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III. Die Antike und ihre Nachtseite

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207<br />

but to attribute the one’s features to the other was to deny the essence that marked<br />

their very qualities.“ 606 Müllers Interesse für die Ursprünge der griechischen Kul-<br />

tur ist dabei romantischer Prägung, wie er selber an einer Briefstelle bestätigt:<br />

<strong>Die</strong> alten Griechen hatten, scheint mir, weit mehr Romantisches in <strong>ihre</strong>m<br />

Wesen, weit mehr sentimentales, melancholisches Naturgefühl,<br />

als die spätern, classischen. 607<br />

<strong>Die</strong>se Vorstellungen von der <strong>Antike</strong> sollten schon bald die Aufmerksamkeit<br />

des Altphilologen auf die Untersuchung des griechischen Kultwesens lenken, in<br />

dem er ein Spannungsverhältnis zwischen ,olympischen‘ <strong>und</strong> ,chthonischen‘ Göt-<br />

tern zu erkennen glaubt. Müller ist der erste, der den heute überholten Begriff von<br />

,chthonischer‘ Religion prägte: 608 Der Gott, welcher das dunkle, orgiastische, my-<br />

stische Wesen dieser Religion am deutlichsten offenbart, ist Dionysos. Er ist aber<br />

zugleich auch „ein zeitgemäß moderner, ein romantischer Gott“, 609 der die ro-<br />

mantische Faszination für die Ursprünge der Kultur verkörpert <strong>und</strong> deshalb das<br />

Lebenswerk Müllers durchzieht. Im Mittelpunkt des ersten Teils der Geschichten<br />

Hellenischer Stämme <strong>und</strong> Städte, Orchomenos <strong>und</strong> die Mynier steht die Analyse<br />

des dionysischen Mythos der Töchter des Mynias: Der Gott stamme aus der böoti-<br />

schen Thrakien, die Thraker seien Teil der griechischen Welt; denn Dionysos ist<br />

für Müller ein griechischer Gott. Auf trakische Ursprünge sei das Enthusiastische<br />

<strong>und</strong> Orgiastische im Dionysoskult zurückzuführen. An diesen Vorstellungen hält<br />

Karl Otfried Müller in <strong>Die</strong> Dorier (2 Bde., 1824), einem der drei, laut antiker<br />

Überlieferung ursprünglichen griechischen Stämme, weiterhin fest. <strong>Die</strong> For-<br />

schung 610 ist zum größten Teil darüber einig, daß Nietzsche aus diesem Buch ent-<br />

scheidende Anregungen für seine Theorie des Dionysischen erhielt. 611 Den au-<br />

606<br />

J. H. Blok, „‘Romantische Poesie, Naturphilosophie, Konstruktion der Geschichte’“,<br />

a. a. O., S. 81.<br />

607<br />

Zit. nach R. Schlesier, „,<strong>Die</strong>ser mystische Gott‘. Dionysos im Spiegel von Karl<br />

Otfried Müllers Religionstheorie“, in: W. M. Calder/R. Schlesier, a. a. O., S. 399.<br />

608<br />

Zum Begriff der ,chthonischen‘ Götter <strong>und</strong> seiner Prägung im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

s. R. Schlesier, Kulte, Mythen <strong>und</strong> Gelehrte. Anthropologie der <strong>Antike</strong> seit<br />

1800, Frankfurt a. M. 1994, S. 21ff., <strong>und</strong> dies., s.v. „Chthonische Götter II. Griechenland“,<br />

in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der <strong>Antike</strong>, hrsg. von H. Cancik <strong>und</strong> H. Schneider,<br />

Bd. 2 (Ark-Ci), Stuttgart Weimar 1997, Sp. 1186-1190.<br />

609<br />

R. Schlesier, „,<strong>Die</strong>ser mystische Gott‘“, a. a. O., S. 399.<br />

610<br />

Vgl. C. Andler, Nietzsche, sa vie et sa pensée, 3 Bde., 4. Auflage, Paris 1958, Bd.<br />

1: Les precurseurs de Nietzsche. La jeunesse de Nietzsche, S. 409<br />

611<br />

Nietzsche kannte Müllers Arbeiten sehr gut; insbesondere zwischen 1870 <strong>und</strong><br />

1875 lieh er die Geschichte der griechischen Literatur von der Universitätsbibliothek in

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