großem Reichtum und bitterer Armut sogar als unverzichtbare<br />

Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts.<br />

Besonders drastisch formulierte das<br />

Friedrich August von Hayek 1981 in einem Interview<br />

mit der Wirtschaftswoche:<br />

„Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich.<br />

Sie ist einfach nötig. Für eine Welt, die auf<br />

egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der<br />

Überbevölkerung unlösbar … Gegen die Überbevölkerung<br />

gibt es nur die eine Bremse, nämlich, dass sich<br />

nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch<br />

selbst ernähren können.“<br />

Was der Vordenker der neoliberalen Theorie hier für<br />

die Völker der Welt verkündet, gilt der Theorie nach<br />

natürlich auch für die einzelnen Individuen. Das<br />

Wolfsgesetz des Überlebenskampfes ist für die Neoliberalen<br />

die entscheidende Voraussetzung für wirtschaftliche<br />

Entwicklung. Wer es in Frage stellt, rührt<br />

an die Wurzeln der Leistungsgesellschaft. Für die neo-<br />

Trotz Globalisierung und Europäischer Wirtschaftsund<br />

Währungsunion ist Deutschland ein eigener Wirtschaftsraum,<br />

für den alljährlich eine volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung aufgestellt wird. Nun behauptet<br />

die rot-grüne Bundesregierung, dass<br />

dieser Wirtschaftsraum notleidend ist, dass seine<br />

Wirtschaft kaum wächst und dass seine Konkurrenzfähigkeit<br />

gefährdet ist. Deshalb müssten soziale Leistungen<br />

abgebaut und die Arbeitskosten gesenkt<br />

werden, damit wieder mehr Ressourcen für innovative<br />

Investitionen frei werden. Der Spielraum für Lohnerhöhungen<br />

und Sozialleistungen sei ausgeschöpft.<br />

Kurz gesagt: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Ob das<br />

wirklich so ist, lässt sich nur ermessen, wenn man<br />

einen Blick in das Haushaltsbuch der Nation wirft.<br />

4<br />

Diagramm 2:<br />

Verteilung des Netto-Geldvermögens<br />

50%<br />

4,5%<br />

10%<br />

42,3%<br />

Anteil der Haushalte Anteil des Vermögens<br />

40%<br />

20%<br />

liberale Theorie ist Ungleichheit deshalb eine unverzichtbare<br />

Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung,<br />

weil sich überall, wo es ein hohes Maß an Ungleichheit<br />

gibt, ungeahnte Profitmöglichkeiten erschließen.<br />

Arme Völker wie arme Menschen, die ihr Letztes zum<br />

Überleben geben müssen, wecken die Lebensgeister<br />

des faulen Kapitals ebenso wie sie die unternehmerische<br />

Fantasie beleben. Vor diesem Hintergrund muss<br />

man auch die so genannte Angebotstheorie verstehen,<br />

die dem neoliberalen Konzept zu Grunde liegt.<br />

Sie besagt nichts anderes, als dass die Politik Bedingungen<br />

zur Verbesserung des Angebots von Arbeit und<br />

Kapital schaffen muss, um Stagnation und Arbeitslosigkeit<br />

zu überwinden. Eine ziemlich zynische Theorie<br />

übrigens, denn sie besagt, dass sich das Angebot an<br />

Kapital verbessert, wenn man ihm höhere Profite garantiert,<br />

während das Arbeitsangebot zunimmt, wenn<br />

man die soziale Absicherung und die Löhne absenkt –<br />

was natürlich die Senkung der Sozialausgaben und die<br />

Verlängerung der Arbeitszeit einschließt. Die Verwirklichung<br />

dieser Theorie führt aber nicht nur zu einer<br />

stärkeren sozialen Spaltung, sie setzt sie sogar voraus.<br />

Womit sich der Kreis zur rot-grünen Politik schließt,<br />

denn genau das ist ihre Grundrichtung: Sie stimuliert<br />

das Kapitalangebot durch Steuersenkungen und treibt<br />

die Arbeitslosen in Niedriglohnsektoren.<br />

Wir meinen:<br />

Riese mit Gleichgewichtsstörungen<br />

• dass die Lösung der sozialen Frage keine Frage der<br />

Mildtätigkeit ist, sondern Kernelement der dem<br />

Staat durch das Grundgesetz vorgegebenen Aufgaben.<br />

• dass die Konzentration privaten Reichtums in wenigen<br />

Händen ökonomische Deformationen verursacht<br />

und die wirtschaftliche Entwicklung<br />

behindert.<br />

• dass das überproportionale Wachstum privater<br />

Geldvermögen sowohl wachsende Armut als auch<br />

Arbeitslosigkeit nach sich zieht.<br />

Uns interessiert dabei vor allem die Entwicklung des<br />

privaten Reichtums im Verhältnis zu den anderen<br />

Posten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.<br />

Denn genau so, wie es richtig ist, dass eine Volkswirtschaft<br />

nicht mehr ausgeben kann als sie erwirtschaftet,<br />

muss sie auch darauf achten, dass das<br />

Erwirtschaftete richtig verteilt wird. Wohlgemerkt:<br />

richtig und nicht gerecht, denn die Verteilung zwischen<br />

Arbeits- und Gewinneinkommen ist zunächst<br />

eine rational ökonomische Frage. Wird das Gleichgewicht<br />

zwischen Arbeits- und Gewinneinkommen<br />

gestört, weil die Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

stärker als die Masseneinkommen wachsen, dann<br />

vergrößert das nicht nur das Ausmaß sozialer Ungleichheit,<br />

sondern verursacht auch anhaltende wirt


Diagramm 3:<br />

Gewinne und Verluste<br />

1991=100%<br />

118<br />

124<br />

96<br />

94<br />

Wertschöpfung<br />

Geldvermögen<br />

1994 1998<br />

129<br />

163<br />

95<br />

schaftliche Probleme. Die Binnennachfrage schrumpft,<br />

damit steigen Arbeitslosigkeit und öffentliche Ausgaben,<br />

während die Steuereinnahmen spärlicher<br />

fließen. Dieser Trend hält in Deutschland bereits seit<br />

fast zwei Jahrzehnten an, und die rot-grüne Bundesregierung<br />

konnte 1998 mit gutem Grund sagen, dass<br />

sie ein schweres Erbe übernommen hat. Doch sie hat<br />

diese Tendenz nicht umgekehrt, sondern weiter beschleunigt.<br />

Ein dafür entscheidender Grund ist die so<br />

genannte Steuerreform, die den öffentlichen Kassen<br />

Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag<br />

entzieht. Das Diagramm 3 zeigt dementsprechend so<br />

etwas wie eine Bilanz der volkswirtschaftlichen Unvernunft,<br />

eine krasse Störung des volkswirtschaftlichen<br />

Gleichgewichts. Über der Nulllinie erheben sich<br />

die Balken der Erträge, darunter die der Verluste.<br />

Über der Nulllinie nimmt die gesellschaftliche Wertschöpfung<br />

kontinuierlich zu, aber die privaten Geldvermögen<br />

steigen etwa doppelt so stark, was zwei<br />

Schlussfolgerungen nahe legt. Erstens scheinen die<br />

Einkommensbezieher ihre Neigung zum Geldausgeben<br />

verloren zu haben, so dass immer weniger Einkommen<br />

zurück in den Konsum fließen, und zweitens<br />

scheint sich die Vermehrung des privaten Geldvermögens<br />

von der Entwicklung der gesellschaftlichen<br />

Wertschöpfung abzukoppeln. Wir werden darauf weiter<br />

hinten zurückkommen, was es mit diesen privaten<br />

Geldvermögen auf sich hat. Unterhalb der Nulllinie<br />

erkennt man ein systematisch abnehmendes Arbeitspotenzial,<br />

weil immer weniger Menschen immer mehr<br />

produzieren. Das erhöht einerseits die Erträge, senkt<br />

aber andererseits auch die Summe der Arbeitseinkommen.<br />

Am dramatischsten sinken allerdings die Sachinvestitionen<br />

der Unternehmen, aber auch der<br />

privaten Haushalte und vor allem des Staates. Die<br />

Gründe liegen auf der Hand, denn wenn die privaten<br />

Haushalte weniger investieren – egal, ob aus Not oder<br />

aus Kaufunlust – dann bleiben auch die Unternehmensinvestitionen<br />

aus. Entscheidend aber ist der<br />

Rückgang der öffentlichen Investitionen. Sie haben<br />

von 1992 bis 2002 um 32 Prozent abgenommen und<br />

Deutschland innerhalb der EU zum Schlusslicht der<br />

öffentlichen Investitionstätigkeit gemacht. Deutschland<br />

ist Exportweltmeister und glänzt unter den Industrienationen<br />

mit konkurrenzlosen Lohnstückkosten,<br />

aber die Kehrseite ist ein schwächelnder Binnenmarkt<br />

87<br />

141<br />

Arbeitsvolumen<br />

Sachinvestionen<br />

183<br />

94<br />

2002<br />

40<br />

150<br />

125<br />

100<br />

und ein stagnierender Konsum. Nun soll die Steuerreform<br />

dem abhelfen und mehr Geld auf den Binnenmarkt<br />

lenken.<br />

Doch die Masse der Steuerleichterungen kommt, wie<br />

weiter hinten gezeigt wird, den Konzernen sowie den<br />

Beziehern von Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

zugute. Dass die Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts<br />

zu Gunsten der Vermögenden durch die rotgrüne<br />

Steuerreform beschleunigt wurde, zeigt das<br />

Diagramm 4, das sich ausschließlich auf die Jahre<br />

nach dem Regierungswechsel 1998 bezieht. Wie im<br />

vorangegangenen Diagramm 3 sieht man auch hier,<br />

wie sehr sich die Vermehrung des privaten Geldvermögens<br />

von der Nettowertschöpfung abkoppelt und<br />

diese bei weitem übersteigt. Zwar steigt die Wertschöpfung<br />

nach 1998 wieder langsam an, aber gleichzeitig<br />

setzt sich die Schrumpfung der direkten<br />

Steuern fort, und die Einnahmen sinken sogar stärker,<br />

als die Wertschöpfung steigt.<br />

Diagramm 4:<br />

Netto-Wertschöpfung-Geldvermögen<br />

und direkte Steuern<br />

1995=100%<br />

99<br />

97<br />

118<br />

1998<br />

97<br />

101<br />

2001<br />

125<br />

100<br />

=1995<br />

Um den Teufelskreis von Produktivitätssteigerung,<br />

Arbeitsplatzvernichtung und rückläufiger Binnennachfrage<br />

zu durchbrechen, sind folgende Maßnahmen<br />

notwendig:<br />

• Die steigende Produktivität muss durch sinkende<br />

Arbeitszeiten ausgeglichen werden, ohne dass die<br />

Summe der kaufkräftigen Löhne sinkt.<br />

• Die Arbeits- und Sozialeinkommen müssen im<br />

gleichen Maße wie die Produktivität und die Preisentwicklung<br />

steigen.<br />

• Der angehäufte Reichtum muss stärker besteuert<br />

werden, um die Nachfrage des Staates zu erhöhen.<br />

193<br />

Steuern Wertschöpfung<br />

93<br />

103<br />

191<br />

2002<br />

175<br />

150<br />

Geldvermögen<br />

5


Das Jammern der Weltmeister<br />

Glaubt man der Bundesregierung, den Unternehmerfunktionären<br />

und natürlich der rechten Opposition,<br />

dann ist die wirtschaftliche Lage des Standortes<br />

Deutschland außerordentlich gefährdet: Die Arbeitszeiten<br />

sind zu kurz, die Löhne zu hoch, die Steuern<br />

auch und die Sozialleistungen ohnehin. Mit großformatigen<br />

Anzeigen und bunten Plakatwänden wird vor<br />

dem Niedergang des Wirtschaftsstandortes Deutschland<br />

gewarnt. Nur eines passt nicht in dieses Jammertal,<br />

nämlich die deutsche Wirtschaftswirklichkeit. Kein<br />

Land verkauft auf den global vernetzten Märkten so<br />

viel wie Deutschland, und niemand hat einen höheren<br />

Exportüberschuss. Dies alles wäre zweifellos unmöglich,<br />

wenn deutsche Waren zu teuer oder technologisch<br />

veraltet wären. Sieht man sich die tatsächlichen Wirtschaftsdaten<br />

an, so ist der Exportweltmeister außerordentlich<br />

gut aufgestellt. Eine Ausnahme machen die<br />

kleinen und die meisten mittelständischen Unternehmen,<br />

die zwar einen großen Teil der Beschäftigten,<br />

nicht aber der Wertschöpfung auf sich vereinigen. Ihre<br />

Gewinnsituation hat sich deutlich verschlechtert.<br />

63,8 Prozent der gesellschaftlichen Wertschöpfung<br />

stammen aus dem Sektor der Kapitalgesellschaften.<br />

Sie konnten ihre Brutto-Gewinne zwischen 1991 und<br />

2002 um 69 Prozent erhöhen, steigerten jedoch ihre<br />

Brutto-Anlageinvestitionen im selben Zeitraum nur um<br />

1,25 Prozent. Das heißt, dass die Kapitalgesellschaften<br />

54-mal so viel verdienten, wie sie in neue Arbeitsplätze<br />

investierten.<br />

Die Masse des erzielten Profits wanderte in Finanzanlagen<br />

und ausländische Direktinvestitionen. Der Bestand<br />

an ausländischen Direktinvestitionen ist von<br />

1991 bis 2002 um 375 Prozent gestiegen. Wobei die Legendenbildung<br />

glauben machen möchte, dass diese<br />

Kapitalflucht hauptsächlich durch hohe Löhne und Sozialabgaben<br />

verursacht wird. Tatsächlich handelt es<br />

sich nur in einem geringen Umfang um kostenbedingte<br />

Produktionsverlagerungen. Zum Beispiel begründet<br />

sich die Fusion von Daimler und Chrysler nicht aus den<br />

angeblich niedrigeren Lohnkosten in den USA, sondern<br />

aus der Absicht von Daimler, den dortigen Markt<br />

zu erobern. Das gesamte Geldvermögen der Kapitalgesellschaften,<br />

also einschließlich aller Wertpapiere und<br />

geldähnlichen Ansprüche, hat sich in elf Jahren mehr<br />

als verdoppelt und wird bald so groß wie das gesamte<br />

Inlandsprodukt eines Jahres sein. Wenn es einen Grund<br />

zum Jammern gibt, dann liegt er in der wachsenden<br />

Schwierigkeit, diesen gewaltigen Kapitalstock gewinnbringend<br />

einzusetzen. So sagte denn auch Werner<br />

Schmidt, der Vorstandsvorsitzende der Bayerischen<br />

Landesbank, im vergangenen Jahr gegenüber dem<br />

Handelsblatt: „Es gibt genügend Geld und Kapital in<br />

Deutschland, allenfalls zu wenige Projekte, die man als<br />

Kaufmann sinnvoll finanzieren sollte.“ Kein Wunder<br />

angesichts der rückläufigen Nachfrage von Staat und<br />

Privathaushalten. Die Folge ist, dass sich das Kapital<br />

auf die globale Suche nach profitträchtigen Anlagen<br />

macht und dabei immer stärker auf Finanzanlagen, Beteiligungen<br />

oder Fusionen setzt.<br />

6<br />

Diagramm 5:<br />

Bestand an ausländischen<br />

Direktinvestitionen, Exportüberschuss<br />

sowie Gewinne<br />

und Steuern der Kapitalgesellschaften<br />

in Mrd. Euro<br />

1000<br />

500<br />

134<br />

185<br />

1991<br />

906<br />

189<br />

214<br />

Auslandsinvestitionen<br />

1995<br />

1.257<br />

2.273<br />

Quelle: Eigene Berechnungen nach Angaben des<br />

Statistischen Bundesamtes und der Bundesbank<br />

2000 2002<br />

1.901<br />

Gewinne Geldvermögen<br />

Die Deutsche Wirtschaft verwandelt sich zunehmend<br />

in eine Vermögenswirtschaft, weil der übermäßig angehäufte<br />

Reichtum auf keine ausreichende Inlandsnachfrage<br />

stößt. Natürlich hat das etwas mit der<br />

Höhe von Löhnen und Steuern zu tun, doch in einer<br />

ganz anderen Weise als ständig behauptet wird: Sie<br />

sind nicht zu hoch, sondern zu niedrig, um im eigenen<br />

Land kauffähige Nachfrage zu sichern. Am deutlichsten<br />

wird dies, wenn man noch einmal zurück ins<br />

Kapitel „Riese mit Gleichgewichtsstörungen“ geht<br />

und sich den parallelen Absturz von geleisteten<br />

Arbeitsstunden und Sachinvestitionen anschaut.<br />

Dass die Politik der rot-grünen Bundesregierung<br />

daran nicht schuldlos ist, zeigt das untenstehende<br />

Diagramm. Die Steigerung des Brutto-Gewinns der<br />

Kapitalgesellschaften ist infolge der rot-grünen Steuerreform<br />

von einem Absturz der Unternehmenssteuern<br />

begleitet.<br />

Diagramm 6:<br />

Brutto-Gewinne und direkte Steuern der<br />

Kapitalgesellschaften – prozentuale Veränderung<br />

seit 1991<br />

+16%<br />

-15%<br />

1995<br />

+51%<br />

+23%<br />

1998<br />

Brutto-Gewinne<br />

+47%<br />

-61%<br />

1999<br />

Quelle: Claus Schäfer WSI /eigene Berechnungen<br />

+54%<br />

2000<br />

572<br />

-65%<br />

285<br />

+62%<br />

-86%<br />

Direkte Steuern<br />

637<br />

+70%<br />

-86%<br />

2001 2002<br />

314<br />

+50%<br />

-50%


Eine Hauptursache dafür ist zweifellos die Unternehmenssteuerreform<br />

der rot-grünen Bundesregierung,<br />

mit der den Konzernen neben der Senkung der Körperschaftssteuer<br />

zwei ganz besondere steuerliche Leckerbissen<br />

verabreicht wurden. Als erstes wurde den<br />

Kapitalgesellschaften eine rückwirkende Steuerentlastung<br />

geschenkt, in dem die einbehaltenen, aber bereits<br />

versteuerten Gewinne nach den neuen Sätzen<br />

veranlagt werden konnten. Auf diese Weise erhielten<br />

die Konzerne bereits im Jahr 2001 mehr Körperschaftssteuer<br />

zurückerstattet, als sie zu zahlen hatten.<br />

Im Jahr 2000, ein Jahr vor der Steuerreform,<br />

zahlten die Kapitalgesellschaften noch 23,6 Milliarden<br />

Euro an Körperschaftssteuern, ein Jahr später erhielten<br />

sie 400 Millionen Euro zurück, und 2002 kam<br />

gerade noch ein Zehntel des ursprünglichen Aufkommens<br />

zusammen, nämlich 2,9 Milliarden Euro. Interessant<br />

ist in diesem Zusammenhang eine Mitteilung des<br />

Bundesfinanzministeriums zum Thema Steuerehrlich-<br />

Tabelle 1:<br />

Ausgewählte Daten führender Konzerne im<br />

Jahr 2002 in Mio. Euro<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

Name<br />

DaimlerCrysler<br />

Dt. Telekom<br />

Volkswagen<br />

RWE<br />

Siemens<br />

BMW<br />

E.ON<br />

Bosch<br />

Bayer<br />

Dt. Post<br />

Metro<br />

ThyssenKrupp<br />

BASF<br />

Lufthansa<br />

Dt. Bahn<br />

SAP<br />

TUI<br />

Linde<br />

Vattenfall<br />

Heidelberger Cement<br />

Bertelsmann<br />

Münchner Rück<br />

Boehringer<br />

Continental<br />

MAN<br />

Henkel<br />

Porsche<br />

Schering<br />

KarstadtQuelle<br />

Adidas<br />

Summe<br />

Durchschnitt<br />

Cash Flow<br />

17.796,0<br />

12.463,0<br />

10.460,0<br />

5.933,0<br />

5.564,0<br />

4.374,0<br />

3.690,0<br />

3.352,0<br />

3.012,0<br />

2.850,0<br />

2.606,0<br />

2.454,0<br />

2.313,0<br />

2.311,6<br />

2.052,0<br />

1.686,7<br />

1.391,0<br />

1.274,0<br />

1.191,7<br />

1.147,0<br />

1.115,0<br />

1.081,0<br />

1.049,0<br />

919,0<br />

888,0<br />

863,0<br />

781,5<br />

749,0<br />

701,0<br />

534,1<br />

96.601,6<br />

3.220,0<br />

Löhne u.<br />

Gehälter<br />

19.701,0<br />

10.467,0<br />

10.836,0<br />

6.091,0<br />

22.639,0<br />

5.541,0<br />

4.791,0<br />

8.611,0<br />

6.317,0<br />

10.905,0<br />

4.735,0<br />

7.451,0<br />

4.751,3<br />

3.895,3<br />

7.075,0<br />

2.519,1<br />

2.054,0<br />

7.451,0<br />

509,8<br />

1.319,7<br />

3.828,0<br />

2.161,0<br />

1.689,0<br />

1.978,0<br />

3.184,0<br />

1.541,0<br />

548,0<br />

1.278,0<br />

2.544,0<br />

645,0<br />

167.056,2<br />

5.568,5<br />

* Cash Flow ist der reale Jahresüberschuss plus nicht ausgezahlter oder unterschiedlich<br />

investierter Erträge (Abschreibungen, Rücklagen etc.)<br />

Quelle: Rüdiger Liedke, Wem gehört die Republik, 2003<br />

Steuern<br />

1.177,0<br />

2.483,0<br />

1.389,0<br />

1.367,0<br />

849,0<br />

1.277,0<br />

645,0<br />

768,0<br />

107,0<br />

266,0<br />

328,0<br />

175,0<br />

1.042,2<br />

230,5<br />

30,0<br />

598,7<br />

239,0<br />

115,0<br />

176,1<br />

80,4<br />

57,0<br />

574,0<br />

486,0<br />

289,8<br />

72,0<br />

233,0<br />

366,9<br />

276,0<br />

30,9<br />

147,9<br />

15.876,4<br />

529,2<br />

keit. Ohne Betriebsprüfungen hätten die Kapitalgesellschaften<br />

2001 nicht 400 Millionen zurückerhalten,<br />

sondern 5.400 Millionen. Dabei ist es kein Geheimnis,<br />

dass die Betriebsprüfungen nicht nur relativ selten<br />

stattfinden, sondern auch recht großzügig gehandhabt<br />

werden. Es mangelt an Prüfern, und das hat seinen<br />

Grund. Verantwortlich für die Prüfungen sind die<br />

Länder, die nur nachträglich in den Genuss der Mehreinnahmen<br />

kommen, so dass im Rahmen der Sparhaushalte<br />

auch an Betriebsprüfungen gespart wird.<br />

Dabei haben die 11.000 Betriebsprüfer 2002 für den<br />

Fiskus 13 Milliarden Euro eingesammelt. Nirgendwo im<br />

Staatsdienst dürfte eine so hohe Produktivität erzielt<br />

werden, denn auf jeden Prüfer kommen 1,2 Millionen<br />

„Reingewinn“.<br />

Dementsprechend lag die Steuerquote der Kapitalgesellschaften<br />

2001 und 2002 nur noch bei einem<br />

Durchschnitt von etwa 4,2 Prozent. Berücksichtigt<br />

man gleichzeitig, dass fast zwei<br />

Drittel der bundesdeutschen Wertschöpfung<br />

in diesen Gesellschaf-<br />

Bezüge pro<br />

Vorstandsmitglied<br />

3,9<br />

2,1<br />

2,1<br />

1,6<br />

1,7<br />

2,0<br />

2,1<br />

0,9<br />

1,4<br />

0,9<br />

1,0<br />

1,0<br />

1,7<br />

0,9<br />

0,6<br />

1,1<br />

1,0<br />

1,0<br />

0,9<br />

0,8<br />

3,4<br />

0,9<br />

1,4<br />

0,9<br />

0,6<br />

1,1<br />

3,3<br />

1,8<br />

1,5<br />

1,0<br />

44,6<br />

1,5<br />

ten stattfindet, dann hat die<br />

rot-grüne Steuerreform Deutschland<br />

in eine Steueroase für Kapitalgesellschaften<br />

verwandelt. Sie<br />

brachte sogar das steuertechnische<br />

Kunststück fertig, die Logik<br />

von Brutto- und Nettoeinkommen<br />

auf den Kopf zu stellen. Denn<br />

während 2001 die Brutto-Gewinne<br />

der Kapitalgesellschaften immerhin<br />

um 39,1 Prozent stiegen, kletterten<br />

die Netto-Gewinne sogar<br />

auf 51 Prozent. Diese irrwitzige<br />

Reichtumspflege, die den Staat<br />

immer ärmer macht und die inländische<br />

Nachfrage austrocknet, hat<br />

freilich nicht nur fatale Folgen für<br />

Wachstum und Beschäftigung, sie<br />

zersetzt auch die gesamte Wirtschaftsstruktur.<br />

Der Überschuss<br />

an Konzernkapital hat zur Folge,<br />

dass das Kapital für die übrige<br />

Wirtschaft immer knapper wird.<br />

Was der weiter vorn zitierte Vorstandschef<br />

der Bayerischen Landesbank<br />

feststellte, nämlich den<br />

angeblichen Mangel an sinnvoll finanzierbaren<br />

Projekten, das hat<br />

die Bankenlandschaft in den vergangenen<br />

Jahren radikal verändert.<br />

Ging in den 80er Jahren<br />

noch der Witz um, dass es sich bei<br />

Siemens um eine Großbank handele,<br />

die nebenbei ein Elektrogeschäft<br />

betreibt, so sind die<br />

meisten Großbanken mittlerweile<br />

zu Großspekulanten geworden,<br />

die nebenbei ein Bankgeschäft<br />

betreiben. Das Schaltergeschäft<br />

für die Normalkunden und selbst<br />

die normale Kreditvergabe rangie-<br />

7


en bei den finanziellen Global Playern als Nebengeschäft.<br />

So erwirtschaftete die Deutsche Bank im vergangenen<br />

Jahr weniger als zehn Prozent ihres<br />

Rohgewinns aus dem Bankverkehr mit Privat- und Geschäftskunden,<br />

aber über 90 Prozent aus der Vermögensverwaltung<br />

und dem Investmentbanking. Wobei<br />

die weniger als 200 Investmentbanker rund 75 Prozent<br />

des Gewinns vor Steuern heranschafften. Kein Wunder,<br />

dass die Bank dem Kreditbegehren der kleinen<br />

und mittelständischen Unternehmen zunehmend die<br />

kalte Schulter zeigt und im normalen Bankgeschäft<br />

Tausende von Stellen abbaut. Nicht nur die großen<br />

Produktionskonzerne, sondern auch die Finanzdienstleister<br />

koppeln sich immer stärker von der Realwirtschaft<br />

ab und konzentrieren sich auf die für sie<br />

ertragreichere Spekulation mit Vermögenstiteln.<br />

Was bei der Deutschen Bank in reinster Form zu beobachten<br />

ist, nämlich die Konzentration auf die Vermögenswirtschaft,<br />

spiegelt sich auch in den<br />

Bilanzen der Produktionskonzerne wider. Beteiligungen,<br />

Fusionen und Übernahmen sind zu einem<br />

entscheidenden Instrument der Unternehmenspolitik<br />

geworden, um den Unternehmenswert zu erhöhen<br />

und damit die Aktionäre zu befriedigen. Wobei das<br />

zunehmende Engagement auf den Finanzmärkten aus<br />

zwei Gründen nichts an der Tatsache ändert, dass es<br />

nach wie vor die lebendige Arbeit ist, die die Werte<br />

schafft. Erstens muss jeder Finanzgewinn irgendwo<br />

in der Welt real erwirtschaftet werden, ehe er sich in<br />

einen Geldtitel verwandeln kann. Nur auf der Oberfläche<br />

sieht es so aus, als würden die Finanzrenditen<br />

durch Handel erwirtschaftet. So wie der Lottogewinn<br />

nicht von der Lottogesellschaft geschaffen wird,<br />

sondern von den Millionen, die ihre Lottobeiträge<br />

aus dem verdienten Einkommen abzweigen, entspringen<br />

Finanzgewinne aus von anderen real erwirtschafteten<br />

Werten. Zweitens ist die Basis der von den<br />

Konzernen eingesetzten Finanzmittel ihre eigene<br />

Wertschöpfung. Nur ertragsstarke Unternehmen<br />

können auch einträgliche Finanzgeschäfte tätigen.<br />

Wie ertragreich deutsche Konzerne 2002 gewirtschaftet<br />

haben, zeigt die Tabelle 1. Ausgewählt wurden<br />

Konzerne, die jeweils mehr als eine halbe<br />

Milliarde Euro an Cash Flow erwirtschaften konnten<br />

und diesen auch in ihren Geschäftsberichten auswiesen.<br />

Der Cash Flow ist eine allgemein anerkannte und<br />

zunehmend verwendete Größe, um die wirkliche Finanzkraft<br />

eines Unternehmens abzubilden.<br />

Anders als beim Gewinn wird mit ihm der tatsächliche<br />

Zugewinn eines Geschäftsjahres erkennbar, weshalb<br />

sich Börsenanalysten und Kreditgeber weniger<br />

auf den ausgewiesenen Gewinn, sondern auf den<br />

Cash Flow konzentrieren. Einige der oben aufgeführten<br />

Konzerne wiesen 2002 zum Beispiel einen sehr<br />

niedrigen Gewinn aus, obwohl ihre Erträge außerordentlich<br />

hoch ausfielen. Logisch wäre deshalb auch<br />

eine Besteuerung der Unternehmen nach dem errechenbaren<br />

Cash Flow.<br />

Wie die Tabelle zeigt, scheinen die Steuerzahlungen<br />

der aufgeführten Unternehmen gleichzeitig in keinem<br />

Verhältnis zu ihrem eigentlichen Ertrag zu ste-<br />

8<br />

hen. Sie sind nicht nur durchschnittlich relativ gering,<br />

sondern weichen auch stark voneinander ab,<br />

was als Ausdruck der außerordentlich weiten Gestaltungsspielräume<br />

bei der Steuerveranlagung gewertet<br />

werden kann. Die Deutsche Telekom etwa<br />

erwirtschaftete einen 4-mal so hohen Cash Flow wie<br />

Bayer, zahlte aber 23-mal so viel Steuern. Sinnvoll<br />

wäre deshalb eine Mindestbesteuerung der Unternehmen<br />

auf der Grundlage ihres Cash Flows und nicht<br />

der ausgewiesenen Gewinne. Überhaupt bewegt sich<br />

die Besteuerung der eigentlichen Leistungskraft auf<br />

äußerst niedrigem Niveau. Die durchschnittliche, am<br />

Cash Flow gemessene Steuerlast der aufgeführten<br />

Spitzenkonzerne lag 2002 bei 16,4 Prozent.<br />

„Wir haben unmittelbar nach Amtsübernahme<br />

eine Steuerreform gemacht, die sich sehen lassen<br />

kann. Sie brachte die Steuerbelastung der<br />

deutschen Unternehmen eher ins untere Drittel<br />

des europäischen Geleitzugs.“<br />

Gerhard Schröder, Handelsblatt 18.09.2003<br />

Interessant ist auch eine Berechnung der von den<br />

Beschäftigten erbrachten Leistung. Auf jeden Euro,<br />

den sie 2002 für ihre Arbeitsleistung erhielten, kommen<br />

0,58 Cent realer Unternehmensertrag. Oder anders<br />

ausgedrückt: Im Durchschnitt arbeiteten die<br />

Beschäftigten jeweils 26 Minuten für ihren Arbeitslohn<br />

und 34 Minuten für den Unternehmensertrag.<br />

Es gibt Alternativen:<br />

• Die Steuerfreistellung für Gewinne aus dem Verkauf<br />

von Anteilen an andere Unternehmen muss<br />

aufgehoben werden.<br />

• Die Bilanzierungsvorschriften der Kapitalgesellschaften<br />

müssen so verändert werden, dass ein<br />

Verschieben von Gewinnbestandteilen an Standorte<br />

mit niedrigeren Steuersätzen verhindert<br />

wird.<br />

• Die Bundesregierung muss zuerst auf europäischer<br />

Ebene und danach innerhalb der G8-Staaten<br />

auf eine Harmonisierung der Unternehmenssteuern<br />

drängen, damit der Unterbietungswettbewerb<br />

beendet wird.<br />

• Ausländische Direktinvestitionen sind als Gewinnbestandteile<br />

zu behandeln.<br />

• Die Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer<br />

muss erweitert werden.<br />

• Die Kapitalgesellschaften sind einer Mindestbesteuerung<br />

ihres Rohgewinns zu unterwerfen.


Die Gier der Eliten<br />

Anfang Februar überraschte das manager magazin<br />

seine potente Leserschaft mit dem Titel. „Gier ist<br />

geil – die Rückkehr zur Leistungsgesellschaft“. Die<br />

neue Offenheit im Umgang mit der Raffgier der<br />

Superreichen hat die Statistischen Ämter jedoch<br />

noch nicht erreicht, so dass man in den Statistischen<br />

Jahrbüchern vergeblich nach der Zahl der Vermögens-<br />

oder Einkommensmillionäre<br />

sucht. Die zuletzt<br />

1998 durchgeführte<br />

Einkommens- und<br />

Verbrauchsstichprobe<br />

des Statistischen<br />

Bundesamtes<br />

zählt zum Beispiel<br />

keine Millionäre,<br />

weil Haushalte mit<br />

einem Monatseinkommen<br />

von mehr<br />

als 35.000 DM<br />

(17.895 Euro) aus<br />

statistisch-mathematischen<br />

Gründen<br />

nicht mitgezählt werden. Die verlässlichste Quelle<br />

scheinen immer noch weltweit tätige Vermögensund<br />

Anlageberater wie etwa Merrill Lynch und Cap<br />

Gemini Ernst & Young zu sein, die durch ihren direkten<br />

Kontakt zu den Banken alljährlich einen Weltreport<br />

über die wohlhabenden Privatkunden erstellen.<br />

Nach deren letzter Erhebung wurden Ende 2002 in<br />

Deutschland 755.000 Menschen gezählt, die ohne<br />

Immobilien über ein Anlagevermögen von mehr als<br />

einer Million Euro verfügen. Ihre Zahl ist, wie schon<br />

erwähnt, gegenüber 2001 um 3,4 Prozent gestiegen.<br />

Rechnet man auch jene zu den Euro-Millionen, die<br />

einschließlich Immobilien und Sachanlagen auf<br />

mehr als eine Million kommen, sind es sogar 1,5 Millionen,<br />

denen seit Jahren die Vermögenssteuer erlassen<br />

bleibt. Schon jahrelang können sich die<br />

Superreichen so einen überproportional großen Teil<br />

des Volkseinkommens aneignen, die Kehrseite ist,<br />

dass der größere Teil der Bevölkerung einen immer<br />

kleineren Anteil erhält.<br />

Selbstverständlich kann die rot-grüne Bundesregierung<br />

bei dieser Reichtumsexplosion insofern ihre<br />

Hände in Unschuld waschen, als dieser Prozess der<br />

Natur der Marktgesetze folgt. Doch erstens zeigt sich<br />

gerade daran, wie unsinnig es ist, die Verteilung des<br />

gesellschaftlichen Reichtums allein dem Markt zu<br />

überlassen, und zweitens hat sie durch ihre Steuerreform<br />

nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Explosion<br />

des Reichtums zusätzlich zu beschleunigen.<br />

Sind das die Leute, die Werte schaffen?<br />

Anfang des Jahres machten ein Bild und ein Spruch<br />

die Runde, die den gesamten Unsinn unserer angeblichen<br />

Leistungsgesellschaft auf den Punkt brachten.<br />

Vor dem Düsseldorfer Landgericht hatten sich der<br />

Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef<br />

Ackermann, und andere ehemalige Aufsichtsräte des<br />

Mannesmannkonzerns für einen Deal zu verantworten,<br />

bei dem der ehemalige Vorstandsvorsitzende<br />

Klaus Esser für seine neunmonatige Tätigkeit eine<br />

Prämie von mehr als 16,5 Millionen Euro erhalten<br />

hatte. Das Bild zeigte Ackermann, wie er Esser im Gerichtsgebäude<br />

mit dem Victory-Zeichen begrüßt und<br />

gegenüber der Presse erklärt: „Deutschland ist das<br />

einzige Land, wo man die Leute, die Werte schaffen, vor<br />

Gericht stellt.“ Der scheinbar von Klaus Esser geschaffene<br />

Wert bestand darin, den Mannesmann-Konzern<br />

für 110 Milliarden Euro an Vodafone verhökert zu<br />

haben. Die Börsennotierung von Mannesmann war in<br />

diesem Zeitabschnitt um 128 Prozent gestiegen. Doch<br />

dieser Kurssprung war kaum Esser zu verdanken, denn<br />

in diesen wilden Monaten stiegen die Aktienkurse<br />

aller Telekommunikationskonzerne um satte 108 Prozent.<br />

Das Übrige bewirkten die Spekulanten, die den<br />

Milliarden-Deal mit Vodafone rochen, kräftig Mannesmann-Aktien<br />

kauften und den Aktienkurs zusätzlich<br />

anheizten. Das einzige Verdienst von Esser bestand<br />

darin, zur rechten Zeit auf dem richtigen Stuhl gesessen<br />

zu haben. Von herausragender unternehmerischer<br />

Leistung keine Spur. Wie unsinnig in diesem Fall<br />

der Leistungsbegriff ist, verrät eine andere Rechnung.<br />

Allein für die Esser-Prämie hätte ein Stahlarbeiter<br />

bei Mannesmann 330 Jahre arbeiten müssen.<br />

Ganz zu schweigen davon, dass das „reguläre“ Gehalt<br />

von Esser ebenfalls einigen hundert Jahren Facharbeitertätigkeit<br />

entspricht.<br />

Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt:<br />

• 93 Richter und Beamte<br />

• 62 Angestellte<br />

• 10 Arbeiter<br />

• 66 Hilfskräfte<br />

Diese 231 Beschäftigten, einschließlich der<br />

höchstbezahlten Richter Deutschlands, kosteten<br />

2003 rund 13 Mio. Euro. Weniger also, als Mannesmann-Chef<br />

Esser neben seinem Gehalt als<br />

Prämie für eine neunmonatige Tätigkeit erhielt.<br />

9


Deutsche-Bank-Chef Ackermann ging 2003 mit einem<br />

Jahresentgelt von 11.1 Millionen Euro nach Hause,<br />

wofür selbst der Bundeskanzler 48 Jahre im Amt sein<br />

müsste und ein leitender Angestellter der Bank 180<br />

Jahre zu arbeiten hätte. Dagegen erhielten die wenige<br />

Dutzend zählenden Investmentbanker der Deutschen<br />

Bank laut Spiegel im vergangenen Jahr Boni von mehreren<br />

100 Millionen Euro. Diese Finanzjongleure kassieren<br />

teilweise noch mehr als ihr Chef, und da ihre<br />

Bonuszahlungen überwiegend aus Aktien der Deutschen<br />

Bank bestehen, könnten sie in absehbarer Zeit<br />

sogar zu den maßgeblichen Eigentümern ihres Institutes<br />

gehören. Überhaupt sagen die offiziell ausgewiesenen<br />

Millioneneinkommen von Spitzenmanagern, wie<br />

sie in der Tabelle 1 aufgelistet sind, wenig über ihre<br />

tatsächlichen Einkünfte aus. Die Wirtschaftselite wird<br />

von den Großaktionären immer häufiger durch die Ausgabe<br />

von Vorzugsaktien geködert, um ihr Interesse an<br />

der Erhöhung des Börsenwertes zu wecken, womit der<br />

so genannte Shareholder Value, also der Profit durch<br />

Kurssteigerung, zum Leitmotiv der gesamten Wirtschaft<br />

wird. Kein Wunder, dass sich damit der in der Gesellschaft<br />

vorherrschende Leistungsbegriff verändert<br />

und auf die Fähigkeit der Spekulation zusammenschrumpft.<br />

Es geht darum, aus Geld mehr Geld zu machen,<br />

unabhängig davon, wie viel reale Werte dabei<br />

geschaffen werden. Fast unmerklich hat sich die so genannte<br />

Leistungsgesellschaft von einem arbeitenden<br />

zu einem spekulierenden Gemeinwesen entwickelt, das<br />

gewöhnliche Arbeit nur noch als Kostenfaktor registriert,<br />

während sich die Millioneneinkommen jeder<br />

Begründung entziehen und ihre Bezieher als die wahren<br />

Leistungsträger auftreten können. Die Unternehmensberatung<br />

Kienbaum hat errechnet, dass die<br />

Vorstandsgehälter der 30 im DAX notierten Unternehmen<br />

zwischen 1997 und 2002 um 80 Prozent gestiegen<br />

sind, während die Gehälter der übrigen Angestellten<br />

nur um 15 Prozent zulegten. Interessant an dieser Kritik<br />

aus dem Unternehmerlager ist jedoch die Begründung.<br />

Den Spitzenmanagern wird nicht die Höhe ihrer<br />

Gehälter vorgehalten, sondern dass ihre Steigerung in<br />

keinem Verhältnis zur Entwicklung des Aktienwertes<br />

steht. Was natürlich die Prämie für Esser nachträglich<br />

rechtfertigt, weil sie vor dem Hintergrund eines<br />

sprunghaft gestiegenen Börsenwertes ausgezahlt<br />

wurde. Wäre der DAX zwischen 1997 und 2002 wie die<br />

Vorstandsbezüge um 80 Prozent gestiegen, hätte kaum<br />

jemand von diesen Kritikern einen Einwand erhoben.<br />

Ein absurder Leistungsbegriff<br />

Die von Wirtschaftsredakteuren, Politikern und sogar<br />

von Unternehmerfunktionären entfachte Diskussion<br />

über die Maßlosigkeit der Managerelite atmet bei allem<br />

berechtigten Anlass ein erhebliches Maß von Scheinheiligkeit,<br />

denn die Kritiker stellen natürlich nicht die<br />

Frage, ob die superreichen „Arbeitgeber“ dieser Manager<br />

ihre Vermögen durch Eigenleistung erworben<br />

haben oder ob der Besitz milliardenschwerer Aktienpakete<br />

nicht das menschliche Leistungsvermögen bei<br />

weitem überschreitet. Ganz zu schweigen davon, dass<br />

sich diese Vermögen meistens in den Händen von Familienmitgliedern<br />

befinden, die dem Unternehmertum<br />

mehr durch Eheschließung und Geburt als durch eige-<br />

10<br />

Tabelle 2:<br />

Die Vermögen der 50 reichsten Deutschen<br />

umgerechnet auf Stundenlöhne<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

42<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46<br />

47<br />

48<br />

49<br />

50<br />

Name<br />

Theo Albrecht<br />

Karl Albrecht<br />

Susanne Klatten<br />

Werner Otto<br />

Reinhard Mohn<br />

Familie von Holzbrinck<br />

Friedrich Karl Flick<br />

Anonymus<br />

Curt G. Engelhorn<br />

Hasso Plattner<br />

Familie Reimann<br />

M. u. R. Schmidt-Ruthenbeck<br />

Erivan Haub<br />

Stefan Quandt<br />

Reinhold Würth<br />

Johanna Quandt<br />

Erich von Baumbach<br />

Albert Boehringer<br />

Otto Boehringer<br />

Heinz Bauer<br />

Günter Herz<br />

Otto Beisheim<br />

August von Finck<br />

Familie Braun<br />

Familie Brenninkmeyer<br />

Adolf Merckle<br />

Rudolf August Oetker<br />

Familie Bosch<br />

Jürgen Heraeus<br />

Familie Porsche<br />

Klaus Tschira<br />

Familie Funke<br />

Wilhelm von Finck<br />

Alfred von Oppenheim<br />

Familie Quandt<br />

Friede Springer<br />

Karin Baronin von Ullmann<br />

Familie Freudenberg<br />

Dietmar Hopp<br />

Madelaine Schickedanz<br />

Familie Jahr<br />

Nikolaus u. Baldwin Knauf<br />

Hubert Burda<br />

Rolf Gerling<br />

Otto Happel<br />

Maria u. Georg Schaeffler<br />

Stefan Schörghuber<br />

Clemens Haindl<br />

Eberhard Schleicher<br />

Familie Ehlerding<br />

Vermögen<br />

in Mrd. Euro<br />

14,6<br />

12,6<br />

7,5<br />

6,6<br />

5,7<br />

5,6<br />

5,4<br />

5,1<br />

4,7<br />

4,7<br />

4,6<br />

4,6<br />

4,5<br />

4,5<br />

4,5<br />

4,4<br />

4,1<br />

4,1<br />

4,1<br />

4,0<br />

3,9<br />

3,7<br />

3,7<br />

3,6<br />

3,6<br />

3,5<br />

3,3<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,9<br />

2,9<br />

2,6<br />

2,6<br />

2,5<br />

2,5<br />

2,4<br />

2,4<br />

2,4<br />

2,4<br />

2,3<br />

2,1<br />

2,0<br />

2,0<br />

2,0<br />

2,0<br />

2,0<br />

1,9<br />

1,9<br />

1,9<br />

Summe: 196<br />

Stundenlohn<br />

in Euro<br />

409.009,41<br />

352.980,73<br />

210.107,58<br />

184.894,67<br />

159.681,76<br />

156.880,32<br />

151.277,45<br />

142.873,15<br />

131.667,41<br />

131.667,41<br />

128.865,98<br />

128.865,98<br />

126.064,55<br />

126.064,55<br />

126.064,55<br />

123.263,11<br />

114.858,81<br />

114.858,81<br />

114.858,81<br />

112.057,37<br />

109.255,94<br />

103.653,07<br />

103.653,07<br />

100.851,64<br />

100.851,64<br />

98.050,20<br />

92.447,33<br />

86.844,46<br />

84.043,03<br />

84.043,03<br />

81.241,60<br />

81.241,60<br />

72.837,29<br />

72.837,29<br />

70.035,86<br />

70.035,86<br />

67.234,42<br />

67.234,42<br />

67.234,42<br />

67.234,42<br />

64.432,99<br />

58.830,12<br />

56.028,69<br />

56.028,69<br />

56.028,69<br />

56.028,69<br />

56.028,69<br />

53.227,25<br />

53.227,25<br />

53.227,25<br />

Quelle:<br />

www.manager-magazin.de/koepfe/reichste/0,2828,183574,00.html (Stand Januar 2002)<br />

Berechnungen von Harald Wozniewski www.dr-wo.de


ne Leistung verbunden sind. Das US-amerikanische<br />

Magazin Forbes und nach ihm das deutsche Manager-<br />

Magazin veröffentlichen regelmäßig eine Liste der<br />

Reichsten, bei der selbstverständlich nicht in Frage<br />

steht, dass sich diese Vermögen auf unternehmerische<br />

Leistung gründen. Wie absurd dieser Leistungsbegriff<br />

ist, hat der Wirtschaftsjurist und Publizist Harald<br />

Wozniewskis demonstriert, in dem er die Stundenlöhne<br />

für diese angebliche Unternehmerleistung errechnete.<br />

Eine vielleicht nicht ganz präzise und auch mit vielen<br />

Unbekannten aufgestellte Rechnung, aber sie ist bei<br />

aller Gewagtheit immer noch entlarvend genug für den<br />

absurden Begriff der Unternehmerleistung.<br />

Dass sich die Managerelite Millioneneinkommen zuschanzen<br />

kann, geschieht im Übrigen auch nicht ohne<br />

Einverständnis ihrer „Arbeitgeber“, und wer die<br />

Maßlosigkeit der Manager kritisiert, darf zur Maßlosigkeit<br />

der Milliardäre nicht schweigen. Wobei der Milliarden-Reichtum<br />

eigentlich immer weniger verschwiegen,<br />

sondern sogar zur Schau gestellt und zum Maß aller gesellschaftlichen<br />

Werte erhoben wird. Ohne die Gesellschaftsfähigkeit<br />

der maßlosen Bereicherung ist weder<br />

die Maßlosigkeit der Manager denkbar noch das unverschämte<br />

Bekenntnis des Manager-Magazins zur Gier als<br />

Grundlage der Leistungsgesellschaft.<br />

Fragt man nach den politisch-kulturellen Folgen dieser<br />

schamlosen Bereicherung, dann zeigt sich schnell,<br />

dass die Kehrseite der Parole „Gier ist geil“ folgerichtig<br />

„Geiz ist geil“ heißt. Denn was das Manager-Magazin<br />

als Rückkehr zur Leistungsgesellschaft feiert, ist das<br />

unverhohlene Bekenntnis zur Ellenbogengesellschaft,<br />

in der sich die Gier der Mächtigen mit dem Geiz gegenüber<br />

den Schwächeren verbindet. Diese Parallelität von<br />

Gier und Geiz spiegelt sich denn auch in der Politik<br />

wider. Senkung des Spitzensteuersatzes sowie Verzicht<br />

auf die Vermögenssteuer auf der einen Seite und Senkung<br />

des Arbeitslosengeldes und der Netto-Renten auf<br />

der anderen. Einerseits Amnestie für Steuersünder und<br />

andererseits härtere Sanktionen für Arbeitslose.<br />

Wie wäre es, wenn<br />

Das Recht im Schlaf reich zu werden<br />

Mann könnte glauben, dass das zunehmend unverhohlene<br />

Bekenntnis zur maßlosen Bereicherung Ausdruck<br />

des viel beschworenen kulturellen Wertewandels ist.<br />

Tatsächlich ist der kulturelle Wandel jedoch nur eine<br />

Folgeerscheinung des langsamen, aber tiefen Wandels<br />

in der ökonomischen Wertschöpfung.<br />

Immer größere Teile des Volkseinkommens stammen<br />

nicht mehr unmittelbar aus abhängiger oder unternehmerischer<br />

Erwerbsarbeit, sondern aus Vermögenseinkommen.<br />

Zinsen, Dividenden oder auch Mieteinnahmen<br />

sind gerade für die oberen zehn Prozent<br />

der Gesellschaft eine maßgebliche Einnahmequelle –<br />

unabhängig davon, ob sie nebenbei als leitende Angestellte<br />

tätig sind oder über Einkünfte als Freiberufler<br />

verfügen. Die amtliche Statistik sagt darüber wenig<br />

aus, weil sie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung<br />

nur die Arbeitnehmereinkommen präzise er-<br />

• die Bezüge der Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer<br />

von Kapitalgesellschaften einschließlich<br />

aller Sonderzuwendungen nicht nur in den Geschäftsberichten<br />

der Aktiengesellschaften veröffentlicht,<br />

sondern auch den MitarbeiterInnen des<br />

Unternehmens bekannt gemacht würden?<br />

• die Bundes- und Landesrechnungshöfe verpflichtet<br />

würden, die Bezüge von Vorstandsmitgliedern bzw.<br />

Geschäftsführern von Unternehmen, an denen die<br />

öffentliche Hand beteiligt ist, einem öffentlichen<br />

Ranking zu unterziehen? Dabei müsste die Höhe der<br />

Bezüge mit der Bezahlung ähnlicher Verantwortungen<br />

in Politik und Verwaltung verglichen werden.<br />

• das für die Sozialhilfe geltende Lohnabstandsgebot<br />

auch auf Managergehälter angewandt würde, um<br />

den Leistungswillen und die Motivation der übrigen<br />

Bezieher von Erwerbseinkommen nicht zu beeinträchtigen?<br />

• die Bundesregierung einen jährlichen Bericht über<br />

die Entwicklung und Steuerbelastung der privaten<br />

Vermögen von mehr als 100 Millionen Euro vorlegen<br />

müsste?<br />

fasst, während die Einnahmen aus selbstständiger<br />

Tätigkeit und aus Vermögen zusammengezählt werden,<br />

als würden nur die Selbstständigen auch Vermögenseinkommen<br />

beziehen. Tatsächlich beziehen aber<br />

die meisten Selbstständigen kein höheres Einkommen<br />

als gut bezahlte Angestellte und Beamte, und die<br />

führenden Manager mit Einkommen von mehreren<br />

Hunderttausend Euro werden nicht als Selbstständige,<br />

sondern als unselbstständig Beschäftigte gezählt.<br />

So kommt es, dass selbst Hausierer oder Inhaber einer<br />

Ich-AG als Selbstständige gerechnet werden, während<br />

der angestellte Vorstandsvorsitzende mit einem Jahreseinkommen<br />

von mehreren Hunderttausend Euro als<br />

abhängig Beschäftigter gerechnet wird. Niemand<br />

weiß es genau, aber wahrscheinlich gibt es durch<br />

diese statistische Unschärfe unter den unselbstständig<br />

Beschäftigten bald ebenso viele Eigentumsmil-<br />

Die Bruttoeinkommen der Unselbstständigen haben sich von 1991 bis 2002 nur um rund 31 Prozent erhöht, während<br />

die privaten Geldvermögen im selben Zeitraum um 83 Prozent auf 3.739 Mrd. Euro gestiegen sind. Diese ungleiche<br />

Entwicklung signalisiert, dass immer mehr private Haushalte nicht nur mehr Vermögen, sondern auch mehr Vermögenseinkommen<br />

besitzen. Unterstellt man nämlich, dass dieses gewaltige Geldvermögen vom Sparbuch bis zum rentablen<br />

Aktienfond eine durchschnittliche Rendite von mindestens sechs Prozent abwirft, dann ergaben sich daraus<br />

2002 private Vermögenseinnahmen von 223.8 Mrd. Euro. Oder anders gerechnet: Die Einkommen der deutschen Privathaushalte<br />

stammten 2002 zu 16 Prozent nicht aus eigener Erwerbsarbeit, sondern aus Vermögenserträgen.<br />

11


lionäre wie unter den Selbstständigen. Die Kategorien<br />

Selbstständiger, Beamter oder abhängig Beschäftigter<br />

sagen immer weniger über die wahre soziale<br />

Lage der Betroffenen aus. Die Menschen, die ihren<br />

Reichtum wachsenden Vermögenseinkommen verdanken<br />

und gewissermaßen im Schlaf reich werden, sind<br />

mit der herkömmlichen Statistik schwer zu erfassen.<br />

Das kommt insbesondere daher, dass das Bundesstatistikamt<br />

und die Bundesbank unterschiedliche Datenquellen<br />

nutzen oder verschiedene Kategorien<br />

erheben. Nur in den Berichten der Bundesbank gibt<br />

es zum Beispiel eine kassenmäßig erfasste Auflistung<br />

der Geldbestände und Vermögensgewinne,<br />

während sich das Statistikamt auf Befragungen stützen<br />

muss.<br />

Eine annähernde Vorstellung von der wachsenden<br />

Bedeutung der Vermögenseinkommen erhält man,<br />

wenn man einerseits die Entwicklung der privaten<br />

Geldvermögen mit der Entwicklung der Arbeitseinkommen<br />

vergleicht und andererseits schätzt, wie<br />

hoch wohl die jährlichen Einkommen aus privaten<br />

Geldvermögen ausfallen.<br />

Diagramm 7:<br />

Anteile von Betriebsüberschuss und Vermögenseinkommen<br />

am Volkseinkommen in Prozent<br />

Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von<br />

einer Verschweizerung der Bundesrepublik, weil<br />

immer mehr Haushaltseinkommen nicht aus der eigenen<br />

abhängigen oder auch selbstständigen Arbeit<br />

stammen, sondern aus den Zinsen, Mieten oder Renditen,<br />

die das private Vermögen abwirft. Das wird besonders<br />

deutlich im Diagramm 5, wo die Entwicklung<br />

der privaten Vermögenseinkommen und der Anteil<br />

des Betriebsüberschusses am Volkseinkommen miteinander<br />

verglichen werden.<br />

Wobei unter Betriebsüberschuss die Nettowertschöpfung<br />

der Wirtschaftsbereiche und Sektoren verstanden<br />

wird, während die Vermögenseinkommen<br />

hauptsächlich die privaten Erträge aus Geld- und<br />

Sachvermögen umfassen. Der Betriebsüberschuss<br />

nimmt ständig ab, während die ohne unternehmerische<br />

oder abhängige Tätigkeit erworbenen Vermögenseinkommen<br />

stetig zunehmen. 1996 stammten<br />

noch 20,2 Prozent aller Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

aus dem Betriebsüberschuss und 11,1 Prozent<br />

aus Vermögenseinkommen. Bis 2002 hat der<br />

sogenannte Betriebsüberschuss etwa ein Zehntel sei-<br />

12<br />

20,2<br />

11,1<br />

1996<br />

19,6<br />

Betriebsüberschuss<br />

13,8<br />

1998<br />

18,1<br />

15,9<br />

17,8<br />

15,1<br />

2000 2002<br />

Vermögenseinkommen<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

nes Stellenwertes verloren, und die Vermögenseinkommen<br />

haben ihren Anteil fast um die Hälfte vergrößert.<br />

Allerdings sind bei der Wertung des „arbeitslosen“<br />

Vermögenseinkommens zwei Einwände fällig: Erstens<br />

werden die Vermögenseinkommen natürlich trotzdem<br />

erarbeitet, nämlich von Menschen, die in der Regel<br />

kaum Vermögenseinkommen beziehen, sondern sie<br />

mit ihrer Arbeit produzieren beziehungsweise für sie<br />

als Mieter oder Schuldner aufkommen müssen. Denn<br />

je größer der Geldreichtum in einer Gesellschaft,<br />

desto größer die Zahl der Schuldner oder derjenigen,<br />

die für die Verzinsung des Reichtums arbeiten müssen.<br />

Und zweitens sind die Vermögenseinkommen<br />

dementsprechend unterschiedlich verteilt. Was aber<br />

keineswegs heißt, dass diese Unterschiede mit den<br />

alten Klassenvorstellungen oder der Unterscheidung<br />

zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen<br />

zu erfassen sind. Die formal statistische Trennung<br />

zwischen abhängig Beschäftigten und<br />

Selbstständigen wird von der Aufspaltung in Vermögensbesitzer<br />

und Vermögenslose überlagert. Denn<br />

die unselbstständigen Spitzenverdiener, meistens angestellte<br />

Manager oder leitende Beamte, haben nicht<br />

nur unvergleichlich größere Einkommen als der<br />

durchschnittliche Arbeitnehmer, sie beziehen auch<br />

höhere Vermögenseinkommen als die meisten Selbstständigen.<br />

Überhaupt sind die herkömmlichen Kategorien der<br />

Sozialstatistik immer weniger geeignet, den Unterschied<br />

zwischen Arm und Reich zu beschreiben. Auf<br />

der einen Seite wird der statistische Durchschnitt der<br />

Arbeitnehmereinkommen durch die Spitzengehälter<br />

der Manager nach oben getrieben und auf der anderen<br />

der Durchschnitt der Selbstständigeneinkommen<br />

durch Millionen von Kümmerexistenzen kräftig nach<br />

unten korrigiert. In diesem Fall helfen nur Sonderuntersuchungen<br />

weiter, die nicht nach dem formalen<br />

Sozialstatus, sondern nach realen Haushaltseinkommen<br />

unterscheiden. Die aktuellste und genaueste Untersuchung<br />

über reiche Haushalte stammt vom<br />

Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)<br />

und stützt sich auf eine Befragung von 1.224 Haushalten<br />

mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen<br />

von mehr als 3.855 Euro, was von der<br />

Wissenschaft üblicherweise als Reichtumsgrenze betrachtet<br />

wird, weil diese Haushalte mehr als 200 Prozent<br />

des durchschnittlichen Nettoeinkommens von<br />

rund 1.918 Euro beziehen. Wobei durch ein Rechenmodell<br />

auch die Haushaltsgröße berücksichtigt wird,<br />

so dass ein so genanntes Äquivalenzeinkommen besteht.<br />

Hochgerechnet liegen in Deutschland etwa 2,7 Millionen<br />

oder 7,3 Prozent aller Haushalte über der<br />

Reichtumsgrenze. Zwischen ihnen gibt es erhebliche<br />

Unterschiede, aber auch die unteren 92,7 Prozent<br />

aller Haushalte, nämlich die unterhalb der Reichtumsschwelle,<br />

sind noch wesentlich differenzierter<br />

zu betrachten, als es die Durchschnittszahlen in der<br />

ersten Spalte der Tabelle 3 vermuten lassen.


Reiche Haushalte im Osten unter der<br />

Ein-Prozent-Marke<br />

Nur 0,7 % der Haushalte in den neuen Bundesländern<br />

und Berlin-Ost verfügen über Nettoeinkommen<br />

zwischen 3.835 und 10.226 Euro, und<br />

die darüberliegenden Haushaltstypen sind so<br />

selten vertreten, dass sie in der Statistik mit<br />

dem Wert 0,0 % auftauchen.<br />

92,1 Prozent von ihnen verdienen nämlich weniger<br />

als 150 Prozent des Durchschnittseinkommens, nicht<br />

einmal die Hälfte besitzt Geldvermögen, und nur ein<br />

gutes Drittel verfügt über selbstgenutztes Wohneigentum.<br />

Doch letztlich ist die Polarisierung innerhalb<br />

der 7,3 Prozent reicher Haushalte erheblich<br />

größer. Wenn zum Beispiel ein Haushaltseinkommen<br />

von weniger als 3.835 Euro als Reichtumsgrenze angesetzt<br />

wird, dann machen diese „Spitzeneinkommen“<br />

der nicht reichen Haushalte maximal das<br />

Dreifache eines entsprechenden Haushaltseinkommens<br />

von SozialhilfeempfängerInnen aus, während<br />

die tatsächlichen Spitzeneinkommen innerhalb der<br />

Gruppe reicher Haushalte um mehr als das Zwanzigfache<br />

über der so genannten Reichtumsgrenze liegen.<br />

Nach nicht ganz sicheren Hochrechnungen<br />

sollen etwa 25.000 bis 30.000 Deutsche ein Jahres-<br />

Bruttoeinkommen von mehr als einer Million Euro<br />

beziehen.<br />

Doch so spektakulär und auch unangemessen solche<br />

wirklich hohen Einkommen auch sein mögen, sie sind<br />

für unsere Analyse eigentlich weniger wichtig als die<br />

Untersuchung der in der Tabelle aufgeführten reichen<br />

Haushalte. Erstens handelt es sich hier um eine<br />

Massenschicht und nicht um eine kleine Minderheit,<br />

und zweitens ballt sich in diesen Haushalten jenes<br />

Vermögen, das sich auch im Schlaf vermehrt und<br />

seine Besitzer zu realen Nutzern der Vermögenswirtschaft<br />

macht. Auch vermerkt die DIW-Studie, dass<br />

das Haushaltseinkommen der untersuchten Haushalte<br />

wahrscheinlich noch wesentlich höher ist, weil die<br />

Befragten von ihren monatlichen Einnahmen ausge-<br />

Tabelle 3:<br />

Vermögensverteilung nach Netto-Haushaltseinkommen und Tätigkeit<br />

Haushaltsnettoeinkommen<br />

davon: Selbstständige<br />

Höhere Beamte<br />

Höhere Angestellte<br />

Vermögensart<br />

davon: selbstgenutztes Wohneigentum<br />

andere Immobilien<br />

Geldanlagen<br />

Nettovermögen abzügl. Schulden<br />

Durchschnittliches<br />

Vermögen in Euro<br />

Quelle: DIW, Repräsentative Analyse der Lebenslagen einkommenstarker Haushalte, Juni 2003<br />

gangen sind und die Zinsgewinne ebenso unberücksichtigt<br />

ließen wie den erst bei Veräußerung anfallenden<br />

Vermögensgewinn. Gleichzeitig ist aber vor<br />

allem das politische Gewicht dieser Haushalte als<br />

Wähler- und meinungsbildende Schicht ungleich<br />

größer einzuschätzen als die Macht der vergleichsweise<br />

wenigen Einkommensmillionäre. Als Millionen<br />

zählende Massenschicht repräsentieren sie einen<br />

außerordentlich einflussreichen Teil der Bevölkerung,<br />

der die Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik<br />

und vor allem in der Medienindustrie besetzt. Sie formulieren<br />

die herrschende Ideologie und besitzen den<br />

Einfluss, sie zur angeblich herrschenden Meinung zu<br />

erheben.<br />

Wichtig sind noch zwei weitere Schlussfolgerungen<br />

aus der Tabelle 3 und den weiteren Ergebnissen der<br />

Studie. Erstens zeigt sie, dass die Mehrheit der reichen<br />

Haushalte wie der Vermögensreichen aus höheren<br />

Angestellten und Beamten und nicht aus<br />

Selbstständigen besteht. 43,9 Prozent aller Haushalte<br />

mit einem Netto-Monatseinkommen von mehr als<br />

5.113 Euro sind höhere Angestellte oder Beamte und<br />

nur 22,9 Prozent Selbstständige. Und zweitens darf<br />

man sich von den aktuellen Zahlen nicht den Blick für<br />

die Zukunft trüben lassen. Sich ohne eigene Arbeit<br />

vermehrender Reichtum hat die Tendenz zum potenziellen<br />

Wachstum, was nicht nur die Spaltung vertieft,<br />

sondern vor allem die Dominanz der<br />

Vermögenswirtschaft über die Realwirtschaft<br />

sprunghaft wachsen lässt.<br />

Wer hat – dem wird gegeben<br />

Wer hat, dem wird gegeben, sagt der Volksmund, und<br />

die Statistik bestätigt es mit ihren überproportionalen<br />

Wachstumsraten bei den privaten Geldvermögen.<br />

Deren Selbstvermehrung lässt sich leicht errechnen,<br />

wenn man eine simple Zinseszinsrechnung bemüht.<br />

Statistisch gesehen sparen die deutschen Haushalte<br />

durchschnittlich rund zehn Prozent ihres Einkommens<br />

und tragen es zur Bank, kaufen Wertpapiere<br />

oder sparen für Lebensversicherung oder Bausparvertrag.<br />

In Wirklichkeit ist diese Durchschnittszahl<br />

unter 3.835 Euro 3.835 – 5.113 Euro<br />

7,7 %<br />

0,8 %<br />

12,0 %<br />

36.980<br />

7.566<br />

5.909<br />

48.739<br />

15,0 %<br />

10,6 %<br />

30,8 %<br />

Durchschnittliches<br />

Vermögen in Euro<br />

102.368<br />

52.092<br />

20.817<br />

183.817<br />

über 5.113 Euro<br />

22,9 %<br />

12,5 %<br />

31,4 %<br />

Durchschnittliches<br />

Vermögen in Euro<br />

1332.242<br />

158.262<br />

40.889<br />

433.428<br />

13


eine Fiktion, denn die untere Hälfte der Gesellschaft<br />

besitzt nur 4,5 Prozent aller Vermögen, und 15,2 Prozent<br />

besitzen weder Rücklagen noch bilden sie Vermögen.<br />

Für die 92,7 Prozent der Haushalte, die über<br />

ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von weniger<br />

als 3.835 Euro verfügen, errechnete das DIW<br />

eine Sparquote von 8,2 Prozent.<br />

Insgesamt sind sich die Forscher darüber einig, dass<br />

der Besitz von Vermögen nicht nur aussagefähiger für<br />

die soziale Stellung ist als die formale Tätigkeit, sondern<br />

dass der Vermögensbesitz auch die soziale<br />

Stellung dauerhafter beeinflusst als das Erwerbseinkommen.<br />

Letzteres wird besonders dramatische<br />

Auswirkungen auf die soziale Entwicklung Ostdeutschlands<br />

haben, wo die Vermögensentwicklung<br />

noch wesentlich schlechter verläuft als die Einkommensangleichung.<br />

Einerseits wegen fehlender Altvermögen<br />

und andererseits wegen zu geringer<br />

Einkommen. Die Tabelle 3 macht deutlich, wie sehr<br />

hohe Einkommen das Hinüberwachsen vom gut verdienenden<br />

zum vermögenden Haushalt begünstigen.<br />

Ein Haushalt mit 3.835 Euro monatlichem Netto-Einkommen<br />

kann bei der durchschnittlichen Sparrate<br />

dieses Haushaltstyps sein Monatseinkommen nach 20<br />

Jahren zum Beispiel durch Vermögenseinkommen um<br />

300,33 Euro erhöhen, was 7,8 Prozent des regelmäßigen<br />

Einkommens entspricht. Das reicht nicht, um<br />

davon leben zu können, dürfte aber im Alter die durch<br />

die Rentenreform auftretende Einbuße ausgleichen.<br />

Nimmt man jedoch einen Haushalt mit 5.113 Euro monatlichem<br />

Netto-Einkommen, dann ergibt sich nach<br />

20 Jahren ein monatliches Vermögenseinkommen von<br />

4.179,33 Euro, was bereits 81,7 Prozent des ursprünglichen<br />

Netto-Haushaltseinkommens ausmacht und<br />

um 218 Prozent über dem Einkommen eines Durchschnittshaushalts<br />

liegt. Hier darf man getrost seinen<br />

Abschied vom Erwerbsleben nehmen und sein Geld<br />

weiterhin im Schlaf verdienen.<br />

Der Volksmund hat also Recht, wenn er sagt, dass<br />

denen gegeben wird, die bereits haben. Aber er irrt<br />

gründlich, wenn er meint, dass Geld nicht glücklich<br />

macht. Die DIW-Untersuchung belegt das Gegenteil.<br />

Mit wachsendem Einkommen steigt aber nicht nur die<br />

14<br />

Tabelle 4:<br />

Sparen und Vermögensbildung<br />

Haushaltsnettoeinkommen<br />

Anteil der Haushalte<br />

Sparquote<br />

Monatl.<br />

Netto-Sparbetrag<br />

Vermögen nach<br />

20 Jahren*<br />

Jährliches<br />

Vermögenseinkommen<br />

nach 20 Jahren<br />

unter<br />

3.835 €<br />

92,7 %<br />

8,2 %<br />

113 €<br />

55.484 €<br />

3.604 €<br />

3.835 bis<br />

5.113 €<br />

* bei Anlage des durchschnittlichen Sparbeitrages in dieser<br />

Gruppe und einer Rendite von 6,5 %<br />

Quelle: DIW, Juni 2003, eigene Berechnungen<br />

4,6 %<br />

13,6 %<br />

471 €<br />

231.268 €<br />

15.032 €<br />

über<br />

5.113 €<br />

2,7 %<br />

17,3 %<br />

1.588 €<br />

769.910 €<br />

50.044 €<br />

allgemeine Zufriedenheit, wie die Tabelle 4 zeigt. Von<br />

den Menschen in Haushalten bis 3.835 Euro Einkommen<br />

zeigten 19,1 Prozent der Befragten große Sorgen<br />

um ihre Gesundheit, während es bei den Haushalten<br />

mit mehr als 5.113 Euro Haushaltseinkommen nur 6,7<br />

Prozent waren. Das gleiche Verhältnis zeigt sich aber<br />

auch schon beim gegenwärtigen Gesundheitszustand.<br />

In den nicht reichen Haushalten bezeichneten<br />

nur 8,6 Prozent ihren Gesundheitszustand als sehr<br />

gut, während es in der Spitzengruppe 19 Prozent<br />

waren.<br />

Vor diesem Hintergrund, der Widerspiegelung der<br />

Einkommenslage in der Lebenszufriedenheit, sollte<br />

man auch die gegenwärtige Politik und Stimmungslage<br />

im Lande interpretieren. Einerseits spiegelt sich<br />

in der obigen Tabelle nicht nur der Zusammenhang<br />

von Einkommen und Zufriedenheit wider, sondern<br />

auch das Lebensgefühl der meinungsbildenden und<br />

politisch maßgeblichen Bevölkerungsgruppen. Es<br />

unterscheidet sich gravierend von der Mehrheitsbevölkerung<br />

und erklärt wahrscheinlich auch deren Unverständnis<br />

für den Widerstand gegen die so<br />

genannte Reformagenda der rot-grünen Bundesregierung.<br />

Nicht nur Spitzenmanager und Politiker,<br />

auch schon Bundestagsabgeordnete und die Elite der<br />

berufsmäßigen Meinungsproduzenten dürften sich<br />

ausnahmslos in der obersten der drei Gruppen befinden,<br />

die dreimal mehr Lebenszufriedenheit ausstrahlt<br />

als die untere Gruppe.<br />

Sie ist zwar am unzufriedensten mit ihrer Freizeit,<br />

aber rund fünfmal zufriedener mit Einkommen und<br />

Lebensstandard. Da lässt sich denn auch leicht über<br />

mangelnde Risikobereitschaft oder Verzagtheit der<br />

Tabelle 5:<br />

Zufriedenheit mit Bereichen des Lebens<br />

Haushaltsnettoeinkommen<br />

Zufriedenheit<br />

… mit der Arbeit<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

… mit der Freizeit<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

Quelle: DIW, Juni 2003<br />

unter<br />

3.835 €<br />

15,0 %<br />

8,5 %<br />

12,8 %<br />

15,0 %<br />

… mit der Haushaltseinkommen<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

… mit der Wohnung<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

… mit dem Lebensstandard<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

22,0 %<br />

5,3 %<br />

8,1 %<br />

16,9 %<br />

10,4 %<br />

5,9 %<br />

Allgemeine Lebenszufriedenheit<br />

unzufrieden<br />

hochzufrieden<br />

9,4 %<br />

4,0 %<br />

3.835 bis<br />

5.113 €<br />

5,2 %<br />

13,0 %<br />

11,9 %<br />

15,2 %<br />

4,4 %<br />

17,7 %<br />

2,4 %<br />

33,2 %<br />

1,3 %<br />

17,2 %<br />

2,5 %<br />

11,0 %<br />

über<br />

5.113 €<br />

4,8 %<br />

17,7 %<br />

13,3 %<br />

16,0 %<br />

2,8 %<br />

31,4 %<br />

1,9 %<br />

39,5 %<br />

0,7 %<br />

26,2 %<br />

2,3 %<br />

12,8 %


übrigen Bevölkerung klagen beziehungsweise zu<br />

mehr Optimismus aufrufen, wie es seit einiger Zeit<br />

üblich geworden ist. Im Stern vom 22. April 2004 erschienen<br />

die Ergebnisse einer Befragung von<br />

450.000 Deutschen, die in dieser Hinsicht nicht nur<br />

erhellende Ergebnisse brachte, sondern von ihrem<br />

sicherlich nicht unterbezahlten Chefredakteur in der<br />

angesprochenen Weise kommentiert wurde. Deutschland<br />

leidet nach seiner Meinung unter einer „Angstbremse“,<br />

und das Glück scheint – nach den diversen<br />

Landkarten zu urteilen, die über die Hochs und Tiefs<br />

der Zufriedenheit abgedruckt sind – immer dort am<br />

größten, wo CDU und CSU regieren. Es gibt eine frappierende<br />

Parallelität zwischen dem Grad der Zufriedenheit<br />

und dem Wahlverhalten. Der Osten, so<br />

stellen die Meinungsmacher dagegen fest, kippt auch<br />

mental ab. Allerdings haben die „Forscher vergessen,<br />

ihre Zufriedenheitskarten mit einer Karte der Einkommens-<br />

und Vermögensverteilung, der Arbeitslosenquoten<br />

und der Armutsrate zu ergänzen“. Das hätte die<br />

DIW-Untersuchung auf anschauliche Weise bestätigen<br />

und auch ergänzen können. Wer reich oder auch<br />

nur wohlhabend ist, ist nicht nur zufriedener und gesünder,<br />

sondern wählt auch anders und zeigt sich offener<br />

für die so genannte Reformagenda der<br />

herrschenden Politik.<br />

Reichtum ist erblich – nicht nur das Vermögen<br />

Man könnte die in Tabelle 3 ablesbare Anhäufung von<br />

Vermögenseinkommen durch hohe Einkommen noch<br />

fortsetzen und die Wirkung bis in die nächste Generation<br />

verfolgen. Doch bevor man sich dem Problem<br />

des materiellen Erbens zuwendet, lohnt es noch<br />

mehr darüber nachzudenken, was reiche Haushalte<br />

ihren Nachfahren sonst noch mit auf den Weg geben.<br />

Einmal natürlich eine eher positive Lebenseinstellung<br />

und mit Sicherheit eine bessere Gesundheit, vor<br />

allem aber das wichtigste Startkapital einer immer<br />

mehr auf Wissen basierenden Gesellschaft, nämlich<br />

Bildungs- und Ausbildungschancen. Die PISA-Studie<br />

hat den gerade in Deutschland besonders engen Zusammenhang<br />

zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss<br />

eindrucksvoll nachgewiesen, ohne<br />

dass sich die rot-grüne Politik damit ernsthaft auseinandersetzen<br />

musste. Sie setzt viel mehr auf Eliteuniversitäten<br />

oder Forschungsförderung als auf die<br />

Abkopplung des Bildungserfolgs von der sozialen<br />

Herkunft. Die DIW-Studie ermittelte bei den Erwerbstätigen<br />

in Haushalten unterhalb der Armutsschwelle<br />

nur 15,6 Prozent mit abgeschlossenem Studium, in<br />

der Gruppe der reichen dagegen 52,0 und in der Spitzengruppe<br />

59,5 Prozent. Das Humankapital der reichen<br />

Haushalte dürfte aber nicht nur den<br />

Bildungsweg der Kinder ebnen, es verbindet sich<br />

auch mit der materiellen Fähigkeit zur Bildungsfinanzierung.<br />

Das gilt bereits für die schulische Ausbildung,<br />

die immer häufiger Zusatzkosten verursacht,<br />

erst recht aber für die Hochschulausbildung und die<br />

immer längere Brücke in die Berufstätigkeit.<br />

Die maßgebliche Ursache für die Vererbung des Sozialstatus<br />

sind jedoch materielle Hinterlassenschaften<br />

und Schenkungen, die gerade in Zeiten der Krise an<br />

Tabelle 6:<br />

Erbschaften, Schenkungen und Lottogewinne<br />

Haushaltsnettoeinkommen<br />

Empfängerhaushalte<br />

Keine Angaben<br />

1.000 – 5.000 €<br />

5.000 – 10.000 €<br />

10.000 – 20.000 €<br />

20.000 – 50.000 €<br />

50.000 – 100.000 €<br />

100.000 – 250.000 €<br />

250.000 – 500.000 €<br />

500.000 – 1 Mio. €<br />

mehr als 1 Mio. €<br />

Mittelwert in €<br />

unter<br />

3.835 €<br />

2,0 %<br />

6,9 %<br />

15,8 %<br />

15,1 %<br />

20,5 %<br />

16,1 %<br />

14,0 %<br />

8,3 %<br />

2,1 %<br />

1,4 %<br />

0,0 %<br />

45.794<br />

Quelle: DIW, Repräsentative Analyse der Lebenslagen<br />

einkommensstarker Haushalte, Juni 2003<br />

3.835 bis<br />

5.113 €<br />

5,5 %<br />

7,3 %<br />

5,1 %<br />

13,5 %<br />

22,3 %<br />

11,9 %<br />

13,5 %<br />

16,3 %<br />

7,3 %<br />

0,0 %<br />

2,8 %<br />

128.513<br />

über<br />

5.113 € Gesamt<br />

6,1 %<br />

0,0 %<br />

0,0 %<br />

0,0 %<br />

16,9 %<br />

29,9 %<br />

9,5 %<br />

30,4 %<br />

9,5 %<br />

0,0 %<br />

3,7 %<br />

176.887<br />

2,3 %<br />

6,5 %<br />

13,5 %<br />

13,9 %<br />

20,4 %<br />

16,6 %<br />

13,6 %<br />

10,7 %<br />

3,2 %<br />

1,2 %<br />

0,6 %<br />

64,681<br />

Bedeutung gewinnen, weil sie die Erbenden oft<br />

schlagartig von Lebensrisiken befreien und in die<br />

nächsthöhere soziale Schicht katapultieren. Große<br />

Erbschaften verfestigen gleichzeitig die soziale Spaltung<br />

der Gesellschaft, beschränken die soziale Mobilität<br />

und ersetzen das Leistungsprinzip durch die<br />

Gnade der Geburt. Dementsprechend wird die Besteuerung<br />

großer Erbschaften von vielen Steuertheoretikern<br />

auch als ein ordnungspolitisches Mittel<br />

und nicht nur als staatliche Einnahmequelle betrachtet.<br />

Um diese Lenkungswirkung auf die tatsächlich<br />

großen Vermögen zu beschränken, sind in Deutschland<br />

die Freibeträge für Verwandte ersten Grades relativ<br />

hoch. Sie liegen für Ehepartner bei 307.000 und<br />

für Kinder bei 205.000 Euro. Erst jeder darüber liegende<br />

Euro ist versteuerbar. Die geringste Steuerbelastung<br />

liegt bei sieben, die höchste bei 50 Prozent,<br />

die freilich nur bei Erbschaften von mehr als 25,5<br />

Millionen fällig werden.<br />

Diagramm 8:<br />

Erbschaftssteuern im Vergleich<br />

Prozent des BIP 2001<br />

0,15 %<br />

D<br />

UK<br />

0,24 %<br />

0,28 %<br />

0,31 %<br />

0,36 %<br />

CH<br />

0,56 %<br />

0,25 %<br />

Welch geringe Wirkung die Erbschaftssteuer in<br />

Deutschland entfaltet, zeigt ein Vergleich (Diagramm<br />

8) mit dem Aufkommen dieser Steuer in vergleichbaren<br />

Ländern. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fallen<br />

in Deutschland die geringsten Steuern an, obwohl<br />

es nach den USA eine besonders hohe Zahl großer<br />

Vermögen gibt. Der Grund liegt freilich nicht nur im<br />

Steuertarif, sondern auch bei der Bemessungsgrundlage.<br />

Zur Zeit werden unbebaute Grundstücke nur mit<br />

NL<br />

USA<br />

F<br />

15


etwa 50 Prozent und bebaute Grundstücke mit 70<br />

Prozent ihres eigentlichen Verkaufswertes berechnet,<br />

so dass der Bundesfinanzhof 2002 Verfassungsklage<br />

in Karlsruhe eingereicht hat, um den<br />

Gesetzgeber zu einer Änderung der Erbschaftssteuer<br />

zu zwingen.<br />

Reichtum und Globalisierung<br />

Da insbesondere Geldvermögen außerordentlich flexibel<br />

bewegt und angelegt werden können, sind ihre<br />

Besitzer in der komfortablen Lage, sich die jeweils<br />

rentabelsten Anlagechancen auszusuchen und den<br />

Risiken rechtzeitig zu entziehen. Im Gegensatz zum<br />

Realkapital und den Arbeitskräften sind sie weder an<br />

Standorte noch an soziale Pflichten und öffentliche<br />

Meinungen gebunden. Sie sind die eigentlichen Profiteure<br />

der Globalisierung, denn im Gegensatz zur<br />

herrschenden Globalisierungsideologie sind es überwiegend<br />

die Finanzanleger, die von der neuen Flexibilität<br />

des globalen Marktes profitieren. Je größer<br />

der Anteil dieses flexiblen Reichtums in einer Gesellschaft<br />

ist, desto größer sind die Risiken der traditionellen<br />

Produktionsunternehmen und vor allem der<br />

Arbeitskräfte, weil sie durch die Flexibilität der Geldvermögen<br />

unter ständigen Anpassungsdruck gesetzt<br />

werden. Insbesondere die Arbeitskräfte werden zu<br />

fortgesetztem Lohnverzicht oder immer flexibleren<br />

Arbeitsformen gezwungen, um dem herumvagabundierenden<br />

Geldvermögen sichere Renditen zu garantieren.<br />

Wobei der Genauigkeit halber gesagt werden<br />

Reichtum vom Finanzamt<br />

Für kaum eine Für kaum eine politische Maßnahme der<br />

rot-grünen Bundesregierung ist der Vorwurf der staatlichen<br />

Reichtumspflege zutreffender als für die Reform<br />

des Einkommenssteuertarifs. Zunächst entsteht zwar<br />

der Eindruck, als würden die SteuerzahlerInnen am<br />

oberen wie am unteren Ende der Steuertabelle gleichermaßen<br />

entlastet, weil der Eingangssteuersatz<br />

fast um die gleiche Prozentzahl sinkt wie der Spitzensteuersatz.<br />

Der unterste Satz von 25,9 auf 15 und der<br />

höchste von 53 auf 42 Prozent. Die prozentuale Verminderung<br />

der persönlichen Steuerschuld, wie sie die<br />

16<br />

muss, dass diese globale Flexibilität durch politische<br />

Entscheidungen herbeigeführt wurde und keinesfalls<br />

naturwüchsig entstanden ist. Deregulierung, Flexibilisierung<br />

und Privatisierung sind keine politischen<br />

Glaubenssätze, sondern die handfesten Erfordernisse<br />

einer zunehmenden Vermögenswirtschaft. Diesen<br />

Anforderungen hat sich nicht nur die konservative<br />

Politik gebeugt, sondern seit einigen Jahren auch die<br />

neue Sozialdemokratie, indem sie durch ihre Steuerreform<br />

sowohl die privaten Geldvermögen als auch<br />

die Vermögenswirtschaft der Kapitalgesellschaften<br />

überaus freundlich behandelte. Das gilt für den Verzicht<br />

auf eine verfassungsgerechte Reform der Erbschaftssteuer<br />

wie auch für den Verzicht auf die<br />

Vermögenssteuer.<br />

Die maßlose Bereicherung kann begrenzt werden:<br />

• Wenn Zinserträge europaweit vollständig der Einkommenssteuer<br />

unterworfen werden.<br />

• Wenn Gewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren<br />

und Immobilien ohne jede Frist versteuert werden<br />

müssen.<br />

• Wenn Immobilien bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer<br />

nach ihrem tatsächlichen Verkehrswert<br />

veranschlagt werden.<br />

• Wenn die Erbschaftssteuer auf das Niveau vergleichbarer<br />

Länder angehoben wird.<br />

Bundesregierung in ihren Broschüren darstellt, macht<br />

sogar den Eindruck, als würden die unteren Einkommensgruppen<br />

besser wegkommen als die oberen. Die<br />

Rechnung sieht jedoch gänzlich anders aus, wenn man<br />

– wie in der Tabelle 7 – nicht nur auf die prozentuale<br />

Senkung des Steuersatzes schaut, sondern das Wachstum<br />

des Nettoeinkommens berechnet. Danach erhöht<br />

sich das Netto des Steuerzahlers mit einem Jahreseinkommen<br />

von 20.000 Euro nur um 6,3 Prozent,<br />

während das Nettoeinkommen des Millionärs um 21,9<br />

Prozent steigt (vergleiche auch Diagramm 10).<br />

Tabelle 7:<br />

Verteilungswirkung der rot-grünen Einkommenssteuerreform zwischen 1998 und 2005<br />

Jahreseinkommen Steuer 1998* Netto 1998 Steuer 2005* Netto 2005 Steuersenkung<br />

Neues<br />

Nettoeinkommen<br />

20.000 €<br />

30.000 €<br />

40.000 €<br />

50.000 €<br />

60.000 €<br />

70.000 €<br />

80.000 €<br />

90.000 €<br />

100.000 €<br />

500.000 €<br />

1.000.000 €<br />

19,4 %<br />

23,8 %<br />

27,2 %<br />

30,4 %<br />

33,6 %<br />

36,3 %<br />

38,4 %<br />

40,1 %<br />

41,3 %<br />

50,7 %<br />

51,8 %<br />

16.120 €<br />

22.860 €<br />

29.120 €<br />

34.800 €<br />

39.840 €<br />

44.590 €<br />

49.280 €<br />

53.910 €<br />

58.700 €<br />

246.500 €<br />

482.000 €<br />

14,3 %<br />

19,4 %<br />

23,1 %<br />

26,2 %<br />

28,8 %<br />

30,7 %<br />

32,1 %<br />

33,2 %<br />

34,1 %<br />

40,4 %<br />

41,2 %<br />

17.140 €<br />

24.180 €<br />

30.760 €<br />

36.900 €<br />

42.720 €<br />

48.510 €<br />

54.320 €<br />

60.120 €<br />

65.900 €<br />

298.000 €<br />

588.000 €<br />

1.020 €<br />

1.320 €<br />

1.640 €<br />

2.100 €<br />

2.880 €<br />

3.920 €<br />

5.040 €<br />

6.210 €<br />

7.200 €<br />

51.500 €<br />

106.000 €<br />

+6,3 %<br />

+5,7 %<br />

+5,6 %<br />

+6,0 %<br />

+7,2 %<br />

+8,8 %<br />

+10,2 %<br />

+11,5 %<br />

+12,2 %<br />

+20,8 %<br />

+21,9 %<br />

* Für die jeweiligen Einkommensgruppen wird der durchschnittliche Steuersatz zu Grunde gelegt. Quelle: Schäfer 2003 / eigene Berechnungen


Diese Schieflage wird auch bei der Verteilung der 40<br />

Milliarden Euro Steuerentlastung an die privaten<br />

Haushalte deutlich. Wie Diagramm 9 verdeutlicht,<br />

vertieft sich die soziale Spaltung der Gesellschaft<br />

durch die Steuerreform weiter, weil auf vier Fünftel<br />

der Haushalte nur ein knappes Drittel der 40 Milliarden<br />

entfallen, während das obere Fünftel der Haushalte<br />

mehr als zwei Drittel der Steuerentlastung<br />

kassiert. So kostet allein die Senkung des Spitzensteuersatzes<br />

von ursprünglich 53 auf demnächst 42<br />

Prozent 6 Milliarden Euro. Mehr als die Bundesregierung<br />

auf der anderen Seite durch die Hartz-Gesetze<br />

bei den Arbeitslosen einspart. Berücksichtigt man<br />

gleichzeitig, dass 54 Prozent der Haushalte ein Brutto-Jahreseinkommen<br />

von weniger als 30.000 Euro<br />

haben und verrechnet bei diesen Haushalten die Entlastung<br />

mit den Mehrkosten durch die Gesundheitsreform,<br />

dann dürfte der Entlastungseffekt noch<br />

wesentlich niedriger als oben angegeben ausfallen.<br />

Diagramm 9:<br />

Gewinner der Einkommenssteuerreform<br />

75%<br />

50%<br />

25%<br />

81%<br />

32%<br />

bis 50.000 € über 50.000 €<br />

Anteil der Steuerzahler<br />

Entlastung durch Reform<br />

Quelle: DIW Wochenbericht 27-28/2003<br />

Die sozial negative Verteilungswirkung dieser Steuerreform<br />

wird jedoch noch deutlicher, wenn die mögliche<br />

Verwendung der Steuergeschenke einkalkuliert<br />

wird. Die unteren vier Fünftel der Haushalte dürften,<br />

wenn sie überhaupt mehr Kaufkraft erhalten, dieses<br />

Geld in den Konsum stecken. Anders sieht es beim<br />

oberen Fünftel der Gesellschaft aus, wo jetzt schon<br />

ein beträchtlicher Teil des regelmäßigen Einkommens<br />

gespart wird. Während die durchschnittlichen<br />

oder unterdurchschnittlichen Einkommensgruppen<br />

im besten Fall an Kaufkraft gewinnen, werden die<br />

oberen durch das Finanzamt bei der Vermehrung<br />

ihres Vermögens unterstützt. Trotzdem haben wir<br />

nachgerechnet, was passieren würde, wenn vier ver-<br />

Diagramm 10:<br />

Steuerminderung und Erhöhung<br />

des Nettoeinkommens<br />

20.000<br />

30.000<br />

50.000<br />

70.000<br />

100.000<br />

19%<br />

500.000<br />

1.000.000<br />

68%<br />

22%<br />

17 %<br />

12 %<br />

Verringerung Steuersatz Erhöhung Nettoeinkommen<br />

7%<br />

schiedene Haushaltstypen ihre Steuerersparnis anlegen<br />

würden. Durch die Analyse des DIW zu den Lebenslagen<br />

einkommensstarker Haushalte liegen<br />

relativ zuverlässige Aussagen über das Sparverhalten<br />

vor, so dass sich ermitteln lässt, welcher Anteil des<br />

Steuernachlasses voraussichtlich in neue Vermögensanlagen<br />

fließen. In die Modellrechnung wurden<br />

vier Haushaltstypen mit einem Bruttoeinkommen von<br />

30.000, 80.000, 500.000 und einer Million Euro einbezogen.<br />

Weiterhin wurde unterstellt, dass alle vier<br />

Haushalte nur ihre eingesparten Steuern sparen, was<br />

zwar vorsichtig kalkuliert, aber unrealistisch ist,<br />

denn in Wirklichkeit dürften die besser gestellten<br />

Haushalte den größten Teil des Steuergeschenks anlegen,<br />

während die unteren Haushalte eher mehr<br />

ausgeben als mehr sparen dürften. Wobei gleichzeitig<br />

zu berücksichtigen ist, dass die besser gestellten<br />

Haushalte durch die Höhe des regelmäßigen Anlagebetrages<br />

und die längere Laufzeit auch höhere Zinsen<br />

erhalten.<br />

Den meisten Menschen mit durchschnittlichen Einkommen<br />

fällt es schwer, sich Größenordnungen von<br />

einigen hunderttausend Euro vorzustellen, aber das<br />

Diagramm 11 macht überaus deutlich, wie aus hunderttausend<br />

Euro sehr schnell knappe zwei Millionen<br />

werden. Betrachtet man die als Balken abgebildeten<br />

jährlichen Steuerminderungen der vier Haushaltstypen,<br />

dann wird die unterschiedliche Begünstigung<br />

durch die Steuerreform zwar schon sichtbar, sie fällt<br />

aber im Vergleich zur Vermögensentwicklung noch<br />

relativ harmlos aus. Erst wenn man die obere Kurve<br />

der Vermögensentwicklung betrachtet, zeigt sich die<br />

Absurdität des gesenkten Spitzensteuersatzes. Bei<br />

Einkommen von 500.000 Euro aufwärts findet<br />

tatsächlich staatliche Reichtumspflege statt. Nach<br />

Berechnungen der Steuerexperten wird die Senkung<br />

des Spitzensteuersatzes dem Fiskus jährlich sechs<br />

Milliarden Euro entziehen. Wenn die Spitzenverdie-<br />

Diagramm 11:<br />

Vermögensbildung<br />

durch Steuerminderung im<br />

Zeitraum von 10 Jahren<br />

16.679 €<br />

-1.320 € -5.040 €<br />

-51.500 €<br />

-106.000 €<br />

30.000 € 80.000 € 500.000 € 1.000.000 €<br />

Vermögen nach 10 Jahren Jährliche Steuerminderung<br />

Brutto<br />

30.000 €<br />

80.000 €<br />

500.000 €<br />

1.000.000 €<br />

69.061 €<br />

Netto 2005 Steuererlass<br />

24.180 € 1.320 €<br />

54.320 € 5.040 €<br />

298.000 € 51.500 €<br />

588.000 € 106.000 €<br />

835.184 €<br />

Sparrate<br />

monatl.<br />

110 €<br />

420 €<br />

4.300 €<br />

8.833 €<br />

1.923.198 €<br />

Zins<br />

4,5%<br />

6%<br />

9%<br />

11%<br />

Nach<br />

10 Jahren<br />

16.679€<br />

69.061€<br />

835.184€<br />

1.923.623€<br />

17


ner dieses Geschenk mit einem durchschnittlichen<br />

Zinssatz von 8,5% anlegen, wächst sich dieses Steuergeschenk<br />

zu einem Vermögen von 94,4 Mrd. Euro<br />

aus. Man könnte es auch anders rechnen: Würde der<br />

Spitzensteuersatz nicht gesenkt und Eichel legte die<br />

nicht verschenkten Steuergelder heimlich auf den Finanzmärkten<br />

an, dann könnte er nach zehn Jahren die<br />

Gemeinden mit einem Schlag von all ihren Kreditschulden<br />

befreien oder die Bundesschulden um mehr als ein<br />

Zehntel verringern.<br />

Den nach wie vor größten Gnadenakt der Finanzbehörden<br />

genießen die großen Vermögen in<br />

Deutschland allerdings durch die Aussetzung der Vermögenssteuer.<br />

Dieses Steuergeschenk wiegt sogar<br />

noch schwerer als die Senkung des Spitzensteuersatzes.<br />

Noch 1996 hatten die Länder über neun Milliarden<br />

DM Vermögenssteuer kassiert. Nach Angaben der<br />

Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat<br />

der Staat bis 2003 auf etwa 50 Milliarden Euro Vermögenssteuer<br />

verzichtet. Die Aussetzung erfolgte<br />

nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes,<br />

das die Steuer nicht an sich für verfassungswidrig<br />

hielt, sondern lediglich bemängelt hatte, dass Immobilienvermögen<br />

im Vergleich mit Geldvermögen zu<br />

gering belastet werden. Dem hätte durch eine<br />

Höherbewertung der Immobilien abgeholfen werden<br />

können, was gleichzeitig zu deutlichen Mehreinnahmen<br />

geführt hätte. Die SPD versprach in ihrem Wahlprogramm<br />

von 1998, die Vermögenssteuer wieder zu<br />

erheben, wozu sie sich allerdings weder im Bund<br />

noch in den Ländern durchringen konnte. Nur die<br />

Landesregierungen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern<br />

fassten auf Druck der PDS-Regierungsmitglieder<br />

einen solchen Beschluss. Nicht ohne eigenes<br />

Interesse übrigens, denn die Vermögenssteuer fließt<br />

den Ländern zu. Berlin könnte durch die Wiedererhebung<br />

der Vermögenssteuer mit Mehreinnahmen von<br />

800 Millionen und Mecklenburg-Vorpommern mit<br />

300 Millionen Euro rechnen. Ohne die Zustimmung<br />

des Bundestages und der übrigen Bundesländer läuft<br />

die Initiative der von der PDS mit getragenen Landesregierungen<br />

freilich ins Leere.<br />

Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

würden die jährlichen Einnahmen<br />

aus der Vermögenssteuer heute insgesamt 15,9 Milliarden<br />

Euro betragen. Wobei ein Steuersatz von einem<br />

Prozent zu Grunde gelegt wurde. Geht man, wie etwa<br />

ver.di, von einem Freibetrag von 200.000 Euro für<br />

Alleinstehende und 100.000 Euro für jedes weitere<br />

Familienmitglied aus, dürfte der zur Vermögenssteuer<br />

herangezogene Personenkreis relativ klein sein<br />

und nicht mehr als drei Prozent der Haushalte betreffen.<br />

Aber selbst unter diesen drei Prozent dürfte die<br />

18<br />

„Sozialdemokraten sollten sich hüten, diejenigen,<br />

die heute schon leitstungsstärker, die heute schon<br />

selbstständiger sind, mit ständig neuen<br />

Diskussionen um Steuern und Zwangsmaßnahmen<br />

zu verunsichern.“<br />

Gerhard Schröder<br />

Vermögenssteuer auch für die meisten wohlhabenden<br />

Haushalte kein Problem sein. Eine vierköpfige<br />

Familie mit einem schuldenfreien Vermögen von<br />

einer halben Million Euro hätte monatlich nicht mehr<br />

als 83,33 Euro Vermögenssteuer zu bezahlen. Die<br />

Masse der Vermögenssteuer würde dementsprechend<br />

von den Millionären und Milliardären des Landes aufgebracht.<br />

Bei einem Vermögen von einer Milliarde<br />

Euro wäre immerhin eine jährliche Vermögenssteuer<br />

von 10 Millionen Euro fällig. Davon gab es in<br />

Deutschland im vergangenen 89, die ein Gesamtvermögen<br />

von 255 Milliarden auswiesen. Rein rechnerisch<br />

müssten ihre Vermögenssteuern bei einem<br />

Steuersatz von einem Prozent mehr als 25 Milliarden<br />

Euro einbringen. Tatsächlich dürfte freilich weniger<br />

als die Hälfte anfallen, da Betriebsvermögen wesentlich<br />

geringer besteuert werden und größere Freibeträge<br />

erhalten. Anders sieht es bei den 755.000 von<br />

Merrill Lynch ermittelten Millionären aus, da bei<br />

ihrer Bewertung ausschließlich flüssiges Vermögen<br />

herangezogen wurde. Sie müssten pro Person mindestens<br />

10.000 Euro Vermögenssteuer bezahlen,<br />

brächten dann aber auch zusammen weit mehr als die<br />

Hälfte der gesamten Vermögenssteuer auf.<br />

Der Verzicht auf die Vermögenssteuer ist nicht einmal<br />

mit der Steuerkonkurrenz gegenüber den anderen Industrieländern<br />

zu rechtfertigen, denn nirgendwo<br />

werden große Vermögen so niedrig besteuert wie<br />

hierzulande. Nimmt man Vermögens- und Erbschaftssteuer<br />

zusammen, dann ist Deutschland eine wahre<br />

Steueroase. Schon im Diagramm 8 auf Seite 15 nimmt<br />

Deutschland bei den Erbschaftssteuern den letzten<br />

Platz unter den vergleichbaren Industrienationen<br />

ein. Die Erbschaftssteuern betragen nur 0,15 Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts, was nicht einmal die Hälfte<br />

des Anteils in den USA ausmacht. Noch drastischer<br />

fällt der Vergleich aus, wenn – wie im Diagramm 12 –<br />

sämtliche auf Eigentum zu entrichtenden Steuern zusammengerechnet<br />

werden. Nach dieser Rechnung ist<br />

der Anteil der Steuern auf Einkommen in den USA<br />

mehr als fünfmal so hoch wie in Deutschland. Selbst<br />

wenn die deutsche Vermögenssteuer wieder erhoben<br />

und die Erbschaftssteuer, wie etwa von ver.di vorgeschlagen,<br />

leicht erhöht würde, stünde Deutschland<br />

auf der untersten Stufe der Eigentumsbesteuerung.<br />

Der Anteil dieser Steuern am Bruttoinlandsprodukt<br />

läge dann bei etwa 1,7 Prozent.<br />

Diagramm 12:<br />

Steuern auf Einkommen in Prozent<br />

vom BIP 2001<br />

0,8 %<br />

D<br />

2,0 %<br />

I<br />

2,8 %<br />

Japan<br />

3,1 %<br />

F<br />

3,1 %<br />

USA<br />

4,3 %<br />

UK<br />

2%


Unerschlossene Quellen für Wachstum und Beschäftigung<br />

Nicht ganz zu Unrecht wird befürchtet, dass Steuererhöhungen den Konjunkturaufschwung bremsen<br />

können. das gilt jedoch nicht für Steuern, die weder die Ertragsfähigkeit der Unternehmen noch den<br />

Konsum schmälern würden. Der Verzicht auf die Senkung des Spitzensteuersatzes hätte die Kauflust<br />

der Spitzenverdiener ebenso wenig geschmälert, wie die Wiedererhebung der Vermögenssteuer oder<br />

die überfällige Anpassung der Erbschaftssteuer.<br />

Diese Maßnahmen hätten zu folgenden Mehreinnahmen geführt:<br />

· Beibehaltung des Spitzensteuersatzes 6,0 Mrd. Euro<br />

· Vermögenssteuer 15,9 Mrd. Euro<br />

· Erbschaftssteuer 2,0 Mrd. Euro<br />

Mehreinnahmen des Staates gesamt 23,9 Mrd. Euro<br />

Die Kehrseite der Reichtumspflege<br />

Obwohl es eine gängige Redensart ist, sein Geld arbeiten<br />

zu lassen, wird niemand ernsthaft bezweifeln,<br />

dass es keinen Lohn und auch keinen Gewinn ohne<br />

Arbeit gibt. Selbst die Goldsuche ist eine anstrengende<br />

Tätigkeit. Und auch Marx hat nie bestritten,<br />

dass selbst Unternehmer arbeiten. Die Meinungen<br />

gehen an der Stelle auseinander, wo über das Verhältnis<br />

von Leistung und Einkommen diskutiert wird.<br />

Für den Kapitalisten scheint es ziemlich klar, dass die<br />

Rendite der Lohn seiner unternehmerischen Anstrengungen<br />

ist, auch wenn erhebliche Zweifel an der<br />

bestehenden Bewertung „unternehmerischer Leistung“<br />

bestehen, wenn sich daraus Leistungslöhne<br />

von einigen tausend Euro pro Stunde ergeben. Ganz<br />

zu schweigen vom arbeitslosen Reichtum jener, die<br />

ihr Unternehmen nur vom Kontoauszug her kennen.<br />

Schon die oberflächliche Betrachtung der Reichtumsentwicklung<br />

in den vergangenen Jahren lässt freilich<br />

erahnen, dass sie nicht hauptsächlich kreativer<br />

Unternehmertätigkeit, sondern hoch produktiver Arbeit<br />

entspringt. Billige Arbeit und hohe Renditen<br />

hängen deshalb genauso zusammen wie der Diebstahl<br />

mit der Beute oder die Sünde mit dem Teufel.<br />

Das eine kann ohne das andere nicht existieren. In-<br />

sofern hat auch der eingangs zitierte neoliberale<br />

Freiherr von Hajek recht, wenn er<br />

meint, dass Ungleichheit nicht bedauerlich,<br />

sondern höchst erfreulich und von<br />

seinem Standpunkt aus auch unverzichtbar<br />

ist. Je ungleicher die gesellschaftlichen<br />

Güter verteilt sind und je weniger<br />

Menschen auf dem Markt nicht mehr als<br />

ihre Arbeitskraft anzubieten haben, desto<br />

größer die Chancen, mit billiger Arbeit<br />

billige Produkte und mit diesen hohe Gewinne<br />

herzustellen. Das meinen auch die<br />

Neoliberalen, wenn sie von den Chancen<br />

der Globalisierung oder der EU-Osterweiterung<br />

sprechen.<br />

Die Reichtumsexplosion der vergangenen<br />

Jahre wäre undenkbar ohne den verbesserten<br />

Zugriff auf die Arbeitsergebnisse<br />

armer und abhängiger Länder, aber sie<br />

wäre auch undenkbar ohne die Verbilligung der Arbeit<br />

im eigenen Land (Diagramm 13). Das wird einmal<br />

dadurch sichtbar, dass die Reallöhne seit 1991 deutlich<br />

gefallen sind, und zum anderen durch einen Vergleich<br />

mit den Gewinn- und Vermögenseinkommen,<br />

die im gleichen Zeitraum fast um die Hälfte gestiegen<br />

sind. Auch wenn ihr Höhenflug in der Krise einen<br />

deutlichen Dämpfer erfuhr. Die Entwicklung der<br />

Reallöhne, die der Kaufkraft der Nettolöhne entspricht,<br />

würde allein noch nicht sehr viel mehr<br />

sagen, als dass es den abhängig Beschäftigten im<br />

vergangenen Jahr nicht besser, aber auch nicht dramatisch<br />

schlechter ging als 1991. Das dürfte auch<br />

dem Empfinden der meisten entsprechen, die noch<br />

Arbeit haben und nicht zwischenzeitlich wegen Arbeitslosigkeit<br />

und verschärfter Zumutbarkeitskriterien<br />

in einen Niedriglohnsektor abgeschoben wurden.<br />

Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass die<br />

Höhe der Löhne noch gar nichts aussagt, wenn man<br />

sie nicht mit den Gewinnen vergleicht. Was den meisten<br />

jedoch verwehrt ist, weil solche Vergleiche noch<br />

seltener sind als die Berichterstattung über die Zahl<br />

der Millionäre. Wo die öffentliche Statistik Angaben<br />

dazu macht, wird erstens nicht von den Realöhnen<br />

Diagramm 13:<br />

Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

im Verhältnis zu Reallöhnen<br />

100 = 1991<br />

100<br />

1991<br />

117,3<br />

100<br />

1995<br />

134,0<br />

1998<br />

140,9<br />

1999<br />

Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

Reallohn<br />

146,2<br />

2000<br />

153,1<br />

95,9 96,8 97,1 98,2 97,6 97,2<br />

2001<br />

147,2<br />

2002<br />

147,5<br />

2003<br />

Quelle: Memorandum 2003/2004, eigene Berechnungen<br />

19


ausgegangen und zweitens dem Vergleich mit den<br />

Gewinn- und Vermögenseinkommen aus dem Wege<br />

gegangen, als hätte beides nichts miteinander zu<br />

tun. Das Gegenteil beweist das Diagramm 14, in dem<br />

die Produktivität pro Beschäftigtenstunde mit der<br />

Lohnentwicklung zwischen 1991 und 2003 verglichen<br />

wird. Die Abstände haben einen ähnlichen Verlauf<br />

wie im Diagramm 13, so dass eindeutig klar wird,<br />

weshalb die Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

stärker steigen als der Reallohn: Es liegt vor allem an<br />

der wachsenden Produktivität der deutschen Beschäftigten.<br />

Transfers aus anderen Märkten oder Gewinne<br />

auf den Finanzmärkten kommen hinzu, aber<br />

sie bilden offenbar nicht den Hauptfaktor der explosiven<br />

Entwicklung von Gewinn- und Vermögenseinkommen.<br />

Das zeigt auch ein Vergleich zwischen der<br />

Produktivitätsentwicklung, dem Verteilungsspielraum<br />

und der Ausschöpfung dieses Spielraums. Dabei<br />

wird angenommen, dass bei einer gleichbleibenden<br />

Verteilung zwischen Arbeit und Kapital die Löhne im<br />

gleichen Maße wachsen müssten wie Produktivität<br />

und Inflationsrate. Es wird in dem Fall auch von einer<br />

neutralen Verteilung gesprochen.<br />

In der Tabelle 8 wird in der ersten Spalte für jedes<br />

Jahr der mögliche, durch Produktivitäts- und Preissteigerung<br />

gebildete Verteilungsspielraum beziffert,<br />

und in der zweiten Spalte steht die tatsächliche<br />

durchschnittliche Erhöhung der Brutto-Löhne pro Beschäftigtenstunde.<br />

Danach wurde der Verteilungsspielraum<br />

seit 1992 nur in einem Jahr ausgeschöpft,<br />

und in zwei Jahren stiegen die Löhne leicht über diesen<br />

Spielraum hinaus. Aus der letzten Zeile ergibt<br />

sich, dass die abhängig Beschäftigten in den zehn<br />

Jahren zwischen 1992 und 2002 bei den Verteilungskämpfen<br />

insgesamt 3,5 Prozent weniger herausholen<br />

konnten, als bei einem gleichbleibenden Verteilungsverhältnis<br />

zwischen Arbeit und Kapital möglich gewesen<br />

wäre. Das mag wenig erscheinen, ist aber in der<br />

Verteilungsrechnung ein gewaltiger Betrag. Zum Beispiel<br />

entspricht allein der Verteilungsverlust von 0,6<br />

Prozent im Jahr 2002 einer Umverteilung zu Gunsten<br />

20<br />

Diagramm 14:<br />

Produktivität und Löhne im Vergleich, 1991–2003<br />

120<br />

115<br />

110<br />

105<br />

100<br />

= 1991<br />

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003<br />

Produktivität Brutto-Löhne Netto-Löhne<br />

der Gewinn- und Vermögenseinkommen in Höhe von<br />

6,7 Milliarden Euro, die sich nicht nur als Milliarden-<br />

Verlust in der Binnennachfrage bemerkbar machen,<br />

sondern auch ein etwa 1,3 Milliarden großes Loch in<br />

den Sozialkassen hinterlassen.<br />

Selbstverständlich stellt sich an dieser Stelle die<br />

Frage, weshalb die Unternehmen trotz dieser Milliardengewinne<br />

im Verteilungskampf über zu hohe<br />

Löhne klagen und auch keine nennenswerte Konjunkturbelebung<br />

Platz greift.<br />

Doch auf die zwei einfachen Fragen gibt es zwei eben<br />

so schlichte Antworten: Erstens gab es wohl noch nie<br />

eine Zeit, in der die Unternehmer nicht über zu hohe<br />

Löhne klagten, und wenn die Klage heute besonders<br />

laut geführt wird, dann hauptsächlich deshalb, weil<br />

ein großer Teil der deutschen Wirtschaft vom Export<br />

abhängt und die Position auf den Märkten der Welt<br />

nur gehalten werden kann, wenn Deutschland die<br />

Arbeitskosten der Konkurrenten unterbietet. Dass<br />

Deutschland dazu offenbar sehr gut in der Lage ist,<br />

zeigt seine Position als Exportweltmeister und be-<br />

Tabelle 8:<br />

Verteilungsspielraum und tatsächliche<br />

Verteilung seit 1992*<br />

Jahr Verteilungsspielraum Tatsächliche Verteilung<br />

1992<br />

1993<br />

1994<br />

1995<br />

1996<br />

1997<br />

1998<br />

1999<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

92–02<br />

7,9<br />

6,1<br />

5,4<br />

4,3<br />

3,8<br />

3,9<br />

2,3<br />

2,1<br />

3,7<br />

3,4<br />

2,7<br />

4,2<br />

Quelle: DGB, 28.11.03<br />

9,1<br />

6,1<br />

2,1<br />

4,5<br />

3,0<br />

1,0<br />

1,4<br />

2,3<br />

2,8<br />

2,7<br />

2,1<br />

0,7<br />

* Die Berechnung bezieht sich auf den Bruttoverdienst pro<br />

Arbeitsstunde<br />

Quelle: DGB-Verteilungsbericht 2003


sonders eindeutig die Tabelle 9. In ihr wird die<br />

prozentuale Entwicklung der Lohnstückkosten in<br />

Deutschland, bei den wichtigsten deutschen Konkurrenten<br />

und in der EU zwischen 1996 und 2002<br />

ausgewiesen. Die Lohnstückkosten sind der durchschnittliche<br />

Lohnkostenanteil am produzierten<br />

Produkt und wesent-<br />

Tabelle 9:<br />

Steigerung der nominalen<br />

Lohnstückkosten<br />

zwischen 1996 und<br />

2002 im internationalen<br />

Vergleich<br />

Japan<br />

Deutschland<br />

Frankreich<br />

Belgien<br />

EU<br />

Italien<br />

Niederlande<br />

USA<br />

Großbritannien<br />

Quelle: DGB-Verteilungsbericht 2003<br />

-1,2<br />

0,2<br />

0,6<br />

0,7<br />

1,4<br />

1,7<br />

1,9<br />

2,1<br />

3,0<br />

lich aussagefähiger<br />

als der gängige Vergleich<br />

von nationalen<br />

Löhnen. Sieht man<br />

einmal von der Entwicklung<br />

Japans ab,<br />

das seit Mitte der 90er<br />

Jahre unter einer tiefen<br />

Depression leidet,<br />

haben sich die deutschen<br />

Arbeitskosten<br />

sehr viel langsamer<br />

entwickelt als die<br />

seiner Konkurrenten.<br />

Deutschland ist kein<br />

Niedriglohnland, aber<br />

seine Produktivität<br />

macht es zum Land<br />

der niedrigen Arbeitskosten. Deutschlands Spitzenposition<br />

als Exportweltmeister hat natürlich auch<br />

eine Kehrseite, und die besteht wie bei allen Weltmeistern<br />

darin, dass die Deutsche Wirtschaft außerordentliche<br />

Anstrengungen unternehmen muss, um<br />

diese Position zu halten. In der Konsequenz heißt<br />

das allerdings, dass insbesondere die deutschen Beschäftigten<br />

immer mehr Anstrengungen und Verzicht<br />

auf sich nehmen müssen, um den Export zu sichern.<br />

Die Folge ist nicht nur ein ständig steigender Arbeitsdruck<br />

bei unvergleichlich geringer steigenden<br />

Löhnen, sondern auch ein rapider Stellenabbau.<br />

Nimmt man all die Bedingungen zusammen, die<br />

Deutschland offensichtlich erfolgreich erfüllt, um<br />

seine Spitzenstellung auf den Märkten der Welt behaupten<br />

zu können, dann kommt man sehr schnell<br />

zur zweiten Frage, weshalb nämlich trotzdem Wachstum<br />

und Beschäftigung ausbleiben. Das liegt<br />

hauptsächlich daran, dass auch im Land des Exportweltmeisters<br />

rund drei Viertel der produzierten Produkte<br />

und Dienstleistungen immer noch auf dem<br />

eigenen Markt abgesetzt werden müssen. Wachstum<br />

und Beschäftigung hängen also in erster Linie von<br />

der inländischen Nachfrage ab. Doch je größer der<br />

Druck auf die Senkung der Masseneinkommen und<br />

die Verringerung der Steuereinnahmen, desto weniger<br />

Kaufkraft gibt es im eigenen Land. Was letztlich<br />

zur Folge hat, dass es dem Konjunkturmotor im<br />

größeren Teil der Wirtschaft an Treibstoff fehlt. Wer<br />

zwischen den Zeilen der Medienberichterstattung zu<br />

lesen vermag, der weiß: Alle freuen sich über den Exportmotor<br />

und fügen leise hinzu, dass leider die Binnenkonjunktur<br />

nicht anspringt. Wie auch, wenn die<br />

inländische Massenkaufkraft sinkt, weil die Beschäftigten<br />

und der Staat zu ständig neuen Opfern aufgerufen<br />

werden. Und vor diesem Hintergrund erweisen<br />

sich auch die Hartz-Gesetze, die Gesundheitsreform<br />

und die gesamte Agenda 2010 als wahre Giftspritze<br />

der Binnenkonjunktur. Zum Wohle des Exports und<br />

um das renditesüchtige Kapital im Lande zu halten,<br />

wird das Lebenselixier des Binnenmarktes, nämlich<br />

öffentliche und private Nachfrage, ausgetrocknet.<br />

Das ist zwar widersinnig, aber die Widersinnigkeit<br />

bleibt dem öffentlichen Bewusstsein so lange verborgen,<br />

wie die meisten Meinungsbildner an den führenden<br />

Wirtschaftsforschungsinstituten über die<br />

Politiker bis zu den Berichterstattern an der Frankfurter<br />

Börse am Aberglauben des Neoliberalismus<br />

festhalten und den Abbau von Löhnen und Sozialleistungen<br />

als Königsweg der Konjunkturbelebung ausgeben.<br />

Diagramm 15:<br />

Netto-Lohnquote und Gewinn- und<br />

Vermögenseinkommen in Prozent des<br />

verfügbaren Einkommens aller Haushalte<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

49,4<br />

1991<br />

27,7<br />

49,0<br />

1993<br />

26,2<br />

46,5<br />

1995<br />

28,6<br />

43,4<br />

1997<br />

1999<br />

Netto-Lohnquote<br />

Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

2001<br />

2003<br />

Quelle: WSI-Mitteilungen 11/2003 Die Angaben für 2003 beziehen sich auf das 1. Halbjahr<br />

Politische Alternativen<br />

Die Verteilungskämpfe zwischen Unternehmerverbänden<br />

und Gewerkschaften sind durch das Grundgesetz<br />

geschützt, was aber gleichzeitig heißt, dass sie<br />

eine Angelegenheit der Tarifparteien sind und die<br />

Politik lediglich den gesetzlichen Rahmen für die<br />

Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften setzten<br />

muss. Genau diesen Rahmen aber hat die rot-grüne<br />

Bundespolitik durch ihre Deregulierungspolitik eingeschränkt.<br />

Um die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften<br />

wieder herzustellen, setzt sich die PDS für<br />

folgende Alternativen ein:<br />

• Verbesserung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung<br />

von Tarifverträgen<br />

• Beseitigung des Antistreikparagraphen aus dem<br />

SGB III<br />

• Verbandsklagerecht der Gewerkschaften bei der<br />

Verletzung von Tarifverträgen<br />

• Einschränkung der Befristung von Arbeitszeitverträgen<br />

• Wiederherstellung des Kündigungsschutzes<br />

• Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes<br />

30,1<br />

43,2<br />

30,5<br />

26,1<br />

30,5<br />

23,8<br />

32,8<br />

21


Lohndumping als Reformpolitik<br />

Der von der Kohl-Regierung begonnene und von Rot-<br />

Grün forcierte Sozialabbau wird von den einen als<br />

überfällige Reform und von anderen als Abbau des<br />

Sozialstaates gewertet. Dass es dabei nicht nur um<br />

staatliche Sozialpolitik geht, wird meistens übersehen.<br />

Der sehr viel tiefer greifende Prozess betrifft den<br />

Rückzug aus der staatlichen Regulierung der Verteilungsverhältnisse<br />

zwischen Arbeit und Kapital. Was<br />

zum Beispiel von der Bundesregierung als „Reformen<br />

am Arbeitsmarkt“ ausgegeben wird, betrifft nämlich<br />

nicht nur die Arbeitslosen, es trifft sämtliche Beschäftigten,<br />

weil es die Basisbeziehungen und Rahmenbedingungen<br />

der Arbeitswelt verändert und die<br />

sozialstaatlichen Leitplanken der Einkommensverteilung<br />

beseitigt. Die als Reformpolitik verkauften Deregulierungs-<br />

und Flexibilisierungsmaßnahmen sind<br />

das gegenwärtig wirksamste Instrument zur Senkung<br />

der Lohnkosten. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher<br />

Maßnahmen findet seit Jahren ein flächendeckendes<br />

Lohndumping statt. Denn ob es um die<br />

Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Ausweitung<br />

von Leiharbeit und Befristung oder das umfassende<br />

Streichen von Gesundheitsleistungen und Rentenansprüchen<br />

geht, der übereinstimmende Effekt ist eine<br />

gesamtgesellschaftliche Senkung der Arbeitseinkommen.<br />

Der schleichende Verlust bei den Tarifrunden<br />

wird durch die gezielte Demontage des so genannten<br />

Normalarbeitsverhältnisses unterstützt und selten als<br />

Abbau des Sozialstaates, sondern als unbeeinflussbares<br />

Marktgeschehen gewertet. Tatsächlich entscheiden<br />

aber nicht nur die Lohnrunden und das<br />

Marktgeschehen über die Verteilung zwischen Arbeit<br />

und Kapital, denn auf die gesamtgesellschaftliche<br />

Lohnquote wirken sich auch Strategien aus, wie etwa<br />

die Steuer- und Abgabenpolitik, nachhaltig aus. Welche<br />

gewaltigen Effekte sich durch die staatliche Umverteilungspolitik<br />

in den privaten Haushalten<br />

niederschlagen, zeigt das Diagramm 16, in dem die<br />

Abgabenbelastung der privaten Arbeits- und Kapitaleinkommen<br />

in Deutschland über einen Zeitraum von<br />

22<br />

Diagramm 16:<br />

Direkte Abgaben auf Arbeits- und Kapitaleinkommen in Prozent<br />

20%<br />

10 %<br />

6,3<br />

8,4<br />

20,0<br />

3,0<br />

1960<br />

11,8<br />

10,7<br />

Lohnsteuerbelastung<br />

Sozialbeiträge auf Löhne<br />

16,1<br />

2,9<br />

1970<br />

15,8<br />

12,8 15,3<br />

3,9<br />

1980<br />

mehr als 40 Jahren dargestellt wird. Der Weg in den<br />

Lohnsteuerstaat weist eine Kontinuität auf, die sich<br />

fast unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung<br />

der Bundesregierung über mehrere Regierungswechsel<br />

fortsetzt. Wobei allerdings der Paradigmenwechsel<br />

zur forcierten staatlichen Reichtumspflege eindeutig<br />

unter der Kohl-Regierung stattgefunden hat. Mit dem<br />

Beginn der neoliberalen Politik im Übergang zu den<br />

80er Jahren beginnt ein radikaler Absturz der steuerlichen<br />

Belastung von Kapitaleinkommen. Insgesamt<br />

hat sich das Verhältnis zwischen Lohnsteuerbelastung<br />

und steuerlicher Belastung von Kapitaleinkommen<br />

seit 1960 in sein Gegenteil verkehrt.<br />

Während die Lohnsteuerbelastung heute dreimal so<br />

hoch ist wie vor 40 Jahren, beträgt die Steuerlast der<br />

privaten Kapitaleinkommen nur noch ein Drittel des<br />

damaligen Anteils. Man könnte auf Grund des Diagramms<br />

den Eindruck gewinnen, dass die rot-grüne<br />

Bundesregierung zumindest eine leichte Korrektur vorgenommen<br />

hat, doch eine differenzierte Grafik, die<br />

sämtliche Jahre nach 1998 einschließt, zeichnet wie<br />

vorab gezeigt ein anderes Bild. Seit zwei Jahren sinken<br />

die direkten Steuern auf Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

wesentlich stärker, als die Lohnsteuerbelastung<br />

durch die Korrektur der Lohnsteuertabelle<br />

abnimmt.<br />

Da die abhängig Beschäftigten die wachsende Differenz<br />

zwischen Brutto- und Nettoeinkommen selbst<br />

leidvoll nachvollziehen können, haben sich Politik<br />

und Arbeitgeber bereits seit Jahren darauf konzentriert,<br />

den Angriff auf die Löhne als Abbau der so genannten<br />

Lohnnebenkosten auszugeben. Wobei die<br />

Steigerung der Sozialabgaben der abhängig Beschäftigten<br />

maßlos übertrieben wird. Denn wie das Diagramm<br />

16 zeigt, hat sich ihre Lohnsteuerbelastung<br />

seit 1960 verdreifacht, während sich die Belastung<br />

der Einkommen durch Sozialbeiträge nur knapp verdoppelte.<br />

32,4<br />

28,4<br />

19,6<br />

6,0<br />

1990<br />

Direkte Steuern auf Gewinn- und Vermögen<br />

Sozialbeiträge auf Gewinn- und Vermögenseinkommen Quelle: WSI-Mitteilungen 11 /2003<br />

18,6<br />

15,6<br />

4,5<br />

3,2<br />

1995<br />

18,7<br />

16,1<br />

7,0<br />

3,6<br />

2002


Die Senkung der Lohnnebenkosten ist für den Arbeitgeber<br />

eine klare Lohnsenkung, weil es für ihn gleichgültig<br />

ist, ob seine Lohnkosten auf das Konto des<br />

Beschäftigten oder in die Sozialkassen fließen. Wenn<br />

die Bundesregierung die Lohnnebenkosten senkt,<br />

indem sie etwa die Riester-Rente einführt, den<br />

Beitragssatz nach oben begrenzt oder durch die<br />

Gesundheitsreform des<br />

Kassenbeitrag nach unten<br />

drücken will, dann ist das<br />

ein offenes, wenn auch<br />

nicht für alle erkennbares<br />

Lohndumping. Scheinbar<br />

werden die Sozialbeiträge<br />

gleichermaßen für Arbeitgeber<br />

und abhängig Beschäftigte<br />

gesenkt oder<br />

gedeckelt, aber nur die<br />

Arbeitgeber kommen in<br />

den Genuss eines wirklichen<br />

Spareffekts, während<br />

die Versicherten<br />

jeden bei den Sozialbeiträgen<br />

gesparten Euro<br />

doppelt mit ihrem Nettoeinkommen<br />

ausgleichen<br />

müssen. Wenn die Bundesregierung<br />

den Arbeitgebern<br />

nur einen Prozentpunkt<br />

bei den Lohnnebenkosten<br />

erspart, hat<br />

das den gleichen Effekt,<br />

als wenn in den Tarifrunden<br />

durchgängig ein Prozent<br />

weniger Lohnerhöhung<br />

durchgesetzt werden<br />

kann. Und wenn man<br />

bedenkt, dass die Senkung<br />

der Lohnnebenkosten<br />

sämtliche Beschäftigten<br />

betrifft, während<br />

die Tariferhöhung durch<br />

die ohnehin abnehmende<br />

Tarifbindung begrenzt<br />

wird, dann sind die politischen<br />

Maßnahmen der<br />

Bundesregierung für die<br />

Arbeitgeber fast noch<br />

wichtiger als ein Sieg bei<br />

den Tarifverhandlungen.<br />

Zumal solche Einschnitte<br />

wie die Teilprivatisierung<br />

der Rente oder die<br />

Senkung des Krankenkassenbeitrages<br />

auf Dauer<br />

Der starke Euro und die Lohnnebenkosten<br />

gestellt sind und sich dem Verteilungskampf zwischen<br />

Gewerkschaften und Arbeitgebern entziehen.<br />

Die Vielfalt der Maßnahmen, mit denen die Umverteilung<br />

von unten nach oben betrieben wird, macht<br />

die Angelegenheit außerordentlich unübersichtlich.<br />

Die gesamtgesellschaftliche Lohnquote, die Tariferhöhungen<br />

und die Lohnstückkosten sind noch statis-<br />

Bundesregierung und Arbeitgeber vermitteln ständig<br />

den Eindruck, als würde die globale Wettbewerbsfähigkeit<br />

der deutschen Industrie in sich zusammenbrechen,<br />

wenn nicht die Steigerung der Lohnnebenkosten<br />

gebremst würde. Der Genauigkeit halber muss<br />

man sagen, dass es dabei um Größenordnungen von<br />

maximal drei bis vier Prozent vom Bruttolohn geht,<br />

die auf die Arbeitgeber in einigen Jahren zugekommen<br />

wären – ohne Hartz-Gesetze sowie Gesundheitsund<br />

Rentenreform.<br />

Auf dem Binnenmarkt sind solche Erhöhungen ohne<br />

Bedeutung, weil die Konkurrenten die gleichen Lohnnebenkosten<br />

zu tragen haben. Eine Bedeutung<br />

kommt diesen Kosten allenfalls in der Konkurrenz innerhalb<br />

der EU zu. Aber auch hier sind die so<br />

genannten Lohnnebenkosten von untergeordneter Bedeutung.<br />

Bei einem Lohnkostenanteil am Endprodukt<br />

von rund 20 Prozent würde sich zum Beispiel die Erhöhung<br />

des Arbeitgeberbeitrages zur Rentenversicherung<br />

um zwei Prozent in einer Verteuerung der<br />

Verkaufspreise um 0,4 Prozent niederschlagen. Das<br />

liegt weit unterhalb der Inflationsrate und damit<br />

unter allen Kostensteigerungen, die die Unternehmen<br />

sonst zu verkraften haben. Völlig absurd wird die<br />

Lohnnebenkostendiskussion, wenn es um die Konkurrenzfähigkeit<br />

der deutschen Wirtschaft auf dem globalen<br />

Markt geht. Hier sind Wechselkursparitäten um<br />

ein Vielfaches entscheidender als die bescheidenen<br />

Steigerungsraten der deutschen Löhne. Der Höhenflug<br />

des Euro macht eine mögliche Steigerung der Lohnnebenkosten<br />

zu einer lächerlichen Angelegenheit. Nehmen<br />

wir an, die Bundesregierung hätte auf die<br />

Gesundheits- und Rentenreform verzichtet, dann<br />

wären die Exportpreise beim Eintreten des schlimmsten<br />

Szenarios in einigen Jahren um 0,4 oder vielleicht<br />

sogar 0,5 Prozent gestiegen. Die Kurssteigerung<br />

des Euro seit seinem Tiefpunkt Mitte 2001 hat die<br />

deutschen Exportpreise gegenüber dem Dollar jedoch<br />

um 47 Prozent erhöht. Das Hundertfache von dem,<br />

was die prognostizierte Erhöhung der Krankenversicherungs-<br />

und Rentenbeiträge ausgemacht hätte.<br />

tisch nachweisbar, doch die Einkommensverluste<br />

durch die Deregulierung des Beschäftigungssystems<br />

werden so gut wie gar nicht erfasst. Zumindest weiß<br />

man, dass bereits vor den Hartz-Gesetzen 35 Prozent<br />

aller Beschäftigten in Teilzeit, in geringfügiger Beschäftigung,<br />

in Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit<br />

oder befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt<br />

waren. Doch das Arsenal<br />

staatlich unterstützten<br />

Lohndumpings ist von der<br />

rot-grünen Bundesregierung<br />

durch die Hartz-Gesetze<br />

noch außerordentlich<br />

erweitert worden.<br />

Wie Tabelle 10 beispielhaft<br />

an verschiedenen<br />

Maßnahmen zeigt, handelt<br />

es sich bei allen<br />

als Reform ausgegebenen<br />

Veränderungen des<br />

Beschäftigungssystems<br />

grundsätzlich um Instrumente<br />

des Lohndumpings.<br />

Nur einige dieser Instrumente<br />

sind durch die<br />

Hartz-Gesetze neu eingeführt<br />

worden, die meisten<br />

sind das Ergebnis eines<br />

Prozesses, den die Kohl-<br />

Regierung begonnen und<br />

die rot-grüne Bundesregierung<br />

lediglich fortgesetzt<br />

oder ausgeweitet<br />

hat. Trotzdem kann man<br />

von einer neuen Qualität<br />

des Lohndumpings sprechen.<br />

Nicht nur wegen der<br />

Härte der Maßnahmen,<br />

sondern vor allem durch<br />

die Ausweitung auf einen<br />

gewaltigen Personenkreis.<br />

So wurden Niedriglohnsektoren<br />

in der ersten<br />

Amtszeit der rot-grünen<br />

Regierung vor allem als<br />

Modellversuche diskutiert.<br />

Doch ohne die Modellversuche<br />

abzuwarten<br />

oder ihre bereits erwiesene<br />

Wirkungslosigkeit für<br />

die Schaffung neuer Arbeitsplätze<br />

zur Kenntnis<br />

zu nehmen, wurden sie<br />

durch die Hartz-Gesetze<br />

flächendeckend eingeführt. Dabei sind Niedriglöhne,<br />

auch tariflich abgesicherte, in Deutschland längst<br />

schon auf dem Vormarsch. Dass sie keine neuen Arbeitsplätze<br />

schaffen, muss nicht neu bewiesen werden.<br />

Wenn niedrige Löhne Arbeit schaffen würden,<br />

müsste Ostdeutschland unter Arbeitskräftemangel<br />

und nicht unter Arbeitslosenquoten von mehr als 20<br />

Prozent leiden.<br />

23


Tabelle 10:<br />

Die staatlichen Instrumente des Lohndumpings<br />

Maßnahme<br />

Ausweitung der<br />

Teilzeitarbeit<br />

Wie das Diagramm 17 zeigt, sind Niedriglöhne keine<br />

Ausnahme. Die Darstellung zeigt das Ausmaß von<br />

Löhnen, die unterhalb des Durchschnittslohns beziehungsweise<br />

sogar unter der Armutsschwelle liegen,<br />

die von der EU bei 50 Prozent des durchschnittlichen<br />

nationalen Lohns angesetzt wurde. Wobei hinzuzufügen<br />

ist, dass 1977 ein zur Interpretation der Europäischen<br />

Sozialcharta eingesetzter Sachverständigenrat<br />

die untere, zumutbare Lohngrenze bei 68 Prozent des<br />

nationalen Durchschnittslohns festsetzte. Inzwischen<br />

ist der Schwellenwert allerdings unter dem Einfluss<br />

der neoliberalen Beschäftigungsstrategien auf 60<br />

Prozent abgesenkt worden.<br />

In Deutschland würden mindestens 2,5 Millionen<br />

Vollzeitbeschäftigte von einem solchen Mindestlohn<br />

profitieren. Als Armutslöhne, also unter der 50-Prozent-Marke,<br />

müssten in Deutschland Stundenlöhne<br />

von weniger als 7,07 Euro und Brutto-Monatseinkommen<br />

von Vollzeitbeschäftigten unter 1.168 Euro eingestuft<br />

werden. Tatsächlich gibt es aber sogar über<br />

130 Tarifverträge mit Stundenlöhnen von unter 6,00<br />

Euro. Würde man in Deutschland einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn auf der Grundlage der aktuellen EU-Empfehlung<br />

einführen, dann müsste dieser nach den Zahlen<br />

von 2001 eine Höhe von stündlich 8,49 und<br />

monatlich 1.401 Euro haben. Dass sich die ansonsten<br />

europafreundliche Bundesregierung dieser EU-Maßgabe<br />

bisher nicht nur verweigert, sondern sogar die<br />

gesetzliche Ausweitung von Armutslöhnen beschlossen<br />

hat, spricht für sich.<br />

24<br />

Erleichterung der<br />

Befristung von Arbeitsverträgen<br />

Verschärfung der Zumutbarkeit<br />

nachgewiesener<br />

Arbeit<br />

Scheinselbstständigkeit,<br />

Ich-AG etc.<br />

Lohnkostensenkende Effekte<br />

Höhere Disponibilität des Arbeitsvolumens,<br />

Ausweitung der Betriebszeiten<br />

Erhöhter Druck auf die individuelle<br />

Arbeitsleistung, Vermeidung v. Leistungsverlusten<br />

durch Krankheit oder Alter,<br />

Abbau von Normalarbeitsplätzen<br />

Ausweitung des Niedriglohnsektors,<br />

Beschäftigung unterhalb der ortsüblichen<br />

Bezahlung<br />

Auslagerung tariflich gebundener Arbeit,<br />

Abbau von Normalarbeitsplätzen<br />

Diagramm 17:<br />

Anteil der Entgeltklassen unter den<br />

Vollzeitbeschäftigten<br />

Angaben für 1997 in %<br />

40<br />

20<br />

12,1<br />

0–50%<br />

23,8<br />

50–75%<br />

Quelle: DGB-Bundesvorstand, Informationen zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 1/2004<br />

47,5<br />

75–125%<br />

16,5<br />

über 125%<br />

Abschaffung der Arbeitslosenhilfe<br />

durch Hartz IV<br />

Ausweitung der Leiharbeit<br />

durch PSA<br />

Begrenzung des<br />

Kündigungsschutzes<br />

Überstunden<br />

Arbeitszeitverlängerung<br />

Flexibilisierung<br />

Direkter Zwang zur Aufnahme gering bezahlter<br />

und ungeschützter Beschäftigung<br />

Senkung von Tariflöhnen, Abbau von Normalarbeitsplätzen,<br />

Vermeidung von Leistungsverlusten<br />

durch Krankheit oder Alter<br />

Verjüngung der Belegschaft bei Kündigungen<br />

und Erhöhung der Produktivität<br />

Vermeidung von Neueinstellungen, Senkung<br />

der allgemeinen betrieblichen Lohnnebenkosten<br />

Direkte Lohnkostensenkung<br />

Erhöhung der Produktivität der Arbeit ohne<br />

technische Innovation<br />

Neun der 15 alten EU-Länder haben bereits gesetzliche<br />

Mindestlöhne eingeführt, in Großbritannien werden<br />

sie ab 01. Oktober 2004 gezahlt. In Frankreich,<br />

wo der gesetzliche Mindestlohn auf 7,19 Euro in der<br />

Stunde und bei einer 39-Stunden-Woche monatlich<br />

1.127 Euro beträgt, beziehen 13,9 Prozent aller Beschäftigten<br />

den gesetzlichen Mindestlohn. In Luxemburg,<br />

wo die untere Grenze bei 7,91 beziehungsweise<br />

1.369 Euro liegt, sind sogar 15,5 Prozent aller Beschäftigten<br />

durch den Mindestlohn geschützt.<br />

Eine Studie des WSI von 2000 zeigt, dass in Deutschland<br />

sowohl der Anteil der Armutslöhne zunimmt als<br />

auch der der gutverdienenden Beschäftigten. Zum<br />

Zeitpunkt der Untersuchung hatten 16,5 Prozent<br />

aller Beschäftigten ein Arbeitseinkommen von mehr<br />

als 130 Prozent des Durchschnitts, während es 1980<br />

noch 15,4 Prozent waren. Nicht überraschen kann<br />

bei dieser Polarisierung, dass die Mitte ausgedünnt<br />

wird und sich das Band der Solidarität innerhalb der<br />

abhängig Beschäftigten lockert. Obwohl Beschäftigte<br />

mit mehr als 130 Prozent des Durchschnittseinkommens<br />

nicht als wohlhabend und erst recht nicht<br />

als reich bezeichnet werden können, kommt ihnen in<br />

der Politik der Bundesregierung immer noch eine gesteigerte<br />

Aufmerksamkeit zu, weil sie überwiegend<br />

zum Kernpotenzial der sozialdemokratischen Wählerschaft<br />

gehören. Obwohl sich auch ihre soziale Situation<br />

verschlechtert hat, sind sie die eigentlichen<br />

Adressaten jener rot-grünen Reformrhetorik, die das<br />

untere Drittel der Gesellschaft als leistungsschwach<br />

denunziert. Mit der Parole vom „fördern und fordern“<br />

wird der falsche Eindruck erweckt, als sei zum<br />

Beispiel die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe oder<br />

die Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingen eine<br />

Art Liftkurs zur Weckung von Motivation und Eigeninitiative,<br />

damit die Betroffenen über eine geringfügige<br />

Beschäftigung ins Arbeitsleben zurückfinden.<br />

Doch die Ergebnisse der Sozialstatistik des Niedriglohnbereichs<br />

zeigen erstens, dass seine Aufnahmefähigkeit<br />

begrenzt ist und in den gemeinten<br />

Bereichen wie auch in der Gesamtwirtschaft mehr Arbeitsplätze<br />

abgebaut als neu geschaffen werden.<br />

Zweitens zeigt die Statistik, dass für die Aufnahme<br />

einer gering bezahlten Beschäftigung andere Merkmale<br />

verantwortlich sind als schwache Leistungsfähigkeit<br />

oder Qualifikation. Verantwortlich ist vor


allem die regionale Wirtschaftsstruktur, wie etwa die<br />

Dominanz von kleinen Betrieben oder traditionell<br />

schlecht bezahlten Berufen. Unübersehbare Merkmale<br />

für die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung<br />

sind auch Geschlecht und Alter der<br />

Erwerbstätigen. Die Diskriminierung durch den Arbeitsmarkt<br />

ist bei Frauen und Menschen über 40<br />

deutlich ausgeprägt.<br />

Die Bezieher von Armutslöhnen unterhalb der 50-<br />

Prozent-Marke sind zu über 80 Prozent in kleinen Betrieben<br />

mit weniger als 100 Beschäftigten tätig, zu<br />

über 70 Prozent weiblich und arbeiten zu 63 Prozent<br />

im Dienstleistungsbereich. Ein weit verbreitetes Vorurteil<br />

widerlegend, kam die WSI-Studie zum Ergebnis,<br />

dass über 60 Prozent von ihnen eine abgeschlossene<br />

Berufsausbildung haben und nur etwa<br />

ein Drittel einfache Tätigkeiten ausübt. Womit eindeutig<br />

die Behauptung widerlegt wird, dass Armutslöhne<br />

in der Regel für nicht qualifizierte<br />

Arbeitskräfte bezahlt werden. Da aber fast zwei Drittel<br />

der Bezieher von Armutslöhnen über 30 Jahre alt<br />

sind, liegt auch die Vermutung nahe, dass es sich hier<br />

um Beschäftigte handelt, die in Branchen mit traditionell<br />

schlechter Bezahlung arbeiten oder aber<br />

keine Chancen zur Umschulung oder Weiterbildung<br />

hatten. Und auch hier zeigt sich ein Versäumnis rotgrüner<br />

Politik: Sie hat durch die Hartz-Gesetze einerseits<br />

Umschulung und Weiterbildung eingeschränkt<br />

Hartz IV – ein Verarmungsprogramm<br />

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe<br />

stand schon zu Beginn der rot-grünen Amtszeit<br />

im Jahr 1998 auf der Wunschliste. Ursprünglich als<br />

Maßnahme gedacht, mit der die erwerbsfähigen Hilfeempfänger<br />

zwecks besserer Vermittlungsmöglichkeiten<br />

unter die Fittiche der Arbeitsämter kommen<br />

sollten. Da gleichzeitig die Kommunen von der Sozialhilfe<br />

entlastet werden sollten, fand das Projekt nicht<br />

nur Ablehnung. Zumal SPD und Grüne noch im Wahlkampf<br />

2002 schriftlich und mündlich versicherten,<br />

dass eine Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau<br />

mit ihnen nicht zu machen sei. Sie haben<br />

es trotzdem getan und sind dabei auf die gleiche<br />

Weise verfahren wie bei allen anderen so genannten<br />

Reformvorhaben. Erst kommt ein programmatischer<br />

Vorschlag mit vielen guten Begründungen und noch<br />

mehr Versprechungen, und im Laufe der Zeit, wenn<br />

sich alle mit der laut propagierten Reformnotwendigkeit<br />

abgefunden haben, schrumpft sie auf eine durchgreifende<br />

Verschlechterung zusammen.<br />

Abgesehen von einem befristeten Zuschlag für die<br />

jetzigen Bezieher wird sich die Arbeitslosenhilfe in<br />

Sozialhilfe und diese in Sozialgeld verwandeln. Der<br />

Begriff Arbeitslosengeld II ist reine Sprachkosmetik<br />

– es handelt sich viel mehr um Sozialhilfe II. Schon<br />

vor der für Januar 2005 geplanten Einführung von<br />

Arbeitslosengeld II und Sozialgeld ist die auslaufen-<br />

und andererseits gleichzeitig den Zwang zur Annahme<br />

von Beschäftigung mit Armutslöhnen erhöht.<br />

Ermuntert durch das auf breiter Linie von der Bundespolitik<br />

vorangetriebene Lohndumping, haben die<br />

Unternehmer unlängst begonnen, ihrerseits zur offenen<br />

Lohnsenkung überzugehen. In der diesjährigen<br />

Metalltarifrunde wurde von Seiten der<br />

Arbeitgeber erstmals der Versuch unternommen, die<br />

tarifliche Arbeitszeit auf 40 Stunden auszudehnen,<br />

ohne die Mehrarbeit zu bezahlen. Seitdem vergeht<br />

keine Woche, in der nicht einer der Spitzenvertreter<br />

deutscher Unternehmerverbände öffentlich zur Verlängerung<br />

der deutschen Arbeitszeiten bei gleichbleibenden<br />

Einkommen aufruft. Auch das ist ein<br />

Novum in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.<br />

Nach dem jahrzehntelang der Streit um<br />

Arbeitszeitverkürzung mit oder ohne vollen Lohnausgleich<br />

geführt wurde, müssen die Gewerkschaften<br />

nun gegen Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich<br />

kämpfen. Maßgebliche Teile der rot-grünen<br />

Koalition, wie etwa Wirtschafts- und Arbeitsminister<br />

Clement und natürlich die Union, sekundieren den<br />

Arbeitgebern, in dem sie in die Klage über zu kurze<br />

Arbeitszeiten einstimmen. Auch Länder und Kommunen<br />

haben längst schon Witterung aufgenommen<br />

und gehen ihrerseits daran, die notleidenden Haushalte<br />

durch Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich<br />

zu entlasten.<br />

de Arbeitslosenhilfe durch schärfere Anrechnung<br />

von Partnereinkommen und Erspartem der Sozialhilfe<br />

angeglichen worden, so dass die Betroffenen<br />

schon einmal auf den großen Schnitt vorbereitet<br />

werden. Wie groß der Einschnitt wirklich sein wird,<br />

verdeutlicht die Tabelle 11.<br />

Mehr als eine halbe Million Menschen wird überhaupt<br />

keine Leistungen mehr beziehen, im Osten<br />

sind das wegen der höheren Stellung im früheren<br />

Tabelle 11:<br />

Auswirkungen von Hartz IV – Abschaffung der<br />

Arbeitslosenhilfe<br />

Arbeitslosenhilfeempfänger<br />

im<br />

Juni 2003<br />

davon beziehen nach<br />

Hartz IV:<br />

keine Leistungen mehr<br />

geringere Leistungen<br />

etwa gleiche Leistungen<br />

höhere Leistungen<br />

West<br />

Mio. %<br />

1,087<br />

0,217<br />

0,554<br />

0,120<br />

0,196<br />

100<br />

20<br />

51<br />

11<br />

18<br />

Ost<br />

Mio. %<br />

0,967<br />

0,348<br />

0,425<br />

0,060<br />

0,135<br />

100<br />

36<br />

44<br />

6<br />

14<br />

Gesamt<br />

Mio.<br />

2,054<br />

0,565<br />

0,979<br />

0,180<br />

0,331<br />

Quelle: DGB-Berechnungen auf Grundlage der Bundesdrucksache 15/1279 und des BA Statistik<br />

25


Beruf 36 Prozent aller Empfänger von Arbeitslosenhilfe.<br />

Und weil die Zahl der Langzeitarbeitslosen hier<br />

besonders hoch ist, stellen die neuen Länder auch 61<br />

Prozent all derjenigen, die künftig leer ausgehen<br />

werden. Berücksichtigt man gleichzeitig die um ein<br />

Mehrfaches höhere Arbeitslosenquote, entpuppt<br />

sich Hartz IV als ein Sonderprogramm zur Verarmung<br />

im Osten. Weil insgesamt 80 Prozent aller Bezieher<br />

von Arbeitslosenhilfe im Osten keine oder stark abgesenkte<br />

Leistungen drohen, wird die Kaufkraft in<br />

vielen Gemeinden zusammenbrechen, den Mittelstand<br />

mit herunterziehen und zahllose noch bestehende<br />

Arbeitsplätze vernichten. Die Zahl der<br />

Arbeitslosen wird trotzdem sinken, weil die künftig<br />

ohne Lohnersatzleistungen dastehenden 565.000<br />

Menschen lautlos aus der Statistik verschwinden.<br />

Dass sich darüber bisher kein Volksaufstand entwickelt<br />

hat, hängt wohl überwiegend mit der Unüberschaubarkeit<br />

des gegenwärtigen Reformfiebers zusammen.<br />

Wobei zu berücksichtigen ist, dass der Leistungsentzug<br />

ausschließlich Arbeitslose trifft, deren<br />

Partner einen Vollzeitarbeitsplatz haben oder die<br />

vom Gesetz zunächst auf den Verbrauch ihrer Notgroschen<br />

oder Altersversorgung verwiesen werden. So<br />

wird die von der rot-grünen Politik aufgekündigte Solidarität<br />

wieder einmal den Familien aufgelastet.<br />

Niemand steht plötzlich mittellos da, aber einige<br />

Hunderttausend Familien werden in Zukunft an der<br />

Armutsschwelle leben. Dass ausgerechnet Rot-Grün<br />

damit das konservative Familienbild belebt und die<br />

Frauendiskriminierung verstärkt, ist mindestens so<br />

prinzipienlos wie die seit den Brüningschen Notverordnungen<br />

in Deutschland nicht mehr erlebte Verarmungsstrategie.<br />

Privater Reichtum und öffentliche Armut<br />

Nirgendwo wird der Widersinn der rot-grünen Steuerpolitik<br />

sichtbarer als in den Ländern und Kommunen,<br />

wo sich die Steuergeschenke an Konzerne sowie<br />

die Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen<br />

als deutlicher Verlust an öffentlicher Daseinsvorsorge<br />

niederschlagen. Alle Segnungen, die sich die Besitzer<br />

privaten Reichtums schon immer leisten<br />

konnten und in Folge der großzügigen Steuersenkungspolitik<br />

noch mehr leisten können, kommen in<br />

den Ländern und Kommunen unter den Rotstift:<br />

Schwimmbäder, gut ausgestattete Schulen, kostenlose<br />

Lehrmittel, Kultureinrichtungen und sogar persönliche<br />

Sicherheit. Die rot-grüne Politik, die jede<br />

Steuersenkung und jeden Sozialraub damit begründet,<br />

die Zukunft des Landes zu sichern, unternimmt<br />

gleichzeitig alles, um die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens<br />

kaputtzusparen. Wobei die Paradoxie<br />

noch dadurch verstärkt wird, dass die gleichen Parteipolitiker,<br />

die diese Politik vorantreiben, in ihren<br />

Gemeinden und Landesparlamenten über mangelnde<br />

Steuereinnahmen klagen.<br />

26<br />

Die Agenda sozial der PDS<br />

bleibt nicht dabei stehen, die Hartz-Gesetze, das<br />

flächendeckende Lohndumping oder den Abbau des<br />

Sozialstaates zu kritisieren. Sie hat unter anderem<br />

folgende Alternativen entwickelt, mit denen auch<br />

unter den komplizierten Bedingungen die Sozialsysteme<br />

gesichert und die Lohnspreizung gemindert<br />

werden kann:<br />

• Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der<br />

über der Schwelle von 60 Prozent des nationalen<br />

Durchschnittslohns liegt und scharfe gesetzliche<br />

Sanktionen gegen Arbeitgeber, die den Mindestlohn<br />

unterschreiten.<br />

• Einschränkung der Befristung von Arbeitsverträgen<br />

und Besserstellung der Leiharbeit durch Erschwerniszuschläge,<br />

die zu einer Entlohnung über<br />

der betrieblichen Bezahlung führen; gleichzeitig<br />

ein Weiterbildungszwang für Leiharbeitsunternehmen.<br />

• Abschaffung der Zwangsmaßnahmen zur Aufnahme<br />

einer geringfügig bezahlten oder die Qualifikation<br />

weit unterschreitenden Beschäftigung und<br />

Auflage eines breit gefächerten Weiterbildungsund<br />

Umschulungsprogramms.<br />

• Beibehaltung der Arbeitslosenhilfe und Sanierung<br />

der sozialen Sicherungssysteme durch die Umstellung<br />

der Arbeitgeberbeiträge auf die reale Wertschöpfung<br />

des jeweiligen Betriebes sowie die<br />

Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Beitragspflicht.<br />

• Verringerung der Überstunden durch eine Novellierung<br />

des Arbeitszeitgesetzes, in dem Arbeitszeiten<br />

über 40 Wochenstunden ausgeschlossen<br />

werden.<br />

Das Diagramm 18 macht den rapiden Verfall der öffentlichen<br />

Investitionen in Ländern und Gemeinden<br />

sichtbar. Sie sind innerhalb von zehn Jahren um ein<br />

Drittel gesunken und haben einen historischen Tiefstand<br />

erreicht, der dafür verantwortlich ist, dass<br />

Deutschland bei den öffentlichen Investitionen in<br />

der EU die rote Laterne hält. Immerhin wird der<br />

Löwenanteil der öffentlichen Investitionen von Ländern<br />

und Kommunen geleistet. Wobei allein die Gemeinden<br />

bereits 60 Prozent davon aufbringen.<br />

Hauptursache für die rückläufige Investition in die<br />

öffentliche Daseinsvorsorge ist der Rückgang der<br />

Steuereinnahmen der Kommunen. Während sie 1980<br />

noch 14 Prozent aller Steuereinnahmen erhielten,<br />

waren es 2002 nur noch 11,9 Prozent. Hinzu kommt,<br />

dass der Sozialabbau des Bundes bei Ländern und<br />

Kommunen zu höheren Sozialetats führt und der<br />

Bund immer mehr Aufgaben nach unten weiter gibt.<br />

Diese allgemeine Tendenz zur Senkung des Anteils<br />

der Steuereinnahmen von Ländern und Gemeinden<br />

wird durch die allgemeine Senkung der Steuern noch


Diagramm 18:<br />

Investitionen der Gemeinden in Mrd. Euro<br />

30<br />

20<br />

10<br />

ergänzt. So sind die Länder vor allem von der Aussetzung<br />

der Vermögenssteuer betroffen, weil sie vollständig<br />

an die Länder abgeführt wird und<br />

dementsprechend auch den kommunalen Zuweisungen<br />

zu Gute kommt.<br />

So könnte alleine das von einer extremen Haushaltsnotlage<br />

am meisten gebeutelte Land Berlin mit jährlich<br />

800 Millionen Euro rechnen, wenn die<br />

Vermögenssteuer wieder erhoben würde. Eine entsprechende<br />

Initiative Berlins stößt aber nicht nur bei<br />

der Unionsmehrheit im Bundesrat, sondern auch bei<br />

der rot-grünen Bundesregierung auf taube Ohren.<br />

Alles in allem gehen den Kommunen im Vergleich zu<br />

1980 jährlich zehn Milliarden Euro verloren. In etwa<br />

genau der Betrag, der ihnen bei den Investitionen<br />

fehlt. Schon im vergangenen Jahr mahnte der Städtetag:<br />

„Wenn nicht sofort gehandelt wird, droht (...)<br />

ein beispielloser Kahlschlag bei den kommunalen<br />

Dienstleistungen.“ Mit der nächsten Stufe der Steuerreform<br />

und der Umsetzung von Hartz IV droht sich<br />

die Lage einer Katastrophe zu nähern. Zwar sind den<br />

Kommunen nach der Einigung zwischen Union und<br />

Bundesregierung im Vermittlungsausschuss 2,5 Millionen<br />

zusätzlicher Einnahmen zugesichert worden,<br />

aber damit wird nicht einmal ein Viertel des bereits<br />

vorhandenen Defizits ausgeglichen. Konjunkturflaute<br />

und Steuerreform werden das Defizit jedoch noch<br />

weiter ansteigen lassen. Die Einführung des Arbeits-<br />

Diagramm 19:<br />

Einnahmen und Ausgaben der Kommunen<br />

in Mrd. Euro<br />

150<br />

140<br />

130<br />

33,5<br />

1992<br />

147<br />

144<br />

2000<br />

28,5<br />

1995<br />

144<br />

24,7<br />

2000<br />

148<br />

2001<br />

Einnahmen Ausgaben<br />

24,2<br />

2001<br />

145<br />

2002<br />

149<br />

2002<br />

23,6<br />

141<br />

23,4<br />

2003<br />

151<br />

2003<br />

Quelle: ver.di Argumente 08/04<br />

Quelle: Dt. Städtetag<br />

losengeldes II sollte die Kommunen ursprünglich von<br />

der Sozialhilfe entlasten, wird aber in vielen Gemeinden<br />

zu Mehrbelastungen führen, weil sie weiter für<br />

das so genannte Sozialgeld zahlen müssen, das viele<br />

Niedriglöhner werden in Anspruch nehmen müssen.<br />

Die Ausweitung der öffentlichen Armut spiegelt sich allerdings<br />

nicht nur in geschlossenen Schwimmhallen<br />

oder eingestellten Förderprogrammen für Jugend- und<br />

Seniorenarbeit wider. Sie trifft auch die Beschäftigten<br />

besonders hart. In den 90er Jahren wurden 20 Prozent<br />

des Personals abgebaut. Überwiegend durch nicht wieder<br />

besetzte Stellen und Teilzeitarbeit, im zunehmenden<br />

Maße aber auch durch Entlassungen. In vielen<br />

Bereichen, insbesondere im Gesundheitswesen, wo die<br />

rot-grüne Gesundheitsreform für weitere Auszehrung<br />

sorgt, ist die Arbeitsbelastung enorm gestiegen. Da sowohl<br />

dem Personalabbau als auch der Arbeitsverdichtung<br />

Grenzen gesetzt sind, stehen als nächstes<br />

Einkommenskürzungen und Arbeitszeitverlängerungen<br />

auf der Tagesordnung. Und während vor einigen Jahren<br />

die Privatisierung kommunaler Einrichtungen noch<br />

neoliberales Wunschdenken war, ist sie heute eine<br />

durch den Niedergang der Gemeindefinanzen erzwungene<br />

Notmaßnahme. Dabei wird nicht nur das Tafelsilber<br />

verkauft, um die Pflichtaufgaben erfüllen zu<br />

können, sondern immer mehr Wohnungsunternehmen<br />

oder Versorgungseinrichtungen werden privatisiert,<br />

weil die Gemeindeväter die laufenden Zuschüsse nicht<br />

mehr zahlen können.<br />

Keinen Cent Gewerbesteuer mehr für München<br />

Die bayerische Landeshauptstadt, bislang eine<br />

der reichsten Kommunen Deutschlands, wurde<br />

im Sommer 2002 mit einem Schlag durch seine<br />

Großunternehmen zu einem Investitionsstopp<br />

getrieben. Der Kämmerer musste ab sofort eine<br />

Haushaltssperre verhängen und das bis 2006<br />

aufgelegte Investitionsprogramm in der Schublade<br />

verschwinden lassen. Die Gewerbesteuereinnahmen<br />

waren mit einem Mal auf Null<br />

gestellt, weil die Hypovereinsbank nicht nur die<br />

30 Millionen Vorauszahlungen für die Gewerbesteuer<br />

gestoppt, sondern sogar Rückforderungen<br />

von 120 Millionen Euro geltend gemacht hatte.<br />

Anlass war nicht nur die Geschäftslage einer der<br />

drei größten deutschen Banken, sondern vor<br />

allem die rot-grüne Unternehmensteuerreform.<br />

Im Zuge der nachträglichen Rückerstattung von<br />

Körperschaftssteuern waren vor allem an den<br />

Firmensitzen der deutschen Multis gleichzeitig<br />

Gewerbesteuerrückzahlungen in Milliardenhöhe<br />

angefallen. Nach Eichels Steuergeschenken stellten<br />

in München alle sieben Großunternehmen<br />

ihre Gewerbsteuerzahlungen ein: neben der Hypovereinsbank<br />

Allianz, BMW, Infineon, MAN,<br />

Münchner Rück und Siemens.<br />

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 23. Juli 2002<br />

27


Dass die Finanznot der Gemeinden nicht hauptsächlich<br />

die Folge struktureller oder konjunktureller Probleme<br />

ist, zeigt der oben stehende Kasten zur Haushaltsnot<br />

Münchens im Jahr 2002. Die durch die rot-grüne Steuerreform<br />

betriebene Reichtumspflege ist die Hauptursache<br />

für die plötzliche Verarmung bislang sogar<br />

reicher Kommunen. Die Wünsche der Wirtschaft gehen<br />

jedoch noch weiter, sie will die Gewerbesteuer abschaffen<br />

und durch einen Zuschlag auf die Einkommenssteuer<br />

ersetzen, was letztlich auch die Lohnsteuer<br />

einschließt. Nach Berechnungen der ver.di-Wirtschaftsabteilung<br />

würde sich damit der Beitrag der<br />

Unternehmen zu den kommunalen Steuereinnahmen<br />

von durchschnittlich 52 auf 36 Prozent verringern,<br />

während der Beitrag der Beschäftigten von knapp 50<br />

auf 64 Prozent stiege. Der Rückzug der Unternehmen<br />

aus der Finanzierung des Gemeinwesens wäre damit<br />

auf kommunaler Ebene abgeschlossen. Gleichzeitig<br />

würde sich an den ungleichen Lebensverhältnissen<br />

zwischen armen und reichen Gemeinden nichts ändern.<br />

Im Gegenteil, die armen Gemeinden müssten die<br />

höchsten Zuschläge zur Einkommenssteuer erheben,<br />

und die wohlhabenden könnten sich bei den Besserverdienenden<br />

schadlos halten.<br />

Was den Gemeinden helfen würde:<br />

• Ein nationales Investitionsprogramm zur<br />

Verbesserung der kommunalen Infrastruktur<br />

• Die Wiedererhebung der Vermögenssteuer<br />

• Die Umwandlung der Gewerbesteuer in eine<br />

Gewerbebetriebssteuer, in die alle selbstständigen<br />

Tätigkeiten einbezogen werden<br />

• Die Einrichtung eines Bundesfonds für soziale<br />

und ökologische Gemeinschaftsaufgaben,<br />

mit der ein öffentlich geförderter<br />

Beschäftigungssektor für gemeinwohlorientierte<br />

und selbstorganisierte Projekte geschaffen<br />

würde.<br />

28<br />

Ausgewählte Literatur<br />

- Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik,<br />

Memorande Köln 1995 – 2003<br />

- Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung,<br />

Lebenslagen in Deutschland, Bonn 2001<br />

- Bundesministerium der Finanzen,<br />

Finanzbericht 2003<br />

- Deutsche Bundesbank,<br />

Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung<br />

für Deutschland 1991 bis<br />

2002, Statistische Sonderveröffentlichung 4,<br />

Frankfurt/M September 2003<br />

- Deutscher Gewerkschaftsbund,<br />

Bundesvorstand Abteilung Wirtschaftspolitik,<br />

Verteilungsbericht 2003, Berlin 28.11.03<br />

- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW,<br />

Repräsentative Analyse der Lebenslagen<br />

einkommensstarker Haushalte, Berlin Juni 2003<br />

- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW,<br />

Erbschaften und Schenkungen in Deutschland,<br />

Wochenbericht 5/04, Berlin 2004<br />

- Liedke, Rüdiger,<br />

Wem gehört die Republik? 2004,<br />

Frankfurt/M 2003<br />

- Schäfer, Claus,<br />

Mit einer ungleichen Verteilung in eine schlechtere<br />

Zukunft – Die Verteilungsentwicklung in<br />

2002 und den Vorjahren,<br />

WSI Mitteilungen 11/2003<br />

- Statistisches Jahrbuch, Jahrgänge 1995 - 2003<br />

- ver.di Bundesvorstand,<br />

Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer,<br />

Berlin Dezember 2003<br />

- ver.di Bundesvorstand,<br />

Staatsfinanzen stärken,<br />

Berlin 2003<br />

Herausgeber<br />

Parteivorstand der PDS<br />

Kleine Alexanderstr. 28<br />

10178 Berlin<br />

Verantwortlich<br />

Harald Werner<br />

Druck<br />

Mediaservice GmbH<br />

Satz und Layout<br />

DiG Plus GmbH, Berlin

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