Begriff der Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR - Universität St.Gallen

Begriff der Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR
DISSERTATION
der Universität St. Gallen,
Hochschule für Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)
zur Erlangung der Würde eines
Doktors der Rechtswissenschaft
vorgelegt von
Michael Cartier
von
Olten und Oensingen (Solothurn)
Genehmigt auf Antrag der Herren
Prof. Dr. Alfred Koller
und
Prof. Dr. Markus Müller-Chen
Dissertation Nr. 3287
digiprint, Eschen FL 2007

Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften
(HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden Dissertation,
ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen Stellung zu nehmen.
St. Gallen, den 22. Januar 2007
Der Rektor:
Prof. Ernst Mohr, PhD

Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS.................................................................................... I
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS......................................................................... V
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................IX
1 LEHRBÜCHER, MONOGRAFIEN, SAMMELWERKE, BEITRÄGE........................................................ IX
2 KOMMENTARE .............................................................................................................................XIV
3 MATERIALIEN ...............................................................................................................................XV
EINLEITUNG ........................................................................................................1
KAPITEL 1: DIE SUBJEKTIVE WIDERRECHTLICHKEITSTHEORIE..5
1 ÜBERSICHT UND DEFINITION............................................................................................................5
1.1 Subjektive Schädigungsbefugnis als Ausgangspunkt............................................................5
1.2 Elemente der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie...........................................................7
1.2.1 Exkurs: Abgrenzung von Verhaltensunrecht und Erfolgsunrecht...........................7
1.2.2 Widerrechtlichkeit und Rechtfertigungsgründe gemäss der „verhaltensbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie....................................................................8
1.2.3 Widerrechtlichkeit und Rechtfertigungsgründe gemäss der „erfolgsbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie....................................................................9
1.3 Kernaussagen zur subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie...................................................9
2 BESTIMMUNG DER WIDERRECHTLICHKEIT BEI DER „VERHALTENSBEZOGENEN“ SUBJEKTIVEN
WIDERRECHTLICHKEITSTHEORIE ...................................................................................................11
2.1 Definition der Widerrechtlichkeit .......................................................................................11
2.2 Definition der Rechtfertigungsgründe ................................................................................14
3 BESTIMMUNG DER WIDERRECHTLICHKEIT BEI DER „ERFOLGSBEZOGENEN“ SUBJEKTIVEN
WIDERRECHTLICHKEITSTHEORIE ...................................................................................................15
3.1 Definition der Widerrechtlichkeit .......................................................................................15
3.1.1 Verstoss gegen das allgemeine Schädigungsverbot durch eine aktive schädigende
Handlung ................................................................................................................15
3.1.2 Verstoss gegen ein spezifisches Schadensabwendungsgebot durch eine passive
schädigende Handlung (Unterlassen).....................................................................17
3.2 Definition der Rechtfertigungsgründe ................................................................................19
4 BESONDERE ABGRENZUNGSPROBLEME .........................................................................................24
4.1 Abgrenzung von Sorgfaltspflicht und Rechtfertigungsgrund..............................................24
4.2 Abgrenzung der Haftung bei passiver Schädigungshandlung (Unterlassen).....................25
4.3 Abgrenzung der deliktischen von der vertraglichen Haftung.............................................27
5 FAZIT...............................................................................................................................................29
I

KAPITEL 2: DIE OBJEKTIVE WIDERRECHTLICHKEITSTHEORIE..31
II
1 ÜBERSICHT UND DEFINITION..........................................................................................................31
1.1 Objektiver Normverstoss als Ausgangspunkt......................................................................31
1.2 Elemente der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie ..........................................................32
1.2.1 Erfolgsunrechtstheorie............................................................................................32
1.2.2 Schutznormtheorie..................................................................................................32
2 DIE ERFOLGSUNRECHTSTHEORIE ...................................................................................................33
2.1 Übersicht und Definition.....................................................................................................33
2.1.1 Verletzung absoluter Rechte als Ausgangspunkt...................................................33
2.1.2 Elemente der Erfolgsunrechtstheorie .....................................................................35
2.1.3 Kernaussagen zur Erfolgsunrechtstheorie..............................................................37
2.2 Problematische Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der aktiven Verletzung eines
absoluten Rechts.................................................................................................................38
2.2.1 Die Verletzung absoluter Rechte ist nicht eindeutig bestimmbar .........................38
2.2.2 Mittelbare Verletzung absoluter Rechte als Problemfall.......................................42
2.2.3 Ungewisse Bewertung des Verhaltens bis zum Eintreten des Schadens...............45
2.3 Problematische Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der passiven Verletzung absoluter
Rechte (Unterlassen) ..........................................................................................................46
2.3.1 Grundsatz der befugten Untätigkeit .......................................................................46
2.3.2 Notwendigkeit einer ausdrücklichen Handlungspflicht oder eines Verbots des
Unterlassens............................................................................................................47
2.4 Problematische negative Bestimmung der Widerrechtlichkeit über Rechtfertigungsgründe
............................................................................................................................................49
2.4.1 Einwilligung in die sorgfältige Schädigung...........................................................50
2.4.2 Amtspflicht und die pflichtgemässe Schädigung...................................................52
2.4.3 Notwehr gegen einen widerrechtlichen Angriff.....................................................53
2.5 Verhältnis des Verschuldens zur Widerrechtlichkeit ..........................................................54
2.5.1 Haftung des Geschäftsherrn und des Familienhauptes ..........................................55
2.5.2 Haftung des Urteilsunfähigen.................................................................................56
2.6 Zwischenfazit zur Erfolgsunrechtstheorie...........................................................................57
3 DIE SCHUTZNORMTHEORIE ............................................................................................................58
3.1 Übersicht und Definition.....................................................................................................58
3.1.1 Schutznormverletzung als Ausgangspunkt ............................................................58
3.1.2 Elemente der Schutznormtheorie ...........................................................................59
3.1.3 Kernaussagen zur Schutznormtheorie....................................................................62
3.2 Geschriebene Schutznormen als problematisches Kriterium .............................................63
3.2.1 Eignung gesetzlicher Bestimmungen als Schutznormen .......................................63
3.2.2 Notwendigkeit der einschränkenden Auslegung des Schutzzwecks .....................64
3.2.3 Ungenügende Regelungsdichte geschriebener Schutznormen ..............................68
3.2.4 Extensive Auslegung des Schutzzwecks als ungeeigneter Lösungsansatz ...........70
3.2.5 Exkurs: Schutznormen zugunsten absoluter Rechte..............................................71

Inhaltsverzeichnis
3.3 Ungeschriebene Schutznormen als problematisches Kriterium.........................................73
3.4 Rechtfertigungsgründe als notwendiger Korrekturmechanismus ......................................75
3.5 Verhältnis von Verschulden und Widerrechtlichkeit ..........................................................76
3.5.1 Stellenwert des Verschuldens bei der Schutznormtheorie.....................................76
3.5.2 Prüfung des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit bei Widerrechtlichkeit und
Verschulden............................................................................................................78
3.6 Zwischenfazit zur Schutznormtheorie .................................................................................80
4 FAZIT...............................................................................................................................................82
KAPITEL 3: DIE SORGFALTSPFLICHTTHEORIE ..................................87
1 ÜBERSICHT UND DEFINITION..........................................................................................................87
1.1 Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht als Ausgangspunkt ..........................................87
1.2 Elemente der Sorgfaltspflichttheorie...................................................................................90
1.2.1 Definition der Sorgfaltspflicht ...............................................................................90
1.2.2 Definition des Verschuldens ..................................................................................92
1.3 Kernaussagen zur Sorgfaltspflichttheorie...........................................................................95
2 OBJEKTIVE SORGFALTSPFLICHTVERLETZUNG ALS PROBLEMATISCHES KRITERIUM DER
WIDERRECHTLICHKEIT...................................................................................................................96
2.1 Empirisch bestimmte (durchschnittliche) Sorgfaltspflichten..............................................96
2.1.1 Postulat des Ausgleichs der Interessen von Schädiger und Geschädigtem...........99
2.1.2 Notwendigkeit einer übergeordneten Wertehierarchie ........................................100
2.1.3 Einseitigkeit des durchschnittlichen und typisierten Sorgfaltsbegriffs ...............102
2.1.4 Probleme bei der empirischen Bestimmung der durchschnittlichen Sorgfalt .....107
2.2 Gesetzliche Sorgfaltspflichten...........................................................................................110
2.3 Richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten ..........................................................................111
3 VERSCHULDEN ALS PROBLEMATISCHES KRITERIUM ...................................................................113
3.1 Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit .......................................................114
3.2 Subjektivierter Verschuldensbegriff..................................................................................116
3.3 Modifizierter Verschuldensbegriff ....................................................................................117
4 FAZIT.............................................................................................................................................119
KAPITEL 4: DIE INTERESSENTHEORIE.................................................121
1 ÜBERSICHT ...................................................................................................................................121
2 DEFINITION DER WIDERRECHTLICHKEIT......................................................................................122
2.1 Interessenabwägung und Verhaltenspflichtverletzung als Grundprinzipien zur
Bestimmung der Widerrechtlichkeit.................................................................................122
2.1.1 Widerrechtlichkeit als Ergebnis einer Interessenabwägung ................................124
2.1.2 Widerrechtlichkeit als Verhaltenspflichtverletzung ............................................125
2.1.3 Verhältnis der Interessenabwägung zur Verhaltenspflichtverletzung .................126
2.2 Formelle Definition der Widerrechtlichkeit......................................................................130
2.3 Materielle Definition der Widerrechtlichkeit im Einzelfall ..............................................131
III

IV
2.3.1 Wert des betroffenen Rechts ................................................................................131
2.3.2 Wert und Zweck der schadenstiftenden Tätigkeit................................................133
2.3.3 Verschieben des Schwerpunkts der Interessenabwägung....................................134
2.3.4 Weitere Elemente zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit ................................135
2.4 Zwischenfazit zur Widerrechtlichkeit................................................................................140
3 DEFINITION DES VERSCHULDENS.................................................................................................142
3.1 Abgrenzung von Gegenstand und Mass des Verschuldens...............................................142
3.2 Gegenstand des Verschuldens...........................................................................................144
3.2.1 Voraussehbarkeit des Kausalablaufs und des Schadenseintritts..........................144
3.2.2 Erkennbarkeit der Widerrechtlichkeit als Verschuldenselement?.......................150
3.2.3 Vermeidbarkeit des schädigenden Verhaltens als notwendiges Korrelat zur
Voraussehbarkeit ..................................................................................................154
3.3 Mass des Verschuldens......................................................................................................155
3.3.1 Bestimmung und Abstufung des Verschuldens nach Massgabe der
Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit.................................................................156
3.3.2 Urteilsfähigkeit.....................................................................................................157
3.3.3 Vorsatz..................................................................................................................160
3.3.4 Fahrlässigkeit........................................................................................................162
3.4 Zwischenfazit zum Verschulden ........................................................................................165
4 PRAKTISCHE ANWENDUNG DER INTERESSENTHEORIE ................................................................166
4.1 Widerrechtlichkeit von Körper- und Eigentumsverletzungen...........................................167
4.1.1 Handgreifliche Auseinandersetzung ....................................................................168
4.1.2 Chirurgischer Eingriff ..........................................................................................170
4.1.3 Unglückliches Aufstehen von einem Barhocker..................................................172
4.1.4 Unterlassene Hilfe beim Tourenskifahren ...........................................................174
4.1.5 Inverkehrbringen von Feuerwerk.........................................................................176
4.2 Widerrechtlichkeit von Vermögensschädigungen und Persönlichkeitsverletzungen infolge
falscher Informationen .....................................................................................................178
4.2.1 Falsche Wegbeschreibung....................................................................................179
4.2.2 Unwahres Arbeitszeugnis.....................................................................................180
4.2.3 Inhaltlich falsches Gutachten ...............................................................................182
4.2.4 Unlautere und herabsetzende Werbung ...............................................................185
4.3 Widerrechtlichkeit von Reflexschädigungen am Beispiel eines „Kabelbruchfalls“ ........186
4.4 Zwischenfazit zur praktischen Anwendbarkeit..................................................................189
SCHLUSSWORT...............................................................................................191
ZUSAMMENFASSUNG....................................................................................195

Abkürzungsverzeichnis
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
a.M. andere Meinung
AcP Archiv für die civilistische Praxis
AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen
AJP/PJA Aktuelle Juristische Praxis/Pratique juridique actuelle
AppGer Appellationsgericht
Art. Artikel
Aufl. Auflage
BaK Basler Kommentar
Bd. Band/Bände
BeK Berner Kommentar
betr. betreffend
BGB Deutsches Bürgerliches Gesetzbuch
BGE Bundesgerichtsentscheid
BGer Bundesgericht
BJM Basler Juristische Mitteilungen
d.h. das heisst
DesG Bundesgesetz über den Schutz von Design vom 5. Oktober
2001 (SR 232.12)
Diss. Dissertation
Erw. Erwägung(en)
f./ff. folgende/fortfolgende
HAVE/REAS Haftung und Versicherung/Responsabilité et Assurance
Hrsg. Herausgeber
KG Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen
vom 6. Oktober 1995 (SR 251)
lit. Litera
V

M.E. Meines Erachtens
m.w.H. mit weiteren Hinweisen
MSchG Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben
vom 28. August 1992 (SR 232.11)
N Note
NJW Neue Juristische Wochenschrift
NZZ Neue Zürcher Zeitung
OR Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches vom 30. März 1911, Fünfter Teil: Obligationenrecht
(SR 220)
PrHG Bundesgesetz über die Produktehaftpflicht vom 18. Juni
1993 (SR 221.112.944)
recht Zeitschrift für juristische Ausbildung und Praxis
RIW Recht der Internationalen Wirtschaft
Rz. Randziffer(n)
S. Seite(n)
Sec. Section
SJZ Schweizerische Juristen-Zeitung
sog. sogenannt(e)
SR Systematische Sammlung des Bundesrechts
StGB Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
(SR 311.0)
USA Vereinigte Staaten von Amerika
UWG Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom
19. Dezember 1986 (SR 241)
vgl. vergleiche
z.B. zum Beispiel
z.T. zum Teil
ZBJV Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins
VI

Abkürzungsverzeichnis
ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
(SR 210)
Ziff. Ziffer(n)
zit. zitiert
ZK Zürcher Kommentar
ZSR Zeitschrift für Schweizerisches Recht
VII

Literaturverzeichnis
LITERATURVERZEICHNIS
1 Lehrbücher, Monografien, Sammelwerke, Beiträge
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ZWEIGERT KONRAD/KÖTZ HEIN, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl.,
Tübingen 1996.
2 Kommentare
BASLER KOMMENTAR, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, verschiedene
Aufl. und Jahrgänge (zitiert: BaK-BEARBEITER).
BERNER KOMMENTAR, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Bern, verschiedene
Aufl. und Jahrgänge (zitiert: BeK-BEARBEITER).
XIV

Literaturverzeichnis
ZÜRCHER KOMMENTAR, Kommentar zum Obligationenrecht, Zürich, verschiedene
Aufl. und Jahrgänge (zitiert: ZK-BEARBEITER).
SCHWEIZERISCHES PRIVATRECHT, Zweiter Band: Einleitung und Personenrecht,
Gutzwiler/Hinderling/Meier-Hayoz/Merz/Secrétan/von Steiger
(Hrsg.), Basel/Stuttgart 1967 (zitiert: SPR-II-BEARBEITER).
KOHLHAMMER KOMMENTAR, Bürgerliches Gesetzbuch, begründet von Hs. Th.
Soergel, neu herausgegeben von Siebert/Baur et al., 13. Aufl., Stuttgart
1999 (zitiert: Kohlhammer Kommentar-BEARBEITER).
3 Materialien
BERICHT DER STUDIENKOMMISSION für die Gesamtrevision des Haftpflichtrechts,
Bundesamt für Justiz (Hrsg.), Bern 1991.
ERLÄUTERNDER BERICHT zur Revision und Vereinheitlichung des Haftpflichtrechts,
von Pierre Widmer/Pierre Wessner
[http://www.ejpd.admin.ch/etc/medialib/data/wirtschaft/gesetzgebung
/haftpflich.Par.0002.File.tmp/vn-ber-d.pdf] (letztmals besucht:
19. Juli 2006).
STUDY GROUP PRINCIPLES of European Tort Law (final), Study Group on a European
Civil Code, angenommen an der letzten Lesung der Konferenz
der Coordinating Group of The Study Group on a European Civil
Code vom 7. bis 10. Dezember 2005 in Tartu, Estland
[http://www.sgecc.net/pages/downloads/text_of_articles_final.doc]
(letztmals besucht: 8. Juli 2006).
TILBURG PRINCIPLES of European Tort Law, European Group on Tort Law (ehemals
Tilburg Group), vorgestellt am 19./20. Mai 2005 in Wien, in:
HAVE/REAS 2005, S. 263–274.
VORENTWURF eines Bundesgesetzes über die Revision und Vereinheitlichung des
Haftpflichtrechts, Herbst 2000
[http://www.ejpd.admin.ch/etc/medialib/data/wirtschaft/gesetzgebung
/haftpflich.Par.0007.File.tmp/vn-ve-d.pdf] (letztmals besucht:
19. Juli 2006).
ZUSAMMENSTELLUNG DER VERNEHMLASSUNGEN zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz
über die Revision und Vereinheitlichung des Haftpflichtrechts,
2004
[http://www.ejpd.admin.ch/etc/medialib/data/wirtschaft/gesetzgebung
/haftpflich.Par.0001.File.tmp/ve-ber.pdf] (letztmals besucht:
19. Juli 2006).
XV

Einleitung
EINLEITUNG
Der Begriff der Widerrechtlichkeit hat die Rechtswissenschaft immer wieder be-
schäftigt. Bereits bei der ersten Revision des Obligationenrechts vom
30. März 1911 wurde die Definition der Widerrechtlichkeit erörtert, und im Hinblick
auf die Revision des Haftpflichtrechts gewinnt die Frage, wie die Widerrechtlichkeit
zu definieren ist, erneut an Aktualität. 1
Das menschliche Zusammensein bringt notwendigerweise die Möglichkeit gegenseitiger
Schädigungen mit sich. Einzelne Schädigungen sind unvermeidbar, andere
gar sozial erwünscht, beispielsweise im marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Soll
die menschliche Aktivität jedoch nicht gelähmt werden, müssen rechtmässige und
widerrechtliche Schadenszufügungen unterschieden werden, was insbesondere
auch Aufgabe des Begriffs der Widerrechtlichkeit ist. 2
Dem Haftpflichtrecht kann folgendes Prinzip zugrunde gelegt werden: „Losses lie
where they fall, except when a special reason can be shown for interference.“ 3 Das
heisst, dass die geschädigte Person ihren eigenen Schaden zu tragen hat, es sei
denn, sie könne aus einem plausiblen rechtspolitischen Grund diesen Schaden auf
eine andere (verantwortliche) Person überwälzen. 4 In der Rechtsprechung und
Lehre sind verschiedene Theorien, z.B. die objektive Widerrechtlichkeitstheorie
oder die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie, entwickelt worden, um zu bestimmen,
wann ein entsprechender Grund zur Überwälzung des Schadens gegeben ist.
Der Begriff der Widerrechtlichkeit ist aus zwei Gründen einer andauernden wissenschaftlichen
Auseinandersetzung ausgesetzt. Zum einen erlaubt die offene For-
1
BURCKHARDT, S. 504, 514 f.; ERLÄUTERNDER BERICHT, S. 98 ff.; ZUSAMMENSTELLUNG
DER VERNEHMLASSUNGEN, S. 2.
2
MERZ, S. 306.
3
HOLMES, S. 50, vgl. auch WIDMER, Diskussionsvoten, S. 2.
4
WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.46; WIDMER, Diskussionsvoten, S. 2: WIDMER bezeichnet
das Haftpflichtrecht deshalb auch als „ein auf plausiblen und an Gerechtigkeitsvorstellungen
orientierten Zurechnungskriterien basierendes Instrument der Schadens-
(zu)teilung […]“.
1
1
2
3
4

5
6
7
mulierung von Art. 41 I OR in der Form einer Generalklausel der Lehre, diesen
Artikel beinahe nach Belieben zu interpretieren. Zum anderen hat der Begriff der
Widerrechtlichkeit die Funktion, zwischenmenschliche Konflikte zu ordnen, welche
ihrerseits Folgen der fortschreitenden gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen
sind. Dies bedeutet wiederum, dass der Widerrechtlichkeitsbegriff
flexibel genug sein muss, um den ständig ändernden Verhältnissen gerecht zu wer-
den. 5
Lässt eine bestimmte Widerrechtlichkeitstheorie diese Flexibilität vermissen und
vermag sie deshalb anstehende materielle Haftungsfragen nicht zu lösen, stehen
grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen. Entweder definiert man den Begriff der
Widerrechtlichkeit im Rahmen der offenen Formulierung von Art. 41 I OR neu,
oder Lehre und Rechtsprechung bemühen sich, diesen Haftungsfragen ausserhalb
des Deliktsrechts über neue Haftungskonstruktionen, wie der Vertrauenshaftung,
gerecht zu werden. Letzteres ist jedoch problematisch, weil dadurch zusätzliche
Haftungsgrundlagen geschaffen werden, für die sich im Gesetz keine Stütze findet
und deren Haftungsmodalitäten, z.B. Verjährung, Haftung Dritter usw., nicht geklärt
sind.
Ziel der vorliegenden Dissertation ist es darzulegen, dass anstehende Haftungsfragen
im Rahmen des Haftpflichtrechts durch eine Neudefinition des Widerrechtlichkeitsbegriffs
zu beantworten sind. Dies erfolgt durch die Analyse der verschiedenen
in der Lehre und Rechtsprechung vorgebrachten Theorien zur Definition der
Widerrechtlichkeit und zu der Beurteilung beziehungsweise der Kritik ihrer jeweiligen
Eigenheiten.
Kapitel 1 befasst sich mit der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie. Grundsätzlich
ist gemäss dieser Theorie jede Schädigung widerrechtlich, es sei denn, der
Schädiger kann sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen. Bei genauer Betrachtung
lassen sich in der Lehre zwei Varianten der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
ausmachen, die als erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
und verhaltensbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie bezeichnet werden.
5 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 272, 292.
2

Einleitung
Kapitel 2 setzt sich mit der derzeit herrschenden objektiven Widerrechtlichkeits-
theorie auseinander, welche sich aus der Erfolgsunrechtstheorie und der Schutz-
normtheorie zusammensetzt. Die objektive Widerrechtlichkeitstheorie unterschei-
det zwischen sogenannten absoluten Rechten und dem Vermögen. Wird ein absolutes
Recht verletzt, soll die Erfolgsunrechtstheorie zur Anwendung gelangen.
Demnach indiziert die Verletzung des Schutzbereichs des absoluten Rechts die
Widerrechtlichkeit. Ist hingegen nur das Vermögen betroffen, gelangt die Schutznormtheorie
zur Anwendung. Eine Vermögensschädigung ist demnach widerrechtlich,
wenn mit der Verletzungshandlung zugleich gegen eine Schutznorm verstossen
wird, welche zum Schutz der vermögensmässigen Rechte des Geschädigten
aufgestellt worden ist.
Die Sorgfaltspflichttheorie bildet mit Kapitel 3 den Abschluss der kritischen Analyse
der Widerrechtlichkeitstheorien. Die Sorgfaltspflichttheorie statuiert, dass ein
Schädiger sich widerrechtlich verhält, wenn sein Verhalten gegen eine objektive
Sorgfaltspflicht verstösst.
Im Anschluss an die Darstellung und Kritik der untersuchten Widerrechtlichkeitstheorien
wird in Kapitel 4 die Interessentheorie vorgestellt, eine alternative Widerrechtlichkeitstheorie,
welche die kritischen Punkte der übrigen Widerrechtlichkeitstheorien
zu vermeiden versucht. Bei der Interessentheorie hat der Richter die
Widerrechtlichkeit einer Handlung aufgrund einer Abwägung der Interessen des
Schädigers, des Geschädigten sowie der Öffentlichkeit zu bestimmen. Zusätzlich
wird das Verschulden auf die Begriffe Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des
Kausalablaufs und des Schadenseintritts zurückgeführt.
3
8
9
10

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
Kapitel 1: DIE SUBJEKTIVE WIDERRECHTLICHKEITS-
THEORIE
1 Übersicht und Definition
1.1 Subjektive Schädigungsbefugnis als Ausgangspunkt
Nach der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie ist eine Schädigung widerrecht-
lich, wenn der Schädiger zum schadensverursachenden Verhalten nicht ausdrücklich
befugt ist. 6 Ob ein Verhalten des Schädigers als erlaubt oder unerlaubt gilt,
hängt letztlich davon ab, ob die Rechtsordnung ihm einen Rechtfertigungsgrund
und damit eine subjektive Schädigungsbefugnis zubilligt. 7 Aus dem Erfordernis
einer subjektiven beim Schädiger vorliegenden Schädigungsbefugnis, sprich Rechtfertigungsgrund,
leitet sich die Bezeichnung der Theorie ab. 8
Vom Ansatz her lehnt sich die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie an den Wortlaut
von Art. 28 ZGB an:
„Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt
wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung
mitwirkt, das Gericht anrufen.
Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch
Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes
privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt
ist.“
Die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie kann für die Schweiz auf die französische
Fassung von Art. 50 altOR zurückgeführt werden, welcher „widerrechtlich“
mit „sans droit“, d.h. ohne Recht, wiedergab. In Art. 41 OR ist jedoch „sans
6 REY, N 677; BeK-BREHM, OR 41 N 33c; DESCHENAUX/TERCIER, § 6 N 8;
OFTINGER/STARK I, § 4 N 9 f.; AEPLI, S. 406; BGE 115 II 15, 18 f. (Erw. 3a).
7 GABRIEL, N 302.
8 GABRIEL, N 280 ff.
5
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15
16
1 Übersicht und Definition
droit“ durch „une manière illicite“ ersetzt worden, weshalb die subjektive Wider-
rechtlichkeitstheorie nicht mehr mit Hinweis auf den französischen Wortlaut des
OR begründet werden kann. 9
Da sich die Widerrechtlichkeit durch die Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen
auszeichnet, zieht GABRIEL die Bezeichnung „negative Widerrechtlichkeitstheorie“
vor. Damit werde klarer zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der Widerrechtlichkeit
im Grunde um ein negatives Tatbestandselement handelt. 10 Nicht der
Geschädigte hat die Widerrechtlichkeit nachzuweisen, sondern der Schädiger hat
das Fehlen der Widerrechtlichkeit durch Vorbringen eines Rechtfertigungsgrundes
darzulegen.
Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
und der vorherrschenden objektiven Widerrechtlichkeitstheorie.
Hat bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie der Schädiger seine Schädigungsbefugnis
darzulegen, liegt es bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
am Geschädigten, dem Schädiger einen Verstoss gegen ein Schädigungsverbot
nachzuweisen. Anders formuliert, gilt bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
jedes schädigende Verhalten prima facie als widerrechtlich, bis der Nachweis
eines Rechtfertigungsgrundes erbracht wird, während bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
jedes schädigende Verhalten prima facie als erlaubt gilt bis
zum Nachweis eines objektiven Normverstosses.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen der subjektiven und der objektiven
Widerrechtlichkeitstheorie besteht darin, dass die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
auf die Unterscheidung zwischen absoluten Rechten (Leib und Leben,
Eigentum, Persönlichkeitsrecht, usw.) sowie Vermögen verzichtet. Jede Beeinträchtigung
der Rechtssphäre eines anderen gilt als widerrechtlich, sofern nicht
gerechtfertigt, unbesehen der Qualifikation des geschädigten Rechtsgutes.
9
BOSSHARD, S. 46.
10
BURCKHARDT, S. 514; GABRIEL, N 282; 356; WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.51; a.M.
OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 224 (Fn. 318): demnach seien Rechtfertigungsgründe gerade
nicht als negative Begriffsmerkmale der Widerrechtlichkeit aufzufassen, sondern
es sei die Widerrechtlichkeit stets positiv zu bestimmen.
6

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
1.2 Elemente der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
Auch wenn die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie primär auf die Prüfung von
Rechtfertigungsgründen ausgerichtet ist, 11 darf nicht ausser Acht gelassen werden,
dass zunächst die Widerrechtlichkeit eines schädigenden Verhaltens feststehen
muss, bevor sich die Prüfung von Rechtfertigungsgründen aufdrängt. 12 Was nicht
widerrechtlich ist, soll auch nicht gerechtfertigt werden müssen.
Die Vertreter der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie bestimmen die Widerrechtlichkeit
entweder nach dem Erfolg (Erfolgsunrecht) oder nach dem Verhalten
(Verhaltensunrecht). Im Folgenden wird deshalb zwischen der verhaltensbezogenen
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie und der erfolgsbezogenen subjektiven
Widerrechtlichkeitstheorie unterschieden. 13
1.2.1 Exkurs: Abgrenzung von Verhaltensunrecht und Erfolgsunrecht
In der Literatur und Rechtsprechung werden die Bezeichnungen Verhaltensunrecht
und Erfolgsunrecht bisweilen als Synonyme für Schutznormtheorie und die Erfolgsunrechtstheorie
verwendet. Dies ist ungenau, weil diese Bezeichnungen nur
den Ansatz zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit bezeichnen und nicht die entsprechende
Theorie selbst.
Beim Verhaltensunrecht bestimmt sich die Widerrechtlichkeit erst aufgrund einer
Bewertung des Schädigerverhaltens. Dies ist bei der Schutznormtheorie der Fall,
da Widerrechtlichkeit erst dann vorliegt, wenn das Verhalten des Schädigers gegen
Gebote und Verbote verstösst. Aber auch andere Widerrechtlichkeitstheorien, so
etwa die Sorgfaltspflichttheorie und die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie,
basieren auf diesem Ansatz. Zum Verhaltensunrecht im weiteren Sinne sind auch
Rechtfertigungsgründe zu zählen, da auch hier das Verhalten des Schädigers einer
Prüfung unterzogen wird.
11
GABRIEL, N 303.
12
OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 224 (Fn. 318), m.w.H.
13
Vgl. ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 518, betr. Unterscheidung zwischen erfolgsbezogenen
und verhaltensbezogenen Widerrechtlichkeitstheorien.
7
17
18
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21
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1 Übersicht und Definition
Pendant zum Verhaltensunrecht ist das Erfolgsunrecht. Hier bestimmt sich Widerrechtlichkeit
einer schädigenden Handlung aufgrund des Erfolgs, d.h. des Schadenseintritts.
Die Erfolgsunrechtstheorie, nomen est omen, ist zwar der klassische
Vertreter dieses Ansatzes, dennoch finden sich auch bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
Elemente dieses Ansatzes. Das Prädikat des Erfolgsunrechts
gilt deshalb nicht ausschliesslich für die Erfolgsunrechtstheorie.
Die Klarstellung, dass die Bezeichnungen Verhaltensunrecht und Erfolgsunrecht
nur beschreibender Natur sind und keine bestimmte Widerrechtlichkeitstheorie
bezeichnen, drängt sich auf, weil in den weiteren Ausführungen oft die Bezeichnungen
Verhaltensunrecht bzw. Erfolgsunrecht zur Beschreibung der verschiedenen
Widerrechtlichkeitstheorien verwendet werden.
1.2.2 Widerrechtlichkeit und Rechtfertigungsgründe gemäss der „verhaltensbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
Die verhaltensbezogene Widerrechtlichkeitstheorie betrachtet die Rechtsordnung
als System von Berechtigungen. 14 Nicht der Verstoss gegen ein Verbot muss gerechtfertigt,
sondern die Befugnis zu einem bestimmten Verhalten dargelegt werden.
15 Ähnlich dem Gesetzmässigkeitsprinzip im Verwaltungsrecht darf nur handeln,
wer sich auf eine entsprechende Berechtigung oder Befugnis stützen kann.
Ohne diese Befugnis gilt jede Handlung, Tun und Unterlassen, des Schädigers als
widerrechtlich, unabhängig davon, ob ein Erfolg eintritt oder nicht.
Ein wesentliches Element der verhaltensbezogenen Widerrechtlichkeitstheorie
besteht darin, dass aktives und passives Verhalten des Schädigers gleichgestellt
sind. Dass heisst, jegliches Verhalten des Schädigers, ob Tun oder Unterlassen,
muss sich auf eine subjektive Befugnis abstützen. Die Widerrechtlichkeit einer
Unterlassung ist somit ohne Weiteres gegeben, wenn der Schädiger sein Verhalten
nicht zu rechtfertigen vermag.
14 Kritisch VON TUHR, S. 327.
15 RENSING, S. 13, 19, 39.
8

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
1.2.3 Widerrechtlichkeit und Rechtfertigungsgründe gemäss der „erfolgsbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
Bei der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie indiziert erst der
Erfolg, d.h. der Schadenseintritt, die Widerrechtlichkeit eines Schadens. Die Widerrechtlichkeit
wird begründet als Verstoss gegen das allgemeine Schädigungsverbot
(„neminem laedere“). Der Schädiger handelt somit widerrechtlich, wenn er
irgendein Recht, sei es ein absolutes Recht oder auch nur das Vermögen, des Geschädigten
verletzt. 16 Die Widerrechtlichkeit wird nur ausgeschlossen, wenn der
Schädiger sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. 17
Aus dem allgemeinen Schädigungsverbot lässt sich jedoch noch kein Schadensabwendungsgebot
herleiten. Gemäss Lehre und Rechtsprechung besteht auch für die
subjektive Widerrechtlichkeitstheorie der Grundsatz der befugten Untätigkeit. Ein
Unterlassen ist deshalb nur dann widerrechtlich, wenn der Schädiger gegen ein
spezifisches Verhaltensgebot verstösst. 18
1.3 Kernaussagen zur subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
Bei der verhaltensbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie gilt zur Bestimmung
der Widerrechtlichkeit und zu den Rechtfertigungsgründen Folgendes:
• Bei der verhaltensbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie gilt
jedes Verhalten, ob Tun oder Unterlassen, das sich nicht auf eine entsprechende
Befugnis abstützt, als widerrechtlich (vgl. Rz. 37 ff.).
• Der Umstand, dass der Schädiger für sämtliches Handeln eine Befugnis
vorzubringen hat, wird dabei von der Lehre als unvereinbar mit einer liberalen
Rechtsordnung kritisiert (vgl. Rz. 40 ff.).
• Die Prüfung der Widerrechtlichkeit respektive der Rechtfertigungsgründe
ist zweistufig. Zuerst wird geprüft, ob die Rechtsordnung einen Rechtfer-
16 GABRIEL, N 843; GMÜR, S. 621.
17 GABRIEL, N 304 (Fn. 29).
18 BGE 115 II 15, 19 (Erw. 3b).
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27
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1 Übersicht und Definition
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tigungsgrund gewährt, anschliessend wird geprüft, ob die Art der Rechtsausübung
allenfalls rechtsmissbräuchlich ist (vgl. Rz. 43 ff.).
Bei der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie lassen sich zur
Widerrechtlichkeit und zu den Rechtfertigungsgründen folgende Aussagen machen:
• Gegenüber der Erfolgsunrechtstheorie hat die erfolgsbezogene subjektive
Widerrechtlichkeitstheorie den Vorteil, dass sie auf die Unterscheidung
zwischen absoluten Rechten und reinem Vermögen verzichtet. Die Widerrechtlichkeit
ergibt sich aus dem Verstoss gegen das allgemeine Schädigungsverbot
(„neminem laedere“) (vgl. Rz. 48 ff.).
• Da sich jedoch die Widerrechtlichkeit erst aufgrund des Schadenseintritts
ergibt, ist dieser Widerrechtlichkeitsbegriff zur Begründung der Präventivansprüche
des Geschädigten (Notwehr, Unterlassung und Beseitigung)
ungeeignet (vgl. Rz. 50).
• Wegen des Grundsatzes der befugten Untätigkeit gilt auch für die erfolgsbezogene
subjektive Widerrechtlichkeitstheorie, dass eine Unterlassung
nur widerrechtlich ist, sofern der Schädiger gegen ein spezifisches -
Schadensabwendungsgebot (Schutznorm, Garantenpflicht) verstösst (vgl.
Rz. 51 ff.).
• Als Rechtfertigungsgründe kommen Einwilligung des Geschädigten, Gesetz,
überwiegendes öffentliches oder privates Interesse in Frage. Diese
gründen letztlich in einer umfassenden Interessenabwägung durch den
Richter (vgl. Rz. 58 ff.).
Beide Varianten der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie beinhalten Abgrenzungsprobleme:
• Geht man von einem objektivierten Verschuldensbegriff aus, lassen sich
Verschulden und Widerrechtlichkeit nicht klar abgrenzen, da sowohl bei
den Rechtfertigungsgründen als auch bei den Sorgfaltspflichten das Schädigerverhalten
nach einem objektiven Massstab beurteilt wird (vgl.
Rz. 69 ff.).

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
• Gilt jede Unterlassung generell als widerrechtlich, hätte der Schädiger
sein Nicht-Handeln zu rechtfertigen. Hierbei handelt es sich um eine unbestimmte
negative Tatsache, für die der Geschädigte die Beweislast trägt
und nicht, wie bei den übrigen Rechtfertigungsgründen, der Schädiger.
Bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie ändert sich die Beweislast
für die Widerrechtlichkeit, je nachdem, ob dem Schädiger ein aktives oder
passives Verhalten vorgeworfen wird (vgl. Rz. 73 ff.).
• Die generelle Widerrechtlichkeit von Vermögensschäden führt zu Problemen
der Abgrenzung zwischen der deliktischen und der vertraglichen
Haftung. Da gemäss der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie sämtliche
Schäden als widerrechtlich gelten, fallen darunter auch sämtliche Schäden
aus Vertragsverletzung. Das Nebeneinander der Vertragshaftung und der
Verschuldenshaftung führt zu widersinnigen Konstellationen bei der Beweislastverteilung
(vgl. Rz. 79 ff.).
2 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „verhaltensbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
2.1 Definition der Widerrechtlichkeit
Die verhaltensbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie wird von RENSING
vertreten. Nach ihm ist jedes Handeln und jedes Ruhen widerrechtlich, es sei denn,
der betreffende Mensch könne sich im Einzelfall auf eine entsprechende Berechtigung
berufen. Er folgt damit dem Grundsatz: „was nicht erlaubt ist, ist verboten.“
19 Diese Interpretation der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie gründet im
römischen Rechtsverständnis, wonach das Recht als System von Berechtigungen
und Befugnissen und nicht als System von Geboten und Verboten verstanden
wird. 20
19 RENSING, S. 12 ff.; kritisch GMÜR, S. 621, und VON TUHR, S. 327.
20 RENSING, S. 12, BOSSHARD, S. 45; ablehnend WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.46.
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2 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „verhaltensbezogenen“ subjektiven
12
Widerrechtlichkeitstheorie
Subjektive und objektive Widerrechtlichkeitstheorie unterscheiden sich nach
RENSING dadurch, dass der Schädiger bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
durch Ausmitteln seines eigenen Rechtsgebietes und damit seiner Befugnisse zu
bestimmen hat, ob sein Verhalten rechtmässig ist. Bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
hat der Schädiger hingegen vorsichtig zu eruieren, wo das Rechtsgebiet
des Dritten anfängt. Erstere Vorgehensweise sei jedoch einfacher, da der
Schädiger über die eigenen Befugnisse besser informiert ist als über den Umfang
der Rechte Dritter. 21
Die verhaltensbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie kann auf die problematische
Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Schädigungshandlung
und zwischen absoluten Rechten und dem Vermögen verzichten, da sämtliches
Verhalten – Tun und Unterlassen – prima facie als widerrechtlich gilt. Die Widerrechtlichkeit
einer Schädigung lässt sich somit nach einem einheitlichen Konzept
bestimmen, nämlich über die Abwesenheit einer subjektiven Schädigungsbefugnis.
22 Dieser Ansatz wird in der Lehre aber auch stark kritisiert.
KÄNZIG hält die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie, welche von „ein[em] generelle[n]
Verbot jeglicher menschlichen Tätigkeit und jeglichen Ruhens“ ausgeht,
von dem erst „durch Erteilung von Berechtigungen an den einzelnen Rechtsgenossen
Ausnahmen geschaffen würden“, für eine gedankliche Unmöglichkeit 23 und
auch nach GMÜR würde die allgemeine Präsumption der Widerrechtlichkeit, nach
dem Grundsatz: „was nicht erlaubt ist, ist verboten“, zu weit gehen. 24 Der Gesetzgeber
könne nicht die Aufgabe haben, den Menschen das Tätigsein und Ruhen erst
zu erlauben, sondern stehe vor dem Problem, wie er das durch die Natur vorgegebene
Tätigsein der Menschen durch Gebote und Verbote organisieren will. Das
21 RENSING, S. 13.
22 VON TUHR, S. 327.
23 KÄNZIG, S. 47, 48.
24 GMÜR, S. 621.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
Recht erlaube es dem Menschen nicht, zu essen oder zu schlafen. Dies seien vor-
gegebene Tatsachen, mit denen jede Rechtsordnung zu leben habe. 25
Dieser Einwand muss dahingehend eingeschränkt werden, dass der Gedanke, wonach
sich ein Verhalten auf eine entsprechende Berechtigung stützen muss, der
schweizerischen Rechtsordnung nicht völlig fremd ist. Man findet dies z.B. als
Gesetzmässigkeitsprinzip im Verwaltungsrecht. Sämtliche Verwaltungstätigkeit,
ob Eingriffs- oder Leistungsverwaltung, muss ihre Grundlage in einem Gesetz
finden. Beruht eine Tätigkeit nicht auf einem Gesetz, ist sie unzulässig, e contrario
gilt eine gesetzeskonforme amtliche Tätigkeit als erlaubt bzw. geboten. 26 Für das
Haftpflichtrecht wird dieser Ansatz im Rechtfertigungsgrund der Amtspflicht konkretisiert.
Nur die gesetzmässige Ausübung öffentlicher Gewalt ist gerechtfertigt. 27
Ferner gründet auch der Anspruch auf Notwehr letztendlich auf eine durch das
Gesetz verliehene, besondere Schädigungsbefugnis. 28 Im Übrigen muss nicht jegliches
Verhalten des Menschen gerechtfertigt werden, für das Haftpflichtrecht sind
im Grunde nur jene Verhaltensweisen relevant, welche zu einer Schädigung führen.
Nach WIDMER lässt sich die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie schlecht mit
dem Bild der liberalen Rechtsordnung vereinbaren. Seiner Ansicht nach müsse
dem Haftpflichtrecht die Idee zugrunde liegen, dass dem Aktivitätsinteresse unter
Vorbehalt wesentlicher Integritätsinteressen freie Bahn zu lassen ist. Auch aus
beweisrechtlichen Aspekten sei es abzulehnen, dass der Beklagte a priori seine
Schädigungsbefugnis darzutun habe und nicht der Geschädigte die Verletzung
seines Rechts. 29
25 KÄNZIG S. 47; BOSSHARD, S. 46.
26 HÄFELIN/MÜLLER, N 368 ff., 413 ff.
27 Vgl. Rz. 151 ff.
28 RENSING, S. 54.
29 WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.46.
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44
45
2 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „verhaltensbezogenen“ subjektiven
14
Widerrechtlichkeitstheorie
2.2 Definition der Rechtfertigungsgründe
RENSING versteht das Wort Recht in Widerrechtlichkeit als das Recht des Han-
delnden im Sinne der Berechtigung. Wer ohne Recht handelt, handelt somit wider-
rechtlich. Dieses Recht respektive diese Berechtigung ergeben sich dabei aus der
Rechtsordnung und insbesondere durch entsprechende Gesetzesbestimmungen. 30
Solange der Schädiger im Rahmen dieser Berechtigung handelt, liegt keine Widerrechtlichkeit
vor. 31
Die Handlung selbst ist jedoch in ihrer Totalität und nicht als einzelner Akt der
physischen Bewegung zu betrachten. RENSING illustriert dies am Beispiel des
Streichholzes. Das Eigentum am Streichholz berechtigt zwar dazu, dieses zu entzünden,
nicht jedoch, damit den Rock eines anderen in Brand zu setzen. 32 Die
Ausübung des eigenen Rechts findet deshalb ihre Schranken an fremden Rechten. 33
VON TUHR versteht dies als Konzession RENSINGs an die objektive Widerrechtlichkeitstheorie,
welche das Delikt als Verletzung fremder Rechte und Rechtsgüter
auffasst. 34 Erst unter Berücksichtigung des Schutzbereichs fremder Rechte lässt
sich das Ausmass des eigenen Rechts bestimmen. Damit verringert sich der Unterschied
zwischen der objektiven und der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie.
Auch bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie ist der Schutzbereich der absoluten
Rechte zu bestimmen, bevor feststeht, ob eine Handlung diesen Schutzbereich
tangiert. 35
RENSING führt auch aus, dass die Art der Rechtsübung allenfalls geeignet sei, eine
an sich berechtigte Handlung doch noch als widerrechtlich erscheinen zu lassen.
Die aus der Berechtigung fliessende Befugnis zur Handlung ist, wie jedes Recht,
beschränkt durch das Gebot des Handelns nach Treu und Glauben und das Rechts-
30 RENSING, S. 13 f.
31 RENSING, S. 37 f.
32 RENSING, S. 39.
33 RENSING, S. 38.
34 VON TUHR, S. 328.
35 Vgl. Rz. 112 ff.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
missbrauchsverbot. 36 Die Ausübung eines Rechts, zum blossen Zweck den Frieden
des anderen zu stören oder zu schaden, werde durch die Rechtsordnung nicht gewährleistet.
37 Die schikanöse oder unlautere Ausübung eines an sich bestehenden
Rechts hebt die Widerrechtlichkeit deshalb nicht auf. 38
Damit setzt die verhaltensbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie zur Bestimmung
der Widerrechtlichkeit zwei Prüfungsschritte voraus. Zunächst sind der
Rechtfertigungsgrund (subjektive Berechtigung) und dessen Ausmass zu bestimmen,
wobei hier der Schutzumfang der Rechte anderer mit berücksichtigt wird.
Anschliessend ist zu prüfen, ob die Ausübung des Rechtfertigungsgrundes allenfalls
schikanös ist.
Sowohl die Prüfung der Rechtfertigungsgründe als auch die Prüfung der Art der
Rechtsausübung gründen letzten Endes in einer Interessenabwägung durch den
Richter. Würde die Widerrechtlichkeit hingegen von vornherein als umfassende
Interessenabwägung durch den Richter definiert, könnte die Widerrechtlichkeit
direkt und ohne Umwege bestimmt werden.
3 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „erfolgsbezogenen“
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
3.1 Definition der Widerrechtlichkeit
3.1.1 Verstoss gegen das allgemeine Schädigungsverbot durch eine aktive
schädigende Handlung
Die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie wird sinngemäss von
GABRIEL vertreten und von GMÜR beschrieben. 39 Wer gegen das allgemeine Schä-
36 GABRIEL, N 352 f.
37 RENSING, S. 40.
38 RENSING, S. 46.
39 GABRIEL, N 843; kritisch GMÜR, S. 621.
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3 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „erfolgsbezogenen“ subjektiven
16
Widerrechtlichkeitstheorie
digungsverbot („neminem laedere“) verstösst, 40 handelt widerrechtlich, es sei
denn, der Schädiger kann sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen. Das allgemeine
Schädigungsverbot lässt sich auch mit der Norm „Du sollst nicht fremdes
Vermögen schädigen“ umschreiben. 41 Damit wird zugleich die Ähnlichkeit der
erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie mit der Erfolgsunrechtstheorie
und ihrer Norm „du sollst nicht ... was (nämlich fremdes Leben und Eigentum
[…]) verletzen“ deutlich. 42 Der Unterschied besteht darin, dass bei der erfolgsbezogenen
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie die Beeinträchtigung irgendeiner
Rechtsposition eines anderen (absolute Rechte oder Vermögen) widerrechtlich
ist. 43 Sofern ein absolutes Recht betroffen ist, besteht kein Unterschied
zwischen der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie und der
objektiven Widerrechtlichkeitstheorie, zumal bei beiden Theorien die Schädigung
die Widerrechtlichkeit indiziert.
Die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie kann zwar auf die
Unterscheidung zwischen den absoluten Rechten und dem Vermögen verzichten,
da der Widerrechtlichkeitsbegriff jedoch den Eintritt eines Schadens voraussetzt,
ist die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie weitgehend mit denselben
Problemen konfrontiert wie die Erfolgsunrechtstheorie. 44
Der Widerrechtlichkeitsbegriff der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
ist etwa zur Wahrung der Präventivansprüche des Geschädigten (Notwehr,
Unterlassungsklage, Beseitigungsklage) ungeeignet, da erst der Schadenseintritt
die Widerrechtlichkeit indiziert. Mit anderen Worten müsste der potenziell
40
Das allgemeine Schädigungsverbot „neminem laedere“, auch bekannt in der Fassung
„alterum non laedere“. Mit „honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique
tribuere“ [übersetzt: „ehrenhaft leben, andere nicht kränken oder schädigen, jedem das
Seine zugestehen“] hat der römische Jurist ULPIAN das Wesen der Gerechtigkeit beschrieben,
in: Corpus Iuris Civilis, Institutionen I, I, 3.
41
GMÜR, S. 621.
42
MERZ, S. 309.
43
REY, N 681; GABRIEL, N 290.
44 Vgl. Rz. 154 ff.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
Geschädigte den Schadenseintritt abwarten, bevor er seine Präventivansprüche
ausüben darf. Bei der Erfolgsunrechtstheorie wird von der Lehre vorgeschlagen,
die Widerrechtlichkeit nicht erst bei der Verletzung der Rechte des Geschädigten
eintreten zu lassen, sondern bereits bei deren Gefährdung. 45 Dies ist für die erfolgsbezogene
subjektive Widerrechtlichkeitstheorie problematisch, weil sie damit
um einen weiteren Wertungsbegriff erweitert wird, da das relevante Mass der Gefährdung
jeweils festgesetzt werden muss. Zudem müssten neue Rechtfertigungsgründe
aufgestellt werden, welche die blosse Gefährdung der Interessen rechtfertigen
würden, denn nicht jede Gefährdung der vermögenswerten Interessen darf
bereits zur Unterlassungsklage oder Notwehr berechtigen.
3.1.2 Verstoss gegen ein spezifisches Schadensabwendungsgebot durch eine
passive schädigende Handlung (Unterlassen)
a) Beurteilung passiver Schädigungen nach herrschender Rechtsprechung
Wird eine Schädigung durch Unterlassen verursacht, ist der Theorienstreit zwischen
erfolgsbezogener subjektiver Widerrechtlichkeitstheorie und objektiver Widerrechtlichkeitstheorie
weitgehend obsolet, 46 da bei beiden Theorien der Grundsatz
der befugten Untätigkeit berücksichtigt wird:
„Bedarf aber die Untätigkeit im allgemeinen keiner besonderen
Rechtfertigung, kann sie auch nach der subjektiven
Theorie nicht grundsätzlich als widerrechtlich erscheinen,
und der Haftungsausschluss darf nicht von
einem zusätzlichen Rechtfertigungsgrund abhängen. [...].
Nach der einen wie der andern Theorie hängt demnach
die Frage der widerrechtlichen Unterlassung im Sinne
von Art. 41 Abs. 1 OR ausschliesslich von der Verletzung
einer objektiven Norm ab, und zwar zwingend von einer
45
Vgl. Rz. 154 ff.
46
BeK-BREHM, OR 41 N 33g, m.w.H.; vgl. aber GABRIEL, N 339.
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3 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „erfolgsbezogenen“ subjektiven
18
Widerrechtlichkeitstheorie
Schutznorm zu Gunsten des Geschädigten. [...] Daraus
aber folgt, dass der Theorienstreit zum Begriff der Widerrechtlichkeit
auch im Bereich der Unterlassungen ohne
Bedeutung ist, und zwar unbesehen darum, ob für
Schäden aus der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter
oder für reine Vermögensschäden Ersatz beansprucht
wird.“ 47 (Hervorhebung beigefügt)
Demzufolge ist sowohl bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie als auch bei
der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie eine Schädigung
durch Unterlassen nur dann widerrechtlich, wenn zugleich eine entsprechende
Schutznorm verletzt wurde.
Für die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie bedeutet dies, dass
sich die Widerrechtlichkeit nicht nur über die Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen
definieren lässt. Hält man am Grundsatz der befugten Untätigkeit fest,
setzt die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie einen zweigliedrigen
Widerrechtlichkeitsbegriff voraus. Die Widerrechtlichkeit einer aktiven Schädigung
wird über die Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen bestimmt, während
die Widerrechtlichkeit einer Unterlassung eine Garantenstellung oder die Verletzung
eines Handlungsgebots voraussetzt. 48
Für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit gelangen damit zwei unterschiedliche
Konzepte zur Anwendung, je nachdem, ob eine aktive oder eine passive Schädigung
vorliegt, was sich mitunter nur schwer bestimmen lässt. 49 Problematisch ist
auch, dass bei aktiven Schädigungen der Schädiger den Nachweis eines Rechtfertigungsgrundes
erbringen muss, bei passiven Schädigungen hingegen der Geschädigte
den Verstoss gegen ein Verhaltensgebot nachzuweisen hat. Je nach Qualifizierung
des Schädigerverhaltens hat der Schädiger respektive der Geschädigte
somit die Beweislast für die Widerrechtlichkeit zu tragen.
47 BGE 115 II 15, 19 (Erw. 3b).
48 Vgl. Rz. 139 ff.
49 Vgl. Rz. 144.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
b) Beurteilung passiver Schädigungen gemäss GABRIEL
GABRIEL sieht hingegen keine Notwendigkeit, die passive Schädigung anders zu
behandeln als die aktive Schädigung, und verzichtet damit auf den Ansatz der
befugten Untätigkeit. Nach ihm gilt auch die Schädigung durch Unterlassen zunächst
als widerrechtlich, so beispielsweise, wenn jemand einem Verletzten nicht
hilft und dieser deshalb einen grösseren Schaden erleidet, als wenn ihm geholfen
worden wäre. Er mildert die generelle Widerrechtlichkeit von Schädigungen durch
Unterlassungen, indem er im persönlichen Freiheitsrecht, ungestört und in Ruhe
gelassen zu werden („persönliches Interesse der Ungestörtheit“), einen möglichen
Rechtfertigungsgrund sieht, welcher zur Unterlassung berechtigt. 50
Die Ansicht, dass die befugte Untätigkeit vom Vorliegen eines zusätzlichen Rechtfertigungsgrunds
abhängt, lässt sich aber nur vertreten, wenn Art. 41 OR nicht nur
ein allgemeines Schädigungsverbot, sondern zugleich ein allgemeines Schadensabwendungsgebot
umfassen würde. Dieser Ansatz findet in der Rechtsprechung
jedoch nicht einmal in Bezug auf absolute Rechte Beachtung. 51
Die Gleichstellung aktiver und passiver Schädigungen bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
hat einige praktische Probleme zur Folge. Diese werden im
Abschnitt „Besondere Abgrenzungsprobleme“ näher betrachtet (vgl. Rz. 69 ff.).
3.2 Definition der Rechtfertigungsgründe
Nach GABRIEL liegen die Schwierigkeiten der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
in der Umschreibung der Rechtfertigungsgründe. 52 Er unterscheidet dabei
zwischen drei Kategorien von Rechtfertigungsgründen: Rechtfertigungsgründe
aufgrund des Willens des Geschädigten, gesetzliche Rechtfertigungsgründe und
Rechtfertigungsgründe aufgrund des überwiegenden privaten oder öffentlichen
Interesses. Formell sieht er die Grundlage für diese Rechtfertigungsgründe in
50
GABRIEL, N 339.
51
Vgl. BGE 80 II 26, 39 (Erw. 5a) betr. Persönlichkeitsrecht; vgl. BGE 118 II 502, 507
(Erw. 3) betr. Eigentum.
52
GABRIEL, N 830.
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3 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „erfolgsbezogenen“ subjektiven
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Widerrechtlichkeitstheorie
Art. 28 II ZGB. Für Persönlichkeitsverletzungen ergeben sich die Rechtfertigungsgründe
direkt aus diesem Artikel, für die übrigen Schädigungstatbestände lassen
sich die Rechtfertigungsgründe zumindest hieraus ableiten, weil die Bestimmung
in dieser Hinsicht verallgemeinert werden kann. 53
Die Einteilung der Rechtfertigungsgründe in die oben genannten drei Kategorien
mag zwar der Typisierung und Systematisierung von Rechtfertigungsgründen
behilflich sein, letztlich verlangen aber alle Rechtfertigungsgründe das Abwägen
von öffentlichen und privaten Interessen. Das heisst, dass sämtliche Rechtfertigungsgründe
sich auf eine umfassende Interessenabwägung durch den Richter
zurückführen lassen.
Diese Interessenabwägung findet auch beim Rechtfertigungsgrund der Einwilligung
des Geschädigten statt. Willigt der Geschädigte in die Schädigung ein bzw.
nimmt er das Risiko der Schädigung auf sich, 54 verzichtet er im Grunde auf die
Geltendmachung seines Integritätsinteresses. Die Einwilligung findet jedoch ihre
Grenzen an den öffentlichen Interessen, weshalb die Einwilligung in sittenwidrige
oder ungesetzliche Schädigungen nichtig ist. 55
Auch die gesetzlichen Rechtfertigungsgründe wie Notwehr, Notstand und Selbsthilfe
sind von Wertungsfragen geprägt, welche erst im Einzelfall entschieden werden
können. So enthalten Gesetzesbestimmungen Tatbestandselemente, wie „erforderliche
Verteidigung“ (Art. 52 I OR), „nicht anders abwenden kann“ (Art. 52
II OR) und „nach den gegebenen Umständen“ (Art. 52 III OR), welche der Konkretisierung
im Einzelfall bedürfen. 56 Bei der Notwehr z.B. findet eine Abwägung
zwischen dem Schutz der privaten Interessen des Angegriffenen und des Angreifers
statt, 57 und auch Notstand ist nur zulässig, wenn das bedrohte Recht einen
53 GABRIEL, N 304 (Fn. 29), gl. M. WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.51.
54
Vgl. GABRIEL, N 309 ff., betr. Unterscheidung zwischen Einwilligung und Risikoübernahme.
55
HONSELL, § 5 N 19; RENSING, S. 47 f.
56 GABRIEL, N 350, 833.
57 HONSELL, § 5 N 7.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
höheren Wert hat als das durch die Notstandshandlung verletzte. 58 Bei den gesetz-
lichen Rechtfertigungsgründen steht somit vor allem die Abwägung konkurrieren-
der privater Interessen im Vordergrund.
Der Rechtfertigungsgrund des überwiegenden privaten oder öffentlichen Interesses
ist bereits vom Begriff her von einer Interessenabwägung begleitet. Hierbei kommen
nicht nur die Interessen des Geschädigten, sondern auch die Interessen des
Schädigers, Dritter, aber auch der Öffentlichkeit in Frage. 59
Die in Art. 28 II ZGB aufgeführten Rechtfertigungsgründe der Einwilligung des
Verletzten, die gesetzlichen Rechtfertigungsgründe (Notstand, Notwehr, Selbsthilfe)
und die überwiegenden öffentlichen und privaten Interessen, haben daher
stets eine Interessenabwägung zum Inhalt. 60 Die Rechtfertigungsgründe können
somit auch als Ergebnis einer individuell-konkreten Beurteilung und des Abwägens
der durch das schädigende Verhalten tangierten Interessen bezeichnet werden.
61 Die Bestimmung der Widerrechtlichkeit erschöpft sich somit weitgehend in
der Interessenabwägung durch den Richter. 62 Auch wenn es deshalb keine absoluten,
allgemein gültigen Rechtfertigungsgründe gibt, geht GABRIEL davon aus, dass
es typische Fälle gibt, die fast immer einen Rechtfertigungsgrund darstellen.
Hierzu zählt er etwa den notwendigen medizinischen Eingriff bei einem bewusstlosen
Verletzten. 63
Indem die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie sämtliche Schäden,
auch Vermögensschäden, zunächst als widerrechtlich bezeichnet, schürt sie
die Angst der uferlosen Ausweitung der Haftung und damit der übermässigen Ein-
58
HONSELL, § 5 N 13.
59
GABRIEL, N 337 ff.
60
GABRIEL, N 319.
61
GABRIEL, N 305.
62
Vgl. PERRIG, S. 327: Damit nähert sich die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
dem Ansatz PERRIGS an, der die Widerrechtlichkeit als Ergebnis einer Interessenabwägung
definiert.
63
GABRIEL, N 351.
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3 Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der „erfolgsbezogenen“ subjektiven
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Widerrechtlichkeitstheorie
engung der freien Entfaltung des Menschen durch das Haftpflichtrecht. 64 Dahinter
verbirgt sich wohl die Angst, dass, wenn keine starren dogmatischen Kriterien die
Widerrechtlichkeit definieren, der Schädiger im Zweifelsfall hafte.
Mit der Befürchtung der uferlosen Haftung ist zugleich der Gedanke verbunden,
dass die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie etliche Rechtfertigungsgründe
schaffen muss, damit die Haftung begrenzt bleibt. 65 Nach VON TUHR ist die subjektive
Widerrechtlichkeitstheorie gezwungen, auf dem Gebiet des rechtlich indifferenten
Handelns zahllose Befugnisse zu konstruieren, welche das Bild der
Rechtsordnung überflüssigerweise überlasten. 66 So müssten die natürlichen Tätigkeiten
des Menschen, wie etwa essen oder schlafen, auf eine Befugnis gründen,
damit sie nicht widerrechtlich wären. 67
GABRIEL weist diese Kritik in Bezug auf die erfolgsbezogene subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
zurück. Die Frage der Widerrechtlichkeit wird von den Widerrechtlichkeitstheorien
nicht generell, sondern einzig für das Haftpflichtrecht
beantwortet. Dieses setzt aber für die Entstehung eines Ersatzanspruchs stets das
Vorhandensein eines Schadens voraus. Zudem ist nach der erfolgsbezogenen subjektiven
Widerrechtlichkeitstheorie nicht jedes menschliche Verhalten verboten,
sondern nur jedes schädigende menschliche Verhalten gilt vorerst als verboten. Die
Konstruktion von Rechtfertigungsgründen finde daher nie im „Gebiet des rechtlich
indifferenten Handelns“ statt, da die Schädigung eines anderen von vornherein
niemals rechtlich indifferent sei. 68
GABRIEL möchte zudem die Gefahr der uferlosen Haftung mithilfe der anderen
Haftungsvoraussetzungen (Kausalität, Verschulden, Schaden) gebannt wissen. Die
wertenden Elemente in diesen Haftungsvoraussetzungen würden zur Begrenzung
64
GABRIEL, N 848 ff.
65
VON TUHR, S. 327.
66
VON TUHR/PETER, S. 408 f. (Fn. 17).
67
Kritisch KÄNZIG, S. 47 f., und BOSSHARD, S. 46.
68 GABRIEL, N 843.

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
der Haftung genügen. 69 Es erscheint wenig konsequent, wenn GABRIEL den Vorzug
der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie in der Reduktion der Anzahl wertender
Begriffe sieht und gleichzeitig eine Abgrenzung der Haftung über die anderen
Haftungsvoraussetzungen vornimmt. 70 Letztlich lassen sich sämtliche Wertungsfragen
bei den Rechtfertigungsgründen prüfen. Die Begrenzung der Haftung über
die übrigen Haftungsvoraussetzungen, wie dies GABRIEL vorschlägt, bezweckt im
Grunde lediglich eine Verlagerung der Beweislast. Wird die Begrenzung der Haftung
über die vom Geschädigten beweispflichtigen Haftungsvoraussetzungen
(Kausalzusammenhang, Verschulden, Schaden) gefordert, wird damit die Umkehr
der Beweislast bei der Widerrechtlichkeit teilweise negiert. Dieser Ansatz ist methodisch
unbefriedigend. Besser wäre es, wenn die geschädigte Person einen plausiblen
rechtspolitischen Grund nachzuweisen hat, der ihr die Überwälzung des
Schadens auf den Schädiger erlaubt. 71 Ansätze dazu finden sich bei der Schutznormtheorie,
der Sorgfaltspflichttheorie oder der Interessentheorie, welche in Rz.
341 ff. erläutert werden.
Diese Furcht vor der uferlosen Haftung ist aber ohnehin unbegründet. Bei der erfolgsbezogenen
subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie hat der Richter im konkreten
Fall stets eine Entscheidung zu fällen, ob der Ersatz des Schadens gerechtfertigt
ist oder nicht. Ein rechtsfreier Raum besteht gerade nicht, bei dem im Zweifelsfall
gehaftet wird. Probleme bereiten deshalb weniger die materielle Grundlage der
Haftung als die prozessuale und die beweisrechtliche Lage des Schädigers. Das
Unbehagen gegenüber der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie dürfte eher darin
seine Berechtigung finden, dass der Schädiger für die Rechtfertigung seiner Handlungen
die Beweislast trägt. Er haftet aber unter Umständen nicht nur für sein widerrechtliches
Verhalten, sondern auch für jenes rechtmässige Verhalten, für das er
den Nachweis eines Rechtfertigungsgrundes nicht zu erbringen vermag. Damit gilt
neben der Haftung für widerrechtliches Verhalten zusätzlich eine Haftung für die
69
GABRIEL, N 850 f.; KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 132; GAUCH/SWEET,
S. 137.
70
GABRIEL, N 841, 853.
71 WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.46.
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4 Besondere Abgrenzungsprobleme
Beweislosigkeit. Dieses zusätzliche Haftungsrisiko wirkt auf die wirtschaftliche
und persönliche Entfaltung des Schädigers lähmend.
4 Besondere Abgrenzungsprobleme
4.1 Abgrenzung von Sorgfaltspflicht und Rechtfertigungsgrund
Nach GABRIEL gilt für die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie der objektivierte
Verschuldensbegriff. 72 Eine ungerechtfertigte Schädigung ist deshalb erst dann
ersatzpflichtig, wenn der Schädiger eine objektiv bestimmte Verhaltenspflicht
(objektive Sorgfaltspflicht) verletzt hat. Wie bei der Schutznormtheorie dargelegt
wird, erschwert der objektivierte Verschuldensbegriff jedoch die Abgrenzung des
Verschuldens von der Widerrechtlichkeit. 73
Sowohl bei der Widerrechtlichkeit als auch beim Verschulden prüft der Richter das
Verhalten und die konkreten Umstände des Sachverhalts. Das durchschnittliche
Verhalten dürfte in der Regel auch gerechtfertigt sein, und ein rechtmässiges Verhalten
wird auch in der Regel mit einem sorgfältigen Handeln gleichzusetzen
sein. 74 Umgekehrt muss aber gelten, dass ein unsorgfältiges Verhalten nie gerechtfertigt
werden kann.
Bei der Schutznormtheorie stellt die doppelte Prüfung des Verhaltens sowohl beim
Verschulden als auch bei der Widerrechtlichkeit eine unnötige, aber letztlich unschädliche
Verdoppelung dar, 75 da der Geschädigte die Beweislast für Verschulden
und Widerrechtlichkeit trägt. Bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie hat
der Geschädigte hingegen nur das Verschulden zu beweisen, der Schädiger aber
das Fehlen der Widerrechtlichkeit. Sind jedoch sorgfältiges und gerechtfertigtes
Verhalten einerlei, müssen Schädiger und Geschädigter im Grunde dasselbe nachweisen.
Dies macht aus prozessökonomischer Sicht keinen Sinn.
72 GABRIEL, N 660.
73 Vgl. Rz. 219 ff.
74 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 80.
75 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 231.
24

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
Zudem stellt sich die Frage, wer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat.
Wenn dem Schädiger der Nachweis eines Rechtfertigungsgrundes misslingt, hat er
widerrechtlich gehandelt. Da sich die Sorgfalt im Grunde nach demselben Massstab
richtet, würde die Widerrechtlichkeit zugleich das Verschulden indizieren. Mit
anderen Worten führt die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie dazu, dass der
Schädiger gleichzeitig das Fehlen der Widerrechtlichkeit und des Verschuldens
nachzuweisen hätte. Letzteres könnte er im Grunde nur durch den Nachweis der
fehlenden Urteilsfähigkeit erreichen. Der Geschädigte hätte hingegen nur den
Schaden und den Kausalzusammenhang nachzuweisen. Eine solche weitgehende
Überwälzung der Beweislast auf den Schädiger dürfte den Geschädigten übermässig
bevorzugen.
4.2 Abgrenzung der Haftung bei passiver Schädigungshandlung
(Unterlassen)
Die Widerrechtlichkeit von passiven Schädigungen lässt sich bei der subjektiven
Widerrechtlichkeitstheorie im Wesentlichen auf drei Arten begründen. Bei der
erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie bedingt der Grundsatz
der befugten Untätigkeit, dass ein Unterlassen des Schädigers nur dann widerrechtlich
ist, wenn er damit gegen eine Schutznorm respektive eine Garantenpflicht
verstösst. Somit trägt der Geschädigte die Beweislast für die Widerrechtlichkeit
einer Schädigung durch Unterlassen. 76
GABRIEL verzichtet bei seiner Variante der erfolgsbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
auf den Grundsatz der befugten Untätigkeit und geht von
einem generellen Schadensabwendungsgebot aus. 77 RENSING geht hingegen bei der
verhaltensbezogenen subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie davon aus, dass jedes
Verhalten, d.h. auch das Unterlassen, per se widerrechtlich ist. 78 Beide Autoren
lehnen somit den Grundsatz der befugten Untätigkeit ab. Hat ein Unterlassen zu
einem Schaden geführt, haftet der Schädiger, sofern er keinen Rechtfertigungs-
76 Vgl. Rz. 54.
77 GABRIEL, N 339.
78 RENSING, S. 19.
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4 Besondere Abgrenzungsprobleme
grund darzulegen vermag. Er hat mit anderen Worten einen Rechtfertigungsgrund
zu finden, weshalb er zur Untätigkeit berechtigt respektive gegenüber dem Dritten
nicht zur Schadensabwehr verpflichtet war.
Nach GABRIEL kann die Schädigung durch Unterlassen allenfalls durch ein überwiegendes
privates Interesse des Schädigers an Ungestörtheit gerechtfertigt werden.
Dieser Rechtfertigungsgrund gelte jedoch nicht generell, sondern es seien die
beidseitigen Interessen des Schädigers und des Geschädigten im konkreten Fall
gegeneinander abzuwägen. 79 Dies entspricht dem Ansatz RENSINGs, wonach das
eigene Handeln respektive Ruhen an den Rechten des anderen seine Grenzen findet.
80 Der Schädiger hat deshalb nachzuweisen, weshalb die Rechte des Geschädigten
weniger wichtig waren als sein eigenes Interesse an Ungestörtheit.
Dies lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren. Wer beim Sonntagsspaziergang
am See zunächst einen Taschendiebstahl beobachtet und später einen ertrinkenden
Schwimmer sieht, hat wohl ein Interesse, seinen Spaziergang ungestört zu geniessen.
Um nicht haften zu müssen, hat der Spaziergänger aber nachzuweisen, dass er
gegenüber den geschädigten Personen keine Schadensabwendungspflicht hatte. Er
hätte somit zu beweisen, dass sein Interesse, ungestört zu sein, schwerer wiegt als
die Interessen des Bestohlenen am Schutz des Eigentums respektive des Schwimmers
am Leben. Dieser Nachweis dürfte dem Schädiger schwer fallen. Im Grunde
muss er nachweisen, dass dem Geschädigten kein schützenswertes Interesse zustand,
eine unbestimmte negative Tatsache. 81 Nach dem Grundsatz negativa non
sunt probanda trägt hierfür nicht der Schädiger die Beweislast, sondern der Ge-
79
GABRIEL, N 339.
80
RENSING, S. 38.
81
Vgl. aber WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.21, 2.46: Es sei fraglich, ob die Widerrechtlichkeit
respektive das Verschulden als Wertung überhaupt Beweisthema sein könne; ER-
LÄUTERNDER BERICHT, S. 117 f.: Das Verschulden stellt ein Werturteil des Gerichts
über ein bestimmtes Verhalten dar. Es ist also an sich nicht ein Sachverhalt, der bewiesen
werden kann. Nur das Verhalten, das dem Täter zuzurechnen ist, kann Gegenstand
eines Beweises sein.
26

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
schädigte. 82 Bei Schädigungen durch Unterlassen findet somit eine Beweislastum-
kehr statt.
Unabhängig davon, ob man nun vom Prinzip der befugten Untätigkeit ausgeht und
Widerrechtlichkeit nur beim Verstoss gegen eine Handlungspflicht bzw. Garantenpflicht
vorliegt, oder aber wie GABRIEL und RENSING auch für Schädigungen durch
Unterlassen einen Rechtfertigungsgrund verlangt, obliegt dem Geschädigten letztlich
der Nachweis der Widerrechtlichkeit einer Unterlassung.
Dies bedeutet aber auch, dass die Beweislast für die Widerrechtlichkeit unterschiedlich
verteilt wird, je nachdem, ob dem Schädiger eine aktive oder eine passive
Schädigung zur Last gelegt wird. Dies ist sowohl aus systematischer Sicht als
auch aus Gründen der Rechtssicherheit problematisch. Denn damit hängt das Beweisthema
des Geschädigten davon ab, ob der Richter das Verhalten des Schädigers
als aktive oder passive Schädigung wertet. Bevor der Geschädigte deshalb
einen Beweisbeschluss erhält, kann er nicht sicher sein, wofür er im Prozess letztendlich
beweispflichtig ist.
4.3 Abgrenzung der deliktischen von der vertraglichen Haftung
Die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie erlaubt es, die Haftung für reine Vermögensschäden
auf eine dogmatisch saubere Grundlage zu stellen, ohne auf das Kriterium
der Schutznormverletzung zurückgreifen zu müssen. 83 Dennoch führt die
grundsätzliche Ersetzbarkeit reiner Vermögensschäden zu einigen Abgrenzungsproblemen,
da eine Vielzahl von Vermögensschäden zumindest als notwendige
Nebenfolge in Kauf genommen wird und deshalb zahlreiche Rechtfertigungsgründe
aufzustellen sind. 84 So bringt der marktwirtschaftliche Wettbewerb zwangsläufig
mit sich, dass das, was der eine erwirbt, dem anderen entgeht. 85 Im Interesse
82 VOGEL/SPÜHLER, 10. Kapitel, N 41 f.
83 GAUCH/SWEET, S. 138.
84 GAUCH/SWEET, S. 138; VON TUHR, S. 327.
85 OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 66.
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4 Besondere Abgrenzungsprobleme
der freien Marktwirtschaft werden aber solche Schäden akzeptiert. 86 Der Gesetz-
geber respektive der Richter hat deshalb Schäden, die auf (lauteren) wirtschaftlichen
und anderen Wettbewerb zurückzuführen sind, als nicht ersatzberechtigt aufzuführen.
87 Eine Rechtfertigung lässt sich z.B. implizit aus dem UWG herauslesen.
Was nicht eine unlautere Schädigung im Sinne des UWG darstellt, ist eine erlaubte
Schädigung. 88
Die grundsätzliche Widerrechtlichkeit sämtlicher Schäden bei der subjektiven
Widerrechtlichkeitstheorie führt zu einer Überlagerung der Vertragshaftung durch
die Deliktshaftung. 89 Da jeder Schaden als widerrechtlich gilt, lassen sich sämtliche
Schäden aus Vertragsverletzung stets auch nach Art. 41 OR einklagen. Bei der
objektiven Widerrechtlichkeitstheorie ist dies hingegen nur dann der Fall, wenn die
Vertragsverletzung zugleich die Verletzung eines absoluten Rechts mit umfasst.
Die Vertragshaftung hat für den Geschädigten den Vorteil, dass sie nicht zwischen
absoluten Rechten und Vermögensrechten unterscheidet, womit allfällige Abgrenzungsschwierigkeiten
entfallen. 90 Ein weiterer Vorteil der Vertragshaftung ist, dass
hinsichtlich des Verschuldens eine Beweislastumkehr stattfindet. 91 Gegenüber der
Deliktshaftung nach der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie vereinfacht dies das
Beweisthema des Geschädigten. Statt Verschulden und Widerrechtlichkeit muss
der Geschädigte nur noch die Vertragsverletzung nachweisen, und der Schädiger
muss das Fehlen des Verschuldens nachweisen.
Die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie bietet hingegen gegenüber der Vertragshaftung
keine Vereinfachung des Beweisthemas. Bei der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie
hat der Geschädigte das Verschulden nachzuweisen und der Schä-
86 MERZ, S. 308 f.
87 OFTINGER/STARK I, § 4 N 15.
88 OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 75.
89 Vgl. OFTINGER/STARK I, § 4 N 14.
90 BeK-WEBER, OR 97 N 147 ff.
91 Art. 97 I OR; BaK-WIEGAND, OR 97 N 42, 61.
28

Kapitel 1: Die Subjektive Widerrechtlichkeitstheorie
diger die Rechtmässigkeit seines Verhaltens. Bei der Haftung aus Vertrag hat der
Geschädigte hingegen die Vertragsverletzung nachzuweisen und der Schädiger das
Fehlen von Verschulden. Die Beweisrollen von Schädiger und Geschädigtem sind
somit vertauscht, ohne dass die Vertragshaftung dem Geschädigten eine Vereinfachung
des Beweisthemas ermöglicht. Meines Erachtens macht die der subjektiven
Widerrechtlichkeitstheorie zugrunde gelegte Beweislastverteilung im Hinblick auf
Art. 97 OR wenig Sinn, da damit die Vertragshaftung für den Schädiger keine
Vereinfachung des Beweisthemas mehr bietet.
5 Fazit
Eine Kritik an der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie lautet, dass sie gezwungen
sei, nach immer neuen Rechtfertigungsgründen zu suchen, soll die allgemeine
Deliktshaftung nicht ausufern. Dem ist entgegenzuhalten, dass die objektive Widerrechtlichkeitstheorie
ihrerseits versucht, den Begriff der Schutznorm auszudehnen,
damit keine Haftungslücken entstehen. 92 Ob man sämtliches menschliches
Handeln über ein System von Berechtigungen oder über ein System von Verboten
regulieren möchte, ist auch eine Frage der Praktikabilität. 93 So kann man sich fragen,
ob es aufwendiger ist, ein System von Verboten oder ein System von Berechtigungen
aufzustellen, um das schädigende Verhalten auszuscheiden, für das der
Schädiger einzustehen hat.
Ein Vorteil der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie ist, dass sie auf die Diskriminierung
von reinen Vermögensschäden verzichtet und die Widerrechtlichkeit
weitgehend auf eine Interessenabwägung seitens des Richters zurückführt. 94 Dies
erlaubt dem Richter, eine für den konkreten Sachverhalt angemessene und gerechte
Lösung zu finden, ohne auf rechtliche Konstrukte oder konstruierte Schutznormen
zurückzugreifen. Alles in allem ist der Ansatz der subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie,
die Widerrechtlichkeit aufgrund des individuellen Sachverhalts und unter
92 RASCHEIN, S. 88; BGE 115 II 15, 19 (Erw. 3a).
93
VON TUHR, S. 327.
94
Vgl. Rz. 63.
29
83
84

85
5 Fazit
Abwägen der beteiligten Interessen zu begründen, begrüssenswert. Aus Gründen
der Rechtssicherheit und um der Präventionsfunktion des Haftpflichtrechts nachzukommen,
ist jedoch die Herausbildung typischer Rechtfertigungssituationen
wünschenswert.
Problematisch ist hingegen der Ansatz, dem Schädiger den Nachweis der Rechtmässigkeit
seines Verhaltens aufzulasten, statt vom Geschädigten den Nachweis
der Widerrechtlichkeit zu verlangen. 95 In einem liberalen Rechtssystem wird die
Freiheit des Einzelnen vermutet. Es hat deshalb nicht der Verursacher einer Schädigung
zu beweisen, dass er ein Recht zu handeln hatte, sondern es ist vielmehr an
der Person, die sich als geschädigt betrachtet, zu beweisen, dass die Schädigung
rechtswidrig ist. 96 Trägt der Geschädigte die Beweislast, besteht zudem eine Kongruenz
von Rechtsschutzinteresse und Beweispflicht. Derjenige, der einen Anspruch
durchsetzen will, soll auch die Erfüllung der entsprechenden Anspruchsgrundlagen
beweisen müssen.
95 Vgl. aber WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.21, 2.46; ERLÄUTERNDER BERICHT, S. 117 f.
96 DESCHENAUX/TERCIER, § 6 N 11; ERLÄUTERNDER BERICHT, S. 96.
30

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Kapitel 2: DIE OBJEKTIVE WIDERRECHTLICHKEITS-
THEORIE
1 Übersicht und Definition
1.1 Objektiver Normverstoss als Ausgangspunkt
Die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie wird von der herrschenden Lehre und
Rechtsprechung abgelehnt und es wird der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
zur Unterscheidung zwischen erlaubter und unerlaubter Handlungen der Vorzug
gegeben: 97
„Danach ist die Schadenszufügung widerrechtlich, wenn
sie gegen eine allgemeine gesetzliche Pflicht verstösst,
sei es, dass ein absolutes Recht des Geschädigten verletzt
(Erfolgsunrecht) oder eine reine Vermögensschädigung
durch Verstoss gegen eine einschlägige Schutznorm bewirkt
wird (Verhaltensunrecht). Die Widerrechtlichkeit
liegt im objektiven Normverstoss und entfällt, wenn ein
Rechtfertigungsgrund vorliegt.“ 98
Bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie ergibt sich somit die Widerrechtlichkeit
aus der Verletzung einer Verhaltensvorschrift, d.h. einem Verhaltensverbot
oder -gebot des objektiven Rechts. 99 Die objektive Widerrechtlichkeitstheorie
zeichnet sich dadurch aus, dass sie unterscheidet, ob die Verletzungshandlung
gegen ein sogenanntes absolutes Recht, wie Leib und Leben, Eigentum oder das
Persönlichkeitsrecht, oder aber gegen das Vermögen eines anderen gerichtet ist. Je
nachdem, welches Rechtsgut betroffen ist, wird der objektive Normverstoss unterschiedlich
definiert.
97
BGE 119 II 127, 128 f. (Erw. 3); BGE 122 III 176, 192 (Erw. 7b), statt vieler REY,
N 670 ff., m.w.H.
98 BGE 116 Ib 367, 374 (Erw. 4b).
99 REY, N 670.
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89
90
91
1 Übersicht und Definition
1.2 Elemente der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
1.2.1 Erfolgsunrechtstheorie
Bei der Verletzung gewisser als absolut qualifizierter Rechte wie das Leben,
Eigentum, Persönlichkeit usw. soll die Erfolgsunrechtstheorie zur Anwendung
gelangen, d.h., bereits jede Verletzung dieser Rechte indiziert die Widerrechtlichkeit.
Diese Rechte sind kraft des Wertes geschützt, den sie für ihren Inhaber auf-
weisen. 100
Der Normverstoss liegt darin, dass mit der Verletzung des absoluten Rechts zugleich
gegen eine Norm verstossen wird, welche ihre Verletzung verbietet. Diese
Norm ergibt sich aus der mit den absoluten Rechten untrennbar verbundenen, an
alle Rechtsgenossen gerichtete Verhaltensvorschrift des „du sollst nicht ... was
(nämlich fremdes Leben und Eigentum, fremde Gesundheit und körperliche Integrität,
fremde Persönlichkeitsrechte und immaterielle Güterrechte verletzen)“. 101
Dieses Schädigungsverbot fliesst aus absoluten den Rechten selbst heraus und
muss von der Rechtsordnung nicht noch separat ausgewiesen werden.
Die Erfolgsunrechtstheorie ist problematisch, weil die Widerrechtlichkeit an den
Erfolgseintritt anknüpft. Dies hat zur Folge, dass eine Reihe von Schädigungen
prima facie als widerrechtlich gelten, auch wenn sie im Einzelfall ersatzlos vom
Schädiger hinzunehmen wären. Eine eingehende Analyse und Kritik der Erfolgsunrechtstheorie
finden sich nachfolgend in Rz. 94 ff.
1.2.2 Schutznormtheorie
Bei reinen Vermögensschäden gelangt die Schutznormtheorie zur Anwendung,
d.h., dass das Verhalten des Schädigers erst dann widerrechtlich ist, wenn damit
zugleich eine Rechtsnorm verletzt wird, welche den Geschädigten vor der Vermögensschädigung
schützen soll („Schutznorm“).
100 ERLÄUTERNDER BERICHT, S. 98.
101 MERZ, S. 309.
32

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Der Normverstoss und damit die Widerrechtlichkeit ergeben sich daraus, dass eine
Verhaltensvorschrift nicht die Verletzung des Rechts als solches definiert, sondern
die Art und Weise, wie diese Verletzung erfolgt. Entsprechende Verhaltensvorschriften
lauten beispielweise: „Du sollst nicht ... wie (nämlich durch unlauteren
Wettbewerb […] jemanden in seinen wirtschaftlichen Interessen verletzen [Art. 2
UWG], durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen jemanden arglistig
irreführen und so zu einem Verhalten bestimmen, wodurch dieser sich oder
einen andern am Vermögen schädigt [Art. 148 StrG] usw.“ 102 Das Vermögen ist
nicht selbst Quelle dieser Verhaltensvorschriften, d.h., sie lassen sich nicht aus
dem Vermögen heraus ableiten, vielmehr haben die Rechtsordnung oder der Richter
entsprechende geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensvorschriften separat
festzulegen und auszuweisen.
Bei der Schutznormtheorie ergeben sich vor allem Probleme bei der Bestimmung
der Verhaltensvorschriften, die den Schutz des Vermögens bezwecken. Eine eingehende
Analyse und Kritik der Schutznormtheorie finden sich nachfolgend in
Rz. 168 ff.
2 Die Erfolgsunrechtstheorie
2.1 Übersicht und Definition
2.1.1 Verletzung absoluter Rechte als Ausgangspunkt
Gemäss der Erfolgsunrechtstheorie ist jede Verletzung eines absoluten Rechts per
se widerrechtlich, es sei denn, es liege ein Rechtfertigungsgrund vor. 103 Inhaltlich
lehnt sich der Widerrechtlichkeitsbegriff der Erfolgsunrechtstheorie an das Konzept
von Art. 28 ZGB an:
102 MERZ, S. 312, der Betrugstatbestand findet sich nun in Art. 146 StGB; BeK-BREHM,
OR 41 N 38b.
103 BaK-MEILI, ZGB 28 N 45; WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.47.
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
34
„Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt
wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung
mitwirkt, das Gericht anrufen.
Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch
Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes
privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt
ist.“
Dieses Verständnis der Widerrechtlichkeit spiegelt sich auch in § 823 I BGB wider:
„Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper,
die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges
Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem
anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens
verpflichtet.“
Im OR findet sich kein ähnlicher Katalog absolut geschützter Rechte. Gemäss
Lehre und Rechtsprechung geniessen jedoch folgende Rechtsgüter respektive
Rechte absoluten Schutz: 104
– das Leben bzw. das Recht auf Leben;
– der Leib bzw. das Recht auf physische Integrität;
– die Persönlichkeit bzw. das Recht auf psychische Integrität;
– das Eigentum; 105
– die beschränkten dinglichen Rechte;
– die Immaterialgüterrechte.
Das Vermögen und die relativen (vertraglichen) Rechte geniessen hingegen keinen
absoluten Schutz. 106
104
REY, N 686 ff.
105
Ob auch der Besitz als solcher zu den absolut geschützten Rechtsgütern zu zählen ist,
ist umstritten, vgl. REY, N 692, m.w.H.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
2.1.2 Elemente der Erfolgsunrechtstheorie
Bei der Erfolgsunrechtstheorie lassen sich folgende Elemente respektive Problemkreise
ausmachen:
a) Aktive Verletzung eines absoluten Rechts (Verstoss gegen das allgemeine
Schädigungsverbot)
Trotz der Bezeichnung Erfolgsunrecht wird nicht der Erfolg, d.h. der Schaden an
einem absoluten Recht, als widerrechtlich bezeichnet, sondern immer nur das
menschliche Verhalten, welches diesen Erfolg herbeiführt. 107 Durch eine aktive
Einwirkung auf ein absolutes Recht verstösst der Schädiger gegen die unmittelbar
aus diesem Recht fliessende Verhaltensvorschrift, welche die Verletzung dieses
Rechts verbietet. 108 Die Verletzung des Rechts und die Verletzung der objektiven
Verhaltensvorschrift, welche diese Verletzung verbietet, fallen somit zusammen.
Auf der Stufe der Widerrechtlichkeit sind zunächst der Kreis der absoluten Rechte
und deren Umfang zu bestimmen. Erst der Eingriff in den Schutzbereich eines
absoluten Rechts ist widerrechtlich. Probleme entstehen jedoch dort, wo sich der
Schutzbereich des absoluten Rechts nicht genau abgrenzen lässt oder wo die Verletzung
nur mittelbar auf eine aktive Handlung des Schädigers zurückzuführen ist.
Hier verlangt die Erfolgsunrechtstheorie weitere Kriterien, um die Widerrechtlichkeit
zu begründen respektive zu begrenzen.
b) Passive Verletzung eines absoluten Rechts (Verstoss gegen ein spezifisches
Schadensabwendungsgebot)
Die Verletzung eines absoluten Rechts durch eine Unterlassung des Schädigers ist
vorerst nicht widerrechtlich. Aus den absoluten Rechten mag zwar ein entsprechendes
Schädigungsverbot fliessen, daraus ergibt sich aber noch keine aktive
Schadensabwendungspflicht. Bei Unterlassungshandlungen ist die Widerrechtlichkeit
im Sinne eines objektiven Normverstosses deshalb erst dann gegeben, wenn
106 BaK-SCHNYDER, OR 41 N 33; OFTINGER/STARK I, § 4 N 30, 32.
107 PORTMANN, S. 275.
108 Vgl. Rz. 88 f.
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104
2 Die Erfolgsunrechtstheorie
der Schädiger durch sein Unterlassen zugleich ein spezifisches Schadensabwendungsgebot,
d.h. eine Garantenpflicht, verletzt. 109
Wird ein absolutes Recht infolge einer Unterlassung verletzt, ist deshalb zu bestimmen,
ob im konkreten Fall eine Schadensabwendungspflicht bzw. eine Garantenpflicht
bestand. Bei der passiven Verletzung eines absoluten Rechts reicht die
Rechtsgutverletzung zur Begründung der Widerrechtlichkeit nicht aus.
36
c) Rechtfertigung einer Verletzung (Rechtfertigungsgrund)
Die Verletzung eines absolut geschützten Rechts kann im Einzelfall durch die
Rechtsordnung geboten oder zumindest gerechtfertigt sein. Da letztlich nur der
objektive Normverstoss die Widerrechtlichkeit auslöst, entfällt die Widerrechtlichkeit,
wenn die Rechtsordnung den Schädiger zur Schädigung ermächtigt, etwa bei
Notwehr, Notstand, Selbsthilfe, Einwilligung des Geschädigten und Amtshandlungen
im öffentlichen Interesse. 110
Bestehen Rechtfertigungsgründe, wird die Widerrechtlichkeit bestimmter Schädigungstatbestände
aufgehoben. Damit wird der Ansatz der Erfolgsunrechtstheorie,
sämtliche Verletzungen absoluter Rechte prima facie als widerrechtlich zu bezeichnen,
differenziert und korrigiert.
d) Verschulden als weitere Haftungsvoraussetzung
Beim Verschulden gilt nach herrschender Lehre ein objektivierter
Verschuldensbegriff. 111 Dieser besteht aus einer subjektiven und einer objektiven
Seite: Zur subjektiven Seite gehört die Urteilsfähigkeit, zur objektiven die Abweichung
von einem unter den gegebenen Umständen als angebracht erachteten
Durchschnittsverhalten (Sorgfaltspflicht). Eine Haftung tritt nur dann ein, wenn
beide Verschuldenselemente vorliegen. 112
109 BGE 115 II 15, 19 (Erw. 3b).
110 HONSELL, § 5 N 1 ff.; REY, N 757 ff.
111 BGE 116 Ia 162, 169 f. (Erw. 2c); statt vieler REY, N 843 ff., m.w.H.
112 HONSELL, § 6 N 4.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
2.1.3 Kernaussagen zur Erfolgsunrechtstheorie
In den nachfolgenden Abschnitten wird ausgeführt, weshalb die Erfolgsunrechts-
theorie und ihr Widerrechtlichkeitsbegriff allein nicht in der Lage sind, auf die
materiellen Haftungsfragen konsistente und kohärente Antworten zu geben. Kurz
zusammengefasst werden folgende Problembereiche näher thematisiert:
• Bei bestimmten absoluten Rechten ist der jeweilige Schutzbereich nur
durch Aufstellen oder Auslegen von Verhaltenspflichten festzulegen. An
die Stelle des Erfolgsunrechts tritt das Verhaltensunrecht (vgl.
Rz. 112 ff.).
• Da das Widerrechtlichkeitsurteil vom Schadenseintritt abhängt, kann der
Schädiger im Zeitpunkt einer Handlung nicht abschätzen, ob sein Verhalten
widerrechtlich oder rechtmässig ist. Damit kann das Haftpflichtrecht
keine Präventionsfunktion entfalten, da eine vorgängige Überprüfung des
Verhaltens auf seine potenzielle Widerrechtlichkeit erschwert wird (vgl.
Rz. 124 ff.).
• Die passive Verletzung eines absoluten Rechts ist nur dann widerrechtlich,
wenn der Schädiger gegen ein spezifisches Schadensabwendungsgebot,
etwa in der Form einer Schutznorm oder einer Garantenpflicht, verstösst.
Bei Unterlassungshandlungen bestimmt sich deshalb die Widerrechtlichkeit
nicht über den Erfolgseintritt, sondern erst über die Beurteilung
des Verhaltens (vgl. Rz. 136 ff.).
• Über Rechtfertigungsgründe wird das Pauschalurteil, wonach sämtliche
Verletzungen absolut geschützter Rechte widerrechtlich sind, punktuell
korrigiert. Diese Rechtfertigungsgründe knüpfen an das Verhalten des
Schädigers an, weshalb wiederum das Verhaltensunrecht zur Anwendung
gelangt (vgl. Rz. 145 ff.).
• Der Umstand, dass die Erfolgsunrechtstheorie bei der Bestimmung der
Widerrechtlichkeit von aktiven Schädigungshandlungen im Grunde auf
eine Beurteilung des Verhaltens des Schädigers verzichtet, wird dadurch
wettgemacht, dass diese Beurteilung spätestens im Rahmen des Verschul-
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
38
dens geschieht. Dasselbe Vorgehen ist bei verschuldensunabhängigen
Haftungen nicht im selben Mass möglich, wird doch das Verschulden hier
nicht geprüft (vgl. Rz. 158 ff.).
2.2 Problematische Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der aktiven
Verletzung eines absoluten Rechts
2.2.1 Die Verletzung absoluter Rechte ist nicht eindeutig bestimmbar
Vom Ansatz her ist die Erfolgsunrechtstheorie darauf ausgerichtet, dass sich die
Verletzung absoluter Rechte aufgrund eindeutiger Merkmale feststellen lässt. 113 In
einigen Situationen zeigt sich aber, dass die Bestimmung der Widerrechtlichkeit
bereits an der Abgrenzung der absoluten Rechte scheitert. Hier lassen sich keine
eindeutigen Merkmale ausmachen, weshalb die Ausgestaltung von Schutznormen
oder die Vornahme einer Interessenabwägung notwendig sind, um ein abschliessendes
Urteil über die Widerrechtlichkeit einer Schädigungshandlung bilden zu
können.
a) Schwer abgrenzbare absolute Rechte
Der Kreis der absoluten Rechte (Leben, Gesundheit, Persönlichkeit, Eigentum,
beschränkt dingliche Rechte, Immaterialgüterrechte) ist in der Lehre weitgehend
unbestritten. 114 Die jeweiligen Schutzbereiche dieser Rechte lassen sich indessen
nicht im selben Masse klar bestimmen. Nur dort, wo der Schutzbereich und dessen
Grenzen feststehen, kann auch eine Verletzung des Schutzbereichs und damit des
Rechts festgestellt werden. 115 Gerade bei einigen schwer fassbaren Rechten, z.B.
dem Persönlichkeitsrecht, lassen sich die Grenzen nicht ohne Weiteres aufzeigen.
113 MERZ, S. 311.
114 Vgl. aber REY, N 692, betr. Besitz.
115 KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 4; GABRIEL, N 655, vgl. LANDOLT, S. 63 ff., betr.
Problematik des Schutzbereichs der Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Persönlichkeit.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
(i) Persönlichkeitsrecht
Jeder Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist grundsätzlich widerrechtlich, sofern
nicht ein Rechtfertigungsgrund besteht. Das Persönlichkeitsrecht lässt sich jedoch,
z.B. wo Ansehen, Ehre 116 oder Intimsphäre betroffen sind, nicht präzise definie-
ren. 117 Die Abgrenzung des Schutzbereichs läuft daher im Einzelfall praktisch auf
die Umschreibung einer entsprechenden Schutznorm hinaus. Rechtsprechung und
Lehre haben daher auch typische Verletzungshandlungen in Tatbestände gefasst,
z.B. Ehrverletzung, Eindringen in den persönlichen Bereich (Privatsphäre), Rufausbeutung,
Verletzung der wirtschaftlichen Persönlichkeit usw. 118 Nachfolgend
wird die wirtschaftliche Persönlichkeit exemplarisch näher betrachtet.
Das Bundesgericht hat festgestellt, dass ein Mitbewerber, der durch andere wirtschaftlich
ausgeschaltet oder behindert wird, nicht notwendigerweise in seiner
Persönlichkeit verletzt wird. Ob eine Persönlichkeitsverletzung vorliegt, ergibt sich
erst aus der Umschreibung des Boykotts. 119 Oft lässt sich erst aufgrund einer Interessenabwägung,
etwa der Interessen am Wettbewerb gegenüber den Interessen der
Mitbewerber, bestimmen, ob eine Behinderung bereits als Persönlichkeitsverletzung
zu gelten hat oder nicht. 120 Mit anderen Worten ist das Persönlichkeitsrecht
auf freie wirtschaftliche Betätigung nur über die Beschreibung des zulässigen bzw.
116 OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 55: „Auch eine Ehrverletzung ist nach der Gerichtspraxis
nicht rechtswidrig, wenn sie als «richtiges Mittel zum richtigen Zweck» erscheint.“
117 OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 53.
118 BERICHT DER STUDIENKOMMISSION, S. 41; ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 519;
vgl. ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 452, 455 ff.
119 BGE 86 II 365, 376 f. (Erw. 4c).
120 BOSSHARD, S. 67: „Im Falle von Persönlichkeits- und Wettbewerbsverletzungen hat
sich das Prinzip der Interessenabwägung als taugliches, ja sogar als einziges Mittel
zur Feststellung der Widerrechtlichkeit durchgesetzt.“
39
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115
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
des unzulässigen Verhaltens abgrenzbar. 121 Mit der Einführung des UWG und des
KG sind entsprechende Verhaltensvorschriften nun auch kodifiziert worden. 122
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Widerrechtlichkeit beim Persönlichkeitsrecht
nur über das Verhaltensunrechts definieren lässt, indem entsprechende
Verhaltenspflichten vom Gesetzgeber oder vom Richter aufgestellt werden.
Für das zentrale Recht auf Persönlichkeit wird die Erfolgsunrechtstheorie dadurch
zugunsten der Schutznormtheorie aufgegeben.
40
(ii) Immaterialgüterrechte
Für die Immaterialgüterrechte gilt im Grunde dasselbe wie für das Persönlichkeitsrecht.
Auch wenn das Schädigungsverbot unmittelbar aus den Immaterialgüterrechten
als absolut geschützte Rechte fliessen soll, lassen sich der Bestand und der
Umfang von Immaterialgüterrechten nur schwer bestimmen. 123 Gerade aufgrund
ihrer Natur als immaterielle Rechte lassen sich ihnen nur schwer Konturen abgewinnen,
weshalb die Widerrechtlichkeit weitgehend über das Verhaltensunrecht
bestimmt werden muss.
Zu diesem Zweck finden sich in den verschiedenen Gesetzen zu den Immaterialgüterrechten
verschiedene Verhaltenspflichten. So ist es z.B. nach Art. 10 II URG
grundsätzlich allen ausser dem Urheber untersagt, Werkexemplare herzustellen,
anzubieten, zu veräussern. 124 Art. 67 URG führt zudem die (strafrechtlich relevanten)
Urheberrechtsverletzungen einzeln auf. Mit anderen Worten ergibt sich die
Widerrechtlichkeit einer Immaterialgüterrechtsverletzung in praktischer Hinsicht
erst aus dem Verstoss gegen die im Gesetz aufgestellten Verhaltenspflichten. Für
die Immaterialgüterrechte wird somit die Widerrechtlichkeit einer Schädigungs-
121 Vgl. OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 54: „[...] die Klage bei Boykott nur geschützt, wenn
die Beeinträchtigung in anstössiger oder sogar besonders anstössiger Weise erfolgt.“
122 Vgl. Art. 9 i.V.m. Art. 2 ff. UWG und Art. 12 i.V.m. Art. 5 und 7 KG; ROBERTO, Haft-
pflichtrecht, N 491.
123 BGE 113 II 190, 195 (Erw. I.2).
124 PORTMANN, S. 278.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
handlung somit auch letztendlich über das Verhaltensunrecht in der Form der
Schutznormtheorie beantwortet.
(iii) Eigentum
Eigentum unterscheidet sich vom Persönlichkeitsrecht oder von den Immaterialgüterrechten
dadurch, dass es über physische Konturen verfügt. Damit sollte der
Schutzbereich des Eigentums hinlänglich abgegrenzt sein. Bei Zerstörung oder
Beschädigung einer Sache wird daher die Widerrechtlichkeit ohne weiteres angenommen
(sogenannte „Substanzbeeinträchtigung“). 125
Umstritten ist hingegen, ob eine Nutzungsstörung, d.h. eine Beeinträchtigung der
Verfügbarkeit und Benutzbarkeit ohne Einwirkung auf die Sache selbst, auch eine
Verletzung darstellt (sogenannte „Funktionsbeeinträchtigung“). 126 In der Lehre
wird angenommen, dass eine bloss vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung in
der Regel keine Eigentumsverletzung darstellt. 127 Wird etwa die Ausfahrt der Garage
vorübergehend „zugeparkt“, dann erleidet der Autofahrer, der an der Wegfahrt
gehindert wird, noch keine Eigentumsverletzung. Ab einer gewissen Dauer und
Intensität der Funktionsbeeinträchtigung wird hingegen eine Eigentumsverletzung
angenommen. So hat das Bundesgericht die unbefugte Benutzung einer Villa als
Eigentumsverletzung bezeichnet. 128 Statt wie vorgesehen am 30. Juni 1996 auszuziehen,
bewohnte die Klägerin die Villa bis zum 16. Februar 1998. Infolgedessen
konnte der Beklagte die Villa nicht wie vorgesehen abbrechen, weswegen er, gestützt
auf Art. 41 OR, auf Schadenersatz klagen durfte.
Die Unterscheidung zwischen einer bloss vorübergehenden Behinderung und einer
eigentlichen Funktionsbeeinträchtigung hat finanzielle Folgen. Dauert die Versperrung
der Garagenzufahrt so lange, dass eine Eigentumsverletzung angenommen
125
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 129.
126
GABRIEL, N 655; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 132 ff., m.w.H.; HUNZIKER-BLUM, S.
138 f.; WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 368, m.w.H.; WERRO, Vertrauenshaftung,
S. 13.
127
HONSELL, § 4 N 16, m.w.H.
128 BGer-Urteil vom 29. August 2002 (4C.43/2002), Erw. 6.1.
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
wird, kann der zugeparkte Autofahrer daraus entstehende Vermögensschäden, z.B.
Taxispesen oder Mietkosten für ein Ersatzauto, gegenüber dem fehlbaren Lenker
als Folgeschäden geltend machen. Reicht die Parkdauer hingegen nicht an die
Intensität einer Eigentumsverletzung heran, erhält der Geschädigte seine Aufwendungen
nicht ersetzt, sondern muss sie als reine Vermögensschäden selbst tragen.
Im Einzelfall kann nur aufgrund der Würdigung des Verhaltens, z.B. Dauer und
Intensität der Funktionsbeeinträchtigung, respektive aufgrund einer Abwägung der
beteiligten Interessen festgestellt werden, ob eine Eigentumsverletzung vorliegt.
42
b) Definition des Schutzbereichs gemäss Verhaltensunrecht
Sowohl bei Persönlichkeitsrechten, Immaterialgüterrechten und zum Teil beim
Eigentum lässt sich somit die Widerrechtlichkeit erst nach näherer Definition und
Abgrenzung des Schutzbereichs des betroffenen Rechts bestimmen. Diese Definition
und Abgrenzung erfordert entweder die Umschreibung des verpönten Verhaltens
in der Form einer Schutznorm oder die Vornahme einer Interessenabwägung.
Damit spielt bereits im Kern der Erfolgsunrechtstheorie, nämlich in der Definition
der absoluten Rechte und deren Verletzung, das Verhaltensunrecht bei der Bestimmung
der Widerrechtlichkeit eine tragende Rolle. Dies ist zumindest ein Indiz,
dass der Ansatz der Erfolgsunrechtstheorie in sich nicht stimmig ist.
2.2.2 Mittelbare Verletzung absoluter Rechte als Problemfall
Die Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Verletzung knüpft an
die Länge der Kausalkette zwischen schädigendem Ereignis und Schaden an. 129 Da
sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Verletzung eines absoluten Rechts
als widerrechtlich gilt, ist die Unterscheidung an sich irrelevant.
Es ist jedoch problematisch, wenn die Rechtsordnung alle Handlungen als rechtswidrig
erklärt, bloss weil sie geeignet sind, zur adäquaten Ursache einer Personenoder
Eigentumsverletzung zu werden. 130 Dies sanktioniert nämlich gewisse Tätig-
129 SCHWENZER, N 14.27.
130 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 265.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
keiten, die trotz ihrer Gefährlichkeit sozial erwünscht und deshalb auch grundsätzlich
erlaubt sind. 131
a) Problematische Haftung für gefahrgeneigte Tätigkeiten und gefährliche
Güter
Die Herstellung und das Inverkehrbringen gefährlicher Güter, z.B. Waffen, (Pflanzen-)Gifte,
Feuerwerkskörper oder Autos, sind, mit Ausnahmen, grundsätzlich
erlaubt. Entsteht aber aus der Benutzung eines solchen Gegenstandes ein Personenoder
Sachschaden, bildet das Inverkehrbringen des Gegenstandes eine adäquat
kausale Teilursache des Schadens. Die Adäquanz ist aufgrund der Tatsache gegeben,
dass Unfälle mit gefährlichen Gütern objektiv voraussehbar sind. 132 So weiss
ein Autohersteller mit hoher statistischer Genauigkeit, wie viele tödliche Unfälle
sich im laufenden Jahr unter Beteiligung seiner Autos zutragen werden. 133 Sind
somit neben der adäquaten Kausalität und der Widerrechtlichkeit auch die übrigen
Haftungsvoraussetzungen erfüllt, würde der Autohersteller grundsätzlich für sämtliche
Unfälle mit Beteiligung seiner Fahrzeuge haften.
b) Lösungsansätze zur Milderung der Problematik der Haftung für mittelbare
Schäden
(i) Begrenzung der Haftung durch mangelndes Verschulden
PORTMANN weist zu Recht darauf hin, dass es den Schädiger höchstens moralisch
trifft, wenn sein Verhalten als widerrechtlich bezeichnet wird, wenn ihm daraus
anschliessend keine Haftung erwächst. Dies ist der Fall, wenn ihm kein Verschul-
131 In bestimmten Fällen wird über Spezialgesetze die Haftung für gefährliche Tätigkeiten,
die sozial erwünscht sind, speziell geregelt. Für den Eisenbahnverkehr gilt z.B. das
Bundesgesetz vom 28. März 1905 über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsunternehmungen
und der Schweizerischen Post (SR 221.112.742). Es bestehen
jedoch Bereiche der menschlichen Tätigkeit, für die gerade keine Sonderregelungen
bestehen. Hier hat der Rechtsanwender mit dem OR vorliebzunehmen.
132 PORTMANN, S. 275; BOSSHARD, S. 20.
133 VON BAR II, N 212.
43
126
127

128
129
130
2 Die Erfolgsunrechtstheorie
den nachgewiesen werden kann. 134 Im vorgenannten Fall des Autoherstellers dürfte
jedoch ein Verschulden entweder gegeben oder für die Haftung irrelevant sein.
Dem Autohersteller kann das Wissen um die Unfallstatistiken und damit das Wissen
um die Schadenswahrscheinlichkeit als wissentliche und willentliche Inkaufnahme
des Erfolgs (d.h. der Todesfälle) angelastet werden. Damit handelt der
Autohersteller (eventual-)vorsätzlich, wenn er seine Fahrzeuge in Verkehr
bringt. 135 Realisiert sich dann ein Schaden, sind Widerrechtlichkeit als auch Verschulden
gegeben, womit der Autohersteller im Grunde haftet.
Die verschuldensunabhängigen Haftungen setzen aber ohnehin kein Verschulden
voraus, weshalb eine Einschränkung der Haftung über das Verschulden als Möglichkeit
wegfällt. So setzt die Geschäftsherrnhaftung nach herrschender Lehre
weder beim Geschäftsherrn noch bei der Hilfsperson ein Verschulden voraus. 136
Die Hersteller und Vertreiber gefährlicher Güter und Dienstleistungen sind deshalb
bei der Anwendung der Erfolgsunrechtstheorie stets einem erheblichen Prozessrisiko
ausgesetzt. Die Widerrechtlichkeit wird durch die Rechtsgutverletzung indiziert
und ein Verschulden wird nicht vorausgesetzt. Der Befreiungsbeweis des
Geschäftsherrn, etwa dass der Betrieb und die Arbeitsabläufe zweckmässig organisiert
sind, ist nur beschränkt tauglich, um das Haftungsrisiko zu minimieren, da
nach herrschender Lehre an diesen Beweis sehr hohe Anforderungen gestellt wer-
den. 137
44
(ii) Begrenzung der Haftung infolge fehlender Adäquanz
Man könnte versucht sein, die Haftung für solche mittelbaren Schäden mangels
adäquater Kausalität zu verneinen. Dies gelingt bei schadensgeneigten Tätigkeiten
134 PORTMANN, S. 274.
135 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 266; wobei hier m.E. zu berücksichtigen ist, dass im
Wesentlichen die Geschäftsherrnhaftung zum Tragen kommt. Das Verschulden ist damit
im Grund irrelevant, der Geschäftsherr wird sich nicht exkulpieren können.
136 PORTMANN, S. 274, m.w.H.
137 BeK-BREHM, OR 55 N 82.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
respektive Vertrieb von gefährlichen Gütern gerade nicht. Da der Schadenseintritt
vorhersehbar ist, kann er nie inadäquat sein.
(iii) Begrenzung der Haftung durch den Rechtfertigungsgrund des
verkehrsrichtigen Verhaltens
Als Lösung schlägt ein Teil der Lehre deshalb einen Rechtfertigungsgrund des
„sozialadäquaten“ bzw. „verkehrsrichtigen“ Verhaltens vor. 138 Der Hersteller
eines gefährlichen Produkts oder der Anbieter einer gefährlichen Dienstleistung
handelt dann sozialadäquat bzw. verkehrsrichtig, wenn er jene Verhaltenspflichten
einhält, die sich im Zusammenhang mit seinen Produkten oder seiner Dienstleistung
aufdrängen (sogenannte Verkehrspflichten). 139 Trotz der Verletzung eines
absoluten Rechts hätte der Hersteller damit nur dann widerrechtlich gehandelt,
wenn er mit seinem Verhalten bestimmte Verhaltenspflichten verletzt hat.
Bei mittelbaren Schäden wäre deshalb die Widerrechtlichkeit weitgehend negativ,
d.h. über das Bestehen von Rechtfertigungsgründen, zu bestimmen. Dies würde
aber wiederum zu Problemen der Abgrenzung zwischen Verkehrspflichten (Rechtfertigungsgründen)
und Sorgfaltspflichten führen. 140 Schlussendlich wird auch bei
den mittelbaren Schäden das Erfolgsunrecht durch das Verhaltensunrecht verdrängt.
2.2.3 Ungewisse Bewertung des Verhaltens bis zum Eintreten des Schadens
Die Anwendung der Erfolgsunrechtstheorie im Zusammenhang mit mittelbaren
Verletzungen absoluter Rechte hat zur Folge, dass ein Verhalten zeitlich erst nach
dem Schadenseintritt als widerrechtlich oder erlaubt bezeichnet werden kann. Konsequenz
ist, dass z.B. ein Feuerwerkshersteller, der an verschiedene Kunden
138
BOSSHARD, S. 95 f., m.w.H.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 266, m.w.H.; kritisch
DESAX, S. 26 f., und GABRIEL, N 347 ff. Die Diskussion um den Rechtfertigungsgrund
des verkehrsrichtigen Verhaltens spielt sich weitgehend in Deutschland ab, hierzu
massgebend beigetragen hat die Entscheidung des Grossen Senats für Zivilsachen des
BGH (GSZ) vom 4.3.1957, NJW 19 (1957), S. 785 f.
139
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 268 f.
140 DESAX, S. 26 f.; GABRIEL, N 347 f.
45
131
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134
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
Feuerwerk verkauft, sowohl erlaubt wie auch unerlaubt handelt, je nachdem, ob
das Feuerwerk nachträglich in einen Unfall mit Körper- bzw. Sachschäden verwickelt
ist oder nicht. Im Zeitpunkt des Verkaufs ist dem Verkäufer jedoch kein
Vorwurf zu machen. Somit hat er auch keine Veranlassung, sein Verhalten zu
ändern, d.h. keine Feuerwerke zu verkaufen. 141
Dieselben Handlungen, die unter gleichen Umständen vorgenommen werden, werden
rechtlich ungleich behandelt. Einmal gelten sie als widerrechtlich und einmal
als nicht widerrechtlich, je nach dem Lauf späterer Ereignisse, die aus Sicht des
Handelnden als rein zufällig erscheinen können. 142 „Ist aber eine solche Handlung
im Zeitpunkt der Vornahme trotz ihrer Gefährlichkeit erlaubt, so kann sie sinnvollerweise
nicht nachträglich noch als unerlaubt abgestempelt werden, wenn sie zu
einem unerwünschten Verletzungserfolg geführt hat. Denn was erlaubt und was
verboten ist, muss – wenn die Rechtsordnung die Aufgabe erfüllen soll, menschlichem
Verhalten bestimmte Bahnen vorzuzeichnen – bereits im Zeitpunkt des jeweiligen
Handelns feststehen.“ 143
Lässt sich die Widerrechtlichkeit einer Handlung zum Zeitpunkt ihrer Vornahme
nicht bestimmen, so ist weder der Rechtssicherheit noch dem Präventionsaspekt
des Haftpflichtrechts gedient, denn der Schädiger kann vorgängig nicht wissen, ob
sich sein Verhalten nachträglich als widerrechtlich herausstellen wird oder nicht.
2.3 Problematische Bestimmung der Widerrechtlichkeit bei der passiven
Verletzung absoluter Rechte (Unterlassen)
2.3.1 Grundsatz der befugten Untätigkeit
Die Erfolgsunrechtstheorie setzt zur Begründung der Widerrechtlichkeit stets einen
objektiven Normverstoss, d.h. die Verletzung eines Gebots oder Verbots der objek-
141 PORTMANN, S. 275.
142 PORTMANN, S. 275.
143 Kohlhammer Kommentar-ZEUNER, BGB 823 N 2.
46

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
tiven Rechtsordnung, voraus. 144 Während bei der aktiven Schädigung das relevante
Schädigungsverbot einen Aspekt des absoluten Rechts darstellt, 145 gilt dies nicht
für die passive Schädigung, d.h. die Schädigung durch Unterlassen. Bei der passiven
Schädigung begeht der Schädiger nur dann einen objektiven Normverstoss,
wenn er gegen ein Schadensabwendungsgebot verstösst.
Für das Deliktsrecht gilt jedoch der Grundsatz der befugten Untätigkeit, d.h., es
besteht keine allgemeine Rechtspflicht, im Interesse anderer tätig zu werden. 146
Wer eine Handlung unterlässt, zu der er gemäss Rechtsordnung nicht verpflichtet
ist, handelt nicht widerrechtlich, auch wenn das passive Verhalten eine Verletzung
von absoluten Rechten anderer nach sich zieht. 147
Eine Pflicht zum Handeln bedarf somit einer besonderen Rechtsgrundlage. Ein
Unterlassen kann daher nur widerrechtlich sein, wenn das Gesetz ein Handeln
verlangt, die Unterlassung ausdrücklich ahndet 148 oder wenn eine Unterlassung
gegen die guten Sitten verstösst. 149 Ein allgemeines Schadensabwendungsgebot
besteht hingegen nicht.
2.3.2 Notwendigkeit einer ausdrücklichen Handlungspflicht oder eines Verbots
des Unterlassens
Aus einem absoluten Recht lässt sich nur das Verbot der aktiven Verletzung ableiten.
150 Weder Rechtsprechung noch Lehre gehen davon aus, dass das absolute
144 BGE 116 Ib 367, 373 f. (Erw. 4b), m.w.H.
145
Vgl. Rz. 88 f.
146
PORTMANN, S. 276; BeK-BREHM, OR 41 N 56a; BGE 118 Ib 473, 476 f. (Erw. 2b);
BGE 118 II 502, 506 f. (Erw. 3); BGE 116 Ib 367, 374 (Erw. 4c); BGE 115 II 15, 19
(Erw. 3b).
147 BGE 118 Ib 473, 476 f. (Erw. 2b); BeK-BREHM, OR 41 N 56a, m.w.H.
148 BGE 116 Ib 367, 374 (Erw. 4c); BeK-BREHM, OR 41 N 56b.
149 BGE 80 II 26, 39 (Erw. 5a); BeK-BREHM, OR 41 N 59, m.w.H.
150 HONSELL, § 4 N 35.
47
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139

140
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142
2 Die Erfolgsunrechtstheorie
Recht eine genügende Rechtsgrundlage bildet, um daraus eine explizite Handlungspflicht
zu entnehmen. 151
Gemäss Rechtsprechung und Lehre können sich solche Pflichten zur Schadensabwendung
aus irgendeinem Teil des objektiven, selbst des ungeschriebenen Rechts
und aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben. 152 Als weitere Quellen kommen
der Vertrag 153 oder die Gefälligkeit in Frage. 154
Doch nicht jede Verletzung einer Handlungspflicht vermag irgendwelche beliebige
Schadenersatzpflichten auszulösen. Vielmehr ist die Handlungspflicht nur dann
haftpflichtrechtlich von Bedeutung, wenn sie dem Interesse des Geschädigten dient
und aus einer Schutzvorschrift zu dessen Gunsten erfolgt. Eine widerrechtliche
Unterlassung setzt damit eine Garantenstellung zugunsten des Geschädigten vo-
raus. 155
Bei Vorliegen einer Garantenstellung hat der Schädiger gegenüber dem Geschädigten
eine spezielle Schadensvermeidungspflicht. Die Widerrechtlichkeit ergibt sich
nun aufgrund der Verletzung ebendieser Pflicht, nicht aber aufgrund der Verletzung
des absoluten Rechts. Die Nichteinhaltung von Schadensvermeidungspflichten
stellt aber zugleich auch eine Sorgfaltspflichtverletzung dar. 156 Damit ergeben
sich bei der passiven Verletzung absoluter Rechte Überschneidungen zwischen den
beiden Haftungsvoraussetzungen Widerrechtlichkeit und Verschulden. 157
151
BGE 80 II 26, 39 (Erw. 5a) (betreffend Persönlichkeitsrecht); BGE 118 II 502, 507
(Erw. 3) (betreffend Eigentum).
152
BGE 116 Ib 367, 374 (Erw. 4c); BGE 115 II 15, 20 (Erw. 3c); BaK-SCHNYDER, OR 41
N 37.
153
KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 14; KOLLER, Vertragsfremden Dritten, S. 15 f.
(Rz. 16 f.).
154
BaK-SCHNYDER, OR 41 N 37, m.w.H.
155
BGE 118 Ib 473, 476 f. (Erw. 2b); BGE 118 II 502, 506 f. (Erw. 3); BGE 116 Ib 367,
374 (Erw. 4c); BGE 115 II 15, 19 (Erw. 3b).
156
BGE 124 III 297, 300 (Erw. 5b); BeK-BREHM, OR 41 N 54.
157 Diese Problematik ist auch bei der Schutznormtheorie aktuell, vgl. Rz. 219.
48

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Bei der passiven Verletzung absoluter Rechte gilt damit im Grunde das Verhaltensunrecht,
sei es, dass eine Schadensabwendungspflicht in einer Schutznorm zu suchen
ist, oder, dass der Schädiger aufgrund einer Garantenstellung zur Schadensabwendung
verpflichtet ist. Für einen weiten Bereich der Schädigungshandlungen
an absoluten Rechten ist somit die Widerrechtlichkeit gerade nicht aufgrund der
blossen Rechtsgutverletzung indiziert, sondern bestimmt sich erst nach Auslegung
einer Schutznorm oder nach Feststellung einer Garantenpflicht.
Die Erfolgsunrechtstheorie bedingt zudem die bisweilen problematische Unterscheidung
zwischen aktiver und passiver Schädigung. 158 Repariert ein Mechaniker
die Bremsen eines Autos mangelhaft, kann dies als Unterlassung, aber auch als
aktives Verhalten betrachtet werden. 159 Entweder hat er eine erforderliche Reparatur
unterlassen oder er hat aktiv schlecht bzw. falsch repariert. Letztlich ist die
Bezeichnung eines Verhaltens als Tun oder Unterlassung gerade im Grenzbereich
eine Wertungsfrage. 160 Damit setzt die Erfolgsunrechtstheorie bei der Prüfung
eines Haftpflichtfalls einen weiteren wertenden Prüfungsschritt voraus. Wird die
schädigende Handlung als Tun qualifiziert, steht die Widerrechtlichkeit ohne weiteres
fest. Wird die Handlung als Unterlassen qualifiziert, hat der Geschädigte
zudem die Verletzung einer Handlungs- oder Garantenpflicht zu beweisen.
2.4 Problematische negative Bestimmung der Widerrechtlichkeit über
Rechtfertigungsgründe
Bereits bei der mittelbaren Verletzung absoluter Rechte durch das Inverkehrbringen
gefährlicher Güter wurde gezeigt, wie über den Rechtfertigungsgrund des
158
LANDOLT, S. 58; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 158, 268.
159
Vgl. BGer-Urteil vom 4. November 1980 i.S. Miremont Levant c. Treuter = RIW 1980
Nr. 26, (Erw. 1a): Das Bundesgericht qualifizierte darin die mangelhafte Reparatur als
aktive Handlung.
160
Auch im Strafrecht sind die Voraussetzungen und Modalitäten beim Unterlassungsdelikt
noch nicht vollends geklärt. Zur Unterscheidung, ob ein bestimmtes Verhalten als
Begehung oder als Unterlassung zu klassifizieren ist, werden etwa die
„Schwerpunktstheorie“ oder die „Subsidiaritätstheorie“ vorgeschlagen. Vgl.
STRATENWERTH AT I, vor § 14 N 2.
49
143
144
145

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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
sozialadäquaten respektive des verkehrsrichtigen Verhaltens das Verhaltensunrecht
bei der Bestimmung der Widerrechtlichkeit zur Anwendung gelangt. 161 Dies gilt
auch für weitere Rechtfertigungsgründe, wie die Einwilligung des Geschädigten,
die Amtspflicht oder die Notwehr.
2.4.1 Einwilligung in die sorgfältige Schädigung
Der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung kommt dort zum Tragen, wo die Verletzung
(meist der körperlichen Integrität) notwendige Nebenfolge oder gar Ziel
einer Tätigkeit ist, welche vom Geschädigten gewünscht oder zumindest akzeptiert
wird. Bei der Beurteilung der Frage, in was der Geschädigte einwilligen kann bzw.
worauf sich seine Einwilligung erstreckt, ist immer das Verhalten des Schädigers
zu prüfen.
So ist z.B. die Verletzung der körperlichen Integrität meist eine notwendige
Nebenfolge bei einem ärztlichen Eingriff:
161 Vgl. Rz. 131 f.
50
„Zwar ist auch der ärztliche Eingriff in die körperliche
Integrität grundsätzlich widerrechtlich, doch liegt in der
Regel ein Rechtfertigungsgrund (Einwilligung des aufgeklärten
Patienten, Geschäftsführung ohne Auftrag, allenfalls
Amtspflicht) vor [...] Indessen deckt die tatsächliche
oder hypothetische Einwilligung des Patienten bloss den
nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommenen
Eingriff ab, nicht aber den unsorgfältigen. Insofern erlangt
das Verhaltensunrecht auch bei der Verletzung
absolut geschützter Rechtsgüter Bedeutung, wenn das
Erfolgsunrecht in einer Sonderbeziehung durch einen
Rechtfertigungsgrund nur teilweise gedeckt ist. Eine Haftung
des Staates kann sich insoweit nur dann ergeben,

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
wenn die Behandlung sorgfaltswidrig erfolgte.“ 162 (Her-
vorhebung beigefügt)
Bei der ärztlichen Tätigkeit kann die Haftung nicht über das Verschulden begrenzt
werden. Der Arzt handelt im Grunde (eventual-)vorsätzlich, da die Verletzung der
körperlichen Integrität stets als notwendige Nebenfolge in Kauf genommen wird.
Bei ärztlichen Behandlungen in kantonalen Spitälern dürfte ohnehin die verschuldensunabhängige
Staatshaftung zur Anwendung gelangen. Mit anderen Worten,
lässt sich die Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht nur unter dem Aspekt der
Widerrechtlichkeit und nicht des Verschuldens prüfen. 163 Auch eine Reihe von
kosmetischen Eingriffen, wie z.B. Tattoo, Piercing, Branding, Permanent-Makeup,
haben eine Verletzung der körperlichen Integrität zur Folge. Auch hier können
die Kunden nur in einen nach den Regeln der Kunst ausgeführten Eingriff einwilligen.
164 Es findet deshalb vorfrageweise eine Prüfung des Verhaltens des Arztes
bzw. des Tätowierers statt.
Bei einigen Sportarten wie z.B. Boxen, Karate, K1 ist die Beeinträchtigung der
körperlichen Integrität das beabsichtigte Ziel des Sports. Die Teilnehmer willigen
in die regelkonform verursachten Verletzungen ein. 165 Somit ist eine Verletzungshandlung
dann nicht widerrechtlich, wenn sie regelkonform erfolgt.
Die Beurteilung, ob die Handlung des Arztes, des Kosmetikers oder des Sportkontrahenten
sorgfältig, nach den Regeln der Kunst bzw. regelkonform ist, ergibt sich
aus der Beurteilung des Schädigerverhaltens nach einem objektiven Massstab. Dies
führt aber zugleich zu Abgrenzungsproblemen. Wird z.B. die Sorgfalt bei den
Rechtfertigungsgründen, d.h. im Rahmen der Widerrechtlichkeit geprüft, stellt sich
die Frage, welche Bedeutung der Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung im Rah-
162 BGE 123 II 577, 583 (Erw. 4 d ee).
163 PORTMANN, S. 276; BGE 115 Ib 175, 181 (Erw. 2b).
164 Das Bundesamt für Gesundheit erarbeitet derzeit Richtlinien für eine gute Arbeitspraxis
im Bereich Tattoo, Permanent-Make-up, Piercing und verwandter Praktiken.
[http://www.bag.admin.ch/themen/gegenstaende/00480/00481/01808/index.html?lang=
de] (letztmals besucht am 19. Juli 2006).
165 SCHWENZER, N 50.39; HONSELL, § 5 N 21; STIFFLER, Anwaltspraxis, N 13.62.
51
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151
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
men des Verschuldens zukommen soll. Die Erfolgsunrechtstheorie führt hier zu
Überschneidungen zwischen Verschulden und Widerrechtlichkeit.
2.4.2 Amtspflicht und die pflichtgemässe Schädigung
Das Bundesgericht hat wiederholt festgestellt, dass der Widerrechtlichkeitsbegriff
des Staatshaftungsrechts dem des Privatrechts entspricht. 166 Soweit die Staatshaftung
verschuldensunabhängig ausgestaltet ist, hat dies zur Folge, dass der Staat
auch für Schäden als Folge von korrekten Handlungen seiner Beamten einstehen
muss, was unbefriedigend wäre. Zur Milderung dieser Problematik hat das Bundesgericht
den Rechtfertigungsgrund der Amtspflicht anerkannt. 167
In diesem Rechtfertigungsgrund gelangt wiederum das Verhaltensunrecht zur Anwendung,
denn nur die rechtmässige, d.h. pflichtgemässe, Ausübung öffentlicher
Gewalt stellt einen Rechtfertigungsgrund dar:
52
„Indessen wird nicht jede Schädigung bereits dadurch
gerechtfertigt, dass keine konkreten Dienstvorschriften
oder Amtspflichten verletzt wurden. Vielmehr ist zu
unterscheiden: Die Schädigung durch eine Amtshandlung
ist dann gerechtfertigt, wenn sie der gesetzlich vorgesehene
Sinn und Zweck der Handlung ist (wie zum Beispiel
bei einer Verhaftung oder Freiheitsstrafe) oder wenn sie
zwangsläufig mit der Durchführung des Gesetzes verbunden
ist, wenn also der Staat schädigend handeln
muss, um die gesetzlich vorgesehenen Aufgaben erfüllen
zu können […] Erfolgt jedoch eine Schädigung als unbeabsichtigte,
vom Gesetz nicht gewollte und zur Erreichung
der gesetzlich festgelegten Ziele nicht notwendige
166 BGE 116 Ib 367, 373 (Erw. 4); BGE 113 Ib 420, 423 (Erw. 2).
167 BGer-Urteil vom 24. Oktober 2002, 5C.83/2002 (Erw. 3.2); BGer-Urteil vom
15. Oktober 1999, 2C.4/1998 (Erw. 2c); BGE 123 II 577, 583 (Erw. 4 d ee); vgl. auch
Art. 32 StGB, welcher die Amtspflicht als Rechtfertigungsgrund für das Strafrecht ausdrücklich
festhält.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Nebenfolge bei der Ausübung einer an sich rechtmässigen
Tätigkeit, so ist sie nicht gerechtfertigt.“ 168
Ist der Schaden Zweck oder notwendige Nebenfolge einer gesetzlichen Amtshandlung,
ist die schädigende Amtshandlung nicht widerrechtlich. Mit anderen Worten
wird beim Rechtfertigungsgrund der Amtspflicht überprüft, ob das Gesetz, auf das
sich die amtliche Tätigkeit stützt, diese Schädigung beabsichtigt oder zumindest in
Kauf nimmt. Dies ist im Grunde eine Umkehr der Schutznormtheorie, bei der überprüft
wird, ob das Gesetz eine bestimmte Schädigung abwenden möchte. In beiden
Fällen ergibt sich die Widerrechtlichkeit letztlich nicht aufgrund des Erfolgs, sondern
aufgrund der Beurteilung der konkreten Handlung des Beamten.
2.4.3 Notwehr gegen einen widerrechtlichen Angriff
Gemäss herrschender Lehre und Rechtsprechung setzen sowohl die Notwehr als
auch die Klage auf Unterlassung einen widerrechtlichen Angriff 169 bzw. eine bevorstehende
widerrechtliche Handlung voraus. 170 Bei der Erfolgsunrechtstheorie
lässt sich die Widerrechtlichkeit einer Handlung zeitlich erst nach Eintritt des
Schadens bestimmen. Bei einem drohenden Angriff ist jedoch noch kein Schaden
eingetreten, weshalb im Grunde mit der Abwehr zugewartet werden müsste, bis
eine Verletzung erfolgt und andauert.
Bei konsequenter Anwendung der Erfolgsunrechtstheorie wären damit die Notwehr
respektive die Unterlassungsklage nur als Mittel gegen eine andauernde Verletzung
zulässig. „[E]s versteht sich von selbst, dass mit der Notwehr nicht zugewartet
werden muss, bis ein Angriff durch den Eintritt eines Verletzungserfolges widerrechtlich
geworden ist.“ 171 Die Lehre und Rechtsprechung behilft sich mit dem
Kunstgriff, bei der Notwehr nicht bereits die Verletzung, sondern schon die Ge-
168 BGE 123 II 577, 585 f. (Erw. 4 i).
169 OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 261.
170 PORTMANN, S. 275 f., m.w.H.
171 PORTMANN, S. 276.
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
fährdung eines absoluten Rechts für widerrechtlich zu erklären. 172 Die Rechtsord-
nung reagiert früher und lässt die Widerrechtlichkeit nicht mehr vom (zufälligen)
Schadenseintritt abhängig sein. 173
Damit geniessen absolute Rechte nicht bloss Schutz vor der Verletzung, sondern
bereits vor einer blossen Gefährdung. Damit wird ihr Schutzbereich erheblich
ausgeweitet, was deren Konturen und Grenzen abermals verwischt. 174 Sogar diejenigen
absoluten Rechte, die ursprünglich deutliche Konturen und Grenzen aufweisen,
etwa die körperliche Integrität und das Eigentum, erhalten so einen unbestimmten
Schutzbereich. Wann ein absolutes Recht gefährdet ist, lässt sich daher
nur über die Beurteilung der Angriffshandlung und der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit
bestimmen.
Eine sinnvolle Notwehrregelung lässt sich mit dem Widerrechtlichkeitsbegriff der
Erfolgsunrechtstheorie nicht erreichen. Die von der Lehre vorgeschlagene
(Verlegenheits-)Lösung überdehnt den Schutzbereich der absoluten Rechte derart,
dass diese keine klaren Konturen mehr aufweisen. Dies dient weder der Praktikabilität
der Rechtsanwendung noch der Rechtssicherheit. Sinnvollerweise müsste sich
die Widerrechtlichkeit unabhängig vom Erfolgseintritt, etwa durch die Prüfung des
Schädigerverhaltens, bestimmen lassen. Damit verlangt auch der Rechtfertigungsgrund
der Notwehr einen Widerrechtlichkeitsbegriff, welcher auf dem Verhaltensunrecht
aufbaut.
2.5 Verhältnis des Verschuldens zur Widerrechtlichkeit
Bei der Erfolgsunrechtstheorie erschöpft sich die Widerrechtlichkeit in der Prüfung
der Rechtsgutverletzung, während sich das Verschulden im weitesten Sinne mit der
Prüfung des Schädigerverhaltens befasst. Sofern man nur die Verschuldenshaftung
172
SCHWENZER, N 50.07; OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 45; vgl. auch BGE 77 II 148, 150
(Erw. 2): „Damit verstiess der Beklagte gegen das allgemeine Gebot der Rechtsordnung,
dass Rechtsgüter Dritter, also auch das Eigentum, nicht ohne Not in Gefahr gebracht
werden dürfen (BGE 64 II 260).“
173
BOSSHARD, S. 112.
174 MERZ, S. 311.
54

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
betrachtet, ist irrelevant, ob das Verhalten bei der Widerrechtlichkeit oder beim
Verschulden geprüft wird. Solange eine Haftpflicht sowohl das Vorliegen von
Widerrechtlichkeit als auch von Verschulden verlangt, findet eine Überprüfung des
Schädigerverhaltens ohnehin statt. Bei den verschuldensunabhängigen Haftungen
findet hingegen keine Überprüfung des Verschuldens und somit des Schädigerverhaltens
statt mit bisweilen unerwünschten Folgen.
2.5.1 Haftung des Geschäftsherrn und des Familienhauptes
Wendet man den Widerrechtlichkeitsbegriff der Erfolgsunrechtstheorie auch auf
die Geschäftsherrnhaftung (Art. 55 OR) und die Haftung des Familienhauptes
(Art. 333 ZGB) an, haftet der Geschäftsherr oder das Familienhaupt für jegliche
Schädigungen absoluter Rechte, die seine Hilfsperson bzw. sein unmündiger oder
entmündigter Hausgenosse verursacht. Dies im Grunde auch dann, wenn die Hilfsperson
bzw. der Hausgenosse mit aller erforderlichen Sorgfalt vorgegangen ist. 175
Dies ist unbefriedigend, denn damit würde das Familienhaupt für ein Verhalten
seines Hausgenossen haften, welches bei einer mündigen Person keine Haftung
begründen würde. 176 Im Bereich der Haftung des Familienhauptes setzt die Lehre
deshalb ein objektiviertes Verschulden des Hausgenossen voraus, d.h., der Hausgenosse
muss gegen objektiv bestimmte Verhaltenspflichten (Sorgfaltspflichten)
verstossen haben. Dies wird damit begründet, dass nicht einzusehen sei, dass das
Familienhaupt bei korrektem Verhalten des Schädigers deshalb haften soll, nur
weil der Schädiger unmündig ist. 177
Aus wenig überzeugenden Gründen wird hingegen bei der Geschäftsherrnhaftung
dieselbe Berücksichtigung des objektivierten Verschuldens abgelehnt. 178 Dies zeigt
175 PORTMANN, S. 274; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 263.
176 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 439.
177 OFTINGER/STARK II/1, § 22 N 68, REY, N 1152.
178 OFTINGER/STARK II/1, § 22 N 70: „Die abweichende Regelung bei der Geschäftsherrenhaftung
erscheint als gerechtfertigt, weil es sich dort normalerweise um Schädigungen
in einem Betrieb handelt. Die Risikotragung durch den Geschäftsherren im meistens
kommerziellen oder industriellen Betrieb drängt sich viel mehr auf als diejenige
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2 Die Erfolgsunrechtstheorie
zugleich, wie der Widerrechtlichkeitsbegriff der Erfolgsunrechtstheorie zu problematischen
Unterscheidungen und Abgrenzungen führt.
2.5.2 Haftung des Urteilsunfähigen
Auch die Billigkeitshaftung des Urteilsunfähigen (Art. 54 OR) setzt kein Verschulden
voraus. Wie bei der Haftung des Familienhauptes wird jedoch auch beim
Urteilsunfähigen zusätzlich ein objektives Verschulden vorausgesetzt. 179 Dies
bedeutet, dass dem Urteilsunfähigen die Verletzung von objektiven Verhaltenspflichten
(Sorgfaltspflichten) vorgeworfen werden muss. 180 Dies ist notwendig,
sonst würde der Urteilsunfähige, wenn man vom Erfordernis der Billigkeit absieht,
strenger behandelt als der Urteilsfähige und allein schon wegen seines geistigen
Zustandes für die Verletzung eines absoluten Rechts haften. 181
Dies lässt sich am folgenden Beispiel erklären. Schiesst ein Schütze mit Pfeil und
Bogen auf einem abgesperrten Schiessstand auf Scheiben, verhält er sich sorgfältig.
Läuft jemand unvermittelt in die Schussbahn und wird von einem Pfeil verletzt,
kann dem Schützen kein Vorwurf gemacht werden, da er sämtliche notwendigen
Sorgfaltsvorschriften eingehalten hat. Mangels Verschulden besteht keine Haftpflicht.
Ist nun der Schütze urteilsunfähig, verhält er sich aber gleich wie die
übrigen Schützen, gereicht ihm dies nicht zur Entlastung. Wird jemand nun durch
seinen Pfeil verletzt, würde der Urteilsunfähige im Grunde haften.
Da dies unerwünscht ist, muss auch bei der Haftung des Urteilsunfähigen das Verhalten
überprüft werden können, um nötigenfalls die Haftpflicht auszuschliessen,
wenn der Urteilsunfähige sich objektiv sorgfältig verhalten hat. Bei der Erfolgsunrechtstheorie
kann diese Prüfung des Verhaltens nicht im Rahmen der Widerrecht-
des Familienhauptes im vorwiegend privaten Bereich.“ Meines Erachtens wird hier die
Haftung einseitig zulasten desjenigen ausgestaltet, welcher am ehesten über finanzielle
Mittel verfügt („deep pockets“). Dies vermag dogmatisch nicht zu überzeugen.
Kritisch auch ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 298.
179
BeK-BREHM, OR 54 N 17.
180
HONSELL, § 16 N 2.
181
BeK-BREHM, OR 54 N 17.
56

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
lichkeit stattfinden, da hier einzig die Rechtsgutverletzung überprüft wird. Eine
Prüfung des Verhaltens im Rahmen des Verschuldens, etwa als Verletzung einer
objektiven Sorgfaltspflicht, scheidet bei den verschuldensunabhängigen Haftungen
begriffsnotwendig auch aus. Letztlich muss damit das Verhalten des Urteilsunfähigen
entweder im Rahmen des Billigkeitsbegriffs, der Kausalität oder als zusätzliche
Haftungsvoraussetzung überprüft werden.
2.6 Zwischenfazit zur Erfolgsunrechtstheorie
Auf den ersten Blick erscheint die Erfolgsunrechtstheorie einleuchtend und nachvollziehbar:
Wer ein wichtiges, sprich absolutes Recht schuldhaft verletzt, soll
haften. Der zentrale Gedanke der Erfolgsunrechtstheorie, dass die Widerrechtlichkeit
einzig durch den Erfolgseintritt indiziert wird, lässt sich jedoch nur für einen
Teil der Schadenstatbestände aufrechterhalten. Die Erfolgsunrechtstheorie liefert
im Grunde nur bei unmittelbaren, unerwünschten Eingriffen in klar abgegrenzte
absolute Rechte, wie Eigentum oder Leib und Leben, brauchbare Ergebnisse. Doch
diese Fälle sind meist haftpflichtrechtlich wenig problematisch. 182
In vielen Fällen erfordert eine angemessene Verteilung der gesellschaftlichen Risiken,
dass der Widerrechtlichkeitsbegriff unter Berücksichtigung des Verhaltensunrechts
ergänzt bzw. begrenzt wird. Der enge Widerrechtlichkeitsbegriff der Erfolgsunrechtstheorie
verlangt zur Lösung materieller Haftungsfragen spezielle
Konstruktionen (z.B. Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen, Rechtfertigungsgrund
des verkehrsadäquaten Verhaltens) oder Abgrenzungen (z.B. Unterscheidung aktiver
und passiver Schädigung oder Funktionsbeeinträchtigung und Substanzbeeinträchtigung).
Die Erfolgsunrechtstheorie funktioniert somit nur, wenn sie durch verschiedene
Hilfskonstruktionen unterstützt bzw. korrigiert wird. Da die meisten dieser Hilfskonstruktionen
auf das Verhaltensunrecht zurückzuführen sind, erscheint es nur
konsequent, auf die Erfolgsunrechtstheorie zu verzichten und direkt eine auf dem
Verhaltensunrecht aufbauende Widerrechtlichkeitstheorie anzuwenden.
182 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 270.
57
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168
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170
3 Die Schutznormtheorie
3 Die Schutznormtheorie
3.1 Übersicht und Definition
3.1.1 Schutznormverletzung als Ausgangspunkt
Nach der Schutznormtheorie ist ein Verhalten widerrechtlich, wenn es gegen ge-
schriebene oder ungeschriebene Gebote oder Verbote des objektiven Rechts, sogenannte
Schutznormen, verstösst, die zum Schutz der Interessen des Geschädigten
aufgestellt wurden. 183 Dieses Konzept findet sich ausdrücklich in § 823 I und II
BGB:
58
„[Wer] gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes
Gesetz verstößt [ist dem anderen zum Ersatz des daraus
entstehenden Schadens verpflichtet].“
Unter Schutznormen sind jene Bestimmungen des Rechts zu verstehen, die das
menschliche Verhalten ordnen, um den Schutz der Rechtsgüter anderer (Leben,
Gesundheit, Eigentum, Vermögen usw.) zu gewährleisten. Es handelt sich dabei
um Verbote, welche bestimmte Verhaltensweisen wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit
einschränken, und um Gebote, die bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben,
um eine Gefährdung zu vermeiden. 184 Als Schutznorm gilt z.B. das Verbot
des Betrugs. 185
Bei der Schutznormtheorie legt der Widerrechtlichkeitsbegriff selbst nicht fest, was
erlaubt und was unerlaubt ist, „sondern er setzt das Bestehen von Rechtssätzen,
Normen, Geboten und Verboten, die zum Schutze der Rechtsgüter der Gesamtheit
und der einzelnen aufgestellt sind, voraus, und bestimmt lediglich die Schadensersatzpflicht
für deren Übertretung und die näheren Voraussetzungen hierfür“. 186
183 SCHWENZER, N 50.19, m.w.H.; BGE 116 Ib 367, 373 f. (Erw. 4b).
184 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 43.
185 Art. 146 StGB.
186 ZK-SCHÖNENBERGER, OR 41 N 10.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Hauptaufgabe und Hauptproblem der Schutznormtheorie liegen daher im Auffinden
und Bestimmen einschlägiger Schutznormen.
Während das deutsche BGB in § 823 eigentliche (Schutz-)Gesetze voraussetzt,
wird die Schutznormtheorie im Schweizerischen OR nirgends spezifiziert. Nach
Lehre und Rechtsprechung sind als Quelle von Schutznormen nicht nur Gesetze im
formellen Sinne, sondern „die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit heranzuziehen
[...], eidgenössisches, kantonales und kommunales Recht, öffentliches und Privatrecht,
geschriebenes und ungeschriebenes Recht“. 187 Der Widerrechtlichkeitsbegriff
der Schutznormtheorie ist deshalb nicht bloss als Blankettnorm aufzufassen,
die durch die Bestimmungen des übrigen Rechts auszufüllen ist, sondern auch
als Normgenerator und damit als Grundlage, um ungeschriebene Schutznormen
aufzustellen. 188
Da die Schutznormtheorie zur Begründung der Widerrechtlichkeit bei reinen Vermögensschäden
zur Anwendung gelangt, sind Schutznormen nur dann haftpflichtrechtlich
relevant, wenn sie dem Schutz der wirtschaftlichen bzw. vermögensrechtlichen
Interessen des Geschädigten dienen. 189
3.1.2 Elemente der Schutznormtheorie
a) Verletzung einer geschriebenen (gesetzlichen) Schutznorm
Gemäss der Schutznormtheorie handelt der Schädiger dann widerrechtlich, wenn
sein Verhalten gegen ein Gebot oder Verbot des geschriebenen Rechts verstösst
und infolgedessen beim Geschädigten ein Vermögensschaden eintritt. Ein solches
Verbot ist z.B. in Art. 146 StGB („Betrug“) enthalten. Wer einen anderen betrügt
und so am Vermögen schädigt, verstösst gegen Art. 146 StGB und handelt damit
widerrechtlich. Ein weiteres Beispiel findet sich in Art. 3 lit. a UWG („Unlautere
Werbemethoden“): Wer andere, ihre Waren, Werke, Leistungen, deren Preise oder
187
MERZ, S. 308.
188
LOSER-KROGH, Kritische Überlegungen, S. 141 f.
189 Z.B. Art. 138 StGB (Veruntreuung), Art. 160 StGB (Hehlerei), Art. 146 StGB (Betrug);
vgl. auch BeK-BREHM, OR 41 N 39 ff., mit weiteren Beispielen und Kasuistik.
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3 Die Schutznormtheorie
ihre Geschäftsverhältnisse durch unrichtige, irreführende oder unnötig verletzende
Äusserungen herabsetzt, handelt unlauter und damit widerrechtlich. Erleidet ein
Konkurrent durch solche Werbung einen Schaden, hat er einen Anspruch auf
Schadenersatz.
Als Schutznormen sind dabei aber nur solche Normen des geschriebenen Rechts
relevant, welche bestimmte Interessen des Geschädigten vor bestimmten Arten der
Schädigung, d.h. vor einer bestimmten Gefahr, schützen sollen. 190 Auch wenn es
etwa bei Art. 146 StGB („Betrug“) naheliegend ist, dass dadurch die vermögensrechtlichen
Interessen des Geschädigten vor betrügerischen Handlungen des Schädigers
geschützt werden sollen, ist einer Verhaltensnorm nicht immer zu entnehmen,
gegen welche Gefahr sie schützen bzw. welche Interessen sie schützen
soll. 191 Dies ist erst durch die Auslegung des Schutzbereichs bzw. des „Schutzzwecks“
der Schutznorm zu ermitteln. 192 Widerrechtlichkeit ist erst dann gegeben,
wenn das Verhalten des Schädigers ein geschütztes Interesse des Geschädigten in
einer verbotenen Art und Weise verletzt.
60
b) Verletzung einer ungeschriebenen (richterlichen) Schutznorm
Neben dem geschriebenen Recht kommt auch das ungeschriebene Recht als Quelle
von Schutznormen in Frage. Dies ist notwendig, denn aufgrund der zunehmenden
Technisierung der Umwelt und der laufenden gesellschaftlichen Entwicklungen
entstehen zum einen neue Gefahren, und zum anderen ändern sich die Haftungsbedürfnisse
der Gesellschaft. Es würde zu unannehmbaren Schutzlücken führen,
wenn die Definition von Verhaltenspflichten einzig dem Gesetzgeber überlassen
würde, der nur punktuell und mit zeitlicher Verzögerung legiferieren kann. 193
Ist ein Verhalten deshalb weder durch eine Gesetzesvorschrift noch durch allfälliges
Gewohnheitsrecht vorgeschrieben bzw. verboten, kommt auch die Anwendung
190
SCHWENZER, N 50.19.
191
KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 8.
192
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 65.
193
VON BAR II, N 224.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
von Richterrecht in Frage. 194 So hat das Bundesgericht eine Haftung bei der Erwir-
kung einer vorsorglichen Verfügung ohne jeglichen Grund 195 und die Haftung für
Falschauskünfte 196 anerkannt. Ferner werden in der Lehre verschiedentlich unge-
schriebene Schutz- respektive Haftungsnormen entwickelt und vorgeschlagen, die
spezifische Haftungsbedürfnisse abdecken sollen. 197
c) Rechtfertigung einer Verletzung (Rechtfertigungsgrund)
Obschon die Schutznormtheorie die Widerrechtlichkeit nicht gleich pauschal definiert
wie die Erfolgsunrechtstheorie, welche einzig auf die Rechtsgutverletzung
abstellt, bilden die geschriebenen Schutznormen gleichwohl einen abstrakten Wertungsmassstab.
Es kann daher vorkommen, dass das Verhalten des Schädigers zwar
objektiv den Tatbestand einer Schutznorm erfüllt, aber die konkreten Umstände
des Einzelfalls berechtigterweise eine Abweichung von bzw. ein Aussetzen dieser
Schutznorm erlauben. Dies kann sein bei Notwehr, Notstand, Einwilligung des
Geschädigten oder Vorliegen einer Amtspflicht. 198 Die Verletzung einer Schutznorm
indiziert deshalb zwar die Widerrechtlichkeit, ein abschliessendes Urteil zur
Widerrechtlichkeit lässt sich aber erst nach der Prüfung allfälliger Rechtfertigungsgründe
fällen.
194 ZK-SCHÖNENBERGER, OR 41 N 13.
195 BGE 88 II 276, 281 (Erw. 4b).
196 BGE 57 II 81, 86 (Erw. 2); BGE 111 II 471, 474 (Erw. 3); BGE 116 II 695, 699
(Erw. 4); vgl. BeK-BREHM, OR 41 N 48a ff., mit weiteren Beispielen für ungeschriebene
Schutznormen und entsprechende Kasuistik.
197 Vgl. KOLLER, Vertragsfremden Dritten, S. 35 (N 55), mit Verweis auf den ungeschriebenen
Art. 41 Abs. 3 OR: „Wer im Rechtsverkehr schuldhaft einen falschen Anschein
erweckt oder aufrechterhält, wird Dritten, die dadurch irregeführt werden, zum Ersatze
verpflichtet.“; vgl. REY, N 734 ff., mit Verweis auf fünf Grundschutznormen („Lehre
von Max Keller“).
198 Detailliert OFTINGER/STARK II/1, § 16 N 227 ff.
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3 Die Schutznormtheorie
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d) Verschulden als weitere Haftungsvoraussetzung (Abgrenzungskriterium)
Wendet man bei der Schutznormtheorie denselben objektivierten
Verschuldensbegriff an wie bei der Erfolgsunrechtstheorie, hat dies zur Folge, dass
bei der Schutznormtheorie das Schädigerverhalten gleich zweimal geprüft wird.
Zunächst wird das Verhalten am Massstab der generell-abstrakten Schutznorm
gemessen, anschliessend am objektivierten, typisierten Sorgfaltsmassstab. 199
Schützt z.B. eine Schutznorm vor der fahrlässigen Schädigung des Vermögens,
dann indiziert die Verletzung der Schutznorm sowohl die Widerrechtlichkeit als
auch die Fahrlässigkeit und damit das Verschulden des Schädigers.
3.1.3 Kernaussagen zur Schutznormtheorie
Da der Widerrechtlichkeitsbegriff der Schutznormtheorie auf die Prüfung des Verhaltens
und nicht nur auf den Erfolgseintritt abstellt, umgeht die Schutznormtheorie
einige der Probleme, welche die Erfolgsunrechtstheorie belasten. Im Übrigen
zeichnet sich die Schutznormtheorie folgendermassen aus:
• Die Schutznormtheorie bedient sich geschriebener Normen aus haftpflichtrechtsfremden
Rechtsgebieten. Da diese meist nicht auf Haftpflichtfälle
zugeschnitten sind, lässt sich die Widerrechtlichkeit im Sinne des
Haftpflichtrechts deshalb erst nach Auslegung des Schutzzwecks dieser
Normen bestimmen (vgl. Rz. 188 ff.).
• Das geschriebene Recht ist jedoch nicht in der Lage, sämtlichen Haftpflichtfällen
gerecht zu werden, zumal der Gesetzgeber nur punktuell
legiferieren kann (vgl. Rz. 198 ff.).
• Es besteht deshalb ein Anreiz, allfällige Haftpflichtsachverhalte durch die
extensive Auslegung von Schutznormen zu erfassen. Damit erhalten
Normen mitunter einen „Schutzzweck“ aufgestülpt, den der Gesetzgeber
nie vorausgesehen hat (vgl. Rz. 203 ff.); im Übrigen ist der Richter gehal-
199 HONSELL, § 6 N 21.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
ten, allfällige Haftungslücken durch das Aufstellen von ungeschriebenen
Schutznormen zu füllen (vgl. Rz. 212 ff.).
• Die Schutznormtheorie beinhaltet einen gewissen Automatismus bei der
Beurteilung der Widerrechtlichkeit einer Handlung. Jede Verletzung eines
generell-abstrakten Verbots oder Gebots ist prima facie widerrechtlich. In
gewissen Fällen erlaubt die Rechtsordnung jedoch, dass bestimmte Regeln
missachtet bzw. ausgesetzt werden. Als notwendiger Mechanismus
zur differenzierteren Beurteilung des Verhaltens kommen Rechtfertigungsgründe
zum Zug (vgl. Rz. 216 ff.).
• Bei der Schutznormtheorie lassen sich Widerrechtlichkeit und Verschulden
nicht klar trennen, denn bei beiden Haftungsvoraussetzungen wird das
Verhalten des Schädigers anhand eines objektiven Massstabs beurteilt
(vgl. Rz. 219 ff.).
3.2 Geschriebene Schutznormen als problematisches Kriterium
3.2.1 Eignung gesetzlicher Bestimmungen als Schutznormen
Nicht alle Normen, die das menschliche Verhalten ordnen, sind als Schutznormen
geeignet. Als Schutznormen kommen nur jene Normen in Frage, welche konkrete
Verhaltenspflichten enthalten, 200 d.h. ein bestimmtes Tun oder Unterlassen aufgrund
seiner Gefährlichkeit bzw. zur Gefahrvermeidung verlangen respektive ver-
bieten. 201
Normen, welche lediglich die Herbeiführung eines unerwünschten Erfolgs verbieten
202 bzw. auf die allgemeine Sorgfaltspflicht verweisen, genügen hingegen
nicht. 203 Sie tragen zur Feststellung des unerlaubten Handelns nichts bei und sind
200 BOSSHARD, S. 104 f.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 43.
201 VON BAR II, N 221.
202 Z.B. Art. 111 StGB („Vorsätzliche Tötung“).
203
Z.B. Art. 12 lit. a BGFA: „[Anwälte] üben ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft
aus.“
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3 Die Schutznormtheorie
deshalb für die Widerrechtlichkeit nur mittelbar anwendbar, sofern sie der Rechtsprechung
einen Anhaltspunkt für die konkrete Rechtspflicht geben. 204
Auf einer ersten Stufe hat der Richter deshalb eine Vorauswahl möglicher Schutznormen
zu treffen. Anschliessend bleibt zu prüfen, ob die Schutznormen überhaupt
beim konkreten Haftpflichtfall Anwendung finden.
3.2.2 Notwendigkeit der einschränkenden Auslegung des Schutzzwecks
Die Schutznormtheorie schränkt die Haftung dadurch ein, indem sie die Verletzung
einer einschlägigen Schutznorm verlangt. Einschlägig bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass die Schutznormen zum Schutz der Rechte des Geschädigten aufgestellt
wurden. 205 Anders formuliert, ist ein schädigendes Verhalten nur dann haftpflichtrechtlich
relevant, wenn es in den „Schutzbereich“ einer Norm fällt bzw.
durch den „Schutzzweck“ der Norm erfasst ist. 206
Das ZGB und das OR kennen zwar Bestimmungen, welche ausdrücklich bestimmte
Personen vor besonderen Gefahren schützen sollen, so z.B. die Verantwortlichkeit
der vormundschaftlichen Organe für die Verletzung der Regeln einer sorgfältigen
Verwaltung 207 oder auch die Verantwortlichkeit des Verwaltungsrats für die
Pflichtverletzung. 208 Hier werden nicht nur die geschützten Personen genannt
(Mündel, Aktionäre, Gläubiger, Gesellschaft), sondern implizit auch das geschützte
Rechtsgut (Mündelvermögen, Vermögen der Aktionäre usw.) angeben.
Im Regelfall verbieten oder gebieten die Normen nur ein bestimmtes Verhalten,
ohne ausdrücklich zu bezeichnen, welche Personen und deren Rechte sie vor wel-
204
VON BAR II, N 221; BOSSHARD, S. 105.
205
BGE 94 I 628, 642 (Erw. 5): „[...] ist ein Verhalten nur dann widerrechtlich im Sinne
der Begründung eines Schadenersatzanspruches, wenn es gegen Gebote und Verbote
der Rechtsordnung verstösst, die dem Schutze des verletzten Rechtsgutes dienen“;
BGE 102 II 85, 88 (Erw. 5): „Il suffit que la prescription violée ait pour but de
protéger le lésé dans les droits atteints par l'acte incriminé.“
206 GABRIEL, N 251.
207 Art. 426 ZGB.
208 Art. 754 OR.
64

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
chen Gefahren schützen wollen. Nur ausnahmsweise verweisen die Gesetzesbe-
stimmungen auf die Möglichkeit der Schadenersatzklage, 209 weshalb die Eignung
einer Gesetzesbestimmung als Schutznorm nicht stets offensichtlich ist.
Der Schutzzweck ist deshalb vom Richter nach dem Sinn und Zweck der Norm
auszulegen. 210 Das heisst, der Richter hat festzulegen, wer genau von einer be-
stimmten Norm geschützt werden soll, welche seiner Rechte geschützt werden
sollen und welche konkrete Gefahr diese Norm abwenden möchte. Es handelt sich
somit um eine teleologische Reduktion der in der Schutznorm enthaltenen Verhaltenspflichten
in drei Richtungen: hinsichtlich der geschützten Personen, der geschützten
Rechte und der zu vermeidenden Gefahr. 211
a) Geschützte Person
Ein Geschädigter geniesst nur dann einen haftpflichtrechtlichen Schutz, sofern die
Norm zu seinem Schutz, d.h. zum Schutz eines privaten Individualrechts aufgestellt
wurde. 212 Einige Verhaltensnormen haben hingegen nur den Schutz von öffentlichen
Interessen, d.h. der Interessen der Allgemeinheit als Gesamtes, zum
Inhalt. Wird gegen eine solche Verhaltensnorm verstossen, mag dies disziplinarische
oder strafrechtliche Konsequenzen haben, der Geschädigte kann jedoch hieraus
keinen Individualanspruch auf Schadenersatz ableiten. Deshalb sind Bestimmungen
zur Landesverteidigung, 213 forstpolizeiliche Bestimmungen zum Schutze
des Waldes 214 oder Bestimmungen des Preisüberwachungsgesetzes 215 als Schutz-
209
Art. 12 I lit. b KG: „[...] hat Anspruch auf Schadenersatz [...] nach Massgabe des
Obligationenrechts“; Art. 9 III UWG: „Er kann ausserdem nach Massgabe des Obligationenrechts
auf Schadenersatz [...] klagen“; Art. 55 II MschG, Art. 35 II DesG:
„Vorbehalten bleiben die Klagen nach dem Obligationenrecht auf Schadenersatz“;
Art. 28a III ZGB: „Vorbehalten bleiben Klagen auf Schadenersatz.“
210
GABRIEL, N 251.
211 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 66.
212 BGE 30 II 271, 282 (Erw. 4); BGE 25 II 621, 624 (Erw. 3).
213 MERZ, S. 318.
214 BGE 30 II 567, 572 (Erw. 3c).
215 SCHWENZER, N 50.20.
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3 Die Schutznormtheorie
normen ungeeignet. Einen privaten Schutzcharakter haben hingegen jene Normen,
bei denen das öffentliche Interesse gewissermassen die Summe der Einzelinteressen
der Staatsbürger darstellt, z.B. bei gesundheitspolizeilichen und verkehrspolizeilichen
Normen. 216 Wird gegen eine solche Norm verstossen, steht dem Geschädigten
ein Haftpflichtanspruch zu.
Der Kreis der geschützten Personen kann zudem auf bestimmte Personen oder
Personengruppen beschränkt werden. Gerade im Bereich der Berufspflichten sollen
meistens nur die eigentlichen Leistungsdestinäre geschützt werden, d.h. diejenigen
Personen, die typischerweise bei Verletzung dieser Pflichten einen Vermögensschaden
erleiden, weil sie auf die korrekte Pflichterfüllung vertrauen. 217 So hat das
Bundesgericht entschieden, dass die Bestimmungen über die Bankenaufsicht nicht
etwa dem Schutz der Banken, sondern einzig dem Schutz von deren Gläubigern
dienen. Erwächst deshalb einer Bank dadurch ein Schaden, dass die Eidgenossenschaft
ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommt, kann die Bank aus der Verletzung
der Aufsichtspflichten keinen Schadenersatzanspruch für sich ableiten. 218
66
b) Geschütztes Recht
Wird die Anwendung der Schutznormtheorie auf reine Vermögensschäden beschränkt,
ist eine Schutznorm nur relevant, wenn sie den Schutz der Vermögensinteressen
des Geschädigten bezweckt. Das Bundesgericht hat z.B. den vermögensschützenden
Charakter von Art. 229 StGB („Gefährdung durch Verletzung der
Regeln der Baukunde“) mit dem Hinweis verneint, diese Norm beabsichtige nur
den Schutz vor Personen- und Eigentumsschäden. 219 Bejaht hat das Bundesgericht
hingegen den vermögensschützenden Charakter von Art. 239 StGB („Störung von
Betrieben, die der Allgemeinheit dienen“). 220 Hat eine Norm nicht den Schutz des
216 MERZ, S. 320.
217 SCHWENZER, N 50.25.
218 BGE 106 Ib 357, 362 (Erw. 2c).
219
BGE 119 II 127, 129 (Erw. 3).
220
BGE 101 Ib 252, 256 (Erw. 2d); BGE 102 II 85, 88 (Erw. 5); KOLLER, Obligationenrecht,
§ 24 N 8 mit weiteren Beispielen.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
verletzten Rechts zum Inhalt, kann daraus keine Haftung erfolgen. Der Schutzumfang
ist deshalb stets durch Auslegung zu ermitteln.
c) Schutz vor Schädigung der eingetretenen Art
Damit eine Haftung auf eine Schutznorm gestützt werden kann, genügt es noch
nicht, dass der Geschädigte zum Kreis der durch die Normen geschützten Personen
gehört und das beeinträchtigte Recht von der Norm geschützt werden soll. Die
Schutznorm soll zudem auch die Schädigung der eingetretenen Art vermeiden
wollen, 221 d.h., der Schaden muss sich in der Weise zutragen, wie der Gesetzgeber
sich das vorgestellt hat. Die Kinderschutzbestimmungen zur Nachtzeit sollen daher
den „Kegeljungen“ nur vor Gesundheitsschäden durch Überanstrengung schützen,
nicht aber vor der Gefahr der Verletzung durch eine Kegelkugel zur nächtlichen
Stunde. 222 Das Bundesgericht prüft das Fehlen des Schutzzwecks im Rahmen der
Adäquanz. 223 Gewisse Autoren schlagen hingegen vor, den Schutzzweck im Rahmen
der Widerrechtlichkeit zu prüfen. 224
Der Versuch, die Haftung durch eine teleologische Reduktion des Schutzzwecks
einzugrenzen, überzeugt jedoch nur dann, wenn den Schutznormen konkrete Aufschlüsse
über die von ihnen geschützten Rechte und Personenkreise bzw. der zu
vermeidenden Gefahren entnommen werden können. 225 Dies ist aber nicht immer
der Fall. Oft fehlt ein ausdrücklicher Hinweis, wer genau durch die Norm geschützt
bwz. welche Rechte vor Schaden bewahrt werden sollen. Damit liegt es weitgehend
im Ermessen des Richters zu bestimmen, wer bzw. welche Rechte von einer
Norm geschützt werden sollen.
221 OFTINGER/STARK, § 4 N 41.
222 „Kegeljungenfall“, vgl. LG Hannover, Das Recht 1910, S. 36, zitiert nach: ROBERTO,
Haftpflichtrecht, N 71.
223 BGE 94 I 628, 643 (Erw. 5); ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 73; ablehnend
OFTINGER/STARK, § 4 N 41 (Fn. 50).
224 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 203 ff.; REY, N 702a.
225 KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 133.
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3 Die Schutznormtheorie
Aber auch dort, wo Hinweise vorhanden sind, dürften die Meinungen hinsichtlich
der geschützten Rechte oder der zu vermeidenden Gefahr auseinandergehen. 226
Während im Strafrecht die geschützten Rechte und Personen noch einfach auszumachen
sind, dürfte dies im Verwaltungsrecht bisweilen schwierig sein. So ist z.B.
abzugrenzen, ob die Interessen der Allgemeinheit geschützt werden sollen oder ob
die gebündelten Individualinteressen Vieler geschützt werden. 227
3.2.3 Ungenügende Regelungsdichte geschriebener Schutznormen
Das Haftpflichtrecht ist nur dann dauerhaft leistungsfähig, wenn es in der Lage ist,
sich aus sich selbst heraus den Entwicklungen der Gesellschaft anzupassen. 228
Würde man es daher dem Gesetzgeber vorbehalten zu bestimmen, was erlaubt oder
verboten ist, käme es unweigerlich zu unhaltbaren Schutzlücken bzw. Haftungslücken,
229 weil geschriebene Schutznormen fehlen oder weil sich gesellschaftliche
Haftungsbedürfnisse über die einmal festgelegten Schutznormen hinaus entwickelt
haben.
Auch wenn sich der Gesetzgeber nach Kräften bemüht, die Grenze zwischen Recht
und Unrecht positivrechtlich festzulegen, wird er immer nur einzelne Bereiche des
menschlichen Verhaltens punktuell über Schutznormen erfassen können. 230 Es
entsteht daher ein eher „buntscheckiges Bild gesetzlicher Schutznormen“, das mehr
oder weniger zufällig erscheint. 231 Damit gestaltet sich die Suche nach einer entsprechenden
Haftungsgrundlage zur forensischen Lotterie, 232 da es vom puren
226 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 74.
227
Vgl. Rz. 192.
228
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 272, 292.
229 Vgl. VON BAR II, 224.
230 BOSSHARD, S. 106; VON BAR II, N 224.
231
KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 133; vgl. auch POLLOCK in: 47 L.Q.R. at 589
(1931) wonach „the law of civil wrongs consists of nothing but shreds and patches“,
zitiert nach: FLEMING, S. 6 (Fn. 27).
232
FLEMING, S. 8; LORANDI, S. 25.
68

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Zufall abhängt, ob für den konkreten Schadensfall eine passende Schutznorm zur
Verfügung steht. 233
Eine weitere Unzulänglichkeit geschriebener Schutznormen besteht darin, dass
allfällig bestehende Schutznormen nicht mehr aktuell sind oder nur Minimalstandards
definieren, was bei technischen Anforderungen oder Schutzvorschriften oft
der Fall ist. 234 Aufgrund der Dauer des Gesetzgebungsprozesses besteht zudem die
Gefahr, dass Bestimmungen hinter dem aktuellen Stand der Technik zurückliegen.
235 Würde man einzig auf solche Bestimmungen abstellen, bliebe der Geschädigte
über weite Strecken ohne Schadenersatzanspruch. Der Schädiger hat sein
Verhalten vielmehr nach dem geltenden Stand der Technik und der Kunst zu richten.
Die Ausrede, die geltenden gesetzlichen Bestimmungen eingehalten zu haben,
schliesst eine Haftung deshalb nicht aus. 236
Unter besonderen Umständen hat der Schädiger von der Einhaltung einer Schutznorm
sogar abzusehen, nämlich dann, wenn die Befolgung der Verhaltenspflicht
den Schutzzweck der Norm in das Gegenteil verkehren würde. So kann es geboten
sein, die Sicherheitslinie zu überfahren, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. 237
In solchen Fällen kann die Einhaltung der Schutznorm nicht die Widerrechtlichkeit
der Schädigung ausschliessen. 238 Gefordert ist jenes Verhalten, welches die Gefährdung
des Rechts des Geschädigten minimiert. 239
Zusammenfassend sind geschriebene Schutznormen als Kriterium zur Abgrenzung
zwischen erlaubten und unerlaubten Schädigungen von beschränktem Wert. Bestehen
Schutznormen, muss der Schädiger sich bewusst sein, dass unter Umständen
233 GAUCH, Grundbegriffe, S. 232.
234 SCHWENZER, N 53.26.
235 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N. 45.
236 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N. 45.
237
OSWALD, S. 47, m.w.H.
238
Vgl. MERZ, S. 316, zur Problematik, dass man den Todfeind unter Beobachtung aller
Verkehrsvorschriften überfahren könnte und es dann nicht rechtswidrig sei.
239
OSWALD, S. 47.
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3 Die Schutznormtheorie
ein höherer Verhaltensstandard verlangt wird oder die Umstände gar eine Verletzung
dieser Schutznormen verlangen. Geschriebene Schutznormen bieten deshalb
keine absolute Rechtssicherheit. Zudem lässt sich ein gerechtes und nicht vom
legislatorischen Zufall diktiertes Urteil nur fällen, wenn dort, wo Haftungslücken
bestehen, die geschriebenen Schutznormen auch fallweise mit ungeschriebenen
Schutznormen ergänzt werden. 240 Die gesellschaftliche Entwicklung und die daraus
entstehenden und sich verändernden materiellen Haftungsbedürfnisse und -
fragen lassen sich nicht über statische Schutznormen beantworten.
3.2.4 Extensive Auslegung des Schutzzwecks als ungeeigneter Lösungsansatz
Da die Schutznormtheorie sowohl das geschriebene als auch das ungeschriebene
Recht als Quelle von Schutznormen anerkennt, lassen sich vom geschriebenen
Recht nicht erfasste Haftungslücken an sich über ungeschriebene Schutznormen
adäquat abdecken. 241 In der Rechtsprechung besteht hingegen die Tendenz, „auch
die ausgefallensten Vorschriften zu haftungsbegründenden Schutznormen hochzustilisieren“.
242 Bei der Auslegung des Schutzzwecks wird die Schutznorm nicht
etwa teleologisch reduziert, sondern vielmehr auf unvorhergesehene Schutzbereiche
ausgeweitet. Der Richter macht Gesetzesbestimmungen zu Schutznormen,
„deren haftpflichtrechtliche Relevanz dem Gesetzgeber anno dazumal vielleicht
nicht einmal schemenhaft bewusst gewesen ist“. 243
Zu einem gewissen Grad bietet die Schutznormtheorie Hand zu einer solchen Vorgehensweise,
zumal die Auslegung des Schutzzwecks Aufgabe des Richters ist und
dies neben der reduzierenden auch eine extensive Auslegung ermöglicht. Es besteht
bei der Schutznormtheorie auch die Gefahr von Zirkelschlüssen, da der Richter
als Schutzzweck der Norm das gelten lassen kann, was er zuvor selbst in die
240 Vgl. SCHUBARTH, S. 110: „Wenn das Recht nicht gefunden werden kann, muss es eben
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erfunden werden.“
241 Vgl. Rz. 212 ff.
242 BUCHER, S. 31.
243 KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 133.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
Norm hineininterpretiert hat. 244 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den
sogenannten Kabelbruchfällen, in denen Art. 239 StGB („Störung von Betrieben,
die der Allgemeinheit dienen“) als Schutznorm zugunsten des Vermögens herhal-
ten musste, findet sich dieser Kritik ausgesetzt. 245
Die extensive Auslegung geschriebener Schutznormen, wenn auch methodisch
problematisch, lässt sich durch das Unbehagen des Richters erklären, mittels ungeschriebener
Schutznormen eigenes Recht zu setzen. 246 Für ihn ist es einfacher, eine
Schutznorm zur Begründung der Haftung vorzuschieben und sie durch Auslegung
des Schutzzwecks an die Umstände des Sachverhalts anzupassen. 247 Die Entwicklung
ungeschriebener Verhaltenspflichten würde sich hingegen an Art. 1 II ZGB
anlehnen und wäre damit methodisch ehrlicher. 248
3.2.5 Exkurs: Schutznormen zugunsten absoluter Rechte
Die Schutznormtheorie ist nicht zwangsläufig auf reine Vermögensschäden zu
beschränken, sondern lässt sich auch auf die Verletzung absoluter Rechte anwenden.
249 Gemäss PORTMANN lässt sich aber auch bei absoluten Rechten die Widerrechtlichkeit
im Verstoss gegen eine entsprechende Schutznorm begründen. 250
Damit wären Normen, welche Leib und Leben, Eigentum, Persönlichkeit usw.
schützen, auch als Schutznormen geeignet. 251 Die Ausweitung des Anwendungsbereichs
der Schutznormtheorie auf die Verletzung absoluter Rechte bringt jedoch
Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich.
244 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 74; KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 133.
245
BGE 102 II 85, 88 (Erw. 5); kritisch GAUCH, Grundbegriffe, S. 232, und ROBERTO,
Haftpflichtrecht, N 145.
246
Vgl. Rz. 214.
247 GAUCH/SWEET, S. 122.
248 KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 133.
249 REY, N 702a ff.; PORTMANN, S. 278.
250 PORTMANN, S. 278.
251 BGE 119 II 127, 129 (Erw. 3): So bezweckt Art. 229 StGB (Gefährdung durch Verletzung
der Regeln der Baukunde) den Schutz vor Personen- und Eigentumsschäden.
71
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207
208
209
3 Die Schutznormtheorie
Im Rahmen der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie unterscheiden herrschende
Lehre und Rechtsprechung zwischen absoluten Schutznormen (z.B. den Betrugstatbestand)
und Polizeivorschriften (z.B. Strassenverkehrsregeln). Während der
Verstoss gegen absolute Schutznormen die Widerrechtlichkeit bestimmt, gilt die
Verletzung von Polizeivorschriften nur als Bemessungsfaktor für das Verschulden.
252 MERZ spricht deshalb von mittelbaren Schutzvorschriften, die sich über ihr
Verhältnis zu den absoluten Rechten definieren und nur jenes zivile Unrecht verhüten
sollen, das unabsichtlich begangen werden könnte. 253 Generell kann gesagt
werden, dass polizeiliche Vorschriften ein vom Gesetz vorgesehenes Durchschnittsverhalten
umschreiben, sodass deren Überschreitung als Indiz für das Verschulden
gilt. 254
Sind Verhaltenspflichten somit zum Schutz absoluter Rechte aufgestellt worden,
gelten sie als Mass der Sorgfalt; sind sie hingegen zum Schutz des Vermögens
aufgestellt worden, gelten sie als Mass der Widerrechtlichkeit. Diese Differenzierung
überzeugt nicht, geht sie doch von einer künstlichen Unterscheidung zwischen
absoluten Rechten und dem Vermögen aus. 255
Besser ist es, der vom Bundesgericht in BGE 113 Ib 420 geäusserten Ansicht zu
folgen, wonach verwaltungsrechtliche Regelungen auch dann die Widerrechtlichkeit
begründen, wenn sie zum Schutz absoluter Rechte aufgestellt worden sind.
72
„Die Verordnung über die kantonalen Krankenhäuser
vom 28. Januar 1981 (KHV) hält ausdrücklich fest, dass
sich die Behandlung des Patienten nach den anerkannten
Grundsätzen der ärztlichen Wissenschaft und Humanität
252
BeK-BREHM, OR 41 N 54; BaK-SCHNYDER, OR 41 N 35: SCHNYDER zählt die Bestimmungen
des Strassenverkehrsrechts zu den haftpflichtrelevanten Schutznormen.
253
MERZ, S. 317.
254 BeK-BREHM, OR 41 N 187, m.w.H.
255 Vgl. Rz. 237 ff.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
zu richten hat (§ 38 KHV). Ein Verstoss gegen die Regeln
der ärztlichen Kunst ist demnach widerrechtlich.“ 256
In weiteren Entscheiden hat das Bundesgericht die Haftung für Vermögensschäden
deshalb abgelehnt, weil die entsprechenden Normen nur den Schutz vor Personenrespektive
Sachschäden gewährten und nicht auch den Schutz des Vermögens
gewähren sollten. 257 Umgekehrt müsste gelten, dass die entsprechenden Normen
geeignet sind, als Schutznormen zugunsten der Rechtsgüter Leben und Eigentum
zu dienen.
Die Differenzierung zwischen Schutznormen und Polizeivorschriften ist zudem bei
der Verletzung eines absoluten Rechts durch Unterlassung problematisch. Bei der
aktiven Verletzung eines absoluten Rechts gelten entsprechende Normen als Mass
der Sorgfalt. Bei der passiven Verletzung sollen sie hingegen zur Begründung des
Rechtswidrigkeitszusammenhangs bzw. einer Garantenstelle dienen. 258 Die von der
Lehre und Rechtsprechung praktizierte Unterscheidung zwischen Schutznormen
und Polizeivorschriften ist deshalb abzulehnen. Gebieten oder verbieten Normen
gewisse Verhaltensweisen zum Schutze absoluter Recht sind sie ohne weiteres als
Schutznormen zu betrachten.
3.3 Ungeschriebene Schutznormen als problematisches Kriterium
Neben der extensiven Auslegung von geschriebenen Schutznormen ist das Aufstellen
ungeschriebener Schutznormen eine weitere Möglichkeit, dem Problem der
Haftungslücken zu begegnen. Ein Teil der Lehre betrachtet ungeschriebene
256 BGE 113 Ib 420, 423 (Erw. 2): Das Bundesgericht qualifizierte diese Aussage im
selben Entscheid insofern, als bei absolut geschützten Rechtsgütern die Widerrechtlichkeit
„nicht von einem solchen Normverstoss ab[hängt], wenn ein absolut geschütztes
Rechtsgut wie die körperliche Integrität des Menschen verletzt wird“.
257 BGE 119 II 127, 129 (Erw. 3) betreffend Art. 229 StGB („Gefährdung durch Verletzung
der Regeln der Baukunde“); BGE 106 II 75, 77 f. (Erw. 2) betreffend Art. 58 I
SVG.
258 Vgl. Rz. 139 ff.
73
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3 Die Schutznormtheorie
Schutznormen jedoch als problematisch, weil sie dem Richter erlauben, bei Bedarf
einschlägige Schutznormen zu entwickeln. 259
BREHM schreibt, dass die schweizerischen Haftpflichtgesetze positivrechtlich klar
umschrieben sind und nicht in ein unbegrenztes prätorianisches Recht entartet
werden dürfen, ganz abgesehen davon, dass solch ungeschriebenes Recht generell
bei Körperverletzung oder Sachbeschädigung unnötig sei. 260 Dem ist entgegenzuhalten,
dass die richterliche Ausbildung von Sorgfaltspflichten zum Schutze absoluter
Rechte in der Lehre kaum kontrovers ist. 261 Worin der Unterschied in der
richterlichen Ausbildung von Schutznormen respektive Sorgfaltspflichten liegen
soll, ist dabei nicht zu erkennen.
Das Unbehagen gegenüber ungeschriebenen Schutznormen dürfte eher praktischer
Natur sein. Der Richter wird stets zuerst abklären, ob nicht bereits ein geschriebenes
Gesetz den fraglichen Tatbestand regelt, ehe er auf Normen des ungeschriebenen
Rechts zurückgreift. 262 Dieses Primat der geschriebenen Schutznorm ist zwar
kein zwingendes Element der Schutznormtheorie, aber im schweizerischen Recht
dennoch stark verwurzelt. Nach BREHM soll beim Rückgriff auf das ungeschriebene
Recht dieselbe Zurückhaltung geübt werden wie beim Füllen von Schutzlücken.
263 „Die Ausübung gesetzgebender Gewalt durch den Richter, die für den
äussersten Notfall im Gesetz allerdings vorgesehen ist (Art. 1 ZGB), stellt einen
Einbruch in das Prinzip der Gewaltentrennung und damit in einen fundamentalen
Grundsatz der modernen Demokratie dar.“ 264 Damit wird die von MERZ beobachtete
Abneigung des Richters gegen den Gebrauch der ihm in Art. 1 ZGB einge-
259 GAUCH/SWEET, S. 122, 224; BeK-BREHM, OR 41 N 48c.
260 BeK-BREHM, OR 41 N 49.
261 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 54.
262 BeK-BREHM, OR 41 N 52.
263 BeK-BREHM, OR 41 N 48c.
264 BGE 74 II 106, 109 (Erw. 1).
74

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
räumten Freiheit zugunsten einer positivistischen Bindung an das Gesetz bestä-
tigt. 265
Von der Anlage her ist die Schutznormtheorie widersprüchlich. Einerseits soll die
Haftung über die geschriebenen Schutznormen begrenzt werden. Besteht keine
Schutznorm oder schützt die Schutznorm weder die entsprechende Person noch das
betroffene Recht noch vor der verwirklichten Gefahr, hat der Richter die Haftung
abzulehnen. Andererseits schliesst das Fehlen einer Schutznorm die Haftung nicht
automatisch aus. Besteht eine eigentliche Haftungslücke, hat der Richter eine ungeschriebene
Schutznorm aufzustellen.
3.4 Rechtfertigungsgründe als notwendiger Korrekturmechanismus
Die Schutznormtheorie beinhaltet einen gewissen Automatismus bei der Beurteilung
der Widerrechtlichkeit einer Handlung. Wer eine generell-abstrakte Verhaltensnorm,
z.B. eine Verkehrsregel, missachtet, handelt im Grunde automatisch
widerrechtlich. Dieses generelle und abstrakte Urteil über die Widerrechtlichkeit
kann nicht immer den Umständen des Sachverhalts gerecht werden. 266 So kann
sich die Missachtung der Norm aufdrängen, um grösseren Schaden zu vermeiden
oder um Leben zu retten. Es wäre vermessen, das Verhalten des Schädigers dann
noch als widerrechtlich zu bezeichnen.
Ähnlich wie im Strafrecht gilt deshalb auch für das Haftpflichtrecht, dass nicht
jede Verletzung einer generell-abstrakten Norm dem Schädiger zum Nachteil gereichen
kann. Das Widerrechtlichkeitsurteil muss auch die Umstände des Einzelfalls
berücksichtigen, indem etwa Rechtfertigungsgründe vorgebracht werden können.
Die Bestimmung der Widerrechtlichkeit erfordert damit zwei Prüfungsschritte:
Zunächst wird die Widerrechtlichkeit einer Handlung abstrakt bestimmt und
anschliessend über Rechtfertigungsgründe, sofern nötig, wieder aufgehoben. Damit
verlangt die Schutznormtheorie, dass das Verhalten alleine bei der Haftungsvor-
265
MERZ, S. 302, 304.
266
Vgl. SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 9: SCHÖNENBERGER spricht
hier von der Problematik eines Automatismus in Bezug auf die Annahme der Widerrechtlichkeit.
75
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220
3 Die Schutznormtheorie
aussetzung der Widerrechtlichkeit mehrfach geprüft wird. Dies ist systematisch
und theoretisch unbefriedigend.
Bei der Schutznormtheorie hat der Anwendungsbereich von Rechtfertigungsgründen
notwendigerweise beschränkt zu bleiben. Rechtfertigungsgründe drängen sich
nur dort auf, wo die Bestimmung der Widerrechtlichkeit nicht von einer Interessenabwägung
begleitet ist und deshalb eine nachträglich differenziertere Bewertung
der Widerrechtlichkeit nötig wird. Dies dürfte jedoch nur bei den geschriebenen
Schutznormen der Fall sein. Ungeschriebene Schutznormen sind durch den
Richter aufgrund der konkreten Umstände des Sachverhalts aufzustellen, weshalb
eine weitere Interessenabwägung auf der Stufe der Rechtfertigungsgründe entfällt.
Ist ein Verhalten in einer bestimmten Situation angemessen, besteht kein Bedürfnis,
eine ungeschriebene Schutznorm aufzustellen, weshalb auch eine anschliessende
Rechtfertigung entfällt. 267
3.5 Verhältnis von Verschulden und Widerrechtlichkeit
3.5.1 Stellenwert des Verschuldens bei der Schutznormtheorie
Die Schutznormtheorie und der objektivierte Verschuldensbegriff vertragen sich
schlecht miteinander, denn sowohl bei der Widerrechtlichkeit als auch beim Verschulden
findet eine Prüfung des Schädigerverhaltens statt. Gelangt bei der Prüfung
zudem derselbe objektive Massstab zur Anwendung, wäre eine der beiden
Haftungsvoraussetzungen überflüssig.
PORTMANN sieht den Unterschied zwischen Widerrechtlichkeit und Verschulden
darin, dass bei der Widerrechtlichkeit das tatsächliche Verhalten an dem durch
Rechtsnormen abstrakt vorgeschriebenen Verhalten gemessen wird. Auf Elemente
wie die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des schädigenden Verhaltens wird
dabei keine Rücksicht genommen. Beim Verschulden wird das Verhalten hingegen
am (hypothetischen) Verhalten eines Durchschnittsmenschen in der konkreten
Situation gemessen (objektive Sorgfaltspflicht). PORTMANN illustriert dies am
Beispiel des Autofahrers, der aufgrund eines defekten Tachometers nicht erkennen
267 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 80.
76

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
kann, dass er zu schnell fährt. Objektiv betrachtet, hat er die Höchstgeschwindigkeit
überschritten und handelt widerrechtlich, da aber auch ein Durchschnittsmensch
die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht hätte erkennen können, handelt
er nicht schuldhaft. 268 Schutznormverletzung und Sorgfaltspflichtverletzung divergieren
und sind daher separat zu prüfen.
HONSELL lehnt die Ansicht ab, wonach der Massstab für die Pflichtwidrigkeit im
Sinne der Widerrechtlichkeit abstrakter und strenger sei als für die Sorgfaltswidrigkeit
im Sinne des Verschuldens. 269 Nach ihm bringt die Objektivierung des
Verschuldensbegriffs mit sich, dass die Begriffe Sorgfaltswidrigkeit und Rechtswidrigkeit
identisch sind. Damit wird das Verhalten zweimal nach demselben
Massstab geprüft, einmal beim Verschulden und einmal bei der Widerrechtlichkeit,
was theoretisch und systematisch unerwünscht ist. HONSELL schlägt deshalb vor,
dass die Verletzung der objektiven Sorgfalt nur bei der Widerrechtlichkeit zu prüfen
und das Verschulden auf die Prüfung der Urteilsfähigkeit zu beschränken
sei. 270
Eine abschliessende Antwort, welcher Ansatz vorzuziehen ist, kann hier nicht
gegeben werden. Wendet man den nach herrschender Lehre geltenden objektivierten
Verschuldensbegriff an, dürfte die Grenze zwischen Sorgfaltspflichtverletzung
und Schutznormverletzung unscharf werden, zumal Schutznormen im Grunde das
Verhalten kodifizieren, welches als sorgfältig gilt. Bei ungeschriebenen Schutznormen
dürfte die Abgrenzung noch schwieriger ausfallen, hat hier der Richter
doch gleichzeitig zu bestimmen, welches Verhalten von der Rechtsordnung als
rechtmässig und zudem als sorgfältig zu betrachten ist.
Die Schutznormtheorie verträgt sich deshalb schlecht mit dem objektivierten
Verschuldensbegriff. Wird am Widerrechtlichkeitsbegriff der Schutznormtheorie
268
PORTMANN, S. 279.
269
HONSELL, § 6 N 22; vgl. auch ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 228, 231: Bei der Sorgfaltspflichtverletzung
sei auf die Kriterien der Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit zu
verzichten, weshalb Sorgfaltswidrigkeit und Rechtswidrigkeit zusammenfallen.
270
HONSELL, § 6 N 21.
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3 Die Schutznormtheorie
festgehalten, wäre konsequenterweise der Verschuldensbegriff neu zu definieren,
entweder indem er auf die Urteilsfähigkeit reduziert wird oder aber subjektiviert
wird. Auf die damit zusammenhängenden Probleme wird bei Rz. 315 ff. respektive
Rz. 323 ff. eingegangen.
3.5.2 Prüfung des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit bei Widerrechtlichkeit und
Verschulden
Die Abgrenzung von Verschulden und Widerrechtlichkeit wird zudem bei jenen
Schutznormen erschwert, welche aus dem Straf-, Verwaltungs- oder Disziplinarrecht
stammen und nicht im Hinblick auf das Haftpflichtrecht aufgestellt worden
sind. Als Folge davon treffen zum Teil inkongruente Rechtskonzepte aufeinander.
So kennt das Strafrecht die Dreiteilung Tatbestandsmässigkeit, Widerrechtlichkeit,
Schuld, während die Verschuldenshaftung lediglich zwischen Widerrechtlichkeit
und Verschulden unterscheidet. Umgekehrt findet sich in gewissen Vorschriften
des Verwaltungsrechts kein Hinweis auf das Verschulden.
78
a) Unproblematische technische Normen
Technische Normen schreiben das geforderte Verhalten oft nur abstrakt vor. So
schreibt etwa die Verordnung zur Unfallverhütung bei der maschinellen Holzverarbeitung
vor, dass bei rotierenden Maschinen die lösbaren Teile gegen Herausschleudern
gesichert sein müssen. 271 Die Bestimmung enthält selbst keinen direkten
Hinweis auf das Verschulden. 272
Das deutsche Recht regelt solche Fälle in § 823 II BGB: „Ist nach dem Inhalt des
Gesetzes ein Verstoß gegen dieses [Schutzgesetz] auch ohne Verschulden möglich,
so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.“ Eine entsprechende
Bestimmung ist für das schweizerische Recht überflüssig, da Art. 41 OR neben der
Widerrechtlichkeit auch das Verschulden voraussetzt. Enthalten Schutznormen
271
Art. 10 Verordnung über die Unfallverhütung bei der maschinellen Bearbeitung und
Behandlung von Holz und andern organischen Werkstoffen vom 28. April 1971 (SR
832.313.12); vgl. VON BAR II, N 221.
272
Art. 112 UVG sieht hingegen die Strafbarkeit des Arbeitgebers vor, der die Vorschriften
zur Unfallverhütung vorsätzlich oder fahrlässig missachtet.

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
keinen Verweis auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit, sind diese dennoch beim Verschulden
zu prüfen. Nur wo Normen eine Kausalhaftung festlegen, ist die Beachtung
der Fahrlässigkeit respektive des Vorsatzes ausgeschlossen.
b) Problematische Strafnormen
Bei Strafnormen wird die Abgrenzung zwischen Schutznormverletzung und Verschulden
schwieriger. Eine Schutznormverletzung und damit Widerrechtlichkeit
liegt vor, wenn der Schädiger den Tatbestand einer Schutznorm erfüllt hat, d.h., ein
Verbot übertritt oder ein Gebot missachtet. In einem zweiten Schritt wird beim
Verschulden geprüft, ob der Schädiger auch schuldhaft, d.h. entweder fahrlässig
oder vorsätzlich, gehandelt hat. Diese Vorgehensweise setzt aber voraus, dass sich
der Tatbestand auf die objektive Umschreibung des Verhaltens beschränkt, wie
dies etwa bei technischen Schutzvorschriften oft der Fall ist. Im Strafrecht hingegen
werden Vorsatz respektive Fahrlässigkeit zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen
gezählt und deshalb bereits bei der Tatbestandsmässigkeit geprüft.
Damit stellt sich die Frage, ob Vorsatz und Fahrlässigkeit bereits bei der Auslegung
des Schutzzwecks der Schutznorm oder erst beim Verschulden zu prüfen
sind. Zudem verbieten viele Strafnormen nur das vorsätzliche Handeln, obwohl
auch eine fahrlässige Begehung möglich wäre. Damit stellt sich die Frage, ob eine
Strafrechtsnorm, welche nur die absichtliche Begehung verbietet, auch zur Begründung
der Haftung bei der fahrlässigen Begehung dienen kann.
Dies lässt sich am Beispiel der Zechprellerei zeigen. Nach Art. 149 StGB wird
bestraft, wer sich in einem Gastgewerbebetrieb Speisen oder Getränke vorsetzen
lässt und den Betriebsinhaber um die Bezahlung prellt. Verlässt ein Gast die Gaststätte,
ohne zu zahlen, hat er bereits den objektiven Tatbestand erfüllt. Hat der Gast
jedoch leichtfertig angenommen, die Getränke seien offeriert gewesen, macht er
sich dennoch nicht strafbar, da ihm allenfalls Fahrlässigkeit, aber kein Vorsatz
vorgeworfen werden kann und nur die vorsätzliche Zechprellerei bestraft wird.
Soll eine Schutznorm nur Schutz vor der vom Gesetzgeber vorgesehenen Gefährdung
bieten, soll meines Erachtens eine Strafnorm, welche einzig die vorsätzliche
Begehung erfasst, nur bei der vorsätzlichen Verletzung eine Haftpflicht auslösen.
Daher muss sich der Schutzzweck dieser Norm auf eben diese Gefahr, d.h. die
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232
3 Die Schutznormtheorie
vorsätzliche Schädigung, beschränken. Dies lässt sich dadurch erreichen, dass bei
der Auslegung des Schutzzwecks der Norm zugleich der Vorsatz geprüft wird. 273
Werden aber bereits bei der Auslegung des Schutzzwecks die subjektiven Tatbestandsmerkmale
geprüft, wäre eine erneute Prüfung von Vorsatz und Fahrlässigkeit
beim Verschulden im Grunde überflüssig. 274 Eine Reduktion des Verschuldens auf
die Prüfung der Urteilsfähigkeit ist jedoch ebenfalls problematisch, da nicht alle
Schutznormen, z.B. technische Sicherheitsvorschriften, subjektive Tatbestandsmerkmale
aufweisen.
Es ist unbefriedigend, wenn Vorsatz und Fahrlässigkeit im Rahmen der Widerrechtlichkeit
respektive im Rahmen des Verschuldens zu prüfen sind, je nachdem,
aus welchem Rechtsgebiet eine Schutznorm stammt. Eine Prüfung des Vorsatzes
und der Fahrlässigkeit sowohl bei der Auslegung des Schutzzwecks als auch beim
Verschulden ist systematisch und theoretisch unerwünscht. Ein Hauptkritikpunkt
gegenüber der Schutznormtheorie muss daher lauten, dass sich Widerrechtlichkeit
und Verschulden schlecht voneinander abgrenzen lassen, da es zu Unklarheiten
und überflüssigen Prüfungsschritten führt. Bei ungeschriebenen Schutznormen
bestehen keine solchen Abgrenzungsschwierigkeiten, zumal sie im Hinblick auf
die spezifischen Anforderungen des Haftpflichtrechts aufgestellt werden können.
3.6 Zwischenfazit zur Schutznormtheorie
Die Schutznormtheorie ist vom Ansatz her einleuchtend. Dem Begriff der Widerrechtlichkeit
kommt die Aufgabe zu, zwischen erlaubten und unerlaubten Schädigungen
zu unterscheiden. Da die Rechtsordnung über weite Bereiche das menschliche
Zusammenleben bereits regelt, kann im Grunde auf diese Regeln verwiesen
werden. Dies ist praktisch, zumal es keinen eigenständigen Katalog von haftpflichtrechtlichen
Regeln des Zusammenlebens braucht, und zudem lässt sich da-
273
Vgl. VON BÜREN, S. 257: VON BÜREN betrachtet den Verstoss gegen objektives Recht
und Verschulden als eins. Er lehnt die dualistische Betrachtung ab, welche zunächst
prüft, ob eine Norm verletzt ist, um anschliessend zu prüfen, ob die Verletzung schuldhaft
erfolgte.
274
HONSELL, § 6 N 21.
80

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
mit auch eine gewisse Parallelität zwischen dem Haftpflichtrecht und dem übrigen
Recht erreichen.
Die Schutznormtheorie gerät jedoch dort an ihre Grenzen, wo Schutznormen aus
haftpflichtrechtsfremden Rechtsgebieten stammen oder wo bestimmte Lebensbereiche
noch nicht oder ungenügend geregelt sind. Im ersten Fall verlangt die
Schutznormtheorie die Anpassung respektive die Auslegung des Schutzzwecks
einer Norm, im zweiten Fall hat der Richter nötigenfalls ungeschriebenes Recht
aufzustellen.
Dieses Zusammenspiel von geschriebenen und ungeschriebenen Schutznormen
offenbart einen inhärenten Zielkonflikt der Schutznormtheorie. Durch die einschränkende
Auslegung geschriebener Schutznormen soll die Haftung beschränkt
werden, während durch Aufstellen und Berücksichtigen von ungeschriebenen
Schutznormen die Haftung wiederum ausgeweitet wird.
Mit der Auslegung des Schutzzwecks geschriebener Schutznormen bzw. dem Aufstellen
von ungeschriebenen Schutznormen wird letztendlich das Herausarbeiten
der jeweils relevanten ausservertraglichen Pflichten bezweckt. 275 Der Umweg über
geschriebene Schutznormen ist insofern wenig attraktiv, als der Richter hier zunächst
die Schutznorm auszulegen hat, um sie an die Gegebenheiten der Verschuldenshaftung
anzupassen und anschliessend das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen
zu prüfen. Die ungeschriebenen Schutznormen bieten hingegen Hand zu
einem angemessenen und gerechten Urteil, ihrer Aufstellung und Anwendung steht
jedoch das Primat des geschriebenen Rechts im Weg. Dies liegt zwar nicht in der
Schutznormtheorie begründet, ist aber ein Teil der Rechtswirklichkeit. Der Richter
neigt eher zur extensiven Auslegung bestehender Normen, als ungeschriebene
Verhaltenspflichten aufzustellen.
Die Schutznormtheorie bietet gegenüber der Erfolgsunrechtstheorie mehr Flexibilität
in der Bestimmung der Widerrechtlichkeit. Durch das Nebeneinander von geschriebenen
und ungeschriebenen Schutznormen wird jedoch die Suche nach
einem angemessenen Urteil teilweise erschwert.
275 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 6.
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4 Fazit
4 Fazit
Auch wenn die Widerrechtlichkeit bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
stets auf einen objektiven Normverstoss zurückzuführen ist, bedingt die objektive
Widerrechtlichkeitstheorie letztendlich einen zweigliedrigen Widerrechtlichkeitsbegriff.
Bei der Verletzung eines absoluten Rechts ist die Widerrechtlichkeit sofort
indiziert, bei Vermögensschäden muss ausserdem eine Schutznormverletzung
vorliegen. Im Gegensatz zu § 823 I BGB 276 enthält Art. 41 OR keine entsprechende
Privilegierung von absoluten Rechten gegenüber reinen Vermögensschäden 277
und die wörtliche Auslegung von Art. 41 OR bietet keine Grundlage für eine entsprechende
Unterscheidung. Im Gegenteil, die generalklauselartige Formulierung
legt nah, nicht auf die Art des verletzten Rechts abzustellen. 278
Systematisch würde ein zweigliedriger Widerrechtlichkeitsbegriff nur dann Sinn
machen, wenn die dahinter liegenden Sachverhalte derart verschieden wären, dass
sich eine unterschiedliche Behandlung aufdrängen würde. Während die Rechtsgüter
Leib und Leben gegenüber dem Eigentum und dem Vermögen eine erhöhte
Bedeutung einnehmen können, ist nicht einzusehen, inwiefern sich Eigentum und
Vermögen voneinander unterscheiden. 279 Dogmatisch wurde die Unterscheidung
276
Vgl. Rz. 95.
277
GAUCH/SWEET, S. 136; ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 519.
278 MÜLLER-CHEN, S. 301; vgl. aber WIDMER, Anwaltspraxis, N 2.37: Obwohl das OR den
Begriff des reinen Vermögensschadens nicht kennt und Art. 41 OR schlechthin von
Schaden spricht, gibt es mehrere Spezialgesetze, die ausdrücklich bzw. durch qualifiziertes
Schweigen die Ersatzfähigkeit auf den Personen- und Sachschaden beschränken.
279 KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 132 (Fn. 22), m.w.H.; Richter STEVENSON im
Fall der Canadian National Railway v. Norsk Pacific Steamship Co. (1992) 91 D.L.R.
(4th) 289, 383, zitiert nach: SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 9
(Fn. 60): „Some argue that there is a fundamental distinction between physical damage
(personal and property damage) and pure economic loss and that the latter is less worthy
of protection [...] but I am left unconvinced. Although I am prepared to recognise
that a human being is more important than property and lost expectations of profit, I
fail to see how property and economic losses can be distinguished.“
82

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
zwischen absoluten Rechten und dem Vermögen nie stichhaltig begründet, sie wird
vielmehr in der Lehre kritisiert. 280
Die Diskriminierung reiner Vermögensschäden ist auch deshalb wenig überzeugend,
weil die objektive Widerrechtlichkeitstheorie die Unterscheidung von Schäden
an absoluten Rechten und Vermögensschäden nicht auf Folgeschäden überträgt.
Dies lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren. „Verursacht jemand z.B.
einen Auffahrunfall und verletzt er dadurch einen anderen Fahrzeuglenker, dann
können sowohl der Verletzte als auch (aufgrund der blockierten Strasse) andere
Fahrzeuglenker nicht weiterfahren und einen Erwerbsausfall erleiden. Während
dem verletzten Fahrzeuglenker sowohl die Heilungskosten als auch der Erwerbsausfall
zu ersetzen sind, gehen die anderen leer aus.“ 281 Ist ein Vermögensschaden
somit auf die Verletzung eines absoluten Rechtes des Geschädigten zurückzuführen,
gilt dieser Vermögensschaden ohne weiteres als ersatzfähig. Entsteht ein Vermögensschaden
ohne gleichzeitige bzw. vorhergehende Beeinträchtigung eines
absoluten Rechts, so ist der Schaden nur ersatzfähig, wenn eine entsprechende
Schutznorm verletzt wurde. Wäre die objektive Widerrechtlichkeitstheorie konsequent
in der Unterscheidung zwischen reinen Vermögensschäden und Schädigungen
von absoluten Rechten, wären auch Folgevermögensschäden erst bei Vorliegen
einer Schutznormverletzung zu ersetzen. 282
Die Problematik der Diskriminierung reiner Vermögensschäden hat auch das Bundesgericht
beschäftigt. Es hatte verschiedene Kabelbruchfälle zu beurteilen, in
denen durch die Beschädigung einer Elektrizitätsleitung die angeschlossenen Betriebe
einen Betriebsausfall und damit einen Vermögensschaden erlitten. Lag das
unterbrochene Kabel im Eigentum des Fabrikinhabers, liess sich der Vermögens-
280 Kritisch SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 6 (Fn. 60): Nach
SCHÖNENBERGER ist die Privilegierung von Personenschäden gegenüber reinen Vermögensschäden
zwar oftmals angebracht, dies gilt jedoch nicht für die entsprechende Privilegierung
von Sachschäden; so auch ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 519;
GIGER, S. 381; MÜLLER-CHEN, S. 301.
281 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 148.
282 GAUCH/SWEET, S. 121 f.
83
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241
4 Fazit
schaden als Folgeschaden der Eigentumsverletzung am Kabel geltend machen. 283
War das beschädigte Kabel hingegen im Eigentum des Elektrizitätswerkes, war der
Fabrikinhaber darauf angewiesen, dass ihm eine entsprechende Schutznorm erlaubte,
den Schaden auf den Schädiger zu überwälzen. 284 Mangels einschlägiger
Schutznorm wäre der Betriebsausfallschaden deshalb als nicht-ersatzfähiger Reflexschaden
vom Geschädigten zu tragen gewesen. Klammert man das Problem
aus, ob eine Schutznorm besteht, 285 hängt der Schadenersatzanspruch des Geschädigten
davon ab, ob das Kabel zufällig in seinem oder im Eigentum des Elektrizitätswerkes
liegt. 286 Die objektive Widerrechtlichkeitstheorie führt deshalb dazu,
dass ähnliche Sachverhalte zu unterschiedlichen Haftungsfolgen führen können. 287
Für den Geschädigten ist diese unterschiedliche Behandlung nur aufgrund der
unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse unbefriedigend und bietet den Betroffenen
keine Rechtssicherheit.
Diese Diskriminierung reiner Vermögensschäden lässt sich weder grammatikalisch
noch systematisch begründen. Nach MERZ sprechen zumindest praktische Überlegungen
für den zweigliedrigen Widerrechtlichkeitsbegriff der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie.
Die absoluten Rechte bzw. deren Verletzung würden „typische
Erscheinungen des Unrechts“ konkretisieren. Diese Typisierung würde die
Rechtsanwendung erleichtern und die Rechtssicherheit fördern. 288 Diese Praktika-
283 BGE 97 II 221, 222; KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 132 (Fn. 29): Das Bundesgericht
hat den Ersatz für Betriebsausfallsschäden wegen Kabelbruchs zugestanden.
Hierbei handelte es sich jedoch um den Ersatz eines mittelbaren Schadens des Unternehmers,
der gleichzeitig Eigentümer des Kabels war.
284 BGE 101 Ib 252, 254 ff. (Erw. 2b–d); BGE 102 II 85, 86 (Erw. 4): Art. 239 StGB
(Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen) wurde hier als einschlägige
Schutznorm betrachtet. In BGE 106 II 75, 78 (Erw. 2) hat das Bundesgericht hingegen
die Exklusivität von Art. 58 I SVG angenommen. Diese Bestimmung erfasst jedoch nur
Personen und Sachschäden, weshalb der Betriebsausfall nicht ersatzfähig war.
285 KRAMER, Stromkabelbeschädigungen, S. 132.
286 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 8.
287 GAUCH/SWEET, S. 122.
288 MERZ, S. 310 f.
84

Kapitel 2: Die Objektive Widerrechtlichkeitstheorie
bilitätsüberlegungen sprechen jedoch nur beschränkt für eine Privilegierung der
absoluten Rechte. Letztendlich bringt die Unterscheidung zwischen absoluten
Rechten und reinen Vermögensschäden eine Reihe von Abgrenzungsproblemen.
So lässt sich der Schutzbereich absoluter Rechte gerade in Grenzbereichen nicht
ohne weiteres bestimmen. 289 Insofern besteht für den Rechtsanwender kein Gewinn
an Rechtssicherheit oder an erleichterter Rechtsanwendung, und gerade in
Grenzfällen wäre eine Widerrechtlichkeitstheorie gefordert, angemessene Lösungen
zu ermöglichen. Zudem führt die Diskriminierung reiner Vermögensschäden
dazu, dass ähnliche Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden müssen. 290
Führen bereits geringe Änderungen, z.B. in den Eigentumsverhältnissen, dazu, dass
der Geschädigte Schutz erhält oder nicht, kann von Rechtssicherheit keine Rede
sein. Die Diskriminierung von Vermögensschäden hat weiter zur Folge, dass der
Geschädigte in vielen Fällen schutzlos ist, weil keine passende Schutznorm zur
Hand ist. 291
Die objektive Widerrechtlichkeitstheorie und die damit verbundene Diskriminierung
von reinen Vermögensschäden zwingen den Richter zu einer Reihe von
Kunstgriffen, um ein gerechtes Urteil fällen zu können. Hierzu zählt das Aufstellen
von ungeschriebenen Schutznormen. 292 Möglich ist auch die Konstruktion von
ausserdeliktischen Rechtsfiguren, wie die Culpa-Haftung, der Vertrag mit Schutzwirkung
zugunsten Dritter, die Vertrauenshaftung und andere. 293 Diese „erlauben,
aus dem Deliktsrecht auszubrechen und so die Haftungsvoraussetzung der «Widerrechtlichkeit»
(im Sinne des Art. 41 Abs. 1 OR) zu umgehen“. 294
289 Vgl. Rz. 112 ff.
290 Vgl. Rz. 240.
291 GAUCH/SWEET, S. 121 f.
292 GAUCH/SWEET, S. 122 f.
293 GAUCH, Der Schätzer, S. 834 ff.
294 GAUCH/SWEET, S. 125.
85
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243

244
4 Fazit
Bereits diese kleine Auswahl von Problembereichen zeigt, dass die objektive Wi-
derrechtlichkeitstheorie nicht in der Lage ist, auf materielle Haftungsfragen eine
angemessene Antwort zu geben. 295 Dieser Eindruck wird durch die detaillierte
Kritik zur Erfolgsunrechts- und zur Schutznormtheorie nur noch verstärkt.
Konsequenterweise ist entweder die objektive Widerrechtlichkeitstheorie zugunsten
einer anderen Widerrechtlichkeitstheorie aufzugeben oder die Deliktshaftung
auf andere Art und Weise zu öffnen oder zu ergänzen. 296
295 GAUCH, Der Schätzer, S. 837.
296 GAUCH/SWEET, S. 138; GAUCH, Der Schätzer, S. 838: Nach GAUCH ist der Begriff der
Widerrechtlichkeit nicht über die Erfindung einer generellen Formel, die „alles auf
einen Nenner bringt“, sondern durch die schrittweise Erweiterung um typische Fallgruppen
zu bestimmen. Diese Ansicht entspricht damit derjenigen der Common-Law-
Juristen, welche den Gedanken, das Haftpflichtrecht lasse sich auf ein einheitliches
Prinzip zurückzuführen, für illusorisch halten, so etwa bei FLEMING, S. 6.
86

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
Kapitel 3: DIE SORGFALTSPFLICHTTHEORIE
1 Übersicht und Definition
1.1 Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht als Ausgangspunkt
Die Sorgfaltspflichttheorie 297 wird neben der objektiven und der subjektiven Wi-
derrechtlichkeitstheorie auch als „dritte Widerrechtlichkeitstheorie“ bezeichnet. 298
Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Widerrechtlichkeit mit der Verletzung einer
objektiv bestimmten Verhaltens-, sprich Sorgfaltspflicht gleichgesetzt wird. 299 Die
Sorgfaltspflichttheorie kann indessen auch als Ausprägung oder Weiterentwicklung
der Schutznormtheorie betrachtet werden, denn auch hier ist die Verletzung
einer objektiv bestimmten Verhaltenspflicht zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit
massgeblich, jedoch in der Form einer Schutznorm. Die gesonderte Darstellung
der Sorgfaltspflichttheorie ist dennoch angezeigt, da das Berücksichtigen der
objektiven Sorgfaltspflichtverletzung als bestimmendes Element der Widerrechtlichkeit
das problematische Verhältnis von Widerrechtlichkeit und Verschulden auf
den Punkt bringt. Zudem finden sich in der Sorgfaltspflichttheorie Parallelen zum
Common-Law-Ansatz der Negligence-Haftung sowie der Haftung des Schädigers
für ein „faute“ entsprechend dem französischen Recht.
Der Begriff Sorgfalt ist selbst ein mehrdeutiger Ausdruck. Zum einen kann Sorgfalt
ein äusserlich erkennbares Verhalten bezeichnen, etwa das sorgfältige Überschreiten
einer Strasse oder das sorgfältige Ausfüllen eines Formulars („äussere
Sorgfalt“). Zum anderen kann sich die Sorgfalt auch auf einen intellektuellemotionalen
Vorgang im Hinblick auf ein bestimmtes Verhalten oder einen Leis-
297 Die Bezeichnung „Sorgfaltspflichttheorie“ wird weder in Rechtsprechung noch Lehre
verwendet. Sie lehnt sich an die Bezeichnung der „Schutznormtheorie“ an. Damit wird
zum Ausdruck gebracht, dass die Sorgfaltspflicht das massgebende Kriterium zur Bestimmung
der Widerrechtlichkeit ist.
298 Zum Begriff der „dritten Widerrechtlichkeitstheorie“ vgl. SCHÖNENBERGER, Dritte
Widerrechtlichkeitstheorie, S. 3 ff.
299 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 3, m.w.H.
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249
1 Übersicht und Definition
tungserfolg beziehen, etwa dass sich jemand bei der Arbeit konzentriert, sich nicht
ablenken lässt oder sich umfassend informiert („innere Sorgfalt“). 300
Bei der Sorgfaltspflichttheorie wird vor allem die äussere Sorgfalt berücksichtigt,
d.h., das äusserlich erkennbare Verhalten wird nach einem objektiven Massstab
beurteilt. Damit kann die Sorgfaltspflicht auch dem Begriff Verhaltenspflicht
gleichgesetzt werden. Sorgfaltswidrig handelt, wer den objektiv festgelegten Verhaltensanforderungen
zur Vermeidung von Schädigungen nicht nachkommt. Dies,
selbst wenn er diese Anforderungen aus in seiner Person liegenden, subjektiven
Gründen gar nicht erfüllen kann. Ist der Schädiger z.B. aufgrund von Liebeskummer,
Sorge um ein Familienmitglied unsorgfältig, gereicht ihm dies nicht zur Entschuldigung.
301 „Man hat sich geistig-seelisch so einzurichten, dass man normbzw.
sachgemäss handelt.“ 302 Die Widerrechtlichkeit bestimmt sich somit aufgrund
der äusserlich erkennbaren Abweichung vom objektiv festgelegten Massstab. Es
gilt somit ein objektiver Sorgfaltspflichtbegriff. 303
Dass die Verletzung objektiver Sorgfaltspflichten als Haftungsvoraussetzung gilt,
stellt gegenüber der subjektiven und der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
keine Neuerung dar. Auch hier haftet der Schädiger nur, wenn er schuldhaft, d.h.
objektiv unsorgfältig, gehandelt hat. Bei der Sorgfaltspflichttheorie wird die Sorgfaltspflichtverletzung
jedoch zum bestimmenden Kriterium der Widerrechtlichkeit
gemacht, womit weitestgehend auf Begriffe wie Rechtfertigungsgründe, absolute
Rechte oder Schutznormen verzichtet werden kann.
Für die Entwicklung der Sorgfaltspflichttheorie sprechen sowohl die kritische
Hinterfragung der traditionellen Zweiteilung des Widerrechtlichkeitsbegriffs in
Bezug auf die Schädigung des Vermögens und die Verletzung absoluter Rechte als
auch das systematische und theoretische Bedürfnis, Doppelspurigkeiten bei der
300
OSWALD, S. 43 f.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 225.
301
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 221, m.w.H.
302
DEUTSCH, N 388, ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 225.
303
BOSSHARD, S. 113; HONSELL, § 6 N 21; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 48, 221.
88

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
Prüfung von Haftungsvoraussetzungen zu vermeiden. HONSELL hält diesbezüglich
fest:
„Die Objektivierung des Verschuldensbegriffes bringt es
mit sich, dass der Begriff der Sorgfaltswidrigkeit mit
dem der Rechtswidrigkeit identisch ist. Dieser Umstand
wird durch die traditionelle Zweiteilung der Rechtswidrigkeit
(absolut geschützte Rechtsgüter, Schutznormen)
verdeckt. In der Sache geht es aber – was auch in der Literatur
zunehmend anerkannt wird – bei der Rechtswidrigkeit
stets um eine Pflichtwidrigkeit im Sinne der Verletzung
von Verkehrspflichten [...] Und diese Pflichtwidrigkeit
ist mit der Sorgfaltswidrigkeit, die herkömmlich
nur beim Verschulden angesiedelt ist, identisch.
Theoretisch und systematisch ist es nicht einleuchtend,
dass dieselbe Pflichtwidrigkeit zweimal geprüft wird,
einmal bei der Rechtswidrigkeit, das andere Mal beim
Verschulden. Konsequent wäre es daher, das objektivierte
Verschulden zur Rechtswidrigkeit zu stellen und den
Verschuldensbegriff auf das subjektive Element, also die
Urteilsunfähigkeit, zu beschränken.“ 304 (Hervorhebung
beigefügt)
Auch andere Autoren wie ROBERTO oder WERRO sehen die Sorgfaltspflichttheorie
als Notwendigkeit in Anbetracht der Unzulänglichkeit und Ungereimtheiten der
objektiven Widerrechtlichkeitstheorie, etwa in Bezug auf die Haftung für andere,
bei Schädigungen durch Unterlassen oder bei mittelbaren Schädigungen. 305
304
HONSELL, § 6 N 21; vgl. auch BaK-WIEGAND OR 97 N 43, wonach die Pflichtverletzung
und der objektivierte Fahrlässigkeitsbegriff praktisch identisch sind.
305
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 262 ff.; WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372:
„Nach geltendem Verständnis wird das Verhalten im Rahmen der Widerrechtlichkeit
nach objektiven, im Rahmen des Verschuldens nochmals nach objektiven, aber auch
nach subjektiven Kriterien geprüft. Einfacher und nachvollziehbarer ist es, von der objektiven
Verletzung einer Sorgfaltspflicht auszugehen, die nur dann ausnahmsweise
89
250

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252
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1 Übersicht und Definition
Bei der Sorgfaltspflichttheorie drängen sich zwei Fragen auf: Wie sind die mass-
gebenden objektiven Sorgfaltspflichten festzulegen? Was ist beim Verschulden zu
prüfen, wenn die Widerrechtlichkeit mit der Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht
gleichgesetzt wird? 306 Mögliche Antworten finden sich bei den Autoren
HONSELL, ROBERTO, BOSSHARD und WERRO. Anhand ihrer Ausführungen soll
dargelegt werden, wie unterschiedlich die Sorgfaltspflichttheorie ausgestaltet werden
kann. Die Auswahl dieser Autoren erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit,
dennoch sollten damit die wesentlichen Varianten der Sorgfaltspflichttheorie
erfasst werden.
1.2 Elemente der Sorgfaltspflichttheorie
1.2.1 Definition der Sorgfaltspflicht
Der Begriff der Sorgfaltspflicht lässt sich unterschiedlich definieren. Im Strafrecht
kommt etwa ein subjektivierter Verschuldens- respektive Sorgfaltsbegriff zur Anwendung,
da man dem Täter möglichst gerecht werden möchte. Der Täter soll nur
dann bestraft werden, wenn ihm ein subjektiver Vorwurf gemacht werden kann.
Das Haftpflichtrecht bezweckt hingegen den Ausgleich entgegenstehender Interessen
von Schädiger und Geschädigtem. 307 Die Berücksichtigung subjektiver Entschuldigungsgründe
würde die Interessen des Schädigers über jene des Geschädigten
stellen, weshalb der Objektivierung des Verschuldens und damit den Sorgfaltspflichten
der Vorzug zu geben ist.
Solche objektive, für das Haftpflichtrecht relevante Sorgfaltspflichten lassen sich
jedoch unterschiedlich herleiten. Im Folgenden werden empirisch bestimmte Sorgfaltspflichten,
gesetzlich fixierte Sorgfaltspflichten und richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten
unterschieden.
90
nicht zu einer Haftung führt, wenn sie der schädigenden Person aus subjektiven Gründen
nicht zugerechnet werden kann. Damit sind objektive und subjektive Haftungsvoraussetzungen
klar getrennt.“
306 WIEGAND, S. 12; HONSELL, § 6 N 21; BaK-WIEGAND, OR 97 N 43.
307 HONSELL, § 6 N 20; WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372 f.; SCHWENZER, 22.20.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
a) Empirisch bestimmte Sorgfaltspflicht
Unter den empirisch bestimmten Sorgfaltspflichten sind jene Verhaltenspflichten
zu verstehen, welche auf ein Durchschnittsverhalten abstellen. Für WERRO ist für
die Beurteilung der Sorgfaltspflicht das Verhalten massgebend, das ein vernünftig
und mit Bedacht handelnder Durchschnittsmensch in der gleichen Situation an den
Tag gelegt hätte („durchschnittliche Sorgfaltspflicht“). 308 Bei HONSELL bestimmt
sich die objektive Sorgfalt über das hypothetische Verhalten eines durchschnittlichen
Dritten desselben Typus (Berufs-, Altersgruppe usw.) („typisierte Sorgfaltspflicht“).
309 Letztendlich handelt es sich bei der Bestimmung des Durchschnittsverhaltens
um eine empirische Aufgabe, denn die Bestimmung des Durchschnittsverhaltens
setzt die Erfassung und Ermittlung der möglichen Verhaltensweisen in
der jeweiligen Stichgruppe (Verkehrskreis) voraus. Mit empirisch bestimmten
Sorgfaltspflichten wird zum Ausdruck gebracht, dass derjenige, der sich durchschnittlich
verhält, nicht widerrechtlich handelt.
b) Gesetzlich bestimmte Sorgfaltspflichten
Bei ROBERTO und BOSSHARD finden sich die haftpflichtrechtlich relevanten Sorgfaltspflichten
zudem im Gesetz („gesetzliche Sorgfaltspflicht“). 310 Sorgfaltspflichten
müssen somit nicht jeweils empirisch bestimmt werden, sondern lassen sich aus
dem Gesetz ableiten. Die entsprechende Gesetzesnorm muss aber ein spezifisches
Verhalten wegen seiner Gefährlichkeit oder zur Gefahrvermeidung gebieten oder
verbieten. Mit gesetzlich bestimmten Sorgfaltspflichten wird zum Ausdruck gebracht,
dass derjenige, der sich gesetzeskonform verhält, nicht widerrechtlich handelt.
308
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 346 f., S. 372.
309
WERRO, Neuere Entwicklungen, S. 78; HONSELL, § 6 N 17 f.
310
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 44 ff.; BOSSHARD, S. 104 f.
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1 Übersicht und Definition
92
c) Richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten
Zur Ergänzung der gesetzlichen Sorgfaltspflichten verlangen BOSSHARD und RO-
BERTO, dass der Richter im Einzelfall auch weitere Sorgfaltspflichten aufstellt.
Nicht mehr relevant ist, wie sich ein Durchschnittsmensch verhalten hätte, viel-
mehr drängt sich die Frage auf, welches Verhalten von Rechts wegen in der jeweiligen
Situation erforderlich sein sollte. 311 Dies hat der Richter aufgrund der konkreten
Umstände des Sachverhalts mittels Abwägung der betroffenen Interessen zu
bestimmen („richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten“). Mit richterlich bestimmten
Sorgfaltspflichten wird zum Ausdruck gebracht, dass derjenige, der sich entsprechend
der von der Gesellschaft geforderten Weise verhält, sich nicht widerrechtlich
verhält.
1.2.2 Definition des Verschuldens
Zum Verschulden finden sich in der Lehre folgende Ansätze und Definitionen:
a) Auf die Urteilsfähigkeit beschränkter Verschuldensbegriff
Gemäss HONSELL macht es wenig Sinn, die Sorgfaltswidrigkeit sowohl bei der
Widerrechtlichkeit als auch beim Verschulden zu prüfen, da es sowohl systematisch
als auch theoretisch überflüssig sei, dasselbe Kriterium zweimal zu prüfen.
Wenn die objektive Sorgfaltspflichtverletzung im Rahmen der Widerrechtlichkeit
geprüft werde, sei konsequenterweise das Verschulden auf die Urteilsfähigkeit zu
reduzieren. 312 Diese Forderung findet sich ebenso, wenn auch in abgeschwächter
Form, bei ROBERTO. 313
b) Subjektivierter Verschuldensbegriff
BOSSHARD lehnt wie HONSELL die doppelte Prüfung des Verhaltens nach objektiven
Kriterien ab. Wird das Verhalten bereits bei der Widerrechtlichkeit nach objek-
311
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49.
312
HONSELL, § 6 N 21.
313
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 231: „Die Prüfung der Fahrlässigkeit bzw. der Sorgfaltswidrigkeit
im Rahmen des Verschuldens stellt damit eine unnötige (wenngleich unschädliche)
Verdoppelung dar.“

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
tiven Kriterien geprüft, verlangt er hingegen, dass beim Verschulden subjektive
Kriterien zur Anwendung gelangen. Das heisst, es ist zu prüfen, ob der Schädiger
bei Aufwendung sämtlicher ihm zur Verfügung stehender Kräfte die Schädigung
nicht hätte abwenden können. 314 Nur indem beim Verschulden die Prüfung subjektiver
Kriterien beibehalten würde, liesse sich vermeiden, dass das Verschulden
nicht auf die „bedeutungslose Frage der Urteilsfähigkeit“ reduziert werde. 315 Es
wäre unbillig, den körperlich oder geistig Benachteiligten dafür haften zu lassen,
dass er trotz Anspannung all seiner Kräfte nicht imstande war, sich rechtmässig zu
verhalten. Verstösst ein Verhalten gegen objektive Sorgfaltspflichten, ist nach
BOSSHARD beim Verschulden nicht nur zu prüfen, ob der Schädiger urteilsfähig
war, d.h. generell in der Lage war, vernunftgemäss zu handeln, sondern auch, ob er
aufgrund seiner weiteren persönlichen, subjektiven Fähigkeiten imstande war, sich
sorgfältig zu verhalten. 316
c) Modifizierter Verschuldensbegriff
Auch WERRO stösst sich an der fehlenden Systematik bei der Abgrenzung von
Widerrechtlichkeit und Verschulden. WERRO hebt insbesondere als problematisch
hervor, dass gemäss der herrschenden objektiven Widerrechtlichkeitstheorie das
Verhalten im Rahmen der Widerrechtlichkeit nach objektiven Kriterien und im
Rahmen des Verschuldens sowohl nach objektiven (objektive Sorgfaltspflichtverletzung)
als auch nach subjektiven Kriterien (Urteilsfähigkeit) geprüft wird. 317
WERRO schlägt deshalb vor, dass die objektive Sorgfaltspflichtverletzung das Verschulden
und die Widerrechtlichkeit indiziert und damit eine Haftpflicht auslöst.
Die Haftung solle nur dann ausnahmsweise, aus subjektiven Gründen ausgeschlos-
314
Vgl. aber OFTINGER/STARK I, § 5 N 64 ff.: Der Verschuldensvorwurf lasse sich im
Grunde nur über die subjektive Betrachtungsweise rechtfertigen, das Recht sei jedoch
auch gehalten, seine Funktion mit vernünftigem Aufwand zu erfüllen. Gerade die Feststellung
subjektiver Kriterien sei aber schwierig, weshalb sie unberücksichtigt zu bleiben
haben.
315
BOSSHARD, S. 118.
316 BOSSHARD, S. 120.
317 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372.
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263
1 Übersicht und Definition
sen werden, nämlich wenn der Schädiger urteilsunfähig ist oder sich auf einen
Rechtfertigungsgrund berufen kann.
Im Ansatz gleicht WERROs Vorschlag jenem von HONSELL. Auch bei HONSELL
führt die objektive Sorgfaltspflichtverletzung zur Haftung, es sei denn, es liege
ausnahmsweise Urteilsunfähigkeit vor. Wesentlichster Unterschied besteht darin,
dass WERRO die objektive Sorgfaltspflichtverletzung und die Urteilsunfähigkeit
der Haftungsvoraussetzung des Verschuldens zurechnet und die Widerrechtlichkeit
auf die Prüfung der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen reduziert. HONSELL
rechnet hingegen die objektive Sorgfaltspflichtverletzung dem Verschulden zu und
reduziert seinerseits das Verschulden auf die Prüfung der Urteilsunfähigkeit.
WERRO stellt dann auch fest, dass sein modifiziertes Verständnis von Widerrechtlichkeit
und Verschulden weitgehend zu denselben Ergebnissen führt wie bei der
objektiven Widerrechtlichkeitstheorie. 318 Da die Verletzung eines absolut geschützten
Rechts die Widerrechtlichkeit indiziert, wird die Haftungsvoraussetzung
der Widerrechtlichkeit im Grunde auf dieselbe Rolle zurückgedrängt, wie sie
WERRO vorschlägt, nämlich auf die Prüfung der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen.
Bei der Schutznormtheorie gehen objektive Sorgfaltspflichtverletzung
und Schutznormverletzung ohnehin miteinander einher. 319
Im Ergebnis nähert sich WERROs Ansatz dem französischen Recht und dem den
Ländern des Common Law zugrunde liegenden Gedanken an, wonach der massgebende
Haftungsgrund in der „faute“ bzw. der „negligence“, d.h. der Nichtbeachtung
der im Einzelfall geforderten, objektiv definierten Sorgfalt, liegt, während die
Bedeutung der Haftungsvoraussetzung Widerrechtlichkeit reduziert wird. 320
318 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 343.
319 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 357 (Fn. 33).
320 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 357.
94

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
1.3 Kernaussagen zur Sorgfaltspflichttheorie
Bei der Sorgfaltspflichttheorie lassen sich zur Definition der Sorgfaltspflichten
folgende Aussagen machen:
• Nicht jedes durchschnittliche Verhalten, d.h. empirisch bestimmte Verhalten,
kann zwangsläufig als sorgfältig gelten. Die empirisch bestimmten
Verhaltensstandards sind zudem anhand eines übergeordneten Wertemassstabs
zu überprüfen (vgl. Rz. 280 ff.).
• Der Begriff der durchschnittlichen Sorgfalt lässt zudem keinen gerechten
Ausgleich zwischen den Interessen des Schädigers und jenen des Geschädigten
erreichen. Das durchschnittliche Verhalten reflektiert das Verhalten
einer durchschnittlich vernünftigen Person in der Situation des Schädigers.
Dies hat mitunter Folgen auf die Ausübung und Geltendmachung
bestimmter Defensivansprüche (Unterlassung, Notwehr, Notstand) des
potenziell Geschädigten (vgl. Rz. 284 ff.).
• Ferner kann nicht bereits jede Abweichung vom durchschnittlichen Verhalten
als unsorgfältig gelten, da damit Verhaltensweisen, die mit dem
durchschnittlichen Verhalten äquivalent sind, unnötig sanktioniert werden
(vgl. Rz. 299 ff.).
• Gesetzlich bestimmte Sorgfaltspflichten bergen ihrerseits weitgehend dieselben
Probleme wie die Berücksichtigung geschriebener Schutznormen
bei der Schutznormtheorie (vgl. Rz. 307 f. sowie Rz. 188 ff. und Rz. 203
ff.).
• Richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten verlangen vom Schädiger jenes
Verhalten, welches aufgrund der konkreten Situation erforderlich ist, um
das Schädigungspotenzial zu minimieren. Der Richter hat sich hierbei
aufgrund der Umstände der Situation und der beteiligten Interessen zu
orientieren (vgl. Rz. 309 ff.).
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
96
Widerrechtlichkeit
Hinsichtlich der Bestimmung des Verschuldens lassen sich folgende Aussagen
machen:
• Die Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit mag zwar die
doppelte Prüfung des Verhaltens nach denselben objektiven Kriterien sowohl
bei der Widerrechtlichkeit als auch dem Verschulden verhindern,
der damit erreichte Verschuldensbegriff ist jedoch mit weiteren Bestimmungen
des Haftpflichtrechts inkompatibel (vgl. Rz. 315 ff.).
• Der Ansatz, das Verschulden zu (re-)subjektivieren, vermag nur auf den
ersten Blick die doppelte Prüfung des Verhaltens nach identischen Kriterien
vermeiden. Es gelangen bei der Prüfung der objektiven Sorgfalt bei
der Widerrechtlichkeit und der subjektiven Sorgfalt beim Verschulden
weiterhin ähnliche oder gar identische Kriterien zur Anwendung
(vgl. Rz. 323 ff.).
• Der Ansatz WERROs, die objektive Sorgfaltspflichtverletzung dem Verschulden
zuzurechnen und die Widerrechtlichkeit auf die Abwesenheit
von Rechtfertigungsgründen zu reduzieren, scheitert an systematischen
und theoretischen Überlegungen. Für unsorgfältiges Verhalten findet sich
kein Rechtfertigungsgrund, womit letztlich auf die Widerrechtlichkeit als
Kriterium verzichtet wird. Dies ist mit dem Wortlaut von Art. 41 OR unvereinbar
(vgl. Rz. 327 ff.).
2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches
Kriterium der Widerrechtlichkeit
2.1 Empirisch bestimmte (durchschnittliche) Sorgfaltspflichten
Die empirisch bestimmten Sorgfaltspflichten entsprechen dem objektiven Sorgfaltsbegriff
der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie, d.h., die relevante Sorgfaltspflicht
bestimmt sich danach, wie sich eine durchschnittlich vernünftige Person in
der jeweiligen Situation verhalten hätte. 321 Dem Geschädigten soll ein Schaden
321 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
ersetzt werden, wenn das Verhalten des Schädigers den durchschnittlichen Anforderungen,
die eine Gesellschaft im Interesse des Zusammenlebens ihrer Mitglieder
stellt, nicht genügt. 322 Um zu beurteilen, ob der Schädiger eine Sorgfaltspflicht
verletzt hat oder nicht, hat das Gericht somit sein Verhalten mit dem einer vernünftigen
Person zu vergleichen, die sich in den gleichen objektiven Umständen befin-
det. 323
Die herrschende Lehre wendet einen typisierten Sorgfaltsbegriff 324 an. Zur empirischen
Ermittlung des Durchschnittsverhaltens wird auf den Durchschnitt der Angehörigen
der Berufs- und Altersklasse, denen der Schädiger zugehört, abgestellt.
325 Als sorgfältig gilt das Durchschnittsverhalten des Verkehrskreises, in dem
sich der Schädiger bewegt, respektive des Typus, dem er zugehört. Für jeden Typus
und Verkehrskreis gelten eigene, innerhalb eines Verkehrskreises und Typus
aber dieselben Sorgfaltsanforderungen. 326 So hat ein Arzt die Regeln der ärztlichen
Kunst einzuhalten, ein Anwalt hingegen die durchschnittliche Sorgfalt seiner Anwaltskollegen
aufzubringen. 327 Ob ein Kind schuldhaft gehandelt hat, beurteilt sich
danach, ob einem Kind gleichen Alters bei gleichem Verhalten ein Vorwurf zu
machen wäre. 328
Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung werden das Alter, das Geschlecht
und der Beruf des Schädigers zu den massgebenden Faktoren gezählt, um den
relevanten Typus respektive Verkehrskreis zu bestimmen. 329 Die Rechtsprechung
322 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 347.
323 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 370.
324 WERRO, Neuere Entwicklungen, S. 78; BeK-BREHM, OR 41 N 184a.
325 KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 39; HONSELL, § 6 N 17.
326 KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 39.
327 SCHWENZER, N 22.15.
328 KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 40.
329 OSWALD, S. 68, m.w.H.: OSWALD unterscheidet dabei zwischen Merkmals- und
Auftretensgruppen. Entweder handelt es sich um Merkmale der Person, die alle Menschen
betreffen (Alter, Geschlecht), oder es wird auf den Willensakt einer Person abge-
97
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
98
Widerrechtlichkeit
und Lehre hat die Auswahl dieser Kriterien kaum begründet. An sich eignen sich
eine Reihe von Faktoren, um den Verkehrskreis zu bestimmen: Bildung, Geschlecht,
330 Bevölkerungsschicht, physische Kraft, 331 körperliche Besonderheiten
und ähnliche Faktoren. 332 Je mehr Kriterien berücksichtigt werden, desto mehr
wird der Individualität des Schädigers Rechnung getragen und damit die Sorgfalt
subjektiviert.
Um den Interessenausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem zu gewährleisten,
muss die Sorgfalt jedoch objektiviert werden, was sich nur durch eine restriktive
und zugleich wertende Auswahl von Faktoren zur Bestimmung und Abgrenzung
des Verkehrskreises erreichen lässt. 333 WERRO lehnt deshalb die Typisierung
bzw. die Kategorisierung der Sorgfaltspflichten anhand subjektiver Eigenschaften
und Fähigkeiten grundsätzlich ab. Persönliche Eigenschaften des Schädigers wie
sein Bildungsstand, seine Erfahrung und seine Kenntnisse 334 sowie sein Alter und
Geschlecht 335 sollen bei der Ermittlung des Durchschnittsverhaltens unberücksichtigt
bleiben. WERRO schränkt dies insofern ein, als die erbringende Sorgfalt auch
anhand des in einem bestimmten Berufszweig üblichen Verhaltens zu bestimmen
sei. Damit wird die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe zur Bestimmung des
stellt, der die betreffende Person zum Mitglied einer speziellen Gruppierung macht
(Berufsausübung, Übernahme einer Tätigkeit, die besondere Fähigkeiten voraussetzt).
330
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 371; GAUCH, Der vernünftige Mensch, S. 181
(Fn. 40): Im Jahre 1925 lehnte das Bezirksgericht ein Mitverschulden einer Frau als
Fussgängerin ab, weil Frauen im Unterschied zu Männern, aber ähnlich wie Rindvieh
und Hühner, nicht in der Lage seien, die Gefahren des motorisierten Verkehrs richtig
einzuschätzen und zweckmässig zu reagieren.
331 BeK-BREHM, OR 41 N 184.
332 AEBI, S. 58; OSWALD, S. 67 f .
333 OSWALD, S. 66 f.
334 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 347; 370.
335 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 370 f.; vgl. hingegen Art. 48a VORENTWURF.
Danach handelt der Schädiger fahrlässig, wenn er nicht diejenige Sorgfalt an den Tag
legt, die aufgrund der Umstände sowie seiner persönlichen Situation (Alter, Bildung,
Kenntnisse und übrige Eigenschaften) von ihm erwartet werden kann.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
Durchschnittsverhaltens berücksichtigt, womit auch WERRO eine Typisierung bei
der Ermittlung des Durchschnittsverhaltens vornimmt. 336
2.1.1 Postulat des Ausgleichs der Interessen von Schädiger und Geschädigtem
Ein wesentlicher Teil der Lehre erachtet den Begriff der objektiven, sprich durch-
schnittlichen Sorgfalt deshalb als notwendig, da damit der Ausgleich entgegenstehender
Interessen von Schädiger und Geschädigtem gewährleistet werden soll. 337
Den Interessen des Geschädigten wird dadurch Rechnung getragen, dass er auf
mindestens durchschnittliches Verhalten seiner Mitmenschen vertrauen darf.
Prozessual hat er zudem nur das äusserlich erkennbare (objektive) Verhalten des
Schädigers nachzuweisen und nicht den Geisteszustand respektive die Gedankengänge
des Schädigers. 338 Subjektive Entschuldigungsgründe wie z.B. Unaufmerksamkeit
wegen schwerer Trauer, ungenügende Bildung oder eingeschränkte geistige
Fähigkeiten 339 des Schädigers muss sich der Geschädigte deshalb nicht entgegenhalten
lassen.
Die Interessen des Schädigers werden beim objektivierten Verschuldensbegriff
dadurch berücksichtigt, dass als Massstab das Verhalten eines durchschnittlich
vernünftigen Menschen in der konkreten Situation des Schädigers gilt. Die an
einen Fahrradfahrer gestellten Anforderungen werden anhand des durchschnittlichen
Verhaltens eines Fahrradfahrers beurteilt. Nicht berücksichtigt wird etwa,
welches Verhalten allfällig gefährdete Fussgänger vom Fahrradfahrer erwarten,
damit sie nicht verletzt werden, bzw. welches Verhalten ein Dritter, der dem Verkehrsgeschehen
als Unbeteiligter zuschaut, als angemessen und ausgeglichen erwarten
würde.
336
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 370.
337
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372 f.; SCHWENZER, N 22.20, m.w.H.
338
Vgl. OFTINGER/STARK I, § 5 N 67, 79: STARK spricht sich aus Gründen der Praktikabilität
für den objektivierten Verschuldensbegriff aus.
339
Führt die Geistesschwäche jedoch zur Urteilsunfähigkeit, haftet der Schädiger nicht aus
Art. 41 OR, sondern allenfalls aus Art. 54 OR.
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
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Widerrechtlichkeit
Wie nachfolgend aufgezeigt wird, lässt sich jedoch bereits aus systematischen
Überlegungen heraus mit dem Begriff der durchschnittlichen Sorgfalt (noch) kein
angemessener Ausgleich der Interessen zwischen Schädiger und Geschädigtem
erreichen.
2.1.2 Notwendigkeit einer übergeordneten Wertehierarchie
Die Berücksichtigung des Durchschnittsverhaltens als Massstab für die Grenze
zwischen Sorgfalt und Unsorgfalt überzeugt nur, wenn dieses Verhalten dem Werturteil
einer grossen Zahl von Personen entspricht und damit die Annahme zulässt,
dass es sachlich gerechtfertigt sei. Dies trifft aber nur zu, wenn die richtige Hierarchie
der Werte gilt. Wo die sachliche Rechtfertigung trotz vieler übereinstimmender
Beurteilungen fehlt, ist nicht auf den Durchschnitt abzustellen. 340 Wenn z.B.
die Mehrheit der Autofahrer auf einer Strecke mit überhöhter Geschwindigkeit
unterwegs ist, so ist damit die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit keineswegs
gerechtfertigt.
Das Durchschnittsverhalten ist nur dann als Massstab geeignet, wenn der durchschnittlich
vernünftige Mensch bei seinem Verhalten die Interessen von Schädiger
und Geschädigtem gleichermassen berücksichtigt. Versinnbildlicht wird dies im
moralischen Appell: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem
andern zu!“ 341 Wenn man aber bereits mit dem Bild eines hypothetischen Durchschnittsmenschen
hantiert, so dürfte das Bild des egoistisch und eigennützig handelnden
homo oeconomicus wohl eher heranzuziehen sein als jenes des altruistischen
Wohltäters. 342
340 OFTINGER/STARK I, § 5 N 83.
341
In abgewandelter Form findet sich diese Maxime in der Bibel wieder: „Alles, was ihr
für euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch.“ (Die Bibel, Neues Testament,
Matthäus 7, 12); „Seid zu den Leuten genauso, wie ihr auch von ihnen behandelt
werden wollt.“ (Die Bibel, Neues Testament, Lukas 6, 31); „Was der Mensch sät, das
wird er ernten.“ (Die Bibel, Neues Testament, Galater, 6, 7b).
342
Vgl. HOLMES, S. 144: „The true explanation of the reference of liability to a moral
standard [...] is not that it is for the purpose of improving men’s hearts, but that it is to
give a man a fair chance to avoid doing the harm before he is held responsible for it.“

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
Dem homo oeconomicus wird unterstellt, er verhalte sich evaluierend und maxi-
mierend. 343 Er verzichtet auf eine schädigende Handlung nur dann, wenn die für
ihn negativen Folgen seines Handelns schwerer wiegen als der positive Nutzen,
den er daraus erzielt. 344 Aus haftpflichtrechtlicher Sicht wird der Durchschnittsmensch
nur dann von schädigendem Verhalten absehen, wenn er ansonsten finanziell
bestraft wird. Er berücksichtigt die Interessen allfälliger Geschädigter nur
mittelbar, nämlich dann, wenn deren Schäden auf ihn überwälzt werden, d.h., wenn
er für die Folgen seines Verhaltens haftet. 345 Dies zeigt eine inhärente Schwäche
des empirisch bestimmten Sorgfaltsbegriffs. Das Durchschnittsverhalten kann nicht
zugleich zur Begründung der Haftung herangezogen werden, wenn sich erst aus
dem Umstand der Haftung das durchschnittliche Verhalten ergibt. Dies hätte einen
Zirkelschluss zur Folge.
Das Haftpflichtrecht ist mit dem Begriff der durchschnittlichen Sorgfalt somit nicht
in der Lage, autonom das richtige Verhalten bzw. das haftpflichtige Verhalten zu
bestimmen, sondern ist stets auf eine äussere Wertehierarchie angewiesen. Das
Durchschnittsverhalten kann einzig nur als Indiz einer vorangegangenen Interessenabwägung
dienen. 346 Findet keine Interessenabwägung statt, etwa wenn Nachlässigkeit
im Spiel ist oder wenn Unsitten im Verkehr eingerissen haben, darf das
Mass der Sorgfalt nicht herabgesetzt werden. 347 Der Richter hat stets zu überprüfen,
ob das Durchschnittsverhalten im Einzelfall mit der vorherrschenden Wertehierarchie
in Einklang steht. 348 Damit drängt sich zwangsläufig die Frage auf, ob
die Prüfung des Verhaltens über den Umweg des Durchschnittsverhaltens überhaupt
zweckmässig ist. Der Richter könnte das gerügte schädigende Verhalten
343
Zur Bedeutung der REMM-Hypothese (Resourceful, Evaluating, Maximising Man) im
Haftpflichtrecht vgl. SAILER, S. 134, im Zivilrecht allgemein vgl. SCHÄFER/OTT, S. 58
ff., m.w.H.
344
WALTER, S. 305.
345 HONSELL, § 1 N 74; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 32.
346
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49.
347
BGE 69 II 324, 331 ff. (Erw. 2).
348 OFTINGER/STARK I, § 5 N 84.
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
102
Widerrechtlichkeit
gleich direkt auf die Vereinbarkeit mit der in der Gesellschaft vorherrschenden
Wertehierarchie prüfen.
2.1.3 Einseitigkeit des durchschnittlichen und typisierten Sorgfaltsbegriffs
a) Einseitige Berücksichtigung der Interessen des Schädigers zulasten
des Geschädigten
Die Bestimmung des relevanten Sorgfaltsmassstabs anhand des Durchschnittsverhaltens
des Verkehrskreises, dem der Schädiger zugehört, bedeutet, dass im Einzelfall
das Mass der Sorgfalt herauf- oder herabgesetzt wird, je nachdem welchem
Verkehrskreis der Schädiger zugeordnet wird. Einem Kind ist nur jenes Verhalten
vorzuwerfen, welches vom Durchschnittsverhalten anderer Kinder in seinem Alter
abweicht, 349 während Berufsleute, z.B. Ärzte oder Elektriker, den höheren Anforderungen
ihrer Kunst respektive ihres Handwerkes genügen müssen. 350
Ist aber ein in gewissen Berufen geübter Schlendrian üblich, z.B. dass auf Baustellen
Alkohol getrunken wird oder dass gefährliche Stellen nicht abgesperrt werden,
würde dieses Verhalten bei Anwendung des typisierten Sorgfaltsbegriffs als sorgfältig
gelten. 351 Wer sich wegen der fehlenden Absperrung verletzt, hätte keinen
Schadenersatzanspruch, da das Verhalten üblich und somit nicht widerrechtlich
ist. 352 Damit würde aber die (verbreitete) Nachlässigkeit im Verkehrskreis des
Schädigers belohnt, was nicht Ziel des Haftpflichtrechts sein kann.
Das Abstellen auf die typisierte Sorgfalt ist besonders dann bedenklich, wenn Berufsgruppen
es in der Hand haben, ihre Bräuche und Sitten selbst festzulegen oder
gar zu normieren, und damit den für sie geltenden Sorgfaltsmassstab beeinflussen
können. Dies lässt sich am Beispiel der Skiliftbetreiber illustrieren. Zu den Pflich-
349 KOLLER, Obligationenrecht, § 24 N 40.
350 SCHWENZER, N 22.15.
351
VON BAR II, N 225 (S. 252).
352
Vgl. SCHÄFER/OTT, S. 200 f.: Der Radfahrer, der sich verkehrswidrig verhält und
nachts ohne Licht fährt, kann sich nicht mit dem Hinweis der Haftung entziehen, dass
sich die meisten Radfahrer ebenso verhalten.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
ten der Skiliftbetreiber gehören etwa die Polsterung von Hindernissen, die Markierung
von Pistenrändern und die Pistenkontrolle, 353 wobei die Skiliftbetreiber für
die Kosten dieser Massnahmen aufzukommen haben. Verzichtet nun der Grossteil
der Skiliftbetreiber aus Kostengründen auf diese Massnahmen, handeln sie weiterhin
sorgfältig, da sie dem durchschnittlichen Verhalten ihres Verkehrskreises entsprechen.
Sie sparen damit die Kosten der Schutzmassnahmen ein, ohne einem
höheren Haftungsrisiko ausgesetzt zu sein. 354 Dass dadurch das Unfallrisiko für die
Skifahrer steigt, ist für den Betreiber finanziell gesehen irrelevant, da er hierfür
nicht einzustehen hat. Der Skifahrer respektive dessen Versicherung haben den
Schaden zu tragen. Dieser Ausgang ist inadäquat, da die Skiliftbetreiber am besten
in der Lage sind, Gefahrenstellen zu erkennen und zu sichern. Gerade aus gesamtgesellschaftlicher
Sicht ist es erwünscht, dass derjenige haftet, der den Schaden
möglichst kosteneffektiv vermeiden könnte. 355 Zudem verursacht jeder Schaden
auch Transaktionskosten, 356 weshalb es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht anzustreben
ist, das Schädigungspotenzial möglichst gering zu halten. 357
Ein Sorgfaltsbegriff, der sich einzig nach dem Durchschnittsverhalten richtet, bietet
zu viel Raum, sodass die betroffenen Verkehrskreise den für sie massgeblichen
Sorgfaltsstandard bestimmen können. Er richtet sich damit einseitig nach den In-
353 Exemplarisch für die nach herrschender Rechtsprechung einzuhaltenden Sorgfaltspflichten,
vgl. BGE 121 III 358, 360 (Erw. 4a): „Es ist allgemein anerkannt, dass
Bergbahn- und Skiliftunternehmen, welche Skipisten erstellen und diese für den Skilauf
öffnen, grundsätzlich verpflichtet sind, die zur Gefahrenabwehr zumutbaren Vorsichts-
und Schutzmassnahmen vorzukehren [...] auch für die Pistensicherheit und den Rettungsdienst
sorgen [...] festen Objekte, wie zum Beispiel Skiliftmäste und Bäume, aus
dem Pistenbereich zu entfernen oder durch geeignete Vorrichtungen (z.B. Polsterungen)
zu sichern.“
354 Vgl. SCHÄFER/OTT, S. 202 f.: Interessengruppen können aber auch die Sicherheitsstandards
zu hoch ansetzen, um etwa Konkurrenten aus anderen Ländern vom heimischen
Markt auszuschliessen. In beiden Fällen, d.h., wenn die Standards zu hoch oder zu
niedrig angesetzt werden, kann dies zu Effizienzverlusten führen.
355 Theorie vom cheapest cost avoider, vgl. HONSELL, § 1 N 74; SAILER, S. 175.
356 SCHÄFER/OTT, S. 140.
357 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 33.
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
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Widerrechtlichkeit
teressen der Schädiger zum Schaden der Allgemeinheit. FLEMING hält dieses Prob-
lem treffend fest: „Even common usage or custom is not altogether above legal
censure, since otherwise an entire industry would be free to set its own uncontrolled
standards in defiance of its overriding obligation of reasonable care.“ 358
Diese „legal censure“ findet in Rechtsprechung und Lehre statt. Demnach kann
die Berufung auf Übung, Usance oder Gewohnheiten nicht entschuldigen, wenn
das Verhalten schadensträchtig ist 359 oder wenn es eine Nachlässigkeit oder Unsitte
im Verkehr darstellt. 360
b) Unbeachtete Defensivansprüche des Geschädigten
Eine Reihe von Defensivansprüchen des potenziell Geschädigten, wie z.B. das
Notwehrrecht, der Unterlassungsanspruch, der Beseitigungsanspruch und teilweise
der Feststellungsanspruch, setzen die Widerrechtlichkeit des schädigenden Verhaltens
voraus. 361 Derjenige, der seine Rechte in Gefahr sieht, muss vorgängig abschätzen
können, ob er zur Notwehr berechtigt ist oder auf Unterlassung klagen
darf.
Die empirische Bestimmung der Sorgfalt anhand des Durchschnittsverhaltens des
Schädigers beinhaltet notwendigerweise eine einseitige Betrachtungsweise zugunsten
des Schädigers. So kann dem Schädiger kein Vorwurf gemacht werden, wenn
er sich in einem entschuldbaren Irrtum befindet oder wenn es ihm faktisch unmöglich
ist, die Folgen seines Verhaltens zu erkennen und daher zu vermeiden. In diesem
Zusammenhang muss entschuldbar bedeuten, dass auch eine Durchschnitts-
358 J. G. FLEMING, An Introduction to the Law of Torts, 2. Aufl., Oxford 1985, S. 30, zitiert
nach: GAUCH, Der vernünftige Mensch, S. 194 (Fn. 113); auch treffend formuliert von
WALSH J. in O’Donovan v. Cork County Council [1967] IR 173, 193: „The fact that it
is shown to have been widely and generally adopted over a period of time does not
make the practice any less negligent. Neglect of duty does not cease by repetition to the
neglect of duty.“, zitiert nach: VON BAR II, N 225 (Fn. 307).
359 BeK-BREHM, OR 41 N 189; BGE 90 II 227, 231 (Erw. 2c); BGE 89 II 118, 121
(Erw. 2b): „Bonjean ne saurait se disculper en soutenant que sa façon de rouler est
usuelle; un abus répété n’est pas une excuse.“
360 BGE 69 II 324, 331 ff. (Erw. 2).
361 PORTMANN, S. 277, m.w.H.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
person diesem Irrtum unterlegen wäre und die Folgen ihres Verhaltens nicht zu
erkennen vermocht hätte.
Veröffentlicht jemand unwahre Behauptungen auf Plakaten, obwohl er objektiv
sorgfältig handelt und auf eine sonst verlässliche Quelle vertraut, handelt er nicht
unsorgfältig und deshalb auch nicht widerrechtlich. Dies hat jedoch zur Folge, dass
dem Geschädigten, der durch die unwahren Behauptungen in seiner Persönlichkeit
verletzt wird, der Beseitigungsanspruch versagt werden muss, da dies die Widerrechtlichkeit
voraussetzt. 362 Dies überzeugt nicht, denn der so in seiner Persönlichkeit
verletzte Geschädigte hätte weder Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung,
noch kann er auf Beseitigung oder Unterlassung der Persönlichkeitsverletzung
klagen. Nur bei periodisch erscheinenden Medien hätte der Geschädigte allenfalls
ein Gegendarstellungsrecht, da hier nur unmittelbare Betroffenheit und nicht Widerrechtlichkeit
der Verletzung verlangt wird.
In Notwehrsituationen ist die Lage für den potenziell Geschädigten prekärer. Die
Definition der Widerrechtlichkeit als Abweichung vom Durchschnittsverhalten hat
zur Folge, dass der Geschädigte durchschnittliches schädigendes Verhalten über
sich ergehen lassen muss, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Zugleich kann
er aber auch nicht auf Schadenersatz hoffen, da durchschnittliches Verhalten nicht
widerrechtlich ist. Mit anderen Worten muss der Geschädigte hilflos zusehen, wie
er geschädigt wird, auch wenn er selbst die Möglichkeit hätte, den Schadenseintritt
abzuwehren. Dies kann vom Haftpflichtrecht nicht beabsichtigt sein. Die Defensivansprüche
des potenziell Geschädigten dürfen deshalb nicht davon abhängig
gemacht werden, ob der Schadenseintritt für den durchschnittlichen Schädiger
vorhersehbar oder vermeidbar war. PORTMANN spricht sich auch deshalb gegen die
Verschmelzung der Widerrechtlichkeit mit dem objektivierten Verschulden aus. 363
362
PORTMANN, S. 277; BGE 91 II 401, 407 (Erw. 3e): „Würde ein solcher Eingriff als
rechtmässig betrachtet, so wäre der Täter der Pflicht enthoben, den guten Ruf des Betroffenen
wiederherzustellen, und könnte nicht einmal auf Unterlassung weiterer Verletzungen
belangt werden, da solche Klagen die Widerrechtlichkeit des Eingriffs voraussetzen
(BGE 68 II 131). Das widerspräche ethischen Grundsätzen.“
363
PORTMANN, S. 277, m.w.H.
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
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Widerrechtlichkeit
c) Abweichende subjektive Sorgfaltspflichten
Wird das Durchschnittsverhalten als Massstab des erlaubten Verhaltens definiert,
so hat eine Person an sich nur für unterdurchschnittliches Verhalten einzustehen.
Beachtet ein Schädiger hingegen die durchschnittliche Sorgfalt, handelt er im
Grunde auch dann nicht widerrechtlich, wenn er wegen besonderer Fähigkeiten
oder Kenntnisse in der Lage gewesen wäre, auch solche Schäden zu vermeiden,
deren Vermeidung einer Durchschnittsperson nicht möglich gewesen wäre. 364
Wird stets nur die durchschnittliche Sorgfalt verlangt, besteht aus haftpflichtrechtlicher
Sicht kein Anreiz für den Schädiger, sich nach seinen Möglichkeiten sorgfältiger,
d.h. weniger schadensträchtig, zu verhalten. Eine Folge davon ist, dass der
Geschädigte im Endeffekt für Schäden aufkommen muss, die der Schädiger aufgrund
seiner Kenntnisse und Fähigkeiten hätte vermeiden können. Sinnvoll ist es,
denjenigen haften zu lassen, der am ehesten in der Lage ist, das Risiko abzuschätzen
und den Schaden zu vermeiden. 365
Es ist deshalb auch eine anerkannte Regel, dass ein Schädiger, der über besondere
Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die ihn zu erhöhter Sorgfalt befähigen, für
diese erhöhte Sorgfalt einstehen muss. 366 Mit anderen Worten: Falls der Schädiger
höhere Kenntnisse besitzt als der Durchschnitt seines Typus (Berufskreises, Altersgruppe
usw.), kann er sich nicht darauf berufen, er habe lediglich die durchschnittliche
Sorgfalt aufgewendet. Er ist gehalten, seine allfälligen höheren Fachkenntnisse
und Fähigkeiten als die im Verkehrskreis üblichen einzusetzen. 367
WERRO begründet die Beachtung der subjektiven Sorgfalt damit, dass die durchschnittliche
Sorgfaltspflicht lediglich die Mindestvoraussetzungen an die Sorgfaltspflicht
stellt, bei deren Verletzung die Widerrechtlichkeit stets gegeben sein
soll. 368 Damit gilt aber, dass sich der Schädiger, auch wenn er sich durchschnittlich
364
OSWALD, S. 64.
365
Theorie vom cheapest cost avoider, vgl. HONSELL, § 1 N 74; SAILER, S. 175.
366 OFTINGER/STARK I, § 5 N 86.
367 SCHWENZER, N 22.17.
368 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 370.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
verhält, nicht sicher sein kann, ob sein Verhalten rechtmässig ist oder nicht. Die
Rechtmässigkeit des Verhaltens lässt sich erst schlüssig bestimmen, wenn feststeht,
ob ihm überdurchschnittliche Fähigkeiten und Kenntnisse zugeschrieben werden
oder nicht. Damit wird letztlich nicht das Verhalten des Schädigers beurteilt, sondern
die Fähigkeiten und Erfahrungen des Schädigers. Von einer objektiven Beurteilung
des Verhaltens kann nicht mehr die Rede sein.
2.1.4 Probleme bei der empirischen Bestimmung der durchschnittlichen Sorgfalt
a) Der empirische Nachweis muss offenstehen
Die Festlegung des massgeblichen Verhaltensstandards aufgrund des Durchschnittsverhaltens
ist im Grunde eine empirische Aufgabe. 369 Handelt es sich beim
schädigenden Verhalten jedoch nicht um ein Massenphänomen, ist der empirische
Nachweis des durchschnittlichen Verhaltens von vornherein schwierig, da sich die
notwendigen Daten in der Regel nicht beschaffen lassen. 370 Gänzlich unmöglich ist
der Nachweis eines durchschnittlichen Verhaltens dort, wo es sich um ein einmaliges
oder auf den Schädiger beschränktes Verhalten handelt, wie etwa beim Betrieb
von Prototypen oder bei Pioniertaten.
Ist ein durchschnittliches Verhalten empirisch nicht nachzuweisen, lassen sich
hieraus zwei Schlüsse ziehen. Entweder liegt die Sorgfaltspflicht gerade darin, dass
die Tätigkeit nicht aufgenommen wird, oder es existiert keine einschlägige Sorgfaltspflicht.
Beide Schlüsse sind unbefriedigend, denn auch Pioniertaten müssen
erlaubt sein, können jedoch nicht in einem rechtsfreien Raum stattfinden.
Notwendig ist damit ein Kriterium, welches das Verhalten auch unabhängig von
der empirischen Nachweisbarkeit eines Durchschnittsverhaltens als widerrechtlich
bzw. berechtigt bezeichnen kann. Letztendlich ist der Richter gezwungen zu entscheiden,
wie jemand sich in derselben Situation des Schädigers verhalten hätte
bzw. hätte verhalten müssen. 371
369 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49.
370 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 60.
371 GAUCH, Der vernünftige Mensch, S. 201.
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium der
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Widerrechtlichkeit
b) Annahme einer einzigen richtigen Handlungsweise
Gilt das durchschnittliche Verhalten als sorgfältig, kann sinnvollerweise nur die
negative Abweichung vom Durchschnittsverhalten als widerrechtlich gelten. Damit
ist jedoch noch nicht geklärt, wie Verhaltensweisen zu beurteilen sind, welche mit
dem durchschnittlichen Verhalten äquivalent sind. Durchschnittliches Verhalten
setzt sowohl unterdurchschnittliches als auch überdurchschnittliches Verhalten
voraus. Das durchschnittliche Verhalten stellt damit allenfalls ein hinreichendes,
aber keinesfalls das einzig richtige Verhalten dar.
Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung zum objektivierten Verschulden
die Problematik der Äquivalenz der Handlungen bei sogenannten Schreckreaktionen
aufgegriffen. Es hat wiederholt entschieden, dass, wenn sich der Schädiger
unerwartet und ohne Fehler plötzlich in einer Gefahrensituation befindet, er
manchmal (insbesondere im Strassenverkehr) blitzartig reagieren muss. Ob er dann
die beste Lösung wählt, zeigt sich oft erst im Nachhinein. Der Schädiger hat dann
nicht schuldhaft gehandelt, wenn die ergriffene Massnahme und diejenige, welche
bei nachträglicher längerer Überlegung als die zweckmässigere erscheint, annähernd
gleichwertig sind und der Schädiger deren unterschiedliche Wirksamkeit nur
deshalb nicht erkannt hat, weil die plötzlich eingetretene Gefahrensituation einen
augenblicklichen Entschluss erforderte. 372
Die Problematik der äquivalenten Verhaltensweisen lässt sich am Beispiel der
Chirurgie illustrieren. Oft gibt es für einen Eingriff verschiedene Operationstechniken.
Gilt nun eine Operationstechnik als vorherrschend, der Chirurg wählt jedoch
eine andere, müsste ihm bereits diese Wahl als Fahrlässigkeit angelastet werden, da
er vom Durchschnitt abgewichen ist. Dieses Widerrechtlichkeitsurteil ist jedoch
unbefriedigend, wenn die gewählte Technik gleichwertig oder gar besser ist als die
vorherrschende. Das Bundesgericht selbst führt aus, dass auf dem Gebiet der Chirurgie
dem Arzt ein Ermessensspielraum zugestanden werden müsse. 373 Der Begriff
372
BGE 83 IV 84 f.; BGE 61 I 429, 432 f. (Erw. 2); BGE 68 II 116, 127 (Erw. 6); vgl.
auch BeK-BREHM, OR 41 N 187a.
373
BGE 113 II 429, 432 (Erw. 3a).

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
der durchschnittlichen Sorgfalt würde hingegen das Ermessen einschränken und
damit den wissenschaftlichen Fortschritt behindern, da jede neue Technologie oder
Technik vorerst als widerrechtlich gilt, bis sie sich durchgesetzt hat.
Die Abweichung vom durchschnittlichen Verhalten erlaubt selbst noch keine abschliessende
Aussage, ob ein Verhalten widerrechtlich ist oder nicht, da nur die
negative Abweichung vom Durchschnittsverhalten widerrechtlich sein kann. 374
Dies erfordert jedoch zusätzliche Kriterien, um zu bestimmen, wann eine Abweichung
gegenüber dem Durchschnittsverhalten positiv oder äquivalent ist. Dies lässt
sich empirisch nicht bestimmen, sondern erfordert eine Bewertung des Verhaltens.
c) Äusserlich identisches Verhalten kann sowohl widerrechtlich als
auch erlaubt sein
Die Bestimmung der Sorgfalt aufgrund des Durchschnittsverhaltens des Verkehrskreises
des Schädigers birgt das Problem, dass ein bestimmtes Verhalten sowohl
widerrechtlich als auch erlaubt sein kann, je nachdem, welchem Verkehrskreis der
Schädiger angehört. So macht es einen Unterschied, ob der Hobby-Bastler ein
Büchergestell aufstellt und vergisst, es an der Wand zu fixieren, oder ob dies ein
Schreiner tut. Wird jemand durch das umfallende Büchergestell verletzt, ist diese
Unterlassung dem Schreiner vorzuwerfen, weil das Fixieren zum durchschnittlichen
Verhalten der Handwerker gehört, dem Hobby-Bastler kann man hingegen
nichts vorhalten. Beim Schreiner gilt somit das Nichtfixieren des Büchergestells
als widerrechtlich, beim Hobby-Bastler hingegen nicht.
Wird das Mass der Sorgfalt entsprechend dem Verkehrskreis des Schädigers bestimmt,
ist der Geschädigte mit der Situation konfrontiert, dass das äusserlich identische
Verhalten des Schädigers gleichzeitig widerrechtlich bzw. erlaubt sein kann,
je nachdem welchem Verkehrskreis der Schädiger zufällig angehört. 375 WERRO
374
PORTMANN, S. 279.
375
Zu einem Teil wird die Zufälligkeit durch das Übernahmeverschulden relativiert. Setzt
eine Tätigkeit bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten voraus, die in einem bestimmten
Verkehrskreis gängig sind, wird der Schädiger diesem Verkehrskreis zugerechnet. So
kann der Hobby-Bastler, der eine elektrische Installation falsch vornimmt, sich nicht
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Widerrechtlichkeit
lehnt deshalb den typisierten Sorgfaltsbegriff zugunsten des durchschnittlichen
Sorgfaltsbegriffs, welcher ohne subjektive (typisierte) Elemente auskommt, ab. Es
gehe nicht an, das Opfer eines „unwissenden Schädigers“ gegenüber dem Opfer
eines „wissenden Schädigers“ zu benachteiligen. Letztlich sei der Hauptzweck des
Haftpflichtrechts, dem Geschädigten den erlittenen Schaden zu ersetzen. 376
Ist die Qualifizierung eines schädigenden Verhaltens von den persönlichen Eigenschaften
des Schädigers abhängig, erschwert dies die Ausübung von Defensivansprüchen.
Bevor ein potenziell Geschädigter abschätzen kann, ob ein gegen ihn
gerichtetes Verhalten widerrechtlich ist und dagegen Notwehr ergriffen werden
darf, muss er sich womöglich über den Verkehrskreis des Schädigers vergewissern.
Er hätte sich somit über das Alter, das Geschlecht, den Berufskreis oder die physische
Kraft des Schädigers zu informieren, was ihm kaum zuzumuten ist.
Soll mit der Widerrechtlichkeit das Verhalten und nicht der Schädiger beurteilt
werden, so kann auf individuelle, wenn auch typisierte Charakteristika des Täters
keine Rücksicht genommen werden. Es soll auf die Widerrechtlichkeit der Handlung
keinen Unterschied machen, ob z.B. ein Kind jemanden mit Pfeil und Bogen
verletzt oder ein Erwachsener. Die Handlung bleibt jeweils gleich, nur der Schütze
ist ein anderer.
2.2 Gesetzliche Sorgfaltspflichten
Bei ROBERTO und BOSSHARD finden sich positivrechtlich fixierte Sorgfaltspflichten
in Gesetzen. 377 Als gesetzliche Sorgfaltspflichten kommen jedoch nur Bestimmungen
in Frage, die dem Rechtsunterworfenen bestimmte Verhaltensweisen wegen
ihrer Gefährlichkeit verbieten bzw. zur Gefahrenvermeidung gebieten und die
damit bestimmte Rechte einzelner Personen oder Personengruppen schützen wollen.
378 Diesem Ansatz ist etwa die amerikanische und kanadische Rechtspraxis
damit entschuldigen, kein Elektriker gewesen zu sein. Vgl. Art. 6 der Bundesverordnung
über elektrische Niederspannungsinstallationen (SR 734.27.).
376
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372.
377 BOSSHARD, S. 104 f.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 44 ff.
378 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 43.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
gegenüberzustellen, bei der Gesetzesverletzung bloss ein Indiz für Fahrlässigkeit
darstellt und nicht selbst ein konstituierendes Element ist. 379 Dieser Ansatz findet
sich in Bezug auf die Verletzung von Polizeivorschriften auch in der schweizerischen
Lehre und Rechtsprechung. 380
Wird die Widerrechtlichkeit bei der Sorgfaltspflichttheorie über die Verletzung
gesetzlicher Sorgfaltspflichten bestimmt, bestehen kaum Unterschiede zur Schutznormtheorie.
Die Begriffe Schutznorm und gesetzliche Sorgfaltspflicht sind austauschbar.
Zur Problematik von geschriebenen Schutznormen, sprich Sorgfaltspflichten,
als Quelle von Verhaltenspflichten wird deshalb auf die entsprechenden
Ausführungen bei der Schutznormtheorie verwiesen (vgl. Rz. 188 ff. und
Rz. 203 ff.).
2.3 Richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten
Autoren wie ROBERTO und BOSSHARD versuchen die Mängel der Bestimmung der
Widerrechtlichkeit über das durchschnittliche Verhalten und über die gesetzlichen
Sorgfaltspflichten mittels richterlich bestimmter Sorgfaltspflichten aufzufangen. Es
ist nur dann gerechtfertigt, zur Beurteilung der Widerrechtlichkeit auf das durchschnittliche
Verhalten abzustellen, wenn dieses Verhalten zugleich Ausdruck eines
gesellschaftlichen Werturteils ist. Fehlt die Wertehierarchie, ist der Richter gehalten,
den Verhaltensmassstab selbst festzulegen. Zudem ist es den betroffenen Verkehrskreisen
überlassen, den für sie geltenden Sorgfaltsmassstab zum Nachteil der
Gesellschaft selbst festzulegen, weshalb auch hier der Richter korrigierend einzugreifen
hat. 381 Gesetzliche Sorgfaltspflichten sind ihrerseits wenig geeignet, da der
Gesetzgeber nur punktuell Normen erlassen kann, welche Verhaltenspflichten zur
Vermeidung von Schäden enthalten. Würde man sich nur auf diese Normen verlassen,
käme es zu unhaltbaren Schutzlücken. 382 Zudem muss bisweilen eine gesetz-
379 FLEMING, S. 126.; VON BAR II, N 220.
380 BeK-BREHM, OR 41 N 54, 185, m.w.H.
381 Vgl. Rz. 287.
382 Vgl. Rz. 198 ff.
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Widerrechtlichkeit
lich festgelegte Verhaltensnorm verletzt werden, um ein wichtigeres Recht zu
schützen, oder aber eine Verhaltensnorm ist veraltet und gewährleistet nur unzureichend
Schutz. 383
Eine angemessene Verteilung des Haftungsrisikos lässt sich deshalb im Grunde nur
durch die vom Richter für den Einzelfall festgelegten Sorgfaltspflichten erreichen.
ROBERTO leitet solche Sorgfaltspflichten aus einer allgemeinen Sorgfaltspflicht ab,
welche vom Richter im konkreten Fall zu konkretisieren sei. 384 Bei BOSSHARD ist
die eigentliche Aufgabe des Richters die „produktive Neuverteilung gesellschaftlicher
Handlungsrisiken durch erstmaliges Aufstellen entsprechender Verhaltensnormen
und deren Anwendung/Durchsetzung uno actu“. So habe nicht der Gesetzgeber
die Konkretisierung der Widerrechtlichkeit vorzunehmen, sondern der Richter.
385 Der Richter hat deshalb nicht zu prüfen, wie sich eine durchschnittlich vernünftige
Person in einer konkreten Situation verhalten hätte, sondern wie sie sich
aufgrund der konkreten Umstände des Sachverhalts hätte verhalten sollen. 386
Richterlich bestimmte Sorgfaltspflichten können deshalb auch mit dem Begriff der
erforderlichen Sorgfalt umschrieben werden. Die erforderliche Sorgfalt umschreibt
jenes Verhalten, welches in einer Gesellschaft als notwendig erachtet wird, um
Schäden an Rechten anderer zu vermeiden oder abzuwenden. 387 Ob eine Verhaltenspflicht
notwendig ist und worin diese besteht, bestimmt sich erst aufgrund der
Würdigung der konkreten Umstände. Dabei kann die empirische Feststellung des
Gebräuchlichen (der Verkehrssitten) allenfalls als ein Kriterium unter mehreren
betrachtet werden. 388
383 Vgl. Rz. 200 ff.
384 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 48 f.
385
BOSSHARD, S. 106; BRÜGGEMEIER, Prinzipien, S. 26; BRÜGGEMEIER, Schadensverteilung,
S. 450.
386
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49.
387
OSWALD S. 46 f.
388
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49; BOSSHARD, S. 88.

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
ROBERTO schlägt vor, dass der Richter bei der Bestimmung der erforderlichen
Sorgfalt Kriterien wie die Voraussehbarkeit, Kosten der Gefahrvermeidung,
Schwere der Konsequenzen, die betroffenen und verfolgten Interessen, die Verkehrserwartungen
zu berücksichtigen hat. 389 Bei BOSSHARD steht die umfassende
Abwägung der beteiligten Interessen im Vordergrund. So ist das Interesse des
Schädigers an dessen Handlungs- und Bewegungsfreiheit dem Interesse des Geschädigten
an der Erhaltung seiner gefährdeten Güter gegenüberzustellen. 390
Beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie die Bestimmung der Sorgfaltspflicht und
damit auch der Widerrechtlichkeit von einer Interessenabwägung und Wertung
durch den Richter abhängig machen. Ob ein Verhalten widerrechtlich ist oder
nicht, lässt sich nicht anhand eines abstrakten Massstabs bestimmen, sondern ergibt
sich erst aufgrund des wertenden Entscheids des Richters. Die damit verbundene
Rechtsunsicherheit lässt sich jedoch teilweise durch die fallgruppenweise Ausarbeitung
typischer Sorgfaltspflichten vermindern. 391
3 Verschulden als problematisches Kriterium
Wird die Widerrechtlichkeit über die Sorgfaltspflichtverletzung definiert, drängt
sich die Frage auf, wie das Verschulden zu definieren ist. In der Lehre wird die
Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit, die Einführung eines subjektivierten
Verschuldensbegriffs oder die Reduktion der Widerrechtlichkeit auf die
Prüfung von Rechtfertigungsgründen vorgeschlagen. Allen Ansätzen liegt das
berechtigte Anliegen zugrunde, die doppelte Prüfung des Verhaltens nach demselben
Kriterium einmal beim Verschulden und einmal bei der Widerrechtlichkeit zu
vermeiden. 392 Die vorgeschlagenen Definitionen kommen dabei diesem Ziel nahe,
sind jedoch aus näher darzulegenden Gründen problematisch.
389
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 49, 59 ff.
390
BOSSHARD, S. 110 f.
391
SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 7.
392
HONSELL, § 6 N 21; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 231; WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung,
S. 372; vgl. BOSSHARD, S. 118, 120.
113
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317
318
3 Verschulden als problematisches Kriterium
3.1 Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit
Der Ansatz HONSELLs, das Verschulden auf die Prüfung der Urteilsfähigkeit zu
beschränken, hat den Vorteil, dass damit die Prüfung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung
und die Prüfung der Urteilsfähigkeit konsequent getrennt sind.
Bei der Widerrechtlichkeit wird das Verhalten nach einem objektiven Massstab
geprüft, beim Verschulden werden die in Art. 16 ZGB eng umschriebenen subjektiven
Schuldausschliessungsgründe geprüft, d.h. die Urteilsunfähigkeit.
Rechtsethisch lässt sich an diesem Ansatz bemängeln, dass damit eine Kausalhaftung
für normwidriges Verhalten eingeführt wird, zumal die Prüfung der Urteilsfähigkeit
zumeist bedeutungslos wird. 393 Letztendlich haftet jeder Schädiger für
normabweichendes Verhalten, denn die Urteilsfähigkeit wird in der Regel gegeben
sein. Sollte die Urteilsfähigkeit ausnahmsweise fehlen, haftet der Urteilsunfähige
erstens dann, wenn die Urteilsunfähigkeit verschuldet war, zweitens, wenn sich die
Haftung aus Billigkeit aufdrängt. Damit kommt der Urteilsfähigkeit als haftungsbegrenzendem
Kriterium eine untergeordnete Rolle zu. Die Verschuldenshaftung
wird damit zur Kausalhaftung für normwidriges Verhalten. 394
HONSELLs Ansatz ist jedoch auch deshalb problematisch, da sich die Reduktion des
Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit terminologisch mit den Bestimmungen des
OR nicht vereinbaren lässt. Auch wenn Art. 41 OR den Begriff des Verschuldens
selbst nicht aufnimmt, wird er sowohl in Art. 43 I OR („Bestimmung des Ersatzes“)
als auch in Art. 53 OR („Verhältnis zum Strafrecht“) verwendet.
Art. 53 OR geht implizit davon aus, dass Schuld und Urteilsfähigkeit im Haftpflichtrecht
eigenständige Begriffe sind. Insofern scheint es fragwürdig, das Verschulden
in der Prüfung der Urteilsfähigkeit erschöpft zu sehen. Zudem würde die
Gleichsetzung von Urteilsfähigkeit und Verschulden die Bestimmung von
Art. 54 II OR („Haftung urteilsunfähiger Personen“) ad absurdum führen. Gemäss
Art. 54 II OR wird der vorübergehend Urteilsunfähige von der Haftung ausgenommen,
wenn er nachweist, dass die Urteilsunfähigkeit ohne sein Verschulden
393 BOSSHARD, S. 118.
394 BOSSHARD, S. 115, 119.
114

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
eingetreten ist. Wird aber das Verschulden mit der Urteilsfähigkeit gleichgesetzt,
profitiert der Schädiger nur dann von dieser Erleichterung, wenn er nachweist, dass
seine Urteilsunfähigkeit eingetreten ist, als er bereits urteilsunfähig war. 395 Dies ist
begrifflich bereits nicht möglich.
Die Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit hat zudem zur Folge, dass
die Absicht als haftpflichtrechtliches Kriterium höchstens noch im Rahmen von
Art. 41 II OR geprüft würde. Solange der Schädiger urteilsfähig ist, spielt es keine
Rolle, ob der Schädiger aus Unsorgfalt oder aus Absicht von der objektiven Sorgfalt
abgewichen ist. 396 Der Verzicht auf die Prüfung der Absicht steht jedoch im
Widerspruch zum Wortlaut von Art. 41 I OR, welcher neben der Fahrlässigkeit
gerade auch die Absicht als Haftungsvoraussetzung aufführt.
Zudem setzt Art. 43 I OR einen Verschuldensbegriff voraus, der abstufbar ist, da
der Richter den Schadenersatz unter Würdigung der Umstände und der Grösse des
Verschuldens bestimmt. 397 Eine Abstufung des Verschuldens wird im Gesetz in
den Grundzügen vorgeben. So ist nach Art. 44 II OR zwischen Absicht und Grobfahrlässigkeit
zu unterschieden, womit das Bestehen auch leichter Fahrlässigkeit
impliziert wird. Ein auf die Urteilsfähigkeit reduzierter Verschuldensbegriff vermag
dieser Unterscheidung nicht zu genügen. Die Urteilsfähigkeit ist in Bezug auf
eine bestimmte Schädigung entweder als gegeben zu betrachten oder nicht. Zwischenstufen
reduzierter Urteilsfähigkeit sollen im Haftpflichtrecht wie im Vertragsrecht
gerade nicht bestehen. 398
395
Setzt man Verschulden mit Urteilsfähigkeit gleich, würde die Bestimmung von Art. 54
II OR folgendermassen lauten: „Hat jemand vorübergehend die Urteilsfähigkeit verloren
und in diesem Zustand Schaden angerichtet, so ist er hierfür ersatzpflichtig, wenn
er nicht nachweist, dass dieser Zustand ‚in einem Zeitpunkt der Urteilsunfähigkeit‘ eingetreten
ist.“
396
BURCKHARDT, S. 521.
397
Die Bedeutung dieser Norm ist umstritten. Vgl. OFTINGER/STARK I, § 7 N 12; ROBER-
TO, Haftpflichtrecht, N 828 ff.
398
BaK-BIGLER-EGGENBERGER, ZGB 16 N 40; OSWALD, S. 41; AEBI, S. 94 f.; WIDMER,
Anwaltspraxis, N 2.72.
115
319
320

321
322
323
3 Verschulden als problematisches Kriterium
Ein Teil der Lehre vertritt zwar auch die Meinung, dass sich der Urteilsfähigkeits-
begriff abstufen lässt, d.h., nebst Urteilsfähigkeit und Urteilsunfähigkeit kann auch
die verminderte Urteilsfähigkeit unterschieden werden. 399 Der Ansatz der vermin-
derten Urteilsfähigkeit ist jedoch gerade bei der Sorgfaltspflichttheorie abzulehnen.
Spricht man sich für die Prüfung des Verhaltens nach objektiven Kriterien aus, so
muss der Subjektivismus im Rahmen der Urteilsfähigkeit beschränkt bleiben. 400
Wird die verminderte Urteilsfähigkeit anerkannt, werden persönliche Eigenschaften,
die durch die Objektivierung des Sorgfaltsbegriffs ausgeschlossen wurden,
über den Umweg der Urteilsfähigkeit wieder zugelassen. 401
Aus diesen Gründen ist die Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit
zwar ein taugliches Mittel, die doppelte Prüfung des Verhaltens nach gleichen
objektiven Kriterien zu vermeiden, die damit verbundene Neudefinition des Verschuldens
ist jedoch mit den übrigen Bestimmungen des Haftpflichtrechts kaum
vereinbar.
3.2 Subjektivierter Verschuldensbegriff
BOSSHARD umgeht die mit der Reduktion des Verschuldens auf die Urteilsfähigkeit
verbundene Kritik, indem er einen subjektivierten Verschuldensbegriff vorschlägt.
Bei der Widerrechtlichkeit soll das Verhalten somit nach einem objektiven Massstab
geprüft werden (objektive Sorgfaltspflichtverletzung), während beim Verschulden
ein subjektiver Massstab zur Anwendung gelangt (subjektive Sorgfaltspflichtverletzung).
Mit anderen Worten fordert BOSSHARD eine Resubjektivierung
des Verschuldens, wie dies auch von weiteren Stimmen der Lehre in letzter Zeit
gefordert wird. 402
399
HONSELL, § 6 N 9; BGE 111 II 89, 91 (Erw. 1).; BGE 104 II 184, 185 f. (Erw. 1);
BGE 102 II 364, 368 (Erw. 4); a.M. REY N 831; KELLER, S. 123; OFTINGER/STARK I,
§ 5 N 123 f.; BeK-BREHM, OR 41 N 172a.
400
AEBI, S. 95; OSWALD, S. 41.
401 OSWALD, S. 41.
402 ERLÄUTERNDER BERICHT, S. 119.
116

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
BOSSHARDs Vorschlag wirft jedoch die Frage auf, inwieweit das Verschulden
subjektiviert sein soll, d.h., welche subjektiven Einwände der Schädiger vorbringen
kann, um sein objektiv normwidriges Verhalten zu entschuldigen. Je weniger subjektive
Einwände der Schädiger vorbringen kann, desto stärker nähern sich Widerrechtlichkeit
und Verschulden an.
Zudem dürfte die Abgrenzung zwischen objektiver und subjektiver Sorgfaltspflichtverletzung
schwer fallen, wenn dem typisierten Sorgfaltsbegriff der Vorzug
gegeben wird. Ist z.B. der Schädiger aufgrund seiner (mangelnden) Ausbildung
respektive seines jugendlichen Alters nicht in der Lage, die Folgen seines Handelns
abzuschätzen und eine Schädigung zu verhindern, hat der Richter stets zu fragen,
ob hier eine objektive oder subjektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt. Rechnet
man den Schädiger einem bestimmten Typus zu, für den ein tieferer Sorgfaltsstandard
gilt, so hat der Schädiger nicht widerrechtlich gehandelt. Möchte man hingegen
die Ausbildung und das Alter als subjektives Merkmal des Verschuldens
auffassen, so hat der Schädiger zwar widerrechtlich gehandelt, aber womöglich nur
leicht oder gar nicht schuldhaft. In einem Fall haftet der jugendliche Schädiger gar
nicht, da die Widerrechtlichkeit fehlt, im andern Fall wird die Haftung allenfalls
wegen leichten Verschuldens reduziert. Diese Unterscheidung lässt sich aber nur
schwer rechtfertigen.
Gar nicht abgrenzen lassen sich objektive und subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
und damit Widerrechtlichkeit und Verschulden, wenn der Schädiger aufgrund
besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten für einen höheren Sorgfaltsstandard einzustehen
hat. Zur Beurteilung der Widerrechtlichkeit muss damit auf einen subjektiven
Sorgfaltsstandard abgestellt werden, der letztlich mit demjenigen des Verschuldens
identisch ist. Damit würde jedoch das Verhalten sowohl bei der Widerrechtlichkeit
als auch dem Verschulden nach demselben Kriterium überprüft, was
gerade vermieden werden sollte.
3.3 Modifizierter Verschuldensbegriff
Bei WERRO lässt sich die doppelte Prüfung des Verhaltens sowohl beim Verschulden
als auch bei der Widerrechtlichkeit damit umgehen, indem nach ihm das ob-
117
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3 Verschulden als problematisches Kriterium
jektiv unsorgfältige Verhalten die Widerrechtlichkeit indizieren soll. Damit entfällt
eine weitere Prüfung des Verhaltens im Rahmen der Widerrechtlichkeit.
Im Grunde kann WERROs Ansatz als Weiterentwicklung der bisher als überwunden
geglaubten subjektiven Widerrechtlichkeitstheorie verstanden werden. Die Widerrechtlichkeit
wird nun nicht mehr durch jede schädigende Handlung indiziert, 403
sondern erst durch eine unsorgfältige schädigende Handlung. WERRO setzt voraus,
dass der Widerrechtlichkeitsbegriff auf die Prüfung der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen
reduziert wird. Dieser Ansatz überzeugt jedoch nicht, denn es ist
nicht ersichtlich, welche Rechtfertigungsgründe im Rahmen der Widerrechtlichkeit
geprüft werden können.
Weder die Einwilligung, das überwiegende private und öffentliche Interesse noch
das Gesetz kommen aber als Rechtfertigungsgrund in Frage. Da nach herrschender
Lehre der Geschädigte nicht in eine unsorgfältige Schädigung einwilligen kann, ist
dem unsorgfältigen Schädiger der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung verwehrt.
Für eine unsorgfältige Handlung lässt sich auch nie ein überwiegendes öffentliches
oder privates Interesse ausmachen. Auch im Gesetz findet sich keine
Ermächtigung zur unsorgfältigen Schädigung. Indem WERRO die Widerrechtlichkeit
auf die Prüfung von (nichtexistenten) Rechtfertigungsgründen reduziert, verzichtet
er letztendlich auf das Erfordernis der Widerrechtlichkeit und wendet sich
vollends dem französischen Konzept des „faute“ zu, welches die Haftung im
Grunde einzig aufgrund des Verschuldens bestimmt. 404 Dies ist jedoch mit dem
klaren Wortlaut von Art. 41 OR unvereinbar, welcher die Widerrechtlichkeit als
Haftungsvoraussetzung verlangt.
WERROs Ansatz hat den weiteren Nachteil, dass die Widerrechtlichkeit einer Handlung
stets die Unsorgfalt des Schädigers voraussetzt. Wie bereits in Rz. 288 ff.
gezeigt wurde, ist die Berücksichtigung subjektiver Elemente im Rahmen der Wi-
403
Vgl. Rz. 48.
404
WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 357.
118

Kapitel 3: Die Sorgfaltspflichttheorie
derrechtlichkeit für die Ausübung von Defensivansprüchen des (potenziell) Geschädigten
problematisch. 405
4 Fazit
Die Sorgfaltspflichttheorie lässt sich als Weiterentwicklung der Schutznormtheorie
betrachten, wobei die massgebenden Verhaltenspflichten über Sorgfaltspflichten
statt Schutznormen bestimmt werden. Gerade bei gesetzlich fixierten Sorgfaltspflichten
und bei richterlich bestimmten Sorgfaltspflichten ist der Unterschied
zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Schutznormen nur gering. Die Sorgfaltspflichttheorie
zeichnet sich indessen dadurch aus, dass sie auf die willkürliche
Unterscheidung zwischen Schäden an absoluten Rechten und Schäden am Vermögen
verzichtet und die Widerrechtlichkeit anhand eines einzigen Massstabs, der
Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht und unabhängig vom Erfolgseintritt,
beurteilt. Im Unterschied zur objektiven Widerrechtlichkeitstheorie kann daher auf
einen zweigeteilten Widerrechtlichkeitsbegriff verzichtet werden.
Eine wesentliche Kritik an der Sorgfaltspflichttheorie muss indessen lauten, dass je
nach gewähltem Sorgfaltsbegriff das Ziel des Haftpflichtrechts, einen wertenden
Ausgleich widerstreitender Interessen herzustellen, verfehlt wird. 406 Wird etwa zur
Bestimmung der Sorgfalt auf das Durchschnittsverhalten des Verkehrskreises des
Schädigers abgestellt, wird damit einseitig den Interessen des Schädigers Rechnung
getragen. 407 Die Berücksichtigung des Durchschnittsverhaltens gründet in der
fehlerhaften Annahme, dass das durchschnittliche Verhalten stets der Norm, d.h.,
dem gesellschaftlich akzeptierten Verhalten, entspricht. Das durchschnittliche
Verhalten spiegelt jedoch nicht die Interessen der Gesellschaft als Ganzes wider,
sondern nur die Sonderinteressen des Schädigers respektive des Verkehrskreises,
dem er angehört.
405 Vgl. Rz. 288 ff.
406 GIGER, S. 395; PERRIG, S. 327; SCHWENZER, N 22.20; FLEMING, S. 6.
407 Vgl. Rz. 288 ff.
119
331
332

333
4 Fazit
Letztendlich lassen sich die Interessen von Schädiger und Geschädigtem nur dann
ausbalancieren, wenn die Widerrechtlichkeit einer Handlung weder aus der Perspektive
des Schädigers noch der des Geschädigten bestimmt wird, sondern aus der
Sicht eines objektiven Dritten. 408 Dies lässt sich mit richterlich bestimmten Sorgfaltspflichten
erreichen. Der Richter hat aus der Sicht des objektiven Dritten zu
bestimmen, welches Verhalten für das Zusammenleben in der Gesellschaft erforderlich
ist.
408 KEETON, S. 359: „No better general statement can be made than that the courts will
find a duty where, in general, reasonable persons would recognize it and agree that it
exists.“
120

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Kapitel 4: DIE INTERESSENTHEORIE
1 Übersicht
Die bisher dargestellte subjektive Widerrechtlichkeitstheorie, die objektive Widerrechtlichkeitstheorie
und die Sorgfaltspflichttheorie überzeugen aus verschiedenen
systematischen, theoretischen oder praktischen Gründen nicht vollends. Mit der
Interessentheorie wird eine alternative Widerrechtlichkeitstheorie präsentiert, welche
die aufgezeigten Problembereiche zu vermeiden versucht. Gemäss der hier
vertretenen Auffassung ist die Widerrechtlichkeit einer schädigenden Handlung
dann gegeben, wenn das Integritätsinteresse des Geschädigten das Aktivitätsinteresse
des Schädigers überwiegt. Die Widerrechtlichkeit einer Schädigung lässt sich
deshalb nicht abstrakt aufgrund der Tatsache der Verletzung eines „absoluten
Rechts“ oder einer geschriebenen „Schutznorm“ bestimmen, sondern erst aufgrund
einer umfassenden Interessenabwägung durch den Richter.
Die Interessentheorie wird in sechs Teilen vorgestellt:
• Zunächst wird das Verhältnis zwischen der Bestimmung der Widerrechtlichkeit
aufgrund einer Interessenabwägung und aufgrund der Verletzung
einer individuell-konkreten Verhaltenspflicht analysiert („Grundprinzipien
der Widerrechtlichkeit“) (vgl. Rz. 341 ff.).
• Der Begriff der Widerrechtlichkeit wird formell definiert als Überwiegen
des Integritätsinteresses des Geschädigten und der Öffentlichkeit gegenüber
dem Aktivitätsinteresse des Schädigers („formelle Definition der
Widerrechtlichkeit“) (vgl. Rz. 359 ff.).
• Verschiedene Kriterien werden vorgestellt, anhand deren der Richter seine
Interessenabwägung vornehmen und abstützen kann („materielle Definition
der Widerrechtlichkeit“) (vgl. Rz. 362 ff.).
• Der Verschuldensbegriff wird als Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit
des Schadens durch den Schädiger definiert („Gegenstand des Verschuldens“)
(vgl. Rz. 392 ff.).
121
334
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
122
• Sodann wird die Abstufung des Verschuldens in Vorsatz, Fahrlässigkeit
und Urteilsfähigkeit dargestellt („Mass des Verschuldens“)
(vgl. Rz. 421 ff.).
• Abschliessend sollen einige Haftpflichtfälle anhand der Interessentheorie
exemplarisch beurteilt werden („Praktische Anwendung der Interessentheorie“)
(vgl. Rz. 450 ff.).
2 Definition der Widerrechtlichkeit
2.1 Interessenabwägung und Verhaltenspflichtverletzung als Grundprinzipien
zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit
Bevor der Widerrechtlichkeitsbegriff für die Interessentheorie definiert werden
kann, sind einige Ergebnisse der analysierten Theorien zu berücksichtigen. Bei
näherer Betrachtung fällt auf, dass bei sämtlichen Theorien zwei scheinbar unterschiedliche
Prinzipien zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit vorkommen: die
Bestimmung der Widerrechtlichkeit aufgrund einer Interessenabwägung sowie die
Bestimmung der Widerrechtlichkeit aufgrund der Verletzung einer bestimmten
Verhaltenspflicht:
• Die subjektive Widerrechtlichkeitstheorie folgt ganz dem Prinzip der Interessenabwägung,
weil erst zu prüfen ist, ob der Schädiger sich auf ein
überwiegendes privates oder öffentliches Interesse berufen kann. 409
• Bei der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie ist zu unterscheiden, ob die
Erfolgsunrechtstheorie oder die Verhaltensunrechtstheorie zur Anwendung
gelangt. Bei der Erfolgsunrechtstheorie findet eine Interessenabwägung
ex ante statt, indem bestimmte Rechte wie Leib und Leben, Gesundheit,
Eigentum usw. als absolut geschützt erklärt werden. Mit anderen
Worten wird das Integritätsinteresse des Geschädigten generell dem Aktivitätsinteresse
des Schädigers vorgezogen. 410 Diese vorweggenommene
409 Vgl. Rz. 63.
410 Vgl. Rz. 88.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Interessenabwägung kann jedoch bei überwiegenden gegenteiligen Interessen
(Rechtfertigungsgründen) nachträglich korrigiert werden. 411 Der
Ansatz der Verhaltenspflichtverletzung gelangt bei der Bestimmung des
Schutzbereichs nicht genau abgrenzbarer absoluter Rechte, z.B. bei den
Persönlichkeitsrechten, zur Anwendung. Die Abgrenzung des Schutzbereichs
läuft dabei oft auf die Umschreibung einer Verhaltenspflicht hinaus.
412 Zudem lässt sich die Widerrechtlichkeit passiver Schädigungen
bzw. reiner Vermögensschäden nur über Garantenpflichten und Schutznormen
bestimmen, welche wiederum Verhaltenspflichten darstellen. 413
Die Schutznormtheorie baut ihrerseits primär auf dem Prinzip der Verletzung
von Verhaltenspflichten auf. Eine Interessenabwägung findet insofern
statt, als der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung 414 und der Richter bei
der Auslegung der Schutznormen die Interessen der Betroffenen berück-
sichtigt. 415
• Wie bei der Schutznormtheorie bestimmt sich auch bei der Sorgfaltspflichttheorie
die Widerrechtlichkeit aufgrund der Verletzung einer Verhaltenspflicht.
416 Soweit die Sorgfalt richterlich bestimmt wird, spielt
auch hier das Prinzip der Interessenabwägung eine wichtige Rolle. 417
Nachfolgend werden die Prinzipien zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit –
Interessenabwägung und Verhaltenspflichtverletzung – sowie deren Verhältnis
zueinander untersucht. Durch den Beitrag PERRIGs „Über den Begriff der Widerrechtlichkeit“,
welcher sich vornehmlich mit dem Prinzip der Interessenabwägung
auseinandersetzt, sowie den Beitrag SCHÖNENBERGERs über „Die Dritte Wider-
411 Vgl. Rz. 102 f.
412 Vgl. Rz. 122 f.; BERICHT DER STUDIENKOMMISSION, S. 41.
413 Vgl. Rz. 139 ff.
414 Vgl. Rz. 203.
415 Vgl. Rz. 188 ff.
416 Vgl. Rz. 247.
417 Vgl. Rz. 309 ff.
123
344
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346
347
2 Definition der Widerrechtlichkeit
rechtlichkeitstheorie“, welcher das Prinzip der Verhaltenspflichtverletzung thema-
tisiert, werden diese Thesen belegt und anschliessend in Relation zueinander gesetzt.
2.1.1 Widerrechtlichkeit als Ergebnis einer Interessenabwägung
In seinem Beitrag setzt PERRIG die Widerrechtlichkeit schlechthin mit dem Ergebnis
einer Interessenabwägung gleich. Die Widerrechtlichkeit besteht darin, dass das
Interesse, das geschädigt wird (Integritätsinteresse), höher bewertet wird als das
Interesse an der schädigenden Handlung (Aktivitätsinteresse). 418 Die Beurteilung
der im Spiel stehenden Interessen hat vom Standpunkt der Rechtsordnung respektive
des Richters aus zu geschehen, d.h. von einer objektiven und neutralen Warte.
Ob die beteiligten Interessen aus Sicht des Schädigers zu erkennen waren, ist nach
PERRIG eine Frage des Verschuldens. 419
Der Ansatz, wonach sich die Widerrechtlichkeit einer Schädigung primär aufgrund
einer Interessenabwägung bestimmen lässt, kann anhand der Verletzung des Persönlichkeitsrechts
illustriert werden. Wird eine Tatsache publiziert, die das Ansehen
einer Person herabsetzt, lässt sich ein Urteil, ob die Publikation widerrechtlich
ist, erst aufgrund einer Interessenabwägung fällen. 420 Berichtet z.B. eine Zeitung
über die Straftaten eines Politikers, wie Bestechung, die mit seinem Amt in
Verbindung stehen, wird das Interesse der Öffentlichkeit an dieser Information
höher gewertet als das Interesse des Politikers, nicht in seinem Ansehen herabgesetzt
zu werden. Enthält der Bericht hingegen Details, welche der Intimsphäre des
Politikers zuzurechnen sind und keinen Bezug zu seiner politischen Tätigkeit ha-
418 PERRIG, S. 326 f.; vgl. auch GABRIEL, N 834: GABRIEL stellt das „Erhaltungsinteresse
des Betroffenen“ dem „Entfaltungsinteresse des Schädigers“ gegenüber.
419 PERRIG, S. 327 f.
420 Vgl. BGE 91 II 401, 406 (Erw. 3e): „Bei der Auslegung von Art. 28 ZGB hat der Richter
allerdings den besondern Verhältnissen der Presse Rechnung zu tragen, wie er
überhaupt in Fällen, in denen sich Rechte und Interessen der einen Partei mit denen
der andern nicht vertragen, nach Recht und Billigkeit entscheiden muss, welches Recht
vor dem andern zurückzutreten habe (vgl. Art. 4 ZGB).“
124

Kapitel 4: Die Interessentheorie
ben, fehlt ein entsprechendes öffentliches Interesse. Das Interesse des Politikers
überwiegt, der Bericht ist widerrechtlich.
2.1.2 Widerrechtlichkeit als Verhaltenspflichtverletzung
SCHÖNENBERGER setzt indessen in seinem Beitrag die Widerrechtlichkeit mit der
Verletzung einer Schutzpflicht gleich. Er versteht darunter die Verpflichtung des
Schädigers, gegenüber dem Geschädigten potenziell schädigende Handlungen oder
Unterlassungen zu vermeiden. Die Schutzpflicht enthält im Grunde die Anweisung,
wie sich eine Person in einer konkreten Situation im Allgemeinen zu verhalten
hat. 421 Bestand und Umfang entsprechender Schutzpflichten seien dabei von
der Lehre und Rechtsprechung fallgruppenweise zu begründen. 422
Bei einem Haftpflichtfall ist in einem ersten Schritt abzuklären, ob in der konkreten
Situation eine entsprechende Schutzpflicht (Schadensvermeidungs- respektive
Schadensverhütungspflicht) besteht. In einem zweiten Schritt ist abzuklären, ob
diese Pflicht in fahrlässiger Weise verletzt worden ist. 423 Damit trennt SCHÖNEN-
BERGER Pflichtverletzung und Verschulden. 424
SCHÖNENBERGERs Ansatz entspricht damit in etwa dem Haftungstatbestand von
Art. 754 OR („Verantwortlichkeit des Verwaltungsrats“), bei dem zwischen
Pflichtverletzung und Verschulden unterschieden wird. 425 Auch hier haben sich
Fallgruppen von Verhaltenspflichten herausgebildet, etwa in Bezug auf die Oberleitung
der Gesellschaft, Organisation der Gesellschaft, finanzielle Führung, Verletzung
von Gesetz oder Statuten usw., wobei sich die konkreten Verhaltenspflichten
erst aus der Kasuistik ergeben. 426 Zur pflichtgemässen finanziellen Führung
421 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 6 f., 10.
422 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 6 f., 12.
423 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 7.
424 SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 9, 11.
425 WIEGAND, S. 10, m.w.H.
426
MÜLLER, Anwaltspraxis, N 17.45, mit weiteren Pflichten und dazugehörender Kasuistik
und Nachweisen.
125
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
gehört z.B. die Vermeidung von Klumpenrisiken. Geht nun der Verwaltungsrat
bewusst oder fahrlässig Klumpenrisiken ein, verletzt er diese Pflicht schuldhaft
und haftet gegenüber der Gesellschaft und den Aktionären. 427
SCHÖNENBERGER befasst sich in seinem Beitrag nur knapp mit der Frage, nach
welchen materiellen Gesichtspunkten Verhaltenspflichten zum Schutz des Geschädigten
aufzustellen sind. Erwähnt werden die Voraussehbarkeit des Schadens und
dessen Höhe für den Schädiger, die Möglichkeit des Schädigers, einen solchen
Schaden zu vermeiden, sowie rechtspolitische Gründe im Allgemeinen, welche
eine Schutzpflicht bejahen oder verneinen. 428
2.1.3 Verhältnis der Interessenabwägung zur Verhaltenspflichtverletzung
Das Verhältnis zwischen der Interessenabwägung und der Verhaltenspflichtverletzung
als Ansätze zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit entspricht meines Erachtens
weitgehend dem Verhältnis zwischen den beiden Arten des Richterrechts, d.h.
der Rechtsfindung nach der gesetzgeberischen Methode (Art. 1 ZGB) und nach
richterlichem Ermessen (Art. 4 ZGB).
Bei der Rechtsfindung nach der gesetzgeberischen Methode (modo legislatoris) ist
es die Aufgabe des Richters, Lücken im Recht durch Formulierung generellabstrakter
Normen zu füllen. Er hat dabei nach der Regel zu entscheiden, die er als
Gesetzgeber aufstellen würde, und der bewährten Lehre und Überlieferung zu
folgen. Die Parallelen zwischen der Formulierung generell-abstrakter Normen und
dem Bestimmen von haftpflichtrechtlichen Verhaltenspflichten sind nahelie-
gend. 429
427
Vgl. WIEGAND, S. 12: WIEGAND befürwortet die Trennung von Pflichtwidrigkeit und
Verschulden, geht aber zugleich von einer praktischen Identität von Pflichtverletzung
und objektiviertem Fahrlässigkeitsbegriff aus. Der einzige Unterschied bestehe darin,
dass auf die konkrete Situation abgestellt werden kann und dadurch gewisse Subjektivierungsmöglichkeiten
vorhanden seien.
428
SCHÖNENBERGER, Die Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 8.
429 Man könnte allenfalls einwenden, dass es verfehlt ist, für den gesamten Bereich des
Haftpflichtrechts von einer Lücke zu sprechen.
126

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Die gesetzgeberische Methode erfüllt die Forderung, wonach Kategorien bzw.
Fallgruppen von Verhaltenspflichten aufzustellen sind, da der Richter angehalten
ist, generell-abstrakt zu legiferieren und eine entsprechende Regel bzw. Fallnorm
aufzustellen. Er ist dabei an allgemeine Rechtsstaatsprinzipien gebunden. So muss
seine Entscheidung regelfähig sein (Universalisierbarkeitsprinzip). Der Richter
darf mit andern Worten nicht nach einzelfallbezogenen Gefühlserwägungen entscheiden,
sondern er muss eine Fallnorm formulieren, die auch für die Beurteilung
anderer gleich oder ähnlich gelagerter Fälle geeignet wäre. 430 Damit wird auch
dem Gebot der Rechtsgleichheit Rechnung getragen. Nur wenn das Präjudiz auf
einer generalisierten Fallnorm beruht, hat ein späterer Richter eine Grundlage für
die Prüfung, ob seine Entscheidung dem Gleichbehandlungsgrundsatz entspricht.
Zudem sind die Entscheidungen offen und autonom vom Richter zu begründen:
„Nur so setzt sich das Richterrecht dem demokratischen Diskurs aus, wird es diskutierbar
und akzeptanzfähig.“ 431 Neben den allgemeinen Rechtsstaatsprinzipien
hat der Richter bei seinen Entscheiden auch inhaltliche Orientierungsgesichtspunkte
zu berücksichtigen, wie Präjudizien, Lehre, allgemeine Rechtsgrundsätze,
Rechtsvergleichung usw. 432
Wo das Gesetz auf das Ermessen des Gerichts, die Würdigung der Umstände oder
wichtige Gründe verweist, hat der Richter nach Recht und Billigkeit zu entscheiden,
sprich, es gelangt die Rechtsfindung nach richterlichem Ermessen (kasuistische
Methode) zur Anwendung. Wird die Widerrechtlichkeit als Ergebnis einer
umfassenden Interessenabwägung definiert, findet sich der notwendige Verweis
auf das Ermessen des Richters in Art. 41 OR. Der Richter hat nach dieser Methode
eine individuell-konkrete Norm zu setzen respektive Entscheidung zu fällen. 433
Gemäss KRAMER wird dies traditionellerweise so verstanden, dass der Richter
kasuistisch zu verfahren hat, d.h. eine Entscheidung zu fällen hat, die der Singulari-
430 KRAMER, Methodenlehre, S. 216 f., m.w.H.
431 KRAMER, Methodenlehre, S. 218.
432 KRAMER, Methodenlehre, S. 221 ff.
433 SCHLUEP, Demaskierung, S. 203.
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
tät des Einzelfalls am besten entspricht. So habe der Richter sich mit allen Besonderheiten
des Tatbestands auseinanderzusetzen und dürfe sich nicht – abstrahierend
bzw. regelbildend – von vornherein auf einige wenige Elemente des Falles be-
schränken. 434
Gemäss KRAMER ist jedoch nicht einleuchtend, dass auf dem Gebiet des Richterrechts
zwei prinzipiell unterschiedliche methodische Ansätze beachtet werden, je
nachdem, ob das Richterrecht praeter oder intra legem zu entwickeln ist. 435 Der
Richter müsse auch das auf Art. 4 ZGB gestützte Urteil objektiv begründen und sei
darüber hinaus an das Gleichbehandlungsgebot gebunden. Das Abstellen auf die
Umstände des Einzelfalls bei der kasuistischen Methode bedeute nicht, dass der
Fall in seiner Einmaligkeit schlechthin zu würdigen sei, vielmehr habe der Richter
seine Lösung „unter Beachtung aller wesentlichen und nur der wesentlichen Besonderheiten
zu motivieren“. 436 Um nicht zu riskieren, nur gefühlsmässig, d.h.
nach Mitleid, Laune oder Fantasie, zu entscheiden, habe der Richter die typischen
Elemente herauszuheben, welche geeignet seien, für ähnliche Tatbestände in Betracht
gezogen zu werden. Daher muss der Richter auch im Bereich des Art. 4 ZGB
verallgemeinerungsfähige Kriterien respektive abstrakte Regeln erarbeiten. Der
französische Gesetzestext verlangt demgemäss auch eine Entscheidung nach den
„règles du droit et de l’équité“. 437 Umgekehrt gilt es auch bei einer Entscheidung
nach der gesetzgeberischen Methode die konkrete Interessenlage und die Einzelheiten
des Sachverhalts zu beurteilen. Auch hier darf der Richter nicht a priori
„schematisieren, formalisieren, normieren“, um den Fall unter der so gebildeten
generell-abstrakten Norm zu subsumieren. Auch bei Art. 1 II ZGB bilden die besonderen
Umstände des Einzelfalls die Basis, um die für die Regelbildung relevanten
Umstände herauszuarbeiten.
434 KRAMER, Methodenlehre, S. 241, m.w.H.
435 KRAMER, Methodenlehre, S. 242.
436 KRAMER, Methodenlehre, S. 242 f.; vgl. auch BeK-MEIER-HAYOZ, ZGB 4 N 16 ff.
437 SPR-II-DESCHENAUX, S. 132.
128

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Im Ergebnis sind deshalb keine methodischen Unterschiede zwischen der gesetzgeberischen
(Art. 1 II ZGB) und der kasuistischen Methode (Art. 4 ZGB) auszumachen.
438 Bei der Interessenabwägung gilt es im Sinne der kasuistischen Methode
typische Elemente des Sachverhalts herauszuarbeiten und abstrakte Verhaltensregeln
aufzustellen, um damit dem Gleichbehandlungsgebot gerecht zu werden.
Beim Aufstellen von Verhaltenspflichten entsprechend der gesetzgeberischen Methoden,
ist der Richter gehalten, offenzulegen, welche Interessen für und gegen
eine Verhaltenspflicht sprechen. Das Verhältnis zwischen der Bestimmung der
Widerrechtlichkeit als Ergebnis einer Interessenabwägung und der Verletzung
einer Schutzpflicht wird mit folgendem Zitat treffend beschrieben:
„[…] ‘duty’ is not sacrosanct in itself, but is only an expression
of the sum total of those considerations of policy
which lead the law to say that the plaintiff is entitled to
protection.“ 439
Sinngemäss übersetzt, kann aus dem Umstand, dass eine Verhaltenspflicht besteht,
noch keine Haftpflicht hergeleitet werden. Denn die Verhaltenspflicht ist selbst
bloss Ausdruck respektive Ergebnis sämtlicher Überlegungen und Abwägungen,
welche die Rechtsordnung und den Richter zur Überzeugung bringen, dass der
Geschädigte berechtigt ist, seinen Schaden auf den Schädiger abzuwälzen. 440 Das
Urteil über die Widerrechtlichkeit gründet letztlich auf einer Interessenabwägung,
findet aber ihren Ausdruck in der vom Richter aufgestellten Verhaltenspflicht. 441
438 KRAMER, Methodenlehre, S. 243.
439
KEETON, S. 358.
440
Vgl. HOLMES, S. 78: „The philosophical habit of the day, the frequency of legislation,
and the ease with which the law may be changed to meet the opinions and wishes of the
public, all make it natural and unavoidable that judges as well as others should openly
discuss the legislative principles upon which their decisions must always rest in the
end, and should base their judgments upon broad considerations of policy to which the
traditions of the bench would hardly have tolerated a reference fifty years ago.“
441
Vgl. auch VON BÜREN, S. 259: „Wie überall sonst im Recht, ist auch hier [bei der
Verschuldenshaftung] das Interesse das Mass aller Dinge, und die nach Ordnung strebende
Betrachtung hat daher die Interessen aufzusuchen, welche gegen Schädigung
129
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
2.2 Formelle Definition der Widerrechtlichkeit
Bei der Interessentheorie bestimmt sich die Widerrechtlichkeit einer schädigenden
Handlung letztlich aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung seitens des
Richters, wie sie PERRIG vorschlägt. Widerrechtlichkeit besteht demnach darin,
„dass das geschädigte Interesse dem Interesse an der schädigenden Handlung
vorgeht“. 442
BURCKHARDT hat bereits 1902 in den Grundzügen formuliert, wie die Interessenabwägung
vorzunehmen ist: „Ueberall, wo Schadenstragung und -abwälzung in
Betracht stehn, wollen sie von drei Interessen aus abgewogen sein, von denen zwei
jedenfalls sich widerstreiten: vom Interesse des Schadensbetroffenen, des eventuell
Uebernahmepflichtigen und der Gesamtheit.“ 443 Das heisst, dass neben dem Interesse
des Schädigers an der Wahrnehmung seiner Handlungs- und Bewegungsfreiheit
sowie dem Interesse des Geschädigten an der Erhaltung seiner Rechte 444 auch
öffentliche bzw. volkswirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. 445 Die Aufgabe
des Richters besteht somit darin, die betroffenen Interessen zu identifizieren und zu
bewerten. Er kann sich nicht damit begnügen festzuhalten, ein bestimmtes Verhalten
sei geboten oder verboten.
Indem die Interessentheorie auf vorbestimmte und starre Kriterien der Widerrechtlichkeit
verzichtet, wie z.B. die Definition absoluter Rechte oder geschriebener
Schutznormen, ermöglicht sie eine flexible Beurteilung von Haftpflichtfällen. Dies
dürfte zunächst zur Rechtsunsicherheit führen, da nun stärker als bisher der Entscheid
über die Widerrechtlichkeit eines Verhaltens vom Ermessensentscheid des
Richters abhängt. Diese Rechtsunsicherheit lässt sich jedoch durch das Herausarbeiten
von Fallgruppen, bei denen regelmässig nach Abwägung der beteiligten
geschützt sein wollen, und hat sie den gegenwirkenden Interessen gegenüberzustellen,
welche auf eine Verletzung tendieren.“
442
PERRIG, S. 327.
443
BURCKHARDT, S. 476.
444
BOSSHARD, S. 111, m.w.H.
445
BURCKHARDT, S. 524 f.; VON BAR II, N 225 (Fn. 299).
130

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Interessen ein bestimmtes Verhalten geboten oder verboten wird, bannen. 446 Be-
reits jetzt finden sich in der Lehre und Rechtsprechung Entwicklungen in diese
Richtung. So konkretisiert das Bundesgericht fortlaufend die zu beachtenden Verhaltenspflichten
von z.B. Skiliftbetreibern, wenn auch noch unter dem Titel der
Sorgfalt. 447 Ferner finden sich zahlreiche Dissertationen, welche sich mit den Verhaltenspflichten
von bestimmten Berufsgruppen oder bestimmten Tätigkeitsbereichen,
wie etwa der Haftung des Arztes, des Rechtsanwalts, des Gutachters, der
Banken, auseinandersetzen.
2.3 Materielle Definition der Widerrechtlichkeit im Einzelfall
Die Interessenabwägung als solche ist keine Methode, zumal die abzuwägenden
Interessen „kein ‚natürliches‘, durch juristische Schwerkraft bestimmtes Gewicht
haben, das dann die Waage mit Selbstverständigkeit vergleichen könnte“. 448 Dem
Richter bleibt es deshalb nicht erspart, selbst Gewichtungen vorzunehmen und
diese Präferenzen etwa durch Offenlegung der Wertungskriterien zu begründen. 449
Nachfolgend werden verschiedene Kriterien dargestellt, die bei der Interessenabwägung
als Richtlinien und Orientierungspunkte gelten können.
2.3.1 Wert des betroffenen Rechts
Bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit einer schädigenden Handlung spielt der
Wert des gefährdeten Rechtsguts bzw. Rechts eine zentrale Rolle. So leuchtet es
ein, dass der Schutz menschlichen Lebens Vorrang haben soll vor rein finanziellen
Interessen. 450 Hingegen lässt sich streiten, ob dem Eigentum ein höherer Stellen-
446
GABRIEL, N 351; vgl. MÜLLER-CHEN, S. 301: „Die notwendige Haftungsbegrenzung
kann nach einheitlichen Kriterien durch Bildung von Verhaltenspflichten erfolgen.“
447
BGE 121 III 358, 360 (Erw. 4a), m.w.H.
448
LEISNER, S. 638.
449
KRAMER, Methodenlehre, S. 246 f.; vgl. MORAND, S. 85 f.: „On ne peut pas tout avoir
en même temps. La souplesse [...] se paye par la création d’incertitudes juridiques et
par l’émergence de problèmes méthodologiques sérieux dans les pesées d’intérêts
qu’ils génèrent.“
450
SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie, S. 9 (Fn. 60).
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
wert eingeräumt werden soll als dem Vermögen. Damit wird die Frage aufgeworfen,
ob die Interessentheorie auf eine Wertehierarchie von Rechten und Rechtsgütern
angewiesen ist, d.h., ob den betroffenen Rechten und Interessen nicht doch ein
„juristisches Gewicht“ zugewiesen werden kann.
Der Versuch, die verschiedenen Rechte und Rechtsgüter in eine Hierarchie einzuordnen,
findet sich in unterschiedlichen Formen in der Lehre und Rechtsprechung.
Bei der Erfolgsunrechtstheorie bleibt die Bewertung der Rechtsgüter auf zwei
Hierarchiestufen beschränkt: die absoluten Rechte und die reinen Vermögensrechte.
Eine weitergehende Unterscheidung findet sich in den Tilburg Principles of
European Tort Law. Hier werden die Interessen in drei Kategorien unterteilt: Leben,
körperliche und geistige Integrität, Menschenwürde und die Freiheit geniessen
den höchsten Schutz; weitgehender Schutz soll dem Eigentum, wozu auch das
geistige Eigentum gezählt wird, zukommen; und der Schutz reiner Vermögensrechte
und vertraglicher Rechte würde hingegen beschränkter Natur sein. 451 VON BÜ-
REN unterscheidet hingegen einzig zwischen stark und schwach geschützten Interessenpositionen.
Zu den stark geschützten Positionen zählt er Leib, Gesundheit,
Eigentum, andere dingliche Rechte, Patent- und Markenrechte, welche im Grundsatz
absolut geschützt sind, d.h., dass keine erlaubten Wege der Beeinträchtigung
bestehen. Zu den schwach geschützten Interessenpositionen zählt er die wirtschaftliche
Persönlichkeit, Vermögen, Ehre, Ehe, geschlechtliche Integrität usw., die nur
gegen Verletzungen bestimmter Art und Intensität geschützt sind. 452
Bereits diese kurze Übersicht zeigt, dass sich ein abschliessender Wertekatalog von
Rechten und Interessen kaum finden lässt. Im Übrigen sind auch stets Ausnahmen
zu beachten, was sich bei den Rechtsgütern Leib und Leben zeigt. Auch wenn Leib
und Leben als absolut geschützte oder als stark geschützte Rechtsgüter betrachtet
werden, 453 so kann Notwehr einen Eingriff in fremdes Leben notwendig machen.
Insofern sind Leib und Leben nicht absolut geschützt.
451 TILBURG PRINCIPLES, Art. 2:102.
452 VON BÜREN, S. 259.
453 GABRIEL, N 330.
132

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Ein einheitlicher Wertemassstab, anhand dessen sich sämtliche Rechte respektive
Interessen messen liessen, lässt sich nicht ausmachen. Dies ist zum einen darauf
zurückzuführen, dass sich der Wert eines Rechts in Relation zu anderen betroffenen
Rechten ergibt, zum anderen ist auch die Wertschätzung, welche die Gesellschaft
einzelnen Rechten entgegenbringt, einem steten Wandel unterzogen. Dem
Richter bleibt es deshalb nicht erspart, im Einzelfall den Wert des betroffenen
Rechts in Relation zum Wert der schädigenden Handlung und zu den damit verbundenen
Interessen zu stellen. Die oben erwähnten möglichen Kategorisierungen
von Rechten und Interessen können zwar als Indizien berücksichtigt werden, nicht
jedoch als dogmatische Vorgabe. Bei der Beurteilung des Werts der betroffenen
Rechte sind neben dem verständlichen Interesse des Geschädigten keinen Schaden
erleiden zu müssen, auch öffentliche Interessen zu berücksichtigen. So kann es im
Interesse des Rechtsfriedens geboten sein, gewissen Rechten einen höheren Wert
zuzubilligen und damit ihrer potenziellen Verletzung entgegenzuwirken.
2.3.2 Wert und Zweck der schadenstiftenden Tätigkeit
Das zweite zentrale Kriterium zur Beurteilung der Widerrechtlichkeit ist der Wert
bzw. der Zweck der schädigenden Handlung. Bei Beurteilung der Widerrechtlichkeit
einer Tätigkeit sind z.B. Gemeinwohlüberlegungen („policy considerations“)
anzustellen. 454 So werden einige schadengeneigte Tätigkeiten aufgrund ihres sozialen
Nutzens von der Rechtsordnung geduldet bzw. erlaubt. Typisches Beispiel ist
der marktwirtschaftliche Wettbewerb. Wer seinen Konkurrenten mit lauteren Mitteln
schädigt, soll für den wirtschaftlichen Schaden seines Konkurrenten nicht
haften. Auch im Rahmen der Pressefreiheit ist zu einem gewissen Grad die Beeinträchtigung
der Persönlichkeitsrechte zu akzeptieren. Bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit
einer Handlung hat der Richter deshalb zu berücksichtigen, ob die
Handlung im Hinblick öffentlicher Interessen gerechtfertigt bzw. erwünscht ist.
Neben den Gemeinwohlüberlegungen ist aber auch das Aktivitätsinteresse des
Schädigers im Rahmen seiner persönlichen Freiheit zu berücksichtigen. Es ist ein
wesentlicher Bestandteil unserer Rechtsordnung, dass der Einzelne im Rahmen
454 VON BAR II, N 225.
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
seiner persönlichen Freiheit auch Handlungen vornehmen darf und vornehmen soll,
die nicht dem Gemeinwohl untergeordnet sein müssen. Eine andere Regelung
würde sich lähmend auf die persönliche Entfaltung und damit auch auf die gesellschaftliche
Entwicklung auswirken. Damit hängt die Bewertung einer schädigenden
Handlung auch davon ab, welchen Wert man der Ausübung der persönlichen
Freiheit zubilligen möchte. Hat z.B. die künstlerische Verwirklichung des Sprayers
Vorrang vor dem Anspruch des Hausbesitzers auf eine unverschmierte Hauswand?
STARK äussert sich kritisch darüber, ob Nutzen respektive Nutzlosigkeit ein adäquates
Kriterium zur Beurteilung des Verhaltens darstelle, zumal man hierüber je
nach Standpunkt unterschiedlicher Meinung sein könne und je nach Standpunkt
unterschiedlich bewerte. 455 Dementsprechend ist es aber gerade die Aufgabe des
Richters, das Verhalten von einem objektiven und neutralen Standpunkt aus zu
werten. Dabei ist nicht nur der direkte (öffentliche) Nutzen des Verhaltens zu berücksichtigen,
sondern auch die Bedeutung des Verhaltens als Ausdruck der persönlichen
Freiheit. So lassen sich gefährliche Trendsportarten wie Gleitschirmfliegen
oder Canyoning kaum mit einem öffentlichen Interesse rechtfertigen, sie können
aber auch nicht von vornherein als widerrechtlich abgetan werden.
2.3.3 Verschieben des Schwerpunkts der Interessenabwägung
Auch wenn die Interessenabwägung vom Richter von einem neutralen Blickwinkel
aus vorgenommen wird, so können Schädiger und Geschädigter diese Interessenabwägung
in beschränktem Umfang vorwegnehmen. Damit wird der Schwerpunkt
der tangierten Interessen entweder zugunsten des Schädigers oder des Geschädigten
verschoben.
134
a) Einwilligung und Risikoübernahme seitens des Geschädigten
Der Geschädigte kann durch Einwilligung und Risikoübernahme weitgehend auf
die Wahrnehmung und den Schutz seiner Interessen verzichten. KÄNZIG spricht
von Unrechtsausschluss nach dem Prinzip des mangelnden Interesses. 456 Willigt
455 OFTINGER/STARK I, § 5 N 90.
456 KÄNZIG, S. 160.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
der Geschädigte in eine schädigende Handlung ein oder übernimmt er das Risiko
einer Schädigung, so hat der Richter das Integritätsinteresse des Geschädigten im
Rahmen der Interessenabwägung unberücksichtigt zu lassen.
Dieser Verzicht des Geschädigten findet seine Grenzen am öffentlichen Interesse,
bestimmten Rechten wie z.B. Leib und Leben einen weitergehenden Schutz zu
gewähren. Rechtsprechung und Lehre anerkennen, dass der Geschädigte nicht in
alle Schädigungen einwilligen kann. Dies hat auch für die Interessentheorie zu
gelten und lässt sich damit erklären, dass der Geschädigte zwar auf die Wahrnehmung
seiner eigenen Interessen verzichten kann, nicht aber auf öffentliche Interessen,
die seiner Disposition entzogen sind.
b) Risikoübernahme seitens des Schädigers
Der potenzielle Schädiger kann sich seinerseits zu einer Risikoübernahme bereit
erklären, indem er das Schadensrisiko des Geschädigten übernimmt. 457 Im ausservertraglichen
Haftpflichtrecht kann eine solche Risikoübernahme etwa durch Gefälligkeitshandlung,
Teilnahme an einer Gefahrengemeinschaft erfolgen. Die Risikoübernahme
hat zur Folge, dass im Rahmen der Interessenabwägung den Interessen
des Geschädigten ein höheres Gewicht beigemessen wird, was entsprechend
vom Richter auch zu würdigen ist. Wird das Schadensrisiko im vertraglichen Rahmen
übernommen, wird die Bewertung der Interessen zwischen den Vertragsparteien
bilateral im voraus fixiert, und zugunsten des Geschädigten gewichtet
(vgl. Rz. 380 ff.).
2.3.4 Weitere Elemente zur Bestimmung der Widerrechtlichkeit
a) Mögliche Kriterien nach Rechtsprechung und Lehre
Neben dem Wert des geschädigten Rechts und dem Nutzen der schädigenden
Handlung werden in der Lehre und Rechtsprechung auch weitere Kriterien zur
Beurteilung der Widerrechtlichkeit vorgeschlagen, von denen einige nachfolgend
präsentiert werden.
457 WERRO, Vertrauenshaftung, S. 14.
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
Die Kriterien Eintretenswahrscheinlichkeit, Schadenshöhe und Kosten der Gefahr-
vermeidung werden von verschiedenen Autoren genannt. Sie fliessen in die soge-
nannte „Learned-Hand-Formel“ ein. 458 Gemäss dieser Formel sind Schutzmass-
nahmen zu ergreifen, wenn deren Kosten geringer sind als die Schadenshöhe multipliziert
mit der Eintretenswahrscheinlichkeit. Ergreift der Schädiger keine
Schutzmassnahmen, haftet er. Diese Formel lässt sich jedoch nicht verabsolutieren,
da sie nicht auf Schädigungen passt, die auf individuelle Unachtsamkeit zurückzuführen
sind und sich ohne Kosten vermeiden lassen würden. Zudem lassen sich die
notwendigen Daten zur Eintretenswahrscheinlichkeit oder zur potenziellen Schadenshöhe
meist nicht beschaffen. 459
Bei der Beurteilung, ob für ein bestimmtes Verhalten gehaftet werden soll, sind
auch die Folgen der Einführung einer Haftung für aktuell und potenziell Betroffene
sowie die Gesellschaft zu berücksichtigen. 460 Zu erwähnen sind die Entwicklungen
bei der Ärztehaftpflicht in den USA. Hier wird das Haftpflichtrecht für die
steigenden Kosten des Gesundheitswesens mit verantwortlich gemacht. Steigende
Haftpflichtversicherungsprämien führen dazu, dass zunehmend defensive Medizin
praktiziert wird und dass sich Ärzte aus Disziplinen zurückziehen, die mit einem
hohen Risiko von Komplikationen verbunden sind, z.B. der Gynäkologie. Die
Folge davon ist die medizinische Unterversorgung in diesen Disziplinen. Ärzte
verschweigen Fehler und leisten sich keine offene Fehlerkultur, um nicht verklagt
458 Bundesrichter LEARNED HAND in: United States v. Carrol Towing Co., 159 F. 2d 169
(2d Cir. 1947); ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 60; MÜLLER-CHEN, S. 302.
459 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 60.
460 KRAMER, Methodenlehre, S. 220; vgl. auch Tomlinson v. Congleton Borough Council,
[2003] UKHL 47; [2004] 1 A.C. 46, zitiert nach: DUGDALE, 8-141: Hier stellte sich die
Frage, ob der Zugang zu einem Baggersee hätte versperrt werden müssen, da ein
Schwimmer beim Eintauchen ins seichte Gewässer sich den Rücken gebrochen hatte.
Das House of Lords erklärte, dass der Baggersee und die dazugehörigen Strände auch
von einer Vielzahl von Menschen als Naherholungsgebiet benutzt würden, was beim
Entscheid, die Strände zu zerstören, mitzuberücksichtigen sei; vgl. KEETON, S. 359
(Fn. 24), m.w.H.
136

Kapitel 4: Die Interessentheorie
zu werden. Dies steht der Prävention ähnlicher Fehler entgegen. 461 Eine verschärfte
Ärztehaftung ist deshalb nicht zwangsläufig im Interesse der Patienten.
Umstritten ist die Berücksichtigung eines allfälligen Nahverhältnisses respektive
einer Sonderbeziehung zwischen den Beteiligten. Dieses Kriterium hat in der Lehre
zum Teil Eingang gefunden 462 und findet sich auch in der Rechtsprechung des
Bundesgerichts zur Vertrauenshaftung. 463 KEETON beanstandet dieses Kriterium:
„The concept of a relative duty is not regarded as essential by the continental law,
and it has been assailed as serving no useful purpose [...] Its artificial character is
readily apparent; in the ordinary case, if the court should desire to find liability, it
would be quite easy to find the necessary ‚relation‘ in the position of the parties
toward one another.“ 464 Die Sonderbeziehung ist kein geeignetes Kriterium, um
die Haftpflicht zu begründen, da sie bloss Ausdruck einer vorweggenommenen
Entscheidung ist, ob eine Haftpflicht gegeben sein soll oder nicht. 465 Die Entscheidung,
ob und inwieweit eine Haftung zwischen zwei Personen bestehen soll, muss
sich demnach nach weiteren Kriterien richten. 466
461
U.S. Department of Health and Human Services, Confronting the New Health Care
Crisis: Improving Health Care Quality and Lowering Costs By Fixing Our Medical Liability
System, July 24, 2002 [http://www.hcla.org/studies/HHSmedliabilitycrisis.pdf]
(letztmals besucht am: 19. Juli 2006).
462
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 61; vgl. TILBURG PRINCIPLES, Art. 2:102: „(4) Protection
of pure economic interests or contractual relationships may be more limited in scope.
In such cases, due regard must be had especially to the proximity between the actor
and the endangered person …“
463
BGer-Urteil vom 23. Dezember 2003, 4C.230/2003, (Erw. 2.2): „Die Haftung [...] setzt
voraus, dass die Beteiligten in eine sogenannte ‚rechtliche Sonderverbindung‘ zueinander
getreten sind.“
464
KEETON, S. 357, m.w.H.
465
Vgl. ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 520, wonach es sich bei der Sonderverbindung
um einen inhaltsleeren Begriff handelt; KEETON, S. 358.
466
KOLLER, Ausservertragliche Haftung, S. 376.
137
377

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2 Definition der Widerrechtlichkeit
In der Lehre finden sich Stimmen, welche die Voraussehbarkeit im Rahmen der
Widerrechtlichkeit prüfen möchten. 467 Nach der hier vertretenen Auffassung ist die
Voraussehbarkeit des Schadens kein geeignetes Kriterium zur Bestimmung der
Widerrechtlichkeit. Im Gegensatz zur Eintretenswahrscheinlichkeit, welche objektiv
(statistisch) festgestellt werden kann, handelt es sich bei der Voraussehbarkeit
um ein Kriterium, welches auf innere Fähigkeiten und Kenntnisse des Schädigers
abstellt. Diese sollen einzig im Rahmen des Verschuldens geprüft werden und
nicht bei der Widerrechtlichkeit, da andernfalls der Widerrechtlichkeitsbegriff eine
stark schädigerbezogene Komponente aufweisen würde. 468 Dasselbe schädigende
Verhalten, z.B. eine Schussabgabe, könnte entweder widerrechtlich oder erlaubt
sein, je nachdem, ob der Schütze „wissend“ oder „unwissend“ war, d.h. die Folgen
seiner Handlung bedachte oder nicht. 469 Dies ist aus theoretischer Sicht problematisch,
da der potenziell Geschädigte sich bei der Ausübung von Notwehr ein
Urteil über die Widerrechtlichkeit des Angriffs machen muss und dabei sinnvollerweise
nicht auf die inneren Fähigkeiten und Kenntnisse des Schädigers abzustellen
hat. 470
138
b) Indizien für vorangegangene Interessenabwägung
Im Rahmen der Interessenabwägung kann sich der Richter auf verschiedene Indizien
abstützen, welche auf eine vorangegangene Interessenabwägung seitens der
Bevölkerung oder einer Berufsgruppe hinweisen. Hierzu gehören etwa Verkehrssitten,
Berufsregeln, gesetzliche Verhaltenspflichten. 471 Der Richter darf diese
Verhaltenspflichten nicht tel quel übernehmen, sondern hat zu überprüfen, ob diese
Verhaltenspflichten oder Verhaltensweisen sich auf eine ausgewogene Abwägung
467
ROBERTO, Deliktsrechtlicher Schutz, S. 520; SCHÖNENBERGER, Dritte Widerrechtlichkeitstheorie,
S. 8.
468
Vgl. Rz. 392 ff.
469 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 372; PORTMANN, S. 275.
470
Vgl. Rz. 288 ff.
471
VON BAR II, N 252; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 44, 49, 57 f.; DUGDALE, 8-144, 8-
145; vgl. BK-BREHM, OR 41 N 185 ff. betr. Geltung von gesetzlichen Vorschriften und
privatrechtlichen Richtlinien als Indizien für das Vorliegen von Verschulden.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
der betroffenen Interessen stützen und sich auf die spezifischen Umstände des
individuellen Falles übertragen lassen. In ähnlicher Weise hat der Richter die in
Rechtsprechung und Lehre aufgestellten Fallgruppen von typischen Verhaltenspflichten
kritisch zu würdigen. 472 Auch hier ist bereits eine Interessenabwägung
vorgenommen worden, welche der Richter nun auf ihre Übertragbarkeit auf die
konkret zu beurteilende Situation hin zu prüfen hat.
c) Verhältnis der ausservertraglichen Haftung zur vertraglichen Haftung
Geht man vom Grundsatz aus: „Losses lie where they fall, except when a special
reason can be shown for interference“, 473 muss sowohl bei der ausservertraglichen
als auch der vertraglichen Haftung ein spezieller Grund für die Überwälzung des
Schadens auszumachen sein. Die Interessentheorie sieht den Grund zur Überwälzung
des Schadens darin, dass das geschädigte Interesse dem Interesse an der
schädigenden Handlung vorgeht. 474
Die ausservertragliche Haftung findet meist dort Anwendung, wo die Rechtsphären
zweier Personen unvermittelt aufeinanderprallen, so z.B. bei einem Unfall, bei dem
ein Radfahrer einen Passanten anfährt. Der einzige Bezug, den die Betroffenen
zueinander haben, ist derjenige, dass sie durch den Unfall aneinandergeraten sind.
Hier hat der Richter deshalb als objektive, dritte Partei aufzutreten und die beteiligten
Interessen zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.
Im vertraglichen Umfeld können sich die Parteien im Voraus darüber einigen,
welche Interessen welches Gewicht haben sollen, und darauf gestützt die relevanten
Vertragspflichten bestimmen. Im Rahmen der Vertragsverhandlungen wird
somit eine Interessenabwägung ex ante vorgenommen, welche sich je nach Verhandlungsgeschick
zugunsten der einen oder anderen Partei verschieben kann.
Verletzt eine Partei anschliessend die so fixierten Vertrags-(Verhaltens-)pflichten,
472 Vgl. Rz. 284 ff.
473 HOLMES, S. 50.
474 PERRIG, S. 327.
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2 Definition der Widerrechtlichkeit
stört sie das verabredete Verhältnis der Interessen, wofür sie schadenersatzpflichtig
wird.
Sowohl im vertraglichen als auch im ausservertraglichen Bereich gründet die Haftung
letztlich darin, dass das Integritätsinteresse des Geschädigten höher gewertet
wird als das Aktivitätsinteresse des Schädigers. Die vertragliche und die ausservertragliche
Haftung unterscheiden sich aber darin, dass bei der ausservertraglichen
Haftung zudem allfällig tangierte öffentliche Interessen vom Richter berücksichtigt
werden müssen, während bei der vertraglichen Haftung die Interessenabwägung
bilateral zwischen den Vertragsparteien erfolgt und auf die gegenseitigen privaten
Interessen beschränkt ist.
2.4 Zwischenfazit zur Widerrechtlichkeit
Der Stellenwert und die Aufgabe der Interessenabwägung im Rahmen des Haftpflichtrechts
und bei der Bestimmung der Haftung werden von FLEMING treffend
umschrieben:
140
„[…] the adjudication of tort claims calls for a constant
adjustment of competing interests. Opposed to the plaintiff’s
demand for protection against injury is invariably
the defendant’s countervailing interest not to be impeded
in the pursuit of his own wants and desires. Hence the
administration of the law involves a weighing of these
conflicting interests on the scales of social value, with a
view to promoting a balance that will minimize friction
and be most conducive to the public good.“ 475 (Hervorhebung
beigefügt)
Sinngemäss übersetzt, bedeutet dies, dass der Richter konkurrierende Interessen zu
bewerten und gegeneinander abzuwägen hat, um damit einen angemessenen Ausgleich
zwischen dem Integritätsinteresse des Geschädigten und dem Aktivitätsinteresse
des Schädigers zu gewährleisten. Haftpflichtfälle entziehen sich der Mög-
475 FLEMING, S. 6.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
lichkeit einer einheitlichen Lösung aufgrund dogmatischer Rechtsfiguren, da es
unzählige Situationen gibt, in denen Rechtsphären von Schädiger und Geschädigtem
aufeinanderprallen. Zudem ist die soziale Werteskala, anhand deren der Richter
die Interessen abzuwägen hat, einem konstanten Wandel unterzogen, weshalb
der Richter seine Vorstellungen und Meinungen stets aufs Neue bilden muss. Die
Bestimmung der Widerrechtlichkeit auf der Grundlage der Interessenabwägung
erlaubt dabei eine rasche Anpassung an technische und gesellschaftliche Entwick-
lungen. 476
Den Richtern wird bei der Interessenabwägung ein erheblicher Ermessensspielraum
eingeräumt werden. 477 Dies birgt jedoch keine Gefahr der uferlosen Haftung
oder eine Flut von leichtfertigen Prozessen, denn dem Ermessensspielraum des
Richters werden mit der damit einhergehenden Begründungspflicht Schranken
gesetzt. 478 Letztendlich muss sich der Richter beim Fällen des Urteils entscheiden,
ob im Einzelfall, immer mit Blick auf das Gesamtinteresse von Schädiger, Geschädigtem
und Allgemeinwohl, eine Haftung geboten und gerechtfertigt ist. 479 Dies
bedeutet aber, dass der Richter, wo es von den beteiligten Interessen her geboten
ist, eine Haftpflicht dann auch abzulehnen hat. 480
476
Vgl. Rz. 385.
477
BURCKHARDT, S. 477.
478
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 74.
479
Vgl. STUDY GROUP PRINCIPLES, Art. 2:101 (2): „[…] loss or injury constitutes legally
relevant damage only if it would be fair and reasonable for there to be a right to reparation
[…].“
480 Vgl. BURCKHARDT, S. 503 f.: „[Es] hat sich in weiten Volkskreisen mehr und mehr die
Ansicht eingenistet, wo ein Schaden eingetreten sei, müsse auch ein rechtlicher Ausgleich
sich finden, bei jedem Schaden sei Abhilfe und Haftbarkeit geboten und selbstverständlich,
ihre Versagung sei anormal und ungerecht. Diese Ansicht steht einseitig
auf dem Standpunkt des Verletzten; sie stellt sich nicht auf den des Haftbaren […]
Würde die öffentliche Meinung gerecht abwägend urteilen, so müsste ihr klar werden,
dass Schädigung die erste, aber nicht die einzige Voraussetzung der Schadensabwälzung
ist.“
141
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3 Definition des Verschuldens
3 Definition des Verschuldens
3.1 Abgrenzung von Gegenstand und Mass des Verschuldens
Bei der Verschuldenshaftung liegt der Grund, weshalb ein Schädiger für die von
ihm verursachten Schäden einzustehen hat – nomen est omen – primär im Ver-
schulden. 481 Schaden, Kausalzusammenhang und Widerrechtlichkeit werden zwar
zur Begründung der Haftung stets vorausgesetzt, aber schlussendlich ist es nur
gerechtfertigt, den Schädiger für einen Schaden zur Verantwortung zu ziehen,
wenn er dafür „etwas konnte“ respektive am Eintritt des Schadens „schuld
war“. 482
Die Begriffe Schuld und Verschulden werden in der Umgangssprache recht unterschiedlich
verwendet: So kann die Bahn schuld sein, dass man einen Termin nicht
einhalten konnte, oder der hintere Autofahrer trägt Schuld am Auffahrunfall.
Funktionell wird der Begriff jedoch verwendet, um zwischen dem Schaden und
dessen Verursacher eine Verbindung herzustellen, welche über die reine Kausalität
hinausgeht. 483 Diese Verbindung steht in engem Zusammenhang mit individueller
Freiheit und persönlicher Verantwortung.
142
„Individuelle Freiheit und persönliche Verantwortung
hängen eng zusammen. Verantwortlich sein bedeutet, rechenschaftspflichtig
zu sein und für seine Handlungen
einstehen zu müssen. Man kann für sein Tun nur verantwortlich
sein, wenn man auch anders hätte handeln
481 Vgl. VON JHERING, S. 40: „Nicht der Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, sondern
die Schuld, ein einfacher Satz, ebenso einfach wie derjenige des Chemikers, dass
nicht das Licht brennt, sondern der Sauerstoff der Luft."
482 VON BAR II, N 226.
483 Vgl. KEETON, S. 300: „[…] some method of limiting liability to those consequences
which have a reasonably close connection with the defendant’s conduct and the harm
which it originally threatened, and are in themselves not so remarkable and unusual as
to lead one to stop short of them.“

Kapitel 4: Die Interessentheorie
können. Freiheit ist also eine Voraussetzung der Ver-
antwortung.“ 484 (Hervorhebung beigefügt)
Als Vernunftwesen kann der Mensch nur dann frei handeln, wenn er sich seiner
selbst, seiner Lage und auch der Folgen seines Handelns bewusst ist. Andernfalls
handelt er reflexartig oder instinktiv. Zur individuellen Freiheit gehört es, dass der
Mensch in der Lage ist, aufgrund seiner Erkenntnisse einen eigenen Willen zu
bilden und diesem Willen entsprechend zu handeln.
Dem Schädiger ist ein schädigendes Verhalten nur dann persönlich zuzurechnen,
wenn er die Schadensfolgen nach seinen individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten
hätte voraussehen und vermeiden können. Kann der Schädiger die Folgen
seines Verhaltens weder voraussehen noch vermeiden, ereignet sich der Schaden
aus seiner Sicht schicksalhaft. 485 Für den Zufall hat der Schädiger jedoch nicht
einzustehen. 486 Im Gegenteil, der schicksalhafte Schaden ist nach dem Grundsatz
casum sentit dominus der Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen.
Das Verschulden lässt sich deshalb über die Begriffe Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit
der Schadensfolgen bestimmen. Es bleibt jedoch näher einzugrenzen,
‚was‘ der Schädiger vorauszusehen und zu vermeiden hat. Muss er neben dem
Kausalablauf und dem Schadenseintritt auch Folgeschäden oder gar die Widerrechtlichkeit
seiner Handlung voraussehen? Weiter gilt festzustellen, ‚wann‘ der
Schädiger eine Schadensfolge voraussah. Gilt die Voraussehbarkeit und damit das
Verschulden nur dann als gegeben, wenn er die Schadensfolge tatsächlich voraussah,
oder genügt bereits die abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme?
484 KARLSON NILS, Die menschliche Würde und die Last des Wohlfahrtsstaates, in: NZZ
vom 31. Juli 2004.
485 VON BAR II, N 227.
486 Oder auch casus a nullo praestantur [übersetzt: „Für den Zufall braucht keiner einzu-
stehen“].
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3 Definition des Verschuldens
3.2 Gegenstand des Verschuldens
3.2.1 Voraussehbarkeit des Kausalablaufs und des Schadenseintritts
Die Voraussehbarkeit des Kausalablaufs und des Schadenseintritts steht im Zen-
trum des hier vorgestellten Verschuldensbegriffs. Erst aufgrund dieser Erkenntnis-
se ist der Schädiger überhaupt in der Lage, sein Verhalten zu ändern und damit den
Schadenseintritt zu vermeiden. Dieses Konzept der Voraussehbarkeit ist jedoch
näher zu konkretisieren: Wie detailliert, wie sicher und wie weit in die Zukunft hat
der Schädiger einen Kausalablauf und den Schadenseintritt vorauszusehen, damit
ihm die verursachten Schäden zugerechnet werden können?
144
a) Voraussehbarkeit in Bezug auf die geschädigte Person, das verletzte
Recht und die Schadensverursachung
Damit der Schädiger sein Verhalten beurteilen kann, braucht er den Kausalablauf
nicht in all seinen Details vorauszusehen, d.h., er muss sich nicht über sämtliche
einzelne Glieder der Kausalkette im Klaren sein. 487 Vielmehr genügt es, dass der
Schädiger das Ergebnis, d.h. die Schädigungsfolge, 488 oder den Kausalablauf in
den Grundzügen zu erkennen vermag. Dies lässt sich an folgenden zwei Beispielen
illustrieren.
Der Autofahrer, der im Winter mit abgefahrenen Sommerreifen unterwegs ist,
handelt auch dann schuldhaft, wenn er zwar die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
aufgrund schlechter Bodenhaftung bei schneebedeckter Fahrbahn voraussieht,
dann jedoch wegen Aquaplaning ins Schleudern gerät. Abgefahrene Reifen
bergen generell die Gefahr einer verringerten Bodenhaftung, weshalb es unbeachtlich
ist, ob sich diese Gefahr letztendlich aufgrund von Schneeglätte oder durch
487 Vgl. BGE 90 II 9, 13 (Erw. 4): „Il n’est pas nécessaire qu’il en ait entrevu toutes les
conséquences possibles. Il suffit qu’il ait eu conscience de compromettre la solidité et
la cohésion du pylône et de créer ainsi un péril.“
488 OFTINGER/STARK I, § 5 N 17 f.; kritisch KEETON, S. 297: „If one takes a very broad,
type-of-harm perspective in describing both the ‚foreseeable risk‘ and the ‚result‘ of
which the plaintiff is complaining, very likely the result will appear to be within the
foreseeable risk. If, on the other hand, one takes a mechanism-of-harm perspective, it is
easy to conclude that the result at issue is not within the foreseeable risk.“

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Aquaplaning realisiert. 489 Der Kriminelle, der auf jemanden schiesst, handelt auch
dann schuldhaft, wenn sein Opfer durch einen Querschläger verletzt wird und nicht
wie vorgesehen direkt durch den Schuss. Die gefährdete Person, der Schadenseintritt
und das mit dem Abfeuern der Waffe verbundene Gefahrenpotenzial waren für
den Schützen voraussehbar und das Gefahrenpotenzial hat sich in seiner typischen
Form realisiert. 490
Die Voraussehbarkeit ist nicht bloss auf das visuelle Erkennen beschränkt. Der
Schädiger hat unter Umständen auch hypothetische Kausalabläufe vor dem „geistigen
Auge“ zu sehen, insofern kann die mangelnde visuelle Erkennbarkeit unter
Umständen durch die Vorstellungskraft des Schädigers kompensiert werden. 491 So
vermag der Wanderer, der beim Spaziergang einen Stein den Berg hinunterwirft,
die nachfolgende Wandergruppe vielleicht nicht zu sehen, er kann sich jedoch
vorstellen, dass nachfolgende Wanderer möglicherweise von seinem Wurfgeschoss
getroffen werden.
Legt der Schädiger jedoch seinen Überlegungen einen falschen Sachverhalt zugrunde,
geht er z.B. davon aus, es handle sich bei einer Waffe um eine Spielzeugpistole
oder die Waffe sei ungeladen, irrt er sich über ein wesentliches Glied der
Kausalkette und den Erfolgseintritt. 492 Zielt er deshalb auf eine Person und zieht
489 Vgl. Spitzhackenurteil BGH VersR 1961, 465, zitiert nach: HONSELL, § 3 N 7: Bei
Steinarbeiten mit einer Spitzhacke wurde der Geschädigte von einem Splitter im Auge
getroffen. Entgegen aller Erwartungen handelte es sich dabei nicht um einen Steinsplitter,
sondern um einen Stahlsplitter, der sich von der Spitzhacke löste. Obwohl der Kausalverlauf
atypisch war, konnte der Schaden selbst als typisch bezeichnet werden. Bei
Steinarbeiten mit einer Spitzhacke sind wegfliegende Splitter eine normale Erscheinung,
weshalb eine Haftung bejaht wurde.
490 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 214; kritisch zur Eignung der Voraussehbarkeit der
möglicherweise Geschädigten und der Realisierung des geschaffenen Gefahrenpotenzials,
KEETON, S. 283 ff.
491 Vgl. OFTINGER/STARK I, § 1 N 31 (Fn. 52): STARK unterscheidet zwischen der Voraussehbarkeit
abstrakter und konkreter Kausalketten. Je nach Gefährlichkeit der Tätigkeit
hat der Schädiger nicht bloss die direkt erkennbaren Folgen seines Verhaltens zu berücksichtigen,
sondern gerade auch Faktoren mit einzubeziehen, die ihm zwar verborgen
bleiben, aber zumindest vorgestellt werden können.
492 OFTINGER/STARK I, § 5 N 37.
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3 Definition des Verschuldens
den Abzug, sieht er die Schussabgabe und die resultierende Verletzung der Zielperson
nicht voraus. Grundsätzlich kann dem Schädiger kein Vorwurf gemacht
werden, denn nach dem von ihm vorgestellten Sachverhalt bestand für den anderen
nie eine Gefährdung, weshalb auch kein Grund bestand, von der Handlung Abstand
zu nehmen. Die unerwarteten Folgen seines Handelns sind ihm deshalb nicht
zuzurechnen.
Dieser Ansatz wird jedoch dahingehend relativiert, dass nur der entschuldbare
Sachverhaltsirrtum vom Verschulden befreit. Irrte sich der Schädiger fahrlässig
über den Kausalverlauf, sprich, hätte er seinen Irrtum bei angemessener Aufmerksamkeit
vermeiden können, wird er gleich behandelt, wie wenn er den richtigen
Sachverhalt erkannt hätte. Im Beispiel wäre dem Schädiger die Überprüfung der
Waffe hinsichtlich Echtheit bzw. Ladezustand ohne Weiteres zuzumuten gewesen.
146
b) Voraussehbarkeit der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit
Verschulden setzt voraus, dass der Schädiger die von ihm in Gang gesetzten Kausalabläufe
und den Schadenseintritt voraussieht bzw. voraussehen könnte. Es stellt
sich damit die Frage, ob unter Voraussehbarkeit nur das Voraussehen eines sicheren
Schadenseintritts zu verstehen ist oder ob bereits das Voraussehen eines Schadensrisikos,
d.h. eines bloss möglichen Schadenseintritts, zur Begründung des
Verschuldens ausreicht. Anders formuliert, darf der Schädiger darauf vertrauen,
dass ein Schaden nicht eintritt, der ihm nur als wahrscheinlich bzw. möglich erscheint,
d.h. mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit verbunden ist?
Bei der Voraussehbarkeit handelt es sich um eine zukunftsgerichtete Einschätzung
der Lage, welche ihrer Natur nach unsicher ist. 493 Im Alltag hat nicht bereits jedes
Fehlverhalten einen Schaden zur Folge. So führt zu nahes Auffahren oder die
Missachtung eines Überholverbots nicht zwangsläufig zu einem Verkehrsunfall.
Der fehlbare Lenker schafft jedoch für die übrigen Verkehrsteilnehmer ein erhöhtes
Schädigungspotenzial, sprich Gefährdung. Verwirklicht sich nun ebendiese
Gefahr, kann nicht von einem unvorhergesehenen oder gar schicksalhaften Scha-
493 KEETON, S. 297.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
denseintritt gesprochen werden, da das Gefahrenpotenzial seitens des Schädigers
erkennbar und insbesondere auch vermeidbar gewesen wäre. 494
Zur Begründung des Verschuldens reicht es nach STARK aus, dass der Schädiger
die Folgen seines Verhaltens entweder als sicher, wahrscheinlich oder zumindest
als möglich voraussehen kann. 495 Sicher ist ein Schadenseintritt, wenn zwischen
Handlung und Erfolgseintritt keine weiteren externen Faktoren auf den Kausalablauf
einwirken. 496 Wer auf einen anderen mit einer geladenen und entsicherten
Pistole zielt und den Abzug durchzieht, sieht die Schussverletzung als sicher voraus.
Wer aber durch eine verschlossene Türe hindurchschiesst, sieht die Verletzung
eines anderen bloss als Möglichkeit voraus, zumal der Erfolgseintritt davon
abhängt, ob jemand hinter der Türe steht.
Der Schädiger ist in der Regel besser in der Lage, das Risiko des Schadenseintritts
abzuschätzen und entsprechend zu handeln. Er kann anschliessend entscheiden, ob
er auf das schädigende Verhalten verzichtet, Schutzmassnahmen ergreift, sich
gegen das Risiko versichert oder auch bloss darauf vertraut, dass der Schaden nicht
eintritt. 497 Verwirklicht sich nun ebendieses Risiko, ist dies der Risikosphäre des
Schädigers zuzurechnen. Zur Begründung des Verschuldens genügt somit jede
voraussehbare Eintrittswahrscheinlichkeit.
c) Voraussehbarkeit von Primär- und Folgeschäden?
Wenn dem Schädiger grundsätzlich nur voraussehbare Kausalabläufe und Schadenseintritte
zuzurechnen sind, ist zu fragen, ob der Schädiger nur den ersten
Schadenseintritt (Primärschaden) voraussehen muss, um anschliessend auch für
494 Vgl. HONSELL, § 3 N 7: Da es letztlich nur auf die Schadenseignung der Ursache ankommt,
könne der Schädiger nicht argumentieren, der Schadenseintritt sei äussert unwahrscheinlich
gewesen.
495 OFTINGER/STARK I, § 5 N 17.
496 OFTINGER/STARK I, § 1 N 31 (Fn. 52).
497 OFTINGER/STARK I, § 5 N 61.
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3 Definition des Verschuldens
sämtliche Folgeschäden zu haften. Oder anders gefragt: Hat der Schädiger nur für
Schäden einzustehen, die er voraussehen konnte? 498
Diese Problematik lässt sich an folgendem Beispiel aufzeigen. Ein Ferienreisender
wird auf der Fahrt zum Flughafen bei einem Verkehrsunfall leicht verletzt und
muss ärztlich versorgt werden. Dadurch ist er gezwungen, einen späteren Flug zu
nehmen. Das Flugzeug stürzt ab, ohne Überlebende zu hinterlassen. Hat nun der
Lenker, der den Verkehrsunfall verursacht hat, neben den ärztlichen Behandlungskosten
und den Umbuchungskosten auch für die Kosten aufzukommen, die durch
den Tod des Ferienreisenden verursacht wurden, z.B. den Versorgerschaden? Diese
Frage lässt sich mit folgenden Ansätzen unterschiedlich beantworten.
148
(i) Beschränkung der Voraussehbarkeit auf Primärschäden
Wird das Verschulden einzig auf die Voraussehbarkeit auf Primärschäden beschränkt,
hätte dies zur Folge, dass Folgeschäden, ähnlich wie beim Vertragsrecht,
als Fall der gemischten Haftung („casus mixtus“) zu betrachten sind. 499 Hat der
Schädiger in Bezug auf den Primärschaden schuldhaft gehandelt, haftet er für
sämtliche daraus fliessenden Folgeschäden. Dieser Ansatz verträgt sich jedoch
schlecht mit dem Zweck des Haftpflichtrechts, einen gerechten Ausgleich der Risikosphären
von Schädiger und Geschädigten zu gewährleisten. 500 Auch wenn im
498 Bei Folgeschäden ist zu unterscheiden zwischen jenen Schäden, die eine direkte Konsequenz
der schädigenden Handlung sind, und jenen, die Folge hinzutretender externer
Faktoren sind. Lohnausfall ist etwa eine direkte Konsequenz einer Körperverletzung
und der dadurch bedingten Genesungszeit. Wird hingegen ein Verletzter auf dem Weg
zum Spital noch vom Blitz getroffen, ist dies ein unvorhersehbarer externer Effekt; vgl.
auch KEETON, S. 293, 301, wo zwischen „direct causation“, „directly traceable
consequences“ und „intervening causes“ unterschieden wird. In re Polemis and
Furness, Withy & Co. [1921] 3. K.B. 560, hat der Court of Appeal jedoch angenommen,
dass der sorgfaltswidrig handelnde Schädiger für alle Schäden einzutreten habe,
die als „direkte“ – nicht notwendig vorhersehbare – Folge seines Verhaltens angesehen
werden könnten. In Overseas Tankship (U.K.), Ltd. v. Morts Dock & Engineering Co.,
Ltd. (The Wagon Mound) [1961] A.C. 388, wurde diese Rechtsprechung aufgegeben
und festgestellt, dass der Schädiger haftbar sei für alle Schäden „of such a kind as the
reasonable man should have forseen“, zitiert nach: ZWEIGERT/KÖTZ, S. 612.
499 Art. 103 I, 306 III, 420 III OR.
500 WEBER, S. 41 f.; WIDMER, Diskussionsvoten, S. 2.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
oben genannten Beispiel der Verkehrsunfall der Grund war, weshalb der Geschä-
digte den späteren Flug nahm, hat das Verhalten des Schädigers nicht dazu geführt,
dass der Geschädigte einem höheren Absturzrisiko ausgesetzt war. Es ist nicht
einzusehen, weshalb der Schädiger für das mit der Flugreise zwangsläufig verbundene
Risiko einzustehen hat, für das sich der Reisende selbst entschieden hat. 501
(ii) Erstreckung der Voraussehbarkeit auf Folgeschäden
Dehnt man das Prinzip der Voraussehbarkeit auch auf die Folgeschäden aus, würde
der Schädiger nur für jene Folgeschäden haften, die er mindestens als möglich
vorausgesehen hat. Dieser Ansatz stützt die Position des Schädigers, der im Grunde
gemäss der Redewendung „Aus den Augen, aus dem Sinn“ nur gerade für die
Schäden einzustehen hat, die sich in seinem Wahrnehmungsbereich ereignen. In
Bezug auf Folgeschäden ist dies jedoch unbefriedigend, finden diese regelmässig
zeitlich und örtlich getrennt vom Primärschaden statt und bleiben daher dem Schädiger
verborgen und sind in der Regel nicht vorhersehbar. Beschränkt man die
Voraussehbarkeit bloss auf die unmittelbar und konkret erkennbaren Folgeschäden,
geschieht dies einseitig zulasten des Geschädigten.
(iii) Gefahrbereichstheorie
Mit der Gefahrbereichstheorie findet sich bei LANZ eine alternative Theorie zur
Begrenzung der Haftung für Folgeschäden. Sie unterscheidet anhand des Kriteriums
des „allgemeinen Lebensrisikos“, welche Folgeschäden vom Schädiger
respektive vom Geschädigten zu tragen sind. Der Schädiger soll nur dann für Folgeschäden
haften, wenn der Geschädigte durch die vom Schädiger schuldhaft verursachte
Primärverletzung einem besonderen, höheren Risiko ausgesetzt wurde. 502
Dies wird an folgendem Beispiel illustriert. Ein Fahrradfahrer übersieht einen
Fussgänger und verletzt diesen so schwer, dass der Fussgänger mit einem Krankenwagen
ins Spital transportiert werden muss. Auf der Fahrt ins Spital wird der
Krankenwagen selbst in einen Verkehrsunfall verwickelt, bei dem der Fussgänger
501
LANZ, S. 194 (Fn. 442).
502
LANZ, S. 182 ff.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 206 ff., 214.
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3 Definition des Verschuldens
noch schwerer verletzt wird. Die Folgeverletzungen von diesem zweiten Unfall
sind dem Fahrradfahrer nicht zuzurechnen, denn durch die Fahrt im Krankenwagen
hat sich für den Fussgänger kein höheres Risiko manifestiert als allgemein üblich.
Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, den Schädiger für die Verwirklichung dieses
Risikos haften zu lassen. Das Risiko, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden,
ist ein Alltagsrisiko, dem wir alle ausgesetzt sind. Muss jedoch der Fussgänger
aufgrund der Schwere seiner ursprünglichen Verletzungen mit Blaulicht und
hoher Geschwindigkeit ins Spital gefahren werden, handelt es sich um ein erhöhtes,
durch die Primärverletzung bedingtes Zusatzrisiko. Kommt es nun zu einem
Unfall, ist dies nicht mehr der Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen, da es
über das Alltagsrisiko hinausgeht. 503 Hier hat der Schädiger, d.h. der Fahrradfahrer,
für die Folgeschäden einzustehen.
Die Theorie vom eigenen Gefahrenbereich respektive des allgemeinen Lebensrisikos
hat den Vorteil, dass sie die Risikosphären von Schädiger und Geschädigtem
aus objektiver Sicht abgrenzt. Damit unterscheidet sie sich vom Ansatz, welcher
auf die Voraussehbarkeit der Folgeschäden abstellt und damit einseitig die Sicht
des Schädigers wahrnimmt. Letztlich wird bei der Theorie vom eigenen Gefahrenbereich
eine Ermessensentscheidung des Richters darüber verlangt, was noch zum
Alltagsrisiko gehört und wann von einem erhöhten Risiko auszugehen ist. 504
3.2.2 Erkennbarkeit der Widerrechtlichkeit als Verschuldenselement?
Nach einem Teil der Lehre erschöpft sich das Verschulden darin, dass Kausalablauf
und Schadensfolgen erkennbar sein müssen, 505 während ein anderer Teil der
Lehre verlangt, dass der Schädiger zusätzlich die Widerrechtlichkeit seines Verhal-
503
LANZ, S. 185, 192; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 188, 207.
504
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 210, 215; Palsgraf v. Long Island Railroad Co.; 248
N.Y. 339, 352, 162 N.E. 99, 103 (1928): „What we do mean by the word ‚proximate‘
is, that because of convenience, of public policy, of a rough sense of justice, the law arbitrarily
declines to trace a series of events beyond a certain point. This is not logic. It
is practical politics.“
505 OFTINGER/STARK I, § 5 N 16 ff., 24ff., PERRIG, S. 326 (Fn. 16); ROBERTO, Haftpflichtrecht,
N 228 ff.; BeK-BREHM, OR 41 N 171.
150

Kapitel 4: Die Interessentheorie
tens zu erkennen vermag. 506 In diesem Lehrstreit geht es letztlich darum, welche
Aufgabe man dem Verschuldensbegriff zubilligt. Trägt jemand schon alleine deshalb
die ethische Verantwortung für sein Handeln, weil er bewusst, d.h. mit Wissen
um die Folgen seines Verhaltens, handelt? Oder soll er nur dann für sein Verhalten
einstehen müssen, wenn er bewusst falsch, d.h. mit Wissen um die Widerrechtlichkeit
seines Verhaltens, handelt? Diese verschiedenen Ansätze können mit den
Begriffen Zurechnung und Vorwurf charakterisiert werden.
a) Verschulden als Vorwurf an die Adresse des Schädigers
Wird das Verschulden als Instrument des Vorwurfs verstanden, wird dem Schädiger
vorgeworfen, dass er bewusst ein rechtlich missbilligtes Verhalten an den Tag
legte, d.h. zulässige und mögliche Handlungsalternativen ausgelassen hat. Der
Schädiger hat also nicht nur die Schadensfolgen, sondern zugleich auch die Widerrechtlichkeit
seines Verhaltens zu erkennen. 507
Für den Geschädigten hat diese Definition des Verschuldens zur Folge, dass er
nachweisen muss, dass der Schädiger die Rechtswidrigkeit seines Handelns erkannte
508 oder hätte erkennen sollen. 509 Das Unrechtsbewusstsein fehlt etwa, wenn
der Schädiger urteilsunfähig war, wenn er sich über eine Verhaltensnorm, z.B. eine
neue Schutzbestimmung, nicht im Klaren war, 510 wenn er eine fremde Sache be-
506
Vgl. HONSELL, § 6 N 6: HONSELL spricht hier etwa vom Bewusstsein des Unrechts der
Schadenszufügung.
507
Vgl. VON BAR II, N 227, 233: VON BAR ist jedoch insofern wenig konsequent, als er
einerseits aussagt, dass man niemandem einen persönlichen Vorwurf daraus machen
kann, dass er eine Norm übertreten hat, von der er weder wusste noch wissen müsste,
aber anschliessend den Verbotsirrtum nicht gelten lassen will.
508 OFTINGER/STARK I, § 5 N 30 (Fn. 26).
509 VON BAR II, N 227.
510 Interessanterweise schliesst das Vorliegen eines Verbotsirrtums im Strafrecht den
Vorsatz gerade nicht aus. Art. 20 StGB erlaubt lediglich die Milderung oder gar das
Aussetzen des Strafmasses. Demnach ist das Unrechtsbewusstsein im Strafrecht kein
Element der Schuld, vgl. TRECHSEL, Kurzkommentar, StGB 20 N 1.
151
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3 Definition des Verschuldens
schädigte, von der er annahm, sie gehöre ihm, oder wenn er sich über das Bestehen
eines Rechtfertigungsgrundes irrte. 511
Wird bei der Haftungsvoraussetzung des Verschuldens die Erkennbarkeit der Widerrechtlichkeit
verlangt, wird die Widerrechtlichkeit dem Verschulden untergeordnet.
Denn letzten Endes ist nur die vom Schädiger erkannte Widerrechtlichkeit
zur Begründung der Haftung massgebend, da andernfalls eine Haftung mangels
Verschulden entfällt. Auf die Prüfung der Widerrechtlichkeit als eigenständige
Haftungsvoraussetzung kann verzichtet werden, da der Schädiger ohnehin nur für
die von ihm erkannte Widerrechtlichkeit haftet. Die Haftungsvoraussetzung des
Verschuldens nähert sich damit auch dem im französischen Recht verwendeten
Begriff „faute“ an, welcher Elemente des Verschuldens und der Widerrechtlichkeit
in sich vereint. 512
Nichtwissen schützt vor Strafe nicht. Dies kann sinngemäss auch auf das Haftpflichtrecht
übertragen werden. Stellt der Verschuldensbegriff aber auf das Unrechtsbewusstsein
des Schädigers ab, verlagert dies das Risiko der fehlenden
Rechtskenntnis in ungerechtfertigter Weise vom Schädiger auf den Geschädigten.
Für den Schädiger ist es zwar unbefriedigend, für ein Verhalten zur Verantwortung
gezogen zu werden, von dem er nicht wusste, dass es widerrechtlich ist. Der Schädiger
ist oft in der Lage, sich vorgängig über die rechtliche Qualifikation seines
Verhaltens zu informieren, z.B. mittels Gutachten oder Auskünften, und kann nötigenfalls
vom schädigenden Verhalten Abstand nehmen. Zudem kann sich der
Schädiger gegen das Haftungsrisiko versichern. Der Geschädigte wird hingegen
kaum je in der Lage sein, den Schädiger über die Widerrechtlichkeit seines Verhaltens
vorgängig aufzuklären. 513
511 OFTINGER/STARK I, § 5 N 26.
512
OFTINGER/STARK I, § 5 N 24.
513
OFTINGER/STARK I, § 5 N 30 f.; ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 229: Stellt man auf das
Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ab, würde dies denjenigen bevorteilen, der sich nicht
um die Rechtslage kümmert. Werden entsprechende Verhaltenspflichten erst im Haftpflichtverfahren
erstmals aufgestellt oder verschärft, könnte zudem dem Schädiger kein
Vorwurf gemacht werden.
152

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Wird mit dem Verschulden dem Schädiger vorgeworfen, ein rechtlich missbilligtes,
tadelnswertes Verhalten an den Tag gelegt zu haben, 514 wird dem Verschulden
eine wertende Komponente zugebilligt. Das ist aber problematisch, da bereits die
Widerrechtlichkeit die negative Bewertung des Verhaltens beinhaltet. „Wenn sich
aber die Missbilligung aus der Rechtswidrigkeit ergibt, wäre es ‚doppelt genäht‘,
wenn sie auch zum Verschuldensbegriff gehören würde.“ 515 Das Unrechtsbewusstsein
kann und soll daher beim Verschulden nicht vorausgesetzt werden.
b) Verschulden als Zurechnung der erkennbaren Folgen des Verhaltens
Wird das Unrechtsbewusstsein nicht vorausgesetzt, dient das Verschulden einzig
als Zurechnungskriterium und nicht mehr als Vorwurf an die Adresse des Schädigers.
Während der Kausalität die Aufgabe zukommt, zwischen schädigender Handlung
und dem Schaden eine physikalische Verbindung herzustellen, 516 kommt dem
Verschulden die Aufgabe zu, eine ethische Verknüpfung zwischen dem Schaden
und dem Schädiger herzustellen.
Nach STARK ist als Zurechnungskriterium nur ein Teilaspekt der Ethik, nämlich die
Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit, zu berücksichtigen. Die Reduktion auf
diesen Teilaspekt dränge sich auf, denn für die Übernahme der Moral respektive
der Ethik als generelles Beurteilungskriterium in das Rechtssystem fehle ihr die
nötige Bestimmtheit. Verantwortung setzt voraus, dass der Schädiger sein Tun oder
Unterlassen und dessen Folgen erkennen kann, nur dann sei es ethisch gerechtfertigt,
ihm die durch sein Verhalten verursachten Schäden zuzurechnen. 517 Demnach
hat das Verschulden die Funktion, „die Haftpflicht nach OR 41 I auszuschliessen,
wenn die Voraussehbarkeit der Möglichkeit einer Schädigung fehlt, und [...] die
514 OFTINGER/STARK I, § 5 N 13; GIGER, S. 386 f.; BeK-BREHM, OR 41 N 168; vgl. auch
FELLMANN, Verschuldensbegriff, S. 365.
515 OFTINGER/STARK I, § 5 N 38.
516 Bei Unterlassungshandlungen findet hingegen ein normativer Kausalitätsbegriff Anwendung,
vgl. HONSELL, § 3 N 33.
517 OFTINGER/STARK I, § 1 N 31.
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3 Definition des Verschuldens
Verantwortung – im Rahmen der Verschuldenshaftung – für die nicht voraussehbare
Schädigung aus[zu]schliessen.“ 518
Obwohl Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit als Teilaspekte der Ethik gelten,
sind es dennoch wertneutrale Kriterien. Unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens
ist es irrelevant, ob man jemandem etwas schenkt oder etwas stiehlt, wichtig
ist nur, ob der Handelnde in Kenntnis der Kausalabläufe und der Folgen handelt. 519
Der Geschäftsinhaber, der seinen Konkurrenten Marktanteile abringt, schädigt
zwar bewusst, aber ob sein Verhalten auch rechtlich verpönt ist, ergibt sich erst
anhand der Prüfung der Widerrechtlichkeit. 520 Die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit
der Schadensfolgen sagt deshalb nichts darüber aus, ob das schädigende
Verhalten im konkreten Fall gesellschaftlich akzeptabel oder inakzeptabel ist. „Die
mit dem Verschulden verbundene Missbilligung führt nur zur Zurechnung des
schädigenden Verhaltens, bezieht sich aber nicht auf das grundlegende Werturteil
über dieses Verhalten.“ 521
Der Ansatz, wonach sich das Verschulden in der Voraussehbarkeit der Folgen und
deren Vermeidbarkeit erschöpft, findet sich ausser bei STARK auch bei PERRIG und
bei ROBERTO. Diese Autoren lehnen die Berücksichtigung des Verbotsirrtums und
damit auch das Erfordernis des Unrechtsbewusstseins beim Schädiger ab. 522
3.2.3 Vermeidbarkeit des schädigenden Verhaltens als notwendiges Korrelat zur
Voraussehbarkeit
Die Verantwortung für das eigene Handeln setzt neben der Voraussehbarkeit der
Kausalabläufe und der Schadensmöglichkeit auch voraus, dass der Schädiger über-
518 OFTINGER/STARK I, § 1 N 32.
519 OFTINGER/STARK I, § 5 N 33.
520 Dabei wird etwa die Lauterkeit der Vorgehensweise überprüft, vgl. Art. 3 ff. UWG.
521 OFTINGER/STARK I, § 1 N 32.
522 OFTINGER/STARK I, § 5 N 37 f.; PERRIG, S. 326 (Fn. 16); ROBERTO, Haftpflichtrecht,
154
N 229.

Kapitel 4: Die Interessentheorie
haupt in der Lage ist, gestützt auf diese Erkenntnisse einen Willen zu bilden und
hiernach zu handeln. 523
Für den Schädiger kann eine schädigende Handlung dann unvermeidbar sein, wenn
er aufgrund einer dauernden Unfähigkeit, etwa Geistesschwäche, Kindesalter,
Geisteskrankheit, körperliches Gebrechen, Alter usw., nicht in der Lage ist, den
Kenntnissen entsprechend zu handeln resp. von einer Handlung Abstand zu nehmen.
Zudem besteht die Möglichkeit, dass der Schädiger auch aufgrund einer zeitweiligen
Unfähigkeit, wie etwa Muskelkrampf, Herzattacke, Schock, Panik usw.,
nicht anders handeln konnte. 524 Welche Gründe letztlich eine entschuldbare Unvermeidbarkeit
darstellen, ist beim Verschuldensmassstab zu prüfen. 525
3.3 Mass des Verschuldens
Die Begriffe Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit umschreiben das Verschulden
erst in den Grundzügen. Zusätzlich muss festgelegt werden, für welchen Standard
des Voraussehens, der Willensbildung und des Verhaltens jeder Mensch einzustehen
hat. 526 Darüber, wie dieser Standard festzulegen ist, gehen die Lehrmeinungen
auseinander. Der Standard lässt sich sowohl aufgrund der individuellen Fähigkeiten
(subjektivierter Verschuldensbegriff) 527 als auch aufgrund der Fähigkeiten eines
abstrahierten Menschenbilds (objektivierter Verschuldensbegriff) 528 bestimmen.
Neben der Zurechnung des schädigenden Verhaltens spielt das Verschulden auch
bei der Bemessung des Schadenersatzes eine Rolle. Das schweizerische Haftpflichtrecht
ist geprägt vom Gedanken der Proportionalität von Verschulden und
Schadenersatz. So kann das Gericht bei der Bemessung des Schadenersatzes das
523
OFTINGER/STARK I, § 5 N 73 ff., 78 ff.
524
ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 230.
525
Vgl. Rz. 429 ff.
526
OFTINGER/STARK I, § 5 N 80.
527
FELLMANN, Verschuldensbegriff, S. 365; BOSSHARD, S. 118 ff.; ERLÄUTERNDER BE-
RICHT, S. 119.
528
OFTINGER/STARK, § 5 N 63 ff.; HONSELL, § 6 N 17 f.
155
420
421
422

423
424
425
3 Definition des Verschuldens
Verschulden des Schädigers (Art. 43, Art. 44 II OR) bzw. ein Selbstverschulden
des Geschädigten (Art. 44 I OR) berücksichtigen. 529 Das Gesetz setzt damit einen
abstufbaren Verschuldensbegriff voraus. 530 Lehre und Rechtsprechung unterscheiden
daher auch zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit, Eventualvorsatz, direktem
Vorsatz und böswilliger Absicht. 531
Beim Verschuldensmassstab stellen sich somit folgende Fragen: Nach welchen
Kriterien entscheidet sich, ob ein Kausalablauf und Schadenseintritt für den Schädiger
voraussehbar und vermeidbar war, und wie ist das Verschulden zweckmässig
abzustufen?
3.3.1 Bestimmung und Abstufung des Verschuldens nach Massgabe der Voraussehbarkeit
und Vermeidbarkeit
Die Begriffe Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit dienen nicht nur zur Begründung
des Verschuldens, sondern sie dienen zugleich als Kriterien, um das Mass des
Verschuldens zu bestimmen. Nach der hier vertretenen Auffassung soll das Verschulden
umso schwerer wiegen, je einfacher der Schadenseintritt zu erkennen war
respektive je offensichtlicher der Schadenseintritt für den Schädiger war.
Handelt der Schädiger vorsätzlich, d.h. mit Wissen um den Schadenseintritt, hat er
den Kausalablauf sicher vorausgesehen. Dies gilt als Höchstmass der Voraussehbarkeit
und damit des Verschuldens. Handelt der Schädiger hingegen fahrlässig,
wird ihm vorgeworfen, er hätte den Kausalablauf voraussehen können respektive
müssen. Hier kann weiter danach differenziert werden, wie offensichtlich der Kausalablauf
respektive der Schadenseintritt war. Grobe Fahrlässigkeit liegt etwa vor,
529
Vgl. KOLLER, Obligationenrecht, § 10 N 72: Die Proportionalität von Verschulden und
Schadenersatz findet sich auch im Versicherungsrecht. So besteht bei grobfahrlässigem
bzw. absichtlichem Verhalten die Möglichkeit der Leistungskürzung oder des Regresses.
530
Damit unterscheidet sich das Verschulden von der Widerrechtlichkeit, welche gerade
keiner Abstufung zugänglich ist. Vgl. ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 232: „[Es gibt] also
kein falsches und ‚falscheres‘, sondern nur ein richtiges oder falsches Verhalten.“;
vgl. auch VON BAR II, N 235.
531
BeK-BREHM, OR 41 N 191 ff.
156

Kapitel 4: Die Interessentheorie
wenn die Möglichkeit des Schadenseintritts jedermann ins Auge springen würde.
Leichte Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn der Schadenseintritt nur schwer zu
erkennen war. War der Schädiger hingegen urteilsunfähig oder hat der Schädiger
trotz Aufwendung sämtlicher kognitiven Fähigkeiten den Schadenseintritt nicht
voraussehen können, hat die Voraussehbarkeit gefehlt. Nachfolgend werden diese
einzelnen Verschuldenselemente näher erläutert.
Verschulden als Mass der Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit
Voraussehbarkeit/Vermeidbarkeit Verschuldenselemente
Erkenntnissicherheit
Vermeidungssicherheit
Erkenntnismöglichkeit
Vermeidungsmöglichkeit
Erkenntnisunfähigkeit
Handlungsunfähigkeit
3.3.2 Urteilsfähigkeit
Voraussehbarkeit/Vermeidbarkeit
Vorsatz (Absicht)
Fahrlässigkeit/
Sorgfalt
Urteilsunfähigkeit
a) Erkenntnisfähigkeit und Handlungsfähigkeit
Die Urteilsfähigkeit definiert ein Mindestmass an kognitiven Fähigkeiten, die
grundsätzlich jedermann besitzt, um sein Verhalten zu bewerten und zu lenken
(Erkenntnisfähigkeit und Handlungsfähigkeit). Der Schädiger ist dann „urteilsfähig
[…], wenn ihm einerseits die Fähigkeit zukommt, die möglicherweise schädigenden
Auswirkungen eines Verhaltens zu erkennen (intellektuelle Komponente),
und andererseits die Willenskraft, dieser Einsicht entsprechend zu handeln (voluntative
Komponente)“. 532 Wenn dem Schädiger diese Fähigkeiten fehlen, ist er
532 REY, N 810, m.w.H.; BeK-BUCHER, ZGB 16 N 114–118.
157
426

427
428
429
3 Definition des Verschuldens
urteilsunfähig und kann für sein Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen wer-
den. 533
In der Praxis ist die Urteilsfähigkeit lediglich als negatives Kriterium, sprich als
Ausdruck der „Urteilsunfähigkeit“, von Interesse. Handelt der Schädiger nämlich
vorsätzlich oder fahrlässig, wird die Urteilsfähigkeit stets gegeben sein. 534 Zudem
wird sie bei jedermann vorausgesetzt. Es liegt deshalb am Schädiger vorzubringen,
weshalb er unfähig war, den Schadenseintritt vorauszusehen. 535
Art. 16 ZGB enthält einen abschliessenden Katalog von Gründen, bei denen Erkenntnis-
und Handlungsunfähigkeit anerkannt wird. 536 Diese sind Kindesalter,
Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnliche Zustände. Dabei
kann die Urteilsunfähigkeit von Dauer oder nur vorübergehend sein. 537 Während
Trunkenheit meist vorübergehender Natur ist, sind Geisteskrankheit und Geistesschwäche
zumeist dauerhaft. 538 Die Unterscheidung zwischen vorübergehender
und dauernder Urteilsunfähigkeit spielt im Hinblick auf Art. 54 OR eine Rolle.
Nach Art. 54 OR haftet der bloss vorübergehend Urteilsunfähige, es sei denn, er
erbringt den Nachweis, dass die Urteilsunfähigkeit ohne sein Verschulden eingetreten
ist.
Erkenntnis- und Handlungsunfähigkeit können aber auch bei weiteren nicht in
Art. 16 ZGB aufgeführten Gründen bestehen. Hier seien etwa Schockreaktionen,
Reflexhandlungen, Muskelkrämpfe, Herzattacken, Panik zu nennen. Nach ROBER-
TO sollen solche Fälle der zeitweiligen Unfähigkeit das Verschulden gerade nicht
533
Es sei denn, es komme ausnahmsweise die Billigkeitshaftung des Urteilsunfähigen
nach Art. 54 OR zum Zug.
534
OFTINGER/STARK I, § 5 N 112 (Fn. 126); FELLMANN, Verschuldensbegriff, S. 365.
535 Art. 16 ZGB.
536 BaK-BIGLER-EGGENBERGER, ZGB 16 N 33a.
537 BaK-BIGLER-EGGENBERGER, ZGB 16 N 5a.
538 Vgl. aber BaK-BIGLER-EGGENBERGER, ZGB 16 N 27: Auch der Geistesschwache und
der Geisteskranke können lichte Momente haben.
158

Kapitel 4: Die Interessentheorie
ausschliessen. 539 Meines Erachtens sind diese Faktoren der Urteilsunfähigkeit
zuzuschreiben, auch wenn sie nicht im Katalog von Art. 16 ZGB enthalten sind. So
besteht kein nachvollziehbarer Grund, die Haftung danach zu differenzieren, ob
jemand wegen einer geistigen Behinderung, sprich Geisteskrankheit oder Geistesschwäche,
nicht in der Lage war, einen Schaden zu erkennen und zu vermeiden,
oder ob dies durch eine körperliche, physiologische Behinderung bedingt ist. Wenn
der Schädiger den Schadenseintritt aus Gründen nicht zu erkennen vermag, die er
nicht beeinflussen kann, oder wenn er sein eigenes Verhalten aufgrund einer körperlichen
oder psychischen Behinderung (auch vorübergehender Natur) nicht steuern
kann, kann ihm der Schaden ethisch nicht zugerechnet werden. 540
Gegen eine Ausweitung der Urteilsunfähigkeitsgründe könnte allenfalls der Einwand
des Vertrauensschutzes vorgebracht werden. Gerade im Geschäftsverkehr ist
es notwendig, dass der Vertragspartner darauf vertrauen kann, dass ein Vertrag
auch rechtliche Wirkung entfaltet, weshalb die Gründe der Urteilsunfähigkeit möglichst
eng umschrieben werden müssen. Dem ist entgegenzuhalten, dass das ausservertragliche
Haftpflichtrecht meist zufällige Kontakte (Unfälle) zum Inhalt hat,
bei denen kein Vertrauensverhältnis besteht, weshalb auch der Vertrauensschutz
keine Rolle spielt. 541
Letztlich soll dem Begriff der Urteilsunfähigkeit die Funktion zukommen, die
Haftung auszuschliessen, wenn der Schädiger aufgrund eines dauernden oder vorübergehenden,
nicht durch ihn zu verantwortenden, physischen oder psychischen
Faktors unfähig war, den Schaden vorauszusehen und zu vermeiden. Je weiter oder
je enger der Kreis der Urteilsunfähigkeitsgründe gezogen wird, desto subjektivierter
oder objektivierter wird das Verschuldensurteil.
b) Massstab der Urteilsunfähigkeit
Bei ein und derselben Person kann die Urteilsfähigkeit bezüglich einer bestimmten
Handlung gegeben und bezüglich einer bestimmten anderen Handlung nicht gege-
539 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 230.
540 BOSSHARD, S. 113, 120; AppGer BS, BJM 2001, S. 300.
541 FELLMANN, Verschuldensbegriff, S. 358.
159
430
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432

433
434
3 Definition des Verschuldens
ben sein. So vermag vielleicht ein Kind die Gefahr eines Feuers beim Spiel mit
Streichhölzern zu erkennen, hingegen nicht die Gefahr, die durch das Lösen einer
Schraube an einem Stromleitungsmast entsteht, der deswegen in einem Sturm
umstürzt. Die Urteilsunfähigkeit bestimmt sich deswegen immer bezogen auf die
schädigende Tätigkeit und die kognitiven und intellektuellen Eigenschaften des
Schädigers im Zeitpunkt der schädigenden Handlung. 542 Dementsprechend lassen
sich auch keine abschliessenden Kriterien aufstellen, wann die Urteilsfähigkeit zu
bejahen oder zu verneinen ist, hingegen lassen sich aus der Kasuistik entsprechende
Hinweise entnehmen. 543
3.3.3 Vorsatz
a) Erkenntnissicherheit und Vermeidungssicherheit
Der Vorsatz kann als wissentliche und willentliche Schädigung definiert werden,
d.h. als Begehen der Tat in Voraussicht des Erfolges mit der Vorstellung der Kausalität
des Tuns oder Unterlassens. 544 Der Vorsatz setzt sich aus einer intellektuellen
(Wissen) und einer voluntativen Komponente (Willen) zusammen. Der vorsätzlich
handelnde Schädiger erkennt den Kausalablauf und will in Kenntnis der Schadensmöglichkeit
sein Verhalten fortsetzen.
Mit der Vermeidungssicherheit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Schädiger
aufgrund der Kenntnis der Lage ohne weiteres sein Verhalten hätte ändern können.
Hat der Schädiger den Kausalablauf zwar erkannt, konnte er aber trotz dieser Erkenntnis
nicht handeln, wird in der Regel Handlungsunfähigkeit vorliegen. 545
542
HONSELL, § 6 N 8; vgl. OFTINGER/STARK I, § 5 N 118.
543
Zusammenstellungen der Kasuistik finden sich in der Lehre. Für Urteilsunfähigkeit
wegen Kindesalter vgl. OFTINGER/STARK I, § 5 N 120 ff., mit Hinweisen auf weitere
Zusammenstellungen.
544
OFTINGER/STARK I, § 5 N 44.
545 Vgl. Rz. 419 f.
160

Kapitel 4: Die Interessentheorie
b) Massstab des Vorsatzes respektive der Absicht
Lehre und Rechtsprechung unterscheiden verschiedene Formen des Vorsatzes, so
z.B. die böswillige Absicht, den einfachen Vorsatz und den Eventualvorsatz. Bei
der böswilligen Absicht ist die rechtswidrige Schädigung Zweck der Handlung,
beim einfachen Vorsatz ist die Schädigung bloss notwendige Nebenfolge einer
andern Handlung und beim Eventualvorsatz ist der Schadenseintritt ungewiss, wird
jedoch bewusst in Kauf genommen. 546 Nach STARK unterscheiden sich deshalb
Absicht und direkter Vorsatz durch die Art des Wollens des als sicher vorausgesehenen
Erfolges und diese wiederum vom Eventualvorsatz durch die grössere Sicherheit
der Voraussicht des Erfolges. 547
Art. 41 I OR verzichtet selbst auf eine Unterscheidung und verwendet nur den
Begriff „Absicht“, welcher aber nur alle drei Vorsatzarten meinen kann. 548 Im
Gegensatz zum Strafrecht besteht für das Haftpflichtrecht keine Notwendigkeit,
den Vorsatz weiter zu differenzieren. Weder bei der Schadenersatzbemessung noch
im Versicherungsrecht noch im Rahmen der Schadensteilung wegen Mitverschuldens
spielt es eine Rolle, ob der Schädiger mit „böswilliger“ Absicht, direktem
Vorsatz oder nur eventualvorsätzlich gehandelt hat. Ausschlaggebend ist nur der
Vorsatz per se. 549
Die Unterscheidung nach der Art des Wollens verträgt sich nicht mit dem hier
dargestellten Verschuldenskonzept. Als Kriterium lässt sich die Art des Wollens
weder der Voraussehbarkeit noch der Vermeidbarkeit zuordnen. Vielmehr würde
die Berücksichtigung des Wollens dem Verschulden eine wertende Komponente
zubilligen. Gemäss der hier vertretenen Auffassung erschöpft sich der Vorsatz in
der Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des Kausalablaufs. Eine weitere Unterteilung
des Vorsatzes erübrigt sich.
546 BeK-BREHM, OR 41 N 192 ff.
547 OFTINGER/STARK I, § 5 N 46.
548 OFTINGER/STARK I, § 5 N 46 (Fn. 43).
549 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 222, 236; HONSELL, § 6 N 30.
161
435
436
437

438
439
440
3 Definition des Verschuldens
3.3.4 Fahrlässigkeit
a) Erkenntnismöglichkeit und Handlungsmöglichkeit
Eine schädigende Handlung wird dem Schädiger dann als fahrlässig verursacht
zugerechnet, wenn er den Kausalablauf und den Schadenseintritt zwar im Einzelfall
nicht erkannt hat, aber grundsätzlich, d.h. bei der Beachtung eines bestimmten
Standards oder der Aufwendung der ihm möglichen kognitiven Fähigkeiten, in der
Lage gewesen wäre, den Kausalablauf und den Schadenseintritt zu erkennen. Bei
der Fahrlässigkeit kann deshalb auch von der hypothetischen Voraussehbarkeit und
Vermeidbarkeit gesprochen werden.
Ethisch ist der fahrlässig verursachte Schaden dem Schädiger deshalb zuzurechnen,
da der Schädiger es weitgehend selbst in der Hand hat zu bestimmen, ob er sich
über die Folgen seines Handelns Gedanken machen will oder nicht. Als Vernunftwesen
hat der Mensch zwar die Fähigkeit zur Reflexion über seine Handlungen,
daraus kann jedoch noch keine Pflicht hergeleitet werden, diese Fähigkeit einzusetzen.
Die Reflexion über das eigene Verhalten und dessen Folgen ist vielmehr
eine Obliegenheit des Handelnden. 550 Setzt er seine Fähigkeiten nicht ein, ist dies
ein Ausdruck seiner persönlichen Freiheit, für die er aber auch einzustehen hat.
Deshalb sind jene Ansätze der Lehre abzulehnen, welche von einer allgemeinen
Pflicht des Menschen ausgehen, sich geistig-seelisch so einzurichten, um normbzw.
sachgemäss handeln zu können 551 respektive in der Fahrlässigkeit einen
Missbrauch durch den Schädiger seiner Fähigkeiten um Schäden abzuwenden
erblicken. 552
In jeder Situation kann sich der Schädiger bewusst (oder unbewusst) entscheiden,
ob er die Folgen seines Verhaltens abschätzen will oder nicht. Setzt er seine kognitiven
Fähigkeiten ein und erkennt er die Folgen seiner Handlung, hat er eine Aus-
550
Vgl. OFTINGER/STARK I, § 5 N 58: „Die Sorgfaltspflicht ist daher keine Rechtspflicht.
Sie beruht auf dem Voraussehen der Schäden als mögliche Folgen, die durch geeignetes
Verhalten verhindert werden konnten.“
551
DEUTSCH, N 388, ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 225.
552 WERRO, Sorgfaltspflichtverletzung, S. 355.
162

Kapitel 4: Die Interessentheorie
wahl von Möglichkeiten. Er kann auf das potenziell schädigende Verhalten ver-
zichten, er kann das Verhalten modifizieren und weitere Schutzmassnahmen ergreifen
oder er kann nichts tun und hoffen, dass der Schaden nicht eintritt. 553 Setzt
der Schädiger seine kognitiven Fähigkeiten nicht oder nur ungenügend ein, dann
verzichtet er auf die beiden ersten Handlungsalternativen und spekuliert im Grunde
darauf, dass der Schaden sich nicht realisiert. Tritt der Schaden ein, ist dies deshalb
der Risikosphäre des Schädigers zuzurechnen, da er es in der Hand gehabt hätte,
den Schaden abzuwenden.
b) Standard der Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit (Sorgfalt)
Der Standard, für den der Schädiger einzustehen hat, wird mit der Sorgfalt umschrieben.
Jede negative Abweichung von diesem Standard stellt eine Fahrlässigkeit
dar. Die Sorgfalt wird vorliegend als innerer Vorgang beim Schädiger verstanden
und nicht als äusserlich wahrnehmbares Verhalten. Der innere Vorgang besteht
in „eine[r] gewisse[n] Leistung der Konzentration, ein[em] Zusammennehmen der
fünf Sinne, ein[em] Anspannen der Geisteskräfte, ein[em] Inzuchtnehmen des gesamten
psychophysischen Apparates“. 554 Damit grenzt sich die Sorgfalt von der
Widerrechtlichkeit ab. Bei der Widerrechtlichkeit wird das äusserlich wahrnehmbare
Verhalten beurteilt, beim Verschulden hingegen die Fähigkeiten des Schädigers.
Der Standard des Voraussehens oder auch der Aufmerksamkeit, der vom Schädiger
verlangt wird, lässt sich sowohl nach objektiven als auch nach subjektiven Kriterien
bemessen. 555 Nach dem Verständnis der herrschenden Lehre hat der Schädiger
dabei einen Mindeststandard zu gewährleisten, der sich an einer Person mit durchschnittlichen
Fähigkeiten und Erfahrungen orientiert. 556 Es finden sich aber auch
553 OFTINGER/STARK I, § 5 N 61.
554 OSWALD, S. 48, m.w.H.
555
OFTINGER/STARK I, § 5 N 63.
556
Vgl. GAUCH, Der vernünftige Mensch, S. 194. Der hier vorgeschlagene objektive
Verschuldensbegriff unterscheidet sich von jenem der herrschenden Lehre darin, dass
der Richter nicht zu entscheiden hat, wie ein durchschnittlich vernünftiger Mensch in
163
441
442

443
3 Definition des Verschuldens
Stimmen, welchen den Standard nach den individuellen Kräften, Fähigkeiten,
Kenntnissen und Erfahrungen des Schädigers bestimmen wollen. 557 Ohne näher
auf diese Diskussion einzugehen, ist unter anderem aus Praktikabilitätsgründen ein
objektivierter Verschuldensbegriff vorzuziehen. 558 Damit bestimmt sich der Standard
nach dem Mass der Aufmerksamkeit, Voraussicht, Nervenkraft und Willensstärke,
die ein Durchschnittstypus, ein normal veranlagter, tüchtiger, für seine
Tätigkeit genügend qualifizierter, hinlänglich ausgebildeter und erfahrener
Mensch, an den Tag legen würde. 559
Die Gründe, die einen Schädiger dazu verleiten, vom vorgegebenen Standard abzuweichen,
sind vielfältig. So kann es sein, dass der Schädiger aufgrund eines
intellektuell-emotionalen Vorgangs, z.B. Ablenkung, innere Aufregung, Niedergeschlagenheit,
Stress, den Kausalablauf und den Schadenseintritt nicht erkannte. 560
Zur Begründung der Fahrlässigkeit ist es letztlich irrelevant, aus welchem Grund
der Schädiger den Standard nicht erreichen konnte, sofern es sich dabei um einen
vermeidbaren bzw. überwindbaren Grund handelte. Wer abgelenkt ist, kann sich
mehr konzentrieren, wer niedergeschlagen ist, kann sich zusammennehmen, und
wer Stress hat, kann sich beruhigen. Darin unterscheidet sich die Fahrlässigkeit
von der Urteilsunfähigkeit. Der Schädiger handelt fahrlässig, wenn er den Kausalablauf
und den Schadenseintritt wegen eines Hindernisses nicht erkannte, das er
hätte überwinden oder vermeiden können. Bei der Urteilsunfähigkeit ist das Hindernis
für den Schädiger unvermeidbar und unüberwindbar.
der konkreten Situation sich verhalten hätte, sondern nur, ob dieser Durchschnittstypus
den Schadenseintritt hätte erkennen können.
557
OSWALD, S. 59 ff.
558
OFTINGER/STARK I, § 5 N 66; kritisch BOSSHARD, S. 120; vgl. FELLMANN,
Verschuldensbegriff, S. 357, m.w.H. und BOSSHARD, S. 117, m.w.H. zum Aspekt der
Notwendigkeit eines objektivierten Verschuldensbegriffs aus Gründen des Verkehrsund
Vertrauensschutzes.
559
GAUCH, Der vernünftige Mensch, S. 194.
560 ROBERTO, Haftpflichtrecht, N 225.
164

Kapitel 4: Die Interessentheorie
c) Massstab der Fahrlässigkeit
Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung wird zwischen grober und leichter
Fahrlässigkeit unterschieden. Nach der konstanten Rechtsprechung des Bundesgerichts
liegt grobe Fahrlässigkeit vor, „wenn der Haftpflichtige unter Verletzung der
elementarsten Vorsichtsgebote das ausser acht gelassen hat, was jedem verständigen
Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen hätte einleuchten
müssen“. Ist dies nicht der Fall, liegt nur leichte Fahrlässigkeit vor. 561
Fahrlässigkeit wiegt somit umso schwerer, je offensichtlicher der Kausalablauf und
der Schadenseintritt für den Schädiger erkennbar sind. Gewisse Kausalabläufe sind
derart offensichtlich, dass auch derjenige, der aufgrund einer Ablenkung oder einer
anderen Einschränkung der Kognitionsfähigkeit nicht seine volle Aufmerksamkeit
aufbringt, sie erkennen müsste, da sie gewissermassen ins Auge stechen.
STARK korreliert seinerseits die Schwere des Verschuldens damit, wie erkennbar
die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens ist. 562 Dies ist jedoch nur bedingt zu
bejahen. Letztlich ist für die Schwere des Verschuldens nur das Mass der Erkennbarkeit
des Kausalablaufs relevant. Ob sich an diesen Kausalablauf eine höhere
oder niedrigere Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts knüpft, ist für die Begründung
des Verschuldens nicht massgebend. Hingegen dürften Kausalabläufe
mit einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit regelmässig auch leichter zu erkennen
sein.
3.4 Zwischenfazit zum Verschulden
Wird das Verschulden als Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des Kausalablaufs
und des Schadenseintritts definiert, lässt sich das Verschulden nach einem einheitlichen
Konzept abstufen. Das Verschulden wiegt umso schwerer, je offensichtlicher
der Kausalablauf zu erkennen war. Damit kann das Verschulden in Absicht,
grobe und leichte Fahrlässigkeit abgestuft werden, je nachdem, ob der Schädiger
561
OFTINGER/STARK I, § 5 N 107, m.w.H.; BGE 115 II 283, 287 (Erw. 2a); BGE 119 II
443, 448 (Erw. 2a).
562
OFTINGER/STARK I, § 5 N 105.
165
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446
447

448
449
450
4 Praktische Anwendung der Interessentheorie
den Kausalablauf vorausgesehen hat, der Kausalablauf so offensichtlich war, dass
er ihn zwingend hätte voraussehen müssen oder der Kausalablauf zwar voraussehbar
war, aber nur mit einer gewissen Anstrengung.
Die Definition des Verschuldens als Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des
Kausalablaufs und des Schadenseintritts bietet indessen keine abschliessende Antwort
auf die Frage, ob das Verschulden nach subjektiven oder objektiven Kriterien
zu bestimmen ist. Grundsätzlich kommen beide Ansätze in Frage, ohne dass es
damit zu Überschneidungen mit anderen Haftungsvoraussetzungen kommt. So
wird bei der Widerrechtlichkeit das Äussere, d.h. das Verhalten, beurteilt, während
das Verschulden sich auf das Innere, d.h. auf die kognitiven und physischen Fähigkeiten
des Schädigers, beschränkt.
Die Abgrenzung von Verschulden und Widerrechtlichkeit wird zudem durch Verzicht
auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der Widerrechtlichkeit beim Verschulden
gefördert, was Überschneidungen und überflüssige Prüfungsschritte vermeidet.
Das Zusammenspiel von Verschulden und Widerrechtlichkeit lässt sich damit
folgendermassen beschreiben: „Das Verschulden entscheidet darüber, ob das
Herbeiführen eines bestimmten Kausalzusammenhangs einer bestimmten Person
zuzurechnen sei; die Rechtswidrigkeit darüber, ob – wenn ein Haftungsgrund, z.B.
ein Verschulden, gegeben ist – sich daraus eine Haftpflicht ergibt.“ 563
4 Praktische Anwendung der Interessentheorie
Im Folgenden wird die Interessentheorie auf einige Lebenssachverhalte praktisch
angewendet. Für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit drängt sich folgendes
Vorgehen auf. In einem ersten Schritt sind die massgebenden Akteure, das relevante
Verhalten und die daraus resultierenden Folgen und Schäden zu eruieren. In
einem zweiten Schritt sind die durch das schädigende Verhalten tangierten Interessen
zu ermitteln und dem Geschädigten, dem Schädiger respektive der Öffentlichkeit
zuzuordnen. Anschliessend sind die so ermittelten Interessen gegeneinander
abzuwägen respektive in Relation zu setzen. Überwiegt dabei das Interesse des
563 OFTINGER/STARK I, § 5 N 39.
166

Kapitel 4: Die Interessentheorie
Geschädigten gegenüber dem Interesse am schädigenden Verhalten, so hat das
schädigende Verhalten als widerrechtlich zu gelten. Ist hingegen das Interesse an
der schädigenden Tätigkeit zumindest gleich- oder höherwertig als das Interesse
des Geschädigten, ist das Verhalten rechtmässig, auch wenn es eine Schädigung
zur Folge hat.
Einige Verhaltensweisen führen stets zu ähnlichen Interessenkonstellationen.
Aufgrund der daraus resultierenden typischen Interessenlage, etwa dass bei einer
Schlägerei regelmässig das Integritätsinteresse des Angegriffenen schwerer wiegt
als das Aktivitätsinteresse des Angreifers, lässt sich ein Verbot ebendieses Verhaltens
als Verhaltenspflicht ableiten. Damit wird der Bogen zu dem in Rz. 358 dargestellten
Verhältnis zwischen Interessenabwägung und Verhaltenspflicht geschlagen.
In den nachfolgenden Beispielen wird deshalb auch auf solche typisierten
Verhaltenspflichten eingegangen.
Die nachstehenden Ausführungen zu den einzelnen exemplarischen Lebenssachverhalten
erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sollen aber den Denkansatz,
welcher der Interessentheorie zugrunde liegt, veranschaulichen. Die hierfür
gewählte Einteilung der Beispiele in Körper- und Eigentumsverletzungen, Vermögensschädigungen
infolge falscher Informationen sowie Reflexschäden dient dabei
einzig der Übersichtlichkeit, ist aber weder systematisch noch theoretisch bedingt,
zumal die Interessentheorie im Gegensatz zur objektiven Widerrechtlichkeitstheorie
ohne zweigliedrigen Widerrechtlichkeitsbegriff auskommt.
4.1 Widerrechtlichkeit von Körper- und Eigentumsverletzungen
Die körperliche Integrität wird in unserem Rechtssystem als eines der höchsten
Rechtsgüter, wenn nicht gar als das höchste Rechtsgut, betrachtet. 564 Das Interesse
des Geschädigten, in seiner körperlichen Integrität unversehrt zu bleiben, wird
daher etwelche Aktivitätsinteressen des Schädigers regelmässig überwiegen. Dennoch
geniesst das Interesse des Geschädigten, in seiner körperlichen Integrität
unversehrt zu bleiben, keinen unbedingten Schutz oder Vorrang. Rechtsprechung
564 Vgl. Rz. 363 ff.
167
451
452
453

454
455
456
4 Praktische Anwendung der Interessentheorie
und Lehre kennen verschiedene Situationen, in denen das Integritätsinteresse hinter
weiteren Interessen zurücktreten muss. Auch die Verletzung des Eigentums eines
anderen wird bei der Anwendung der Interessentheorie regelmässig widerrechtlich
sein, sofern keine überwiegenden Interessen des Schädigers oder der Öffentlichkeit
an der schädigenden Handlung bestehen. Die nachstehenden Ausführungen zur
Notwehr, Schädigung durch Unterlassung sowie zur mittelbaren Schädigung lassen
sich deshalb sowohl auf Körperverletzungen als auch auf Eigentumsverletzungen
übertragen.
4.1.1 Handgreifliche Auseinandersetzung
In einer Bar fühlt sich ein Gast durch die Äusserung eines anderen Gasts in seiner
Ehre verletzt. Er holt deshalb zum Schlag aus und bricht dem anderen Gast die
Nase. Um einem weiteren Schlag zuvorzukommen, ergreift der Angegriffene die
Jacke seines Kontrahenten und stösst ihn fort. Dabei wird die Jacke zerrissen. Eine
weitere Eskalation des Streits kann durch das beherzte Eingreifen weiterer Gäste
verhindert werden.
Im vorliegenden Beispiel lassen sich Schläger und Geschlagener unterscheiden.
Auf Seiten des Schlägers lässt sich als tangiertes Interesse die Ehre ausmachen
und, soweit es die Jacke betrifft, das Interesse am Schutz des Eigentums. Auf Seiten
des Geschlagenen ist das Interesse auf Schutz der körperlichen Integrität tangiert.
Der Sachverhalt lässt sich in zwei Phasen aufteilen. Zunächst ist die Ausführung
des Schlags, welche die gebrochene Nase des Geschlagenen zur Folge hat, zu
beurteilen und anschliessend die Reaktion des Geschlagenen, der seinen Angreifer
wegstösst und dessen Jacke beschädigt.
Ob man die Ausführung des Schlags durch den Angreifer als rechtens oder widerrechtlich
beurteilt, hängt davon ab, ob man dem Schutz der Ehre einen höheren
Wert beimisst als der körperlichen Integrität des Angegriffenen. Man mag zwar der
Ehre als Teilaspekt des Persönlichkeitsrechts einen hohen Wert einräumen, er
reicht aber an das Interesse an der körperlichen Integrität nicht heran, denn letztlich
ist die körperliche Unversehrtheit eine Voraussetzung, um weitere Interessen wahr-
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Kapitel 4: Die Interessentheorie
nehmen zu können. 565 Das Aktivitätsinteresse des Schlägers zur Wahrnehmung
und zum Schutz seiner Ehre tritt deshalb hinter dem Integritätsinteresse des Geschlagenen
zurück; der Faustschlag gilt als widerrechtlich.
Die Abwehrhandlung des Geschlagenen tangiert das Interesse des Schlägers auf
Schutz des Eigentums. Dem steht jedoch das höherwertige Interesse des Geschädigten
am Schutz der körperlichen Integrität entgegen. So bietet das Interesse am
Schutz der körperlichen Integrität nicht nur einen passiven Schutz vor Beeinträchtigungen,
sondern es begründet zugleich das Aktivitätsinteresse des Geschlagenen,
sei