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Titel Band 1 - OPUS

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hatten acht Teilnehmer sieben Gedichte (fast)<br />

entschlüsselt. So langsam konnte das nicht weitergehen.<br />

Sobald einzelne Wörter wiederkehrten,<br />

müßten wir schneller arbeiten können. Doch halt!<br />

Oft hatten wir die Chiffrenbedeutung festgelegt,<br />

nachdem wir eine, zwei oder drei Bindungsmöglichkeiten<br />

nach unserem Strahlenbild gefunden<br />

hatten. Die Wahrscheinlichkeit war doch da, daß<br />

das Wort in einem anderen Text mit einer anderen<br />

Möglichkeit seiner Assoziationen gleichgesetzt<br />

wurde. Also müßte man bei jedem Gedicht<br />

ganz von vorn anfangen? Und die Hoffnung war<br />

unhaltbar, daß es einen festen Code gab? Dann<br />

aber würde einem Leser Unmögliches abverlangt,<br />

bevor er bei einem Gedicht zum Kunstgenuß<br />

käme, und der Autor geriete in die Rolle des alten<br />

Mannes in Peter Bichsels Erzählung Ein Tisch ist<br />

ein Tisch. Der alte Mann vertauscht die Wortbedeutungen<br />

kettenartig oder ringförmig und<br />

macht sich daraus seine Privatsprache, die niemand<br />

versteht. Das ist zunächst spaßig, am Ende<br />

aber bitterernst, als der Alte mangels Kommunikation<br />

völlig vereinsamt. Zwar bewohnen die<br />

modernen Lyriker den Elfenbeinturm — aber<br />

doch wohl alle zusammen? Oder etwa jeder seinen<br />

eigenen? Sollten unsere Drei in diesem Sinne<br />

einsam sein und nur mit sich selbst sprechen? Es<br />

wäre ganz unmenschlich und dem intellektuellen<br />

Vergnügen der Sprachkunst widersprechend,<br />

wenn sich solche Meister der Sprache in die Isolation<br />

begäben, wenn sie ihr Spielzeug mit niemandem<br />

teilen wollten, wenn die enorme Arbeit<br />

umsonst, der Spaß unwiederbringlich verloren<br />

wäre. Untereinander werden sie sich also besser<br />

verstehen, als es der außenstehende Germanist<br />

jemals schaffen wird. Und wenn sie eine Art<br />

geheime Gruppensprache entwickelt haben, ist es<br />

wahrscheinlich, daß sie auch Spuren gelegt haben,<br />

die ein denkendes und sprechendes Wesen<br />

mit einiger Anstrengung in die Rolle eines verstehenden<br />

Lesers gelangen lassen.<br />

Angenommen, es gibt einen Code geheimer<br />

Bedeutungen hinter den Wörtern, gibt es dann<br />

einen oder mehrere? Mit andern Worten: Ist es<br />

sinnvoll, anzunehmen, daß Benn, Bachmann und<br />

Enzensberger drei verschiedene Arten der Verschlüsselung<br />

benutzen? Es wäre möglich, aber<br />

doch auch unwahrscheinlich, weil der Wortschatz<br />

ungeheuer kompliziert würde und kaum ohne<br />

spezielle Benn-, Bachmann- und Enzensberger-<br />

Wörterbücher differenziert gespeichert werden<br />

könnte. Dabei könnten doch solche Bewohner des<br />

Elfenbeinturms (natürlich nur, soweit sie Zeitgenossen<br />

sind) wenigstens gegenseitig ein geeignetes<br />

Lesepublikum abgeben! Solche Überlegungen<br />

wurden gestützt von auffälligen Beobachtungen:<br />

Es gibt eine Menge wiederkehrender Motive im<br />

Wortschatz der drei Kandidaten, eine ähnliche<br />

Verwendung gleicher Wörter, sogar auch gleiche<br />

Werktitel oder solche, in denen die Anspielung<br />

auf den anderen deutlich wird, z.B. Bachmann:<br />

„Anrufung des Großen Bären“ — Enzensberger:<br />

„Anrufung des Fisches“; Benn: „Blaue Stunde“<br />

— Bachmann: „Die Blaue Stunde“; Bachmann:<br />

„Landnahme“ — Enzensberger: „Landnahme“;<br />

Bachmann: „Die Zikaden“ (Hörspiel) — Enzensberger:<br />

„Zikade“ u.a. Augenzwinkernd werfen<br />

sie sich die Garnbälle zu oder spinnen den Faden<br />

des anderen weiter. Wenn man annimmt, daß sie<br />

in diesem Code über dasselbe Thema schreiben,<br />

nämlich die Liebe (mehr Sex als Eros), dann liegt<br />

die Vermutung nahe, daß alle den gleichen Code<br />

benutzen.<br />

Hier ergab sich gleich das nächste Problem. Ist<br />

der Code einmal bekannt, wird man sehen, welche<br />

Werke der drei Dichter (vielleicht auch anderer)<br />

darin geschrieben sind und welche nicht.<br />

Andererseits kann man den Code nur aus den<br />

Werken ableiten, die offenbar „dazugehören“.<br />

Jeder „normale“ Text, der in die praktische Arbeit<br />

der Decodierung eingeht, wird Verwirrung stiften.<br />

Also benötigt man für die richtige Auswahl<br />

der Texte bereits das Endergebnis: ein klassisches<br />

Beispiel für den hermeneutischen Zirkelschluß.<br />

Obwohl meine Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit<br />

der Zugehörigkeit von Dichtern und Texten<br />

zu dieser Lehre schon viel weiter gingen,<br />

beschloß ich, mich vor allem auf den ersten Gedichtband<br />

Enzensbergers zu stützen. Das ist die<br />

Sammlung „Verteidigung der Wölfe“ von 1957.<br />

Ein weiteres Problem mußte rechtzeitig bedacht<br />

werden: Welche Wörter in einem Text sind<br />

normal zu verstehen und welche codiert? Werden<br />

die Bedeutungsebenen vermischt vorgetragen?<br />

Oder anders ausgedrückt: Spielt man mit wenigen<br />

gezinkten Karten, während der große Packen<br />

normal ist? Wer kann die beiden Sorten auseinanderhalten,<br />

wenn sie nicht gekennzeichnet sind?<br />

Muß man vielleicht sogar mit der normalen und<br />

der codierten Bedeutung desselben Wortes<br />

nebeneinander rechnen? Und welche Wörter sind<br />

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